GET POST FORMAT

Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

GET POST FORMAT

Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten stärken, so zumindest steht es in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition im Bundestag. Dieses Statement ist die Fortsetzung eines Trends, denn seit einigen Jahren schreiben sich Staaten vermehrt Feminismus auf die Fahne. Spätestens 2014 hat ein neues Schlagwort den Weg in den Wortschatz der Herrschenden gefunden: Feministische Außenpolitik. Die damalige schwedische Außenministerin Margot Wallström stellte dieses Konzept vor, das vorgibt, Frauen und Mädchen zu stärken, sie besser in Politik und Friedensverhandlungen einzubinden, und patriarchale und sexualisierte Gewalt zu bekämpfen.

Diese Idee von „Feminist Foreign Policy“, die über die Jahre von immer mehr Staaten aufgegriffen wurde, ist nun auch Teil des Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus FDP, Grünen und SPD, in der mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau die Außenministerin stellt. Im selben Dokument steht neben der Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ von Asylbewerber*innen und der Zusicherung bewaffneter Drohnen an die Bundeswehr auch, was für ein wichtiger NATO-Partner die Türkei sei – trotz „besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen“. Eine interessante Wortwahl, um die zahlreichen Angriffe des türkischen Staates etwa gegen die Frauenrevolution in Rojava, gegen feministische Demos, gegen Zivilist*innen und Genozid-Überlebende in den letzten Jahren zu beschreiben. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Türkei seit Jahren den IS unterstützt, der 2014 in Shingal einen Genozid an Êzîd*innen begangen hat, der vor allem auch ein Feminizid war.

Warum wir das alles erwähnen? Weil Deutschland jährlich Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Türkei liefert. Und weil an diesem Beispiel klar werden sollte, dass Abschiebungen, Aufrüstung, Rüstungsexporte – oder aktuell die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – im Widerspruch zu Frieden und Befreiung stehen.

Wolf im Schafspelz

Eine „feministische“ Außenpolitik scheint dabei an der Oberfläche besser zu sein als eine Außenpolitik, die sich überhaupt nicht mit Themen wie Feminismus auseinandersetzt. Allerdings ist diese subtile Vereinnahmung einer der radikalsten Bewegungen der Welt durch den Staat irreführend und demobilisierend.

Kapitalismus, Ausbeutung, Rassismus, staatliche Gewalt, Repression, koloniale Kontinuitäten – das sind Begriffe, die in den „Feminist Foreign Policy“-Kontexten kaum oder gar nicht vorkommen. Denn der Ansatz ist nicht an der Überwindung dieses Systems interessiert, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und patriarchaler Gewalt basiert. Solche staatlichen Ansätze tragen vielmehr dazu bei, notwendige revolutionäre Forderungen zu verwässern und Kämpfe zu schwächen.

Gleichberechtigung wird in dieser Spielart des liberalen Feminismus im Rahmen von „Repräsentation“ gedacht; dass eine Frau die Außenministerin stellt, wird an sich als Gewinn betrachtet, während die tiefsitzende patriarchale Mentalität in der Gesellschaft und das System selbst kaum in Frage gestellt werden.

Diese oberflächliche Nutzung feministischer Begriffe findet sich auch in den vielen NGO-Strukturen, mit denen westliche Staaten für strategische Zwecke seit Jahrzehnten à la social engineering Zivilgesellschaften im globalen Süden aufbauen wollen. Feministische Aktivist*innen in Ländern wie Afghanistan, Kurdistan und im Irak kritisieren zurecht, dass die unzähligen vom Westen gesponserten „Women’s Empowerment“-Projekte schwach und unkritisch sind. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit Regierungen und staatlich unterstützten Institutionen sind sie nicht nur keine Gefahr für patriarchale Strukturen, sondern eine der vielen Methoden, mit denen radikalere feministische Bewegungen gegen Kolonialismus, Besatzung und Krieg marginalisiert werden.

Diese Entwicklungen hängen mit einem globalen Trend zusammen, nämlich der sogenannten „Feminisierung“ des Sicherheitssektors: Es werden reihenweise staatsnahe und oft von Geheimdiensten informierte wissenschaftliche Arbeiten unter dem Dach „Gender, Peace, Security“ veröffentlicht. Gleichzeitig setzen Staaten, Militärbündnisse wie die NATO und ausbeuterische Konzerne das Thema Gender auf ihre Agenda, ohne dass daraus irgendetwas anderes folgt, als dass Frauen dieselbe patriarchale Politik von eh und je umsetzen sollen. Während in der Geschichte eine Antikriegshaltung eine der wichtigsten Strategien feministischer Bewegungen war, wird es nun als feministisch betrachtet, mehr Frauen in Staatsarmeen zu rekrutieren und mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie über die Bomben entscheiden können, die auf Menschen in verschiedenen Teilen der Welt herabregnen.

Feministische Außenpolitik ist somit eine vom patriarchalen Staatensystem abhängende und im Grunde konservative Methode, mit der die Entpolitisierung Widerstand leistender Bewegungen (z.B. revolutionärer Frauenbewegungen) durch neue Formen der westlichen Hegemonie durch scheinbar progressive Ideale verwirklicht wird.

Diese Entpolitisierung zeigt sich auch in Debatten um die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine. Liberaler Feminismus spricht performativ von Putins „toxischer Männlichkeit“ und „phallisch“ anmutenden Kanonenrohren. Dabei sollte sich Feminist*innen eher die Frage aufdrängen, wie jetzt revolutionäre Bündnisse gegen Krieg, Vertreibung, Militarismus, Imperialismus, sowie sexualisierte und staatliche Gewalt geknüpft werden können. Und das geschieht nicht durch staatliche top-down-Ansätze innerhalb nationaler Grenzen, sondern internationalistisch und durch selbstorganisierte Massen.

Feminismus gegen den Staat

In den vergangenen Jahren haben sich viele feministische Kämpfe ausdrücklich gegen den Staat gerichtet, mit der Begründung, dass der Staat eine Institution ist, die patriarchale Gewalt reproduziert. Staaten behindern aktiv den Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung, indem sie revolutionäre Bewegungen und Aktivist*innen kriminalisieren. In vielen Ländern ist der Staat dabei, existierende Rechte zur körperlichen Selbstbestimmung abzubauen. Und in Lateinamerika und der Karibik etwa wird seitens feministischer Gruppen der Begriff „Feminizid“ als eine Form der patriarchalen Gewalt betrachtet, die explizit durch den Staat ermöglicht und normalisiert wird.

Immer mehr feministische Bewegungen wenden sich aus diesen Gründen von den legalistischen, bürokratischen, reformorientierten Staatsfeminismen ab und wenden sich radikalen, revolutionären, auf Selbstorganisierung basierenden Formen der Politik zu. Diese sind oft lokal und gleichzeitig internationalistisch. In einem kapitalistischen System stehen Profite über Menschenleben. Dabei ist es weitgehend egal, wie ökologisch, wohlwollend oder sogar feministisch sich Regierungen geben. Vergessen werden Frauen und Queers in Knästen und in Kriegsgebieten. Vergessen werden Flüchtende an den EU-Außengrenzen, die voller Gewalt zurückgedrängt und dem Tod überlassen werden. Vergessen werden ausgebeutete Frauen auf der ganzen Welt und insbesondere im globalen Süden. Und – Stichwort „Rückführungsoffensive“ – all jene, die in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und Folter drohen, so wie es bereits die rot-grünen Landesregierungen in den letzten Jahren fleißig gemacht haben.

Feministische Außenpolitik kann sich nicht vom Staat, dem Bruder des Patriarchats, scheiden. Ihre Loyalität gilt der Macht, nicht der Freiheit. Sie hat herzlich wenig mit den vielen feministischen Bewegungen auf den Straßen der Welt zu tun, in denen Menschen tagtäglich ihre Leben riskieren, um sich Patriarchat, Kapitalismus, Polizeigewalt und militärischen Angriffen zu widersetzen. Dies sind zwei unterschiedliche Welten. Feminist*innen sollten sich aktiv dagegen wehren, dass ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Kämpfe durch Begriffe wie feministische Außenpolitik ihrer Bedeutung beraubt und mit Systemen der Gewalt und Ausbeutung vereinbar gemacht werden. Wir verdienen mehr als die rückständigen Ideologien und Methoden, die uns nun durch Staaten als Feminismus angedreht werden.

# Titelbild: Soldatinnen beim feierlichen Gelöbnis 2021, ©Bundeswehr/Sebastian Wilke

GET POST FORMAT

Der ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Held der Stunde. Die deutschen Medien und ihr Publikum bewundern den smarten Ex-Komiker, der sich in schwerer Stunde als tapferer Staatsmann erwiesen hat. „Der melancholische Wolodimir Selenskij hat uns all die Jahre kaum interessiert. Nun sollten wir von ihm lernen“ schreibt die Süddeutsche Zeutung über den Politiker, der so auftritt als könnte man ihn „beim Elternabend treffen“.

Dabei wurde Selenskyj, der im Mai 2019 Präsident wurde, lange Zeit wenig ernstgenommen. Anfänglich galt er als eine Marionette des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der sich mit Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko überworfen hatte. Frisch gewählt erzwang Selenskyj im Juli 2019 die Neuwahl des Parlaments, die seine Partei „Sluha Naroda“ („Diener des Volkes“) mit 43,16 % haushoch gewann. Gegen die Macht der Oligarchen, gegen die er im Wahlkampf wetterte konnte er aber trotzdem wenig bewirken. Sobald es um Gesetze ging, die die Interessen von Kolomojskyj betrafen, wurden sie von unzähligen Änderungsanträgen fraktionsübergreifend torpediert. Gleichzeitig verlangte der IWF, von dessen Krediten die Ukraine abhängt, immer weitere „Strukturanpassungsmaßnahmen“, sprich eine neoliberlae Umgestaltung des Staatsapparates und immer mehr Maßnahmen gegen die Korruption. Der von der besagten Korruption durchtränkte Staatsapparat verweigerte sich jedoch dem Kampf. Mit großer Mühe setzte der Präsident eine Landreform durch, die es ausländischen Unternehmen erlaubte, Land in der Ukraine zu besitzen, was für Proteste inner- und außerhalb des Parlaments sorgte.

Verschiedene Ansätze, Reformen durchzuführen, wie etwa den georgischen Ex-Präsidenten und marktradikalen “Wunderreformer” Michail Saakaschwili ins Land zu holen und ihn zum Vizepräsidenten zu ernennen, oder das Parlament durch die Stärkung des Präsidialamtes zu schwächen, glückten zunächst nicht. In nur zwei Jahren wurden vom Parlament drei Regierungschefs gewählt. In dieser Situation begann Selenskyj, ursprünglich als gemäßigte Alternative zur Poroschenko auftretend und sich auf die russischsprachige, wenn auch pro-westliche Wähler stützend, sich durch Unnachgiebigkeit gegenüber Russland zu profilieren. Auch das führte zunächst zu wenig politischem Erfolg, weil die westlichen Partner, allen voran die aus der EU, eher zu Mäßigung drängten und die Wiedereroberung der Krim und vom Donbass scheinbar für wenig realistisch hielten. Deutschland und Frankreich verweigerten die von Selenskyj erhoffte Revision der Minsker Abkommen, während die rechte Opposition um Poroschenko ihm deswegen Verrat und Schwäche vorwarfen.

Die Corona-Pandemie brachte das Land in eine noch desolatere Lage. Die Ukraine schien zu einem failed state zu werden und als solchen betrachteten die Kontrahenten aus Moskau sie anscheinend bei Kriegsantritt. Da Selenskij einerseits seine Wahlversprechen kaum erfüllen konnte, andererseits an der Wiedergewinnung der 2014 verlorenen Gebiete festhielt, wirkte er von Moskau aus gesehen wie ein schwacher Präsident, der reichlich provozierte. Dass Selenskyj durch seine Mediengesetzgebung der russlandfreundlichen „Oppositionsplattform – Für das Leben“ (OP) um den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk ihrer wichtige Ressourcen beraubte und anschließlich Medwedtschuk selber verhaften ließ, machte für Russland deutlich, dass die Chancen, einen Kurswechsel parlamentarisch herbeizuführen immer weiter in die Ferne rückten. Die fleißige Umrüstung der ukrainischen Armee – die Ukraine hat für die Armee mehr ausgegeben, als jedes andere postsowjetische Land außer Russland –, samt der Rhetorik, die keinen daran Zweifel ließ, dass Ukraine die Revision der Ergebnisse des Krieges von 2014 anstrebte, wurden von der russischen Propaganda dankbar aufgegriffen. Noch kurz vor dem Krieg sprach Selenskyj von der prinzipiellen Möglichkeit die Produktion von den Atomwaffen in der Ukraine zu starten.

Selenskiyj wirkte wie ein Politiker mit schwindendem Rückhalt. Doch wie sich kurz nach dem russischen Einmarsch zeigte, basierten die Pläne Moskaus auf einer eklatanten Fehleinschätzen des ukrainischen Nationalismus. Die Erwartung, weite Teile der Bevölkerung würden sich gegenüber dem Staat – dessen Unabhängigkeit bei der Gründung ein umstrittenes Projekt war – und nationalistscher Mobilisierung indifferent Verhalten, wurde durch einen beachtlichen „Wehrwillen“ karikiert. Entgegen Hoffnungen der Macher des im offiziellen Sprachgebrauch „Spezialoperation“ genannten Krieges, kündigte die russischsprachige Bevölkerung nicht massenweise dem ukrainischen Staat die Loyalität. Selenskyj wurde auch weder von Militärs, noch von rechten „Falken“ entmachtet, sondern wurde auf einmal parteiübergreifend als Führer der Nation in der Stunde der Not akzeptiert. Die Strategien, die darauf zielten, ihn Anhand seines früheren Berufes als Clown, Anhand seiner Herkunft als Jude oder anhand des in seinem Amt kaum vermeidbaren Umgangs mit den radikalen Nationalisten als Nazi in Augen der ukrainischen Öffentlichkeit zu diskreditieren, bringen nicht den gewünschten Effekt.

Die russische Führung und mit ihr loyale Medien teilen die Sicht, dass in der Ukraine die Würdigung der historischen Rolle der ukrainisch-faschistischen „Organisation der Ukrainischen Nationalisten“ (OUN) beim Kampf um den ukrainischen Nationalstaat zur kompletten Übernahme deren Programm führt. Freilich hat Ukraine eine blühende rechtsradikale Szene, deren bescheidene Erfolge bei den Wahlen in keinem Verhältnis zu ihrer Präsenz auf der Straße und an der Donbassfront stehen. Obwohl sich die ukrainischen Rechtsradikalen immer wieder an der jüdischen Herkunft von Selenskyj und Kolomojskyj, der armenischen Herkunft von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko und Ex-Innenminister Arsen Awakow, sowie der tatarischen des Oligarchen Renat Achmetow stören, steht die Vaterlandsverteidiung auf der Prioritätenliste ganz oben. Zudem sind einige OUN-Nostalgiker durchaus bereit, die jüdische Bevölkerung in die Nation einzugemeinden. Das aber nur solange sie loyal zur Ukraine sind und der Geschichtsversion, bei der die Beteiligung von Ukrainern an der Shoa schlicht geleugnet wird, nicht allzu laut widersprechen.

Die unerwartete Bereitschaft der ukrainischen Staatsbürger:innen, sich partei- und klassenübergreifend dem nationalen Konsens anzuschließen und die Staatlichkeit der Ukraine zu verteidigen, wird von den westlichen Verbündeten gewürdigt. Die Ukraine ist nicht Afghanistan, wo Armee und Bevölkerung nicht bereit sind sich für den Staat zu opfern. Es lohnt sich, Waffen dort hin zu schicken und die Kosten für Kriegsführung gegen zahlenmäßig überlegenen Feind zu übernehmen, jubeln die westlichen Medien. Selenskyjs Entscheidung wahllos Schusswaffen an die Zivilist:innen zu verteilen, würde woanders als Ende des staatlichen Gewaltmonopols gewertet, in diesem Fall rührt es die westliche Öffentlichkeit zu Tränen. Die Ukrainer:innen sind doch ein richtiges Volk, weil sie bereit sind einen Krieg für den eigenen Staat zu führen, trotz aller sonstigen Interessenkonflikte. Während in der Ukraine die versprengten Linken sich über besonderes eifrige Landesverteidigung zu profilieren versuchen, kommen die Kräfte, die auf die Russland gehofft haben im Unterschied zu 2014 gar nicht zum Vorschein. Diejenigen, denen an der Unabhängigkeit der Ukraine wenig gelegen ist, sind von der Öffentlichkeit endgültig ausgeschlossen. Putin meinte zwar, Lenin habe die Ukraine geschaffen, aber den entscheidenden Beitrag zur Schaffung eines ukrainischen Nationalbewusstseins scheint er gerade selber mit der „Spezialoperation“ zur Ordnung der politischen Verhältnisse geschaffen zu haben.

# Titelbild: sowjetisches Antikriegsplakat

GET POST FORMAT

Verónica Gago ist Theoretikerin und Aktivistin aus Argentinien. Anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März haben wir mit ihr über den Stand der argentinischen feministischen Bewegung heute gesprochen – nach einem errungenen Sieg im Kampf um das Recht auf Abtreibung, zwei Jahren Pandemie und im sechsten Jahr des feministischen Streiks.

Mit der Feminismuswelle der letzten Jahre ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt aber Diskussionen, die über die gläserne Decke hinausgehen und eine Klassenanalyse mit einschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung heute etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung, sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger! Wir wollen frei und schuldenfrei leben! Gegen die Prekarität des Lebens! Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien! Wir Frauen gegen Verschuldung!“ um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine genaue Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung” fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre Spitze findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es euch gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themen der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuerinnen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und antiextraktivistisch ist – die aus verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute überall sehen?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status Quo gestellt haben.

Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion: er ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie” beginnt. Oder warum versucht wird, den Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Und deswegen gibt es auch viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lange gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle” losgetreten, die über die Grenzen hinausging. Dabei wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung in Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war hier von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: Das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Aber mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem, was die Bewegung bereits erreichen konnten als Horizont – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch” wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas-, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulationen und die Dollarisierung der Wirtschaft und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den letzten Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen oder gibt es andere Strategien, die im Moment wichtiger sind?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger ist, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist. Das Wichtige an diesem 8. März ist, wieder eine Wucht zu werden.

Von Verónica Gago ist bei Unrast das Buch “Für eine feministische Internationale” erschienen. Foto: privat

# Titelbild: Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem argentinischen Kongress 2018 (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

GET POST FORMAT

Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), einer Veranstaltung, bei der die Bundesbehörde regelmäßig den Diskurs simuliert, aber tatsächlich vor allem ihre Forderung nach mehr Geld und Befugnissen argumentativ absichert. In einem moderierten Gespräch äußerte sich Kahane per Videoschalte zur Zusammenarbeit von Polizei und „Zivilgesellschaft“ – und zwar an der Seite von Thilo Cablitz, dem Pressesprecher der Polizei Berlin. Das zeigt vor allem eines: Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) hat keine Berührungsängste, jedenfalls wenn es um die Behörden geht, die in der BRD für Repression und Machtabsicherung zuständig sind.

Nicht nur für diesen Kuschelkurs zieht die in Heidelberg sitzende Stiftung schon seit längerer Zeit Kritik von radikalen Linken auf sich und das durchaus zu Recht. Wie der aktuelle Zoff um einen Tweet von Dan Kedem, einem der Landessprecher der Linksjugend Solid Berlin, erneut gezeigt hat, sind Kahane und ihre Stiftung Teil eines sich linksliberal gebenden Milieus, das tatsächlich staatstragend und systemerhaltend agiert, sich von den Herrschenden für ihre Zwecke einspannen lässt und daher im Ergebnis mehr Schaden anrichtet, als zu helfen.

Die Nähe der AAS zu den Sicherheitsorganen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Positionierung. Es ist bezeichnend, dass Kahane und ihre Stiftung nicht nur mit der Polizei gut können, sondern auch mit dem Verfassungsschutz keine grundsätzlichen Probleme haben. Mit Stephan J. Kramer sitzt der Chef des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz im Stiftungsrat. Der als Erwachsener zum Judentum konvertierte Kramer war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, bevor Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ihn Ende 2015 an die Spitze seines Verfassungsschutzamtes holte mit dem Ziel, dieses zu „demokratisieren“. Im Stiftungsrat der AAS saß der Jurist schon bevor er den Behördenposten übernahm.
Das hielt diverse antirassistische Initiativen, darunter die Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“, die Opfer des NSU-Terrors unterstützt, im Juli 2016 nicht davon ab, in einer Erklärung Kritik zu üben. Moniert wurde dabei nicht nur das Verbleiben Kramers im Stiftungsrat der AAS, sondern auch ein Auftritt Kahanes bei einem Symposium ostdeutscher Verfassungsschutzämter. Eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten sei „für uns nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus“, konstatierten die Initiativen. Kahane erklärte damals gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, an Kramer festhalten zu wollen. Die AAS werde weiterhin mit Vertreter:innen des Verfassungsschutzes sprechen und versuchen, Reformen durchzusetzen.

Kahanes Äußerungen sind ebenso wie das Vorhaben von Kramer und Bartsch, den Verfassungsschutz „reformieren“ zu wollen, Ausdruck einer Haltung, die mit naiv noch schmeichelhaft umschrieben ist. Da versucht offenbar der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. Diese Haltung ist typisch für das erwähnte sich meist linksliberal gerierende Milieu, das seinen Frieden mit dem System gemacht hat. Weil es von einer tiefer gehenden Analyse der Verhältnisse absieht, unterschätzt es die Macht der Apparate, deren Eigendynamik und schlechten Absichten, glaubt an die „wehrhafte Demokratie“, wie sie der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP gerade postuliert hat.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist sozusagen qua Amt zu diesem Glauben und dem Verzicht auf fundierte Kritik verpflichtet. Wer jedes Jahr Millionen vom Staat bekommt, um die „demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“ (Selbstdarstellung), der wird es sich mit diesem Staat nicht verderben wollen. Dass Kahane und die AAS bei den Repressionsbehörden hoch willkommen sind, hat aber noch einen anderen Grund. Leistet die Stiftung doch für die Legitimation der Apparate und dieses Staates unschätzbare Dienste, die weit über den Verzicht auf Fundamentalkritik hinausgeht. Es ist eine Art Ablasshandel oder wie man heute eher sagen würde: ein Win-Win-Geschäft.

Mit den Millionen an Steuergeldern, die an die Stiftung zur Förderung von Projekten überwiesen werden, kauft sich der Staat frei von der Verpflichtung, rechts genauer hinzusehen. Das wird kurzerhand an die AAS und ähnliche Träger delegiert. Zugleich stellen Kahane und ihr Laden den Herrschenden nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ einen Persilschein aus. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat ihren Geldgeber:innen noch mehr anzubieten. Sie hetzt gegen alle, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht als bedauerlichen Auswuchs einer ansonsten ganz wunderbaren Ordnung, sondern sie als systemisch, als logische Folge der kapitalistischen Verhältnisse begreifen. Dazu nutzt die Stiftung extensiv den Antisemitismus-Vorwurf, was immer wieder zu Zoff mit radikalen Linken führt.

Kritik an Israel und jegliche Unterstützung für die Palästinenser:innen wird von der AAS in einer besonders penetranten Weise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Für die Stellungnahmen von Kahane sind solche Sätze typisch: „Antisemitische Zuschreibungen gegen Israel als jüdischen Staat sind die moderne Form des Antisemitismus, die Rechtsextreme über muslimische Milieus bis hin zur Linken eint. Unter dem Mantel der Israelkritik und des Kapitalismus-Bashings werden Juden zum Opfer von Hass und Gewalt.“

Wer es wagt, diese absurde Darstellung zu kritisieren, findet sich schnell im Mittelpunkt eines Shitstorms wieder. So wurde Dan Kedem von der Linksjugend Solid Berlin, selbst Jude, Mitte November Opfer einer regelrechten Hetzkampagne. Er hatte einen Post retweetet, in der die AAS erklärte, wer sich mit der Forderung nach Freiheit der Palästinenser:innen „from the river to the sea“ gemein mache, fordere die Zerstörung Israels. Als Kommentar schrieb Kedem dazu:

„Amadeu Antonio Stiftung liquidieren!“

Auch wenn das Verb im Zusammenhang mit einer Stiftung deren Auflösung meint, war diese Wortwahl mindestens ungeschickt. Kedem zog den Tweet dann auch schnell zurück und twitterte: „Zur Klarstellung – dieser Tweet war ein Shitpost. Die AAS halte ich für eine problematische Stiftung, die Arbeit leistet, die mich und viele andere linke Juden extrem beeinträchtigt. Wie man das anders lesen kann als „ich finde die AAS doof” ist mir wirklich unerklärlich.“

Diese Entschuldigung bewahrte ihn aber nicht vor der alsbald losgetretenen Kampagne, an der sich auch die Führung des Landesverbandes seiner Partei beteiligte. Die nutzte die Gelegenheit mit Kritik an Kedem und den neuen Sprecher:innenrat von Solid Berlin anzuschließen. Der hatte nämlich zuletzt die „Reformer“ der Berliner Linkspartei und ihre Orientierung auf eine Koalition mit SPD und Grünen massiv von links kritisiert.

Auf der Website klassegegenklasse.org wurde zur Solidarität mit Kedem aufgerufen. Jüdische und migrantische Stimmen würden insbesondere dann diskreditiert, „wenn sie nicht mit der staatstragenden Ideologie einhergehen“, hieß es dort. Stiftungen wie die Amadeu Antonio Stiftung und auch Die Linke stellten sich „hier immer wieder auf die Seite der Kriminalisierung von Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung“. Auch bei Twitter gab es neben Kritik auch Zuspruch für den Berliner Solid-Landessprecher. Die Bewegung „Palästina spricht“ twitterte: „Sie will Aufklärungsarbeit leisten, sich gegen Rassismus einsetzen & eine demokratische Zivilgesellschaft stärken. Doch statt diese Ziele durchzusetzen, bleibt die Amadeu Antonio Stiftung selber lieber unaufgeklärt, verbreitet antipalästinensischen Rassismus & zionistische Propaganda.“ Ein User warf der AAS bei Twitter vor, Menschen, die Kapitalismuskritik üben, als antisemitisch zu framen.

Dass Kahane tatsächlich kein perfides und reaktionäres Argument zu viel ist, wenn es darum geht, linke Kapitalismuskritiker:innen zu diffamieren, hatte sie im Sommer 2017 bewiesen. Im Juli des Jahres, kurz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, fiel sie der Protestbewegung im stiftungseigenen Portal Belltower News in den Rücken. „Linksextremismus ist keine Kinderkrankheit, sondern eine autoritäre, antidemokratische Ideologie“, schrieb sie damals. Dreist reduzierte die Autorin die Kapitalismuskritik auf „Feindseligkeit gegenüber Eliten“, die kein rechts und links kenne, und schlug mühelos die Brücke von dort zum Antisemitismus-Vorwurf: Der sei „das Grundgeräusch des Eliten-Bashings“. Wortreich verteidigte Kahane den Kapitalismus und die Globalisierung.

Fassungslos machen die kritische:n Leser:in folgende Sätze aus dem Beitrag: „Linke kritisieren den Kapitalismus in globalisierter Form grundsätzlich und sehen hier nur Elend und Zerstörung. Ihre Antwort für die Menschen in den Entwicklungsländern: „Lieber arm als ausgebeutet“ oder „lieber authentisch als industrialisiert“ ist ignorant, zynisch und in ihrem Wesen auch rassistisch.“ Diese Linken wollten „den Menschen in der nicht-weißen Welt die Art von Fortschritt vorenthalten, den sie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen“.

Bleibt nur hinzuzufügen: Von Kahane und ihrer Stiftung geht vielleicht mehr Gefahr aus als von denen, die sie angeblich bekämpft, den Rassist:innen und Nazis. Denn sie verwirren die Maßstäbe und entziehen letzten Endes einem entschlossenen Kampf gegen Rechts jede Grundlage. Man kann also davon ausgehen, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch unter der „Ampel“-Koalition weiter mit Steuergeldern gemästet wird.

# Titelbild: Kuscheln mit Bullen – Anetta Kahane zusammen mit dem Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), Foto: BKA

GET POST FORMAT

So ziemlich das einzige der vielen die Straßen momentan noch verunzierenden Wahlplakate, zu dem ich als radikaler Linker aus vollem Herzen Ja sagen kann, ist eines der FDP. Traurig, aber wahr. „Wie es ist, darf es nicht bleiben“, steht groß darauf. Jawohl, so ist es, dachte ich spontan, als ich es zum ersten Mal sah: In dieser Scheißrepublik, in der die Marginalisierten mit Brosamen abgespeist werden und die Hackfressen oben sitzen und die Korken knallen lassen, muss sich ne Menge ändern. Aber dass das hier nicht gemeint war, war mir natürlich auch gleich klar.

Die Visage von FDP-Chef Christian Lindner neben dem Slogan ist auf dem Plakat nicht zu übersehen. Und der und seine Partei meinen natürlich mit der Bemerkung, dass es nicht so bleiben darf, wie es ist, genau das Gegenteil von dem, was ich damit verbinde.

Was wollen Leute wie Lindner uns mitteilen, wenn sie sagen, dass es so nicht bleiben kann?

Ich übersetze das mal ein wenig zugespitzt – sie meinen damit: Wir haben zwar schon alles, Haus, Garten, den Zweitwagen in der Garage, einen sicheren Job, zwei bis drei Urlaubsreisen im Jahr, genug finanzielle Rücklagen et cetera pp. Aber das reicht uns nicht. Wir wollen auch, dass es für alle Zeiten so bleibt, dass diese „Ordnung“ in Beton gegossen wird. Und wir wollen vor allem nicht, dass jemand uns sagt, dass es in diesem Land ungerecht zugeht und wir auf Kosten anderer Leben. Wir wollen nicht kritisiert werden.

Die ersten und wichtigsten Artikel des inoffiziellen Grundgesetzes dieser Leute heißen:

1. Jeder ist seines Glückes Schmied.

2. Leistung muss sich wieder lohnen.

3. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Und 4. Wer arm ist, ist einfach nur zu blöd, um reich zu sein.

Das ist genau die Denke der FDP und ihrer Klientel, weiter gefasst sicher auch von weiten Teilen der Mittel- und Oberschicht. Der 1. Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, Marco Buschmann, hat das gerade noch einmal in wünschenswerter Deutlichkeit klar gestellt. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht nur aus einem Grund auseinander“, bemerkte er kürzlich auf Twitter: „Die einen sparen in Geld. Das rostet weg. Die anderen sparen in Häusern und Aktien. Die werden immer wertvoller. Daher mehr Wohneigentum und Aktiensparen für alle!“

Für Typen wie diesen „Volksvertreter“ ist es offenbar unvorstellbar, dass es in diesem Land Menschen gibt, die weder sparen noch Aktien oder Häuser kaufen können – ganz einfach weil sie nicht genug Geld haben. Weil es gerade reicht, um das Leben zu fristen. Oder eben auch nicht und sie bei der Tafel anstehen müssen oder sonst wo. Obwohl: Buschmann weiß das alles sicher auch – darum ist das, was er da von sich gegeben hat, noch viel schlimmer. Denn er zeigt uns damit:

Die „Verlierer“ der Gesellschaft, die ALG-II- Empfänger, die kleinen Rentner und andere „Geringverdiener“ interessieren ihn und seinesgleichen nicht. Sie haben sie nicht auf der Rechnung, sie sind ihnen scheißegal, nur ein Klotz am Bein, den sie loswerden wollen. Sie sind für Buschmann und seinesgleichen die Verzichtbaren, die Überzähligen, das Kanonenfutter.

Darum ist die FDP auch der ideale Partner für Olaf Scholz, den Kandidaten, der bei der Bundestagswahl am Sonntag zwar offiziell für die SPD zur Bundestagswahl antritt, tatsächlich aber der Kandidat der Banken und Konzerne ist. Der wundersame Aufstieg dieses mehrfach totgesagten Mannes und gewesenen Kapitalismuskritikers (damals als Juso) ist nicht so unerklärlich, wie er manchmal erscheint. Er hat schließlich immer geliefert. Also aus Sicht der Herrschenden.

Als Erster Bürgermeister Hamburgs erstmal hunderte Millionen Steuergelder in das eigentlich schon gescheiterte Projekt Elbphilharmonie gepulvert, um der Stadt mit den meisten Millionären im Land das gebührende Symbol ins Zentrum zu pflanzen – und dazu noch ein nettes Konzerthaus zu schenken. Beim Deal mit der Hamburger Warburg-Bank in Sachen „CumEx“ hat Scholz erneut bewiesen, für wen seine Tür allzeit offen steht. Und natürlich hat er, wer erinnert sich nicht daran, den G-20-Gipfel im Sommer 2017 zur Zufriedenheit der Herrschenden durchgezogen. Wer immer noch glaubt, er sei bei der Organisation dieser Veranstaltung gescheitert, hat das Prinzip nicht begriffen. Der Gipfel an der Elbe war ein wunderbares und überaus erfolgreiches Manöver für die Sicherheitskräfte und zudem der Auftakt für eine anschließende Repressionswelle in der BRD. Also: Mission completed!

Dass Scholz anschließend zum Finanzminister und Vizekanzler befördert wurde, hat also seine Richtigkeit. Nun ja, und jetzt ist er halt ganz oben angekommen: Bundeskanzler. Er wird es, hundert Pro! Er ist der richtige, um die kommenden Sauereien durchzuziehen, die Schrauben wieder anzuziehen, die Lasten der Coronakrise auf die Leute abzuwälzen, die im Kapitalismus immer für Krisen büßen müssen.

Im Spiegel hat einer dieser Lindner-Buschmann-Typen, um sie mal so zu nennen, namens Michael Sauga schon die Befehle ausgegeben. „Warum Scholz den Schröder machen muss“ steht drüber. Und drunter: „SPD und Grüne nähren die Illusion, dass die Öko-Wende den Sozialstaat nicht betrifft. Die Wahrheit lautet: Die Republik braucht eine neue Agenda 2010.“ Die ersten Sätze, die der Lohnschreiber zu Papier gebracht hat, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Sauga schreibt: „Es ist knapp 20 Jahre her, dass Gerhard Schröder jenen Satz formulierte, der noch heute vielen Sozialdemokraten das Blut in den Adern gefrieren lässt. »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen«, verkündete der Kanzler in seiner Agenda-Rede im März des Jahres 2003. Einiges spricht dafür, dass bald wieder ein Sozialdemokrat im Kanzleramt sitzt. Mindestens genauso groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in nicht allzu ferner Zukunft ebenfalls eine Agenda-Rede halten muss.“

Deutschland stehe, belehrt uns uns der vollversorgte Autor, „vor dem größten industriellen Umbau seiner Geschichte“. Zudem wechsle in den nächsten Jahren fast jeder zehnte Beschäftigte in den Ruhestand: „Und doch scheint es für SPD und Grüne vor allem darum zu gehen, die rekordhohe deutsche Sozialleistungsquote zu erhöhen.“ Dann faselt Sauga noch was von „Finanzlücke“, „siechenden Kranken- und Rentenkassen“, „Rückgang des Beschäftigungspotenzials“ et cetera pp. Sein ekliges Credo gipfelt in dem Satz: „Eine Regierung aber, die es ernst meint mit der Klimawende, muss eher dem Schröder-Ansatz folgen: also erst für wirtschaftliche Dynamik sorgen, bevor sie ans Verteilen denkt.“

Das Lied kommt einem bekannt vor. Und wir werden es nach der Wahl so oder ähnlich noch oft hören. Denn, egal welche Konstellation regiert – die Lasten der Coronakrise werden wieder mal auf die abgewälzt werden, die sich nicht wehren können. Auf dass die „wirtschaftliche Dynamik“ die Kriegskassen deutscher Konzerne und die Taschen der Besitzenden weiter fülle! Grüne und Linke werden daran nichts ändern können, vielleicht nicht einmal wollen. Dass die Herrschenden das Verarmungsprogramm Hartz-IV damals am besten mit einer „rot-grünen“ Regierung durchsetzen konnten, ist ja bekannt. Aber es heißt andererseits ja auch, die Geschichte wiederhole sich nicht. Nun ja, im Kapitalismus schon!

GET POST FORMAT

„Gentlemen please start your engines – and may the best woman win“ – “Meine Herren, bitte starten Sie Ihre Motoren – und möge die beste Frau gewinnen!” Ziemlich genau so, läutet RuPaul Charles jede Folge ihrer (RuPaul und die Dragqueens werden in diesem Text je nach ihrem Auftreten mit „sie bzw. er bezeichnet) Kultserie ein, in der es darum geht, eine neue Königin im Reich des Drags ausfindig zu machen. Wer die Serie als Geheimtipp beschreibt, kommt gute fünf Jahre zu spät. Zurzeit ist die 13. Runde dieses Unterfangens auf der queeren Streamingplattform World of Wonders zu sehen, alle anderen Staffen auch auf Netflix.

In Deutschland wurde die Serie durch ProSieben kopiert und nennt sich „Queens of Drags“. Dies hat in der queeren Szene für viel Kritik gesorgt, da es sich hierbei um einen Akt kultureller Aneignung handle: Auch wenn neben Heidi Klum und Bill Kaulitz die Dragqueen Conchita Wurst als Moderatorin und Jurorin fungierte, stand hinter der Produktion ein rein profitorientierter Fernsehsender und nicht mehr die Ikone des Drags.

Denn wie niemand anders hat RuPaul dazu beigetragen, Drag aus der Schmuddelecke in den Mainstream zu katapultieren – und nebenbei eine milliardenschwere Industrie zu erschaffen. Begonnen hat der öffentliche Erfolg RuPauls im New York der 90er Jahre mit dem Videoclip zu ihrem Lied „Supermodel“, das auch in Europa auf MTV zu sehen war. Am 2. Februar 2009 wurde die erste Folge von RuPaul‘s Drag Race ausgestrahlt, das vor allem in der queeren Szene gefeiert wurde. Außer einem bemerkbar gestiegenem Produktionsbudget und Professionalität der teilnehmenden Drag Queens, hat sich an der Konzeption der Serie wenig geändert.

If you can’t love yourself how in the hell you gonn’ love somebody else?“

Nach wie vor müssen die Dragqueens durch eine Reihe von Mini- und Maxi Challenges. Dabei ist das Snatch Game, eine „Quizshow“, in der sich die Drag Queens eine bekannte Persönlichkeit mimen, eines der Highlights jeder Serie, „RuSicals“, in denen die Dragqueens eine Broadwaynummer einlegen müssen, ließen schon einige Favoritinnen wortwörtlich straucheln („pun intended“), genauso wie die Sewing Challenges, in denen der Fokus auf das Schneidern ihrer Kleider liegt, die abschließend auf dem Laufsteg inszeniert werden müssen. Und immer noch endet jede Folge mit einem „Lip Sync“, in der die schlechtesten bzw. besten Dragqueens um „ihr Leben“ karaoken. RuPaul und ihre treuen Begleiter*innen in der Jury, insbesondere Michelle Visage (sowie seine Scriptschreiber*innen) sind wahre Meister*innen der eingängigen Repititionen und Wortspiele, die sich ins Hirn einbrennen und trotzdem nie langweilig werden.

Ebenso greift die Serie stets aktuelle Ereignisse und Diskurse, sowie Dauerbrenner auf. Es geht immer wieder um Politik, Diskriminierung und Identität, um Sex, Selbstermächtigung und Drogensucht, um prekäre Existenzen, Krankheit, Familie und dem oft steinigen Weg zur Selbstakzeptanz. Die Serie endet stets mit dem Mantra: „If you can’t love yourself how in the hell you gonn’ love somebody else?“ – „Wenn du dich nicht selbst lieben kannst, wie kannst du jemand anderes lieben?“ – Diese Kombination erklärt einen Teil des wachsenden Publikums und der dreizehn Emmy Awards, die RuPaul seit 2016 verbuchen konnte.

We are all born naked and the rest is drag“

Vor allem aber ist das Sujet auch für weniger queere Menschen unglaublich unterhaltsam: Unerschrockene Männer, die sich jede Folge aufs Neue teilweise unglaublichen Verwandlungen unterziehen und dabei mit Stereotypen jonglieren. Die Serie erweist sich hier als lehrreich und ermöglicht einen Einblick in die verschiedenen Subkulturen, die Drag ausmachen und die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten schwuler Männer*. Was Rechte in Unkenntnis als „Genderwahnsinn“ beschreiben, wird hier erfahrbar und zeigt, dass es auch in der Welt des Drags Regeln gibt. So kam es zwar vor, dass auch Transfrauen teilnahmen, dies bleibt aber eine Ausnahme, genauso wie heterosexuelle Männer, denen die Tür aber im Grunde offensteht. Dieser Ausschluss RuPauls wird von einigen als transfeindlich bezeichnet, jedoch nimmt er auf andere Weise auch die gewählte Geschlechtlichkeit einer Transfrau ernst: es geht um die geschlechtliche Identifikation und nicht um das biologische Geschlecht, mit dem ein Mensch zufällig geboren wurde. In der 13. Staffel war dementsprechend die Teilnahme eines Transmanns, Gottmik, möglich, der das Konzept kein bisschen irritiert. Die Serie zeigt also nur einen Teil möglicher Geschlechtlichkeiten in Kombination geschlechtlicher Orientierungen und ist trotzdem ein Augenöffner, gerade für Menschen, die in ihrem Umfeld wenig Berührung mit queeren Lebenswelten haben. Das Problem sind nicht Männer die Korsetts tragen, sondern eine Gesellschaft, die viele Menschen in ihrer Entfaltung einengt. Oder wie RuPaul es zu sagen pflegt: „We are all born naked and the rest is drag“ – „Wir werden alle nackt geboren, der Rest ist Drag“

RuPaul’s Herstory

RuPaul hat also bereits viel beigetragen, um den Ziel Drag als eine eigene Kunstform zur gesellschaftlicher Anerkennung als Lebensstil, Profession und Kunstform zu verhelfen. Dabei verweist die Serie auch immer wieder auf die Geschichte des Widerstands – im Kontext von Drag der „Drag Herstory“ – der dieser Entwicklung vorausgehen musste, etwa zu den Stone Wall Riots, einem wichtigen politischen Datum für die schwule Bürgerrechtsbewegung, das auch den Christopher Street Day begründet. RuPaul’s Drag Race ist hier sowohl Motor als auch Zeugnis eines unleugbaren Wandels. Viele der Dragqueens berichten in der Show von den Anfeindungen mit denen sie nach wie vor zu kämpfen haben und nach wie vor sind Transmenschen of Colour in den USA (und wohl weltweit) eine Minorität, die wie keine andere von Mord und Totschlag bedroht ist. Oftmals wird auf den Kultfilm „Paris is Burning“ verwiesen, der Dragqueens aus dem New York der frühen 90er Jahre portraitiert und die einzigartige Ballkultur einfängt, in der das Vogueing entstand und ohne die RuPauls Drag Race nicht denkbar wäre. Eine der Protagonist*innen, Venus Xtravaganza, wurde während der Filmproduktion ermordet und nicht zuletzt der Anschlag mit 49 Toten auf den queeren Club „Pulse“ in Orlando zeigt, wie real die Bedrohung durch solche Gewalttaten ist. Dies alles muss gesagt werden, doch scheint es zugleich, dass gerade bei den Eltern der jüngeren Draggeneration die Akzeptanz zu steigen scheint. RuPaul hat sicher einen Anteil daran.

I‘m American – just like you too“

Die Wahl Trumps hat vor Augen geführt, wie fragil dieser Fortschritt ist. Die Möglichkeit als Transmensch in der US-Army zu dienen wurde unter seiner Legislatur beispielsweise zurückgenommen. Hier zeigt sich einer der Kippmomente in denen sich die progressive Serie, sich in den Dienst imperialistischer Propaganda stellt und pinkwashing betreibt. In der Staffel treten die Dragqueens etwa vor queeren Soldat*innen auf und uns bleibt das Narrativ nicht erspart, dass diese Menschen „unsere Freiheit“ verteidigen würden. Ebenso kritisch ist ein „RuSical in der britischen Auskopplung, in denen russische Hacker durch das Streuen von Falschnachrichten dafür verantwortlich gemacht werden, die „Nation entzweit“ und somit den Brexit möglich und Trump zur Macht verholfen zu haben. Auch wenn es zu russischer Einmischung in den Wahlkampf kam, muss aus einer kritischen Perspektive doch klar sein: die USA blicken auf eine lange rassistische Tradition und auch 2020 haben über 74 Millionen Amerikaner*innen Trump ihre Stimme verliehen. Das Narrativ, dass Putin für Trump verantwortlich sei, ist selbst eine nationalistische Verschwörungstheorie, die den Rassismus und Chauvinismus, der Trump zur Wahl verholfen hatte,externalisieren möchte. RuPaul steht hier also in einer klaren liberalen Tradition und macht aus seiner unkritischen Unterstützung der demokratischen Partei keinen Hehl, deren – zugegeben – progressivere Vertreter*innen immer wieder in die Show eingeladen werden, so etwa Nancy Pelosi und Alexandria Ocasio-Cortez.

Dieser progressive Nationalismus bleibt in seinem Wesen Nationalismus und zeigt sich etwa auch in RuPauls Lied „American“. In diesem, auch musikalisch schwer erträglichen Song, spricht RuPaul in apologetischer Art und Weise seine Fellow Americans an – und schließt damit unbewusst den größeren Teil der Welt aus. Und auch wenn insgesamt ein entspannter und satirischer Umgang mit rassistischen Stereotypen herrscht, der die Serie ausmacht und gerne verziehen wird, ist gerade in die Darstellung fremdsprachiger Queens, besonders solchen aus Puerto Rico und dem afrikanischen Kontinent, problematisch und herablassend.

I marketed subversive Drag to a hundred million Motherfuckers in the world“

Was Jay-Z für Rap ist, das ist RuPaul für Drag. Beide kommen aus relativ armen Verhältnissen und wurden durch ihr reines Talent Ikonen in ihrem Genre. Beide haben darüber hinaus relativ früh die kapitalistische Logik verstanden, die eine subversive Kunstform zu einer milliardenschweren Industrie transformiert. Mit diesem Verständnis haben sie sich selbst vom Künstler* zum Kapitalisten* emporgeschwungen und verkörpern das Märchen der unbeschränkten Möglichkeiten. Gemessen an ihrem Vermögen sind sie die unbestreitbaren Könige bzw. Königinnen ihres Genres, ihrer Industrie geworden. RuPauls Vermögen wird auf 60 Millionen Dollar geschätzt und sie meint nicht ganz unbescheiden, aber treffend: „I marketed subversive Drag to a hundred million Motherfuckers in the world. I’m a motherfucking marketing genius over here“ – „Ich habe “Subversive Drag” an 100 Millionen Motherfuckers auf der Welt vermarktet. Ich bin ein verdammtes Marketing-Genie“

Dabei wird die Serie stets als Plattform dargestellt, mit der es andere Queens schaffen, ihre Karrieren nachhaltig zu festigen – nicht nur die Gewinner*innen einer Staffel, die 100.000 Dollar einheimsen. Und dies stimmt: Auch Queens die früh aus dem Rennen scheiden, können mit weiteren Bookings im In- und Ausland und explodierenden Followerzahlen auf Instagram und TikTok rechnen. Auf der anderen Seite sind die Künstler*innen extrem von der Gunst RuPauls abhängig. Es ist mehr als eine Inszenierung als alleinherrschende Königin: RuPaul hat tatsächlich ein pater- bzw. maternalistisches Reich begründet, in der er – bewusst oder nicht – von der Ausbeutung der Künstler*innen profitiert. Die wäre ein ernsthaftes Sujet für eine Forschungsarbeit aus marxistischer und neogramscianischer Sicht: So wie Marx letztendliche von der kapitalistischen Warenproduktion fasziniert war, ist es spannend zu sehen, wie sich der Kapitalismus diese subversive Kunstform angeeignet hat – aus linker Sicht, sollte es hier sekundär sein, welches Gesicht diese Entwicklung repräsentiert.

RuPauls Drag Race ist also zugleich das Produkt eines emanzipatorischen Kampfes als auch einer ausbeuterischen Industrie – und am Ende vor allem eines: gute Unterhaltung.

# Titelbild: VH1, Cast der 13. Staffel

GET POST FORMAT

Von URA Dresden

Es gibt seit Jahren und besonders in Zeiten der Pandemie unfassbar viele Gründe, um wütend zu sein und auf die Straße zu gehen. Unter anderem gegen Ausbeutung, Menschenverachtung, die Klimakatastrophe, den rechten Rollback und die anhaltende Unterdrückung von Frauen* und Menschen, die nicht in das dichotome Weltbild der zwei Geschlechter passen. Gegen die tatsächliche, aufzeigbare und globale autoritäre Formierung und gleichzeitig für bezahlbares Wohnen, gute Löhne und Sozialleistungen, welche die Menschen nicht in die Armut treiben. Für die Kollektivierung von Infrastruktur und Produktionsmitteln, sowie für mehr Demokratie und Mitbestimmung für Alle, ebenso wie für eine der wohl aktuell wichtigsten Fragen: wer leidet denn eigentlich unter den wirtschaftlichen Folgen von Corona, wer Bezahlt am Ende dafür und wer profitiert einmal mehr?

Im Beitrag “Corona Demonstrationen: die Verpasste Gelegenheit” macht Marik Ratoun eine streitbare Analyse über die sogenannten “Querdenker” und formuliert den Vorwurf an eine deutschsprachige radikale Linke, die „Querdenker“ nicht als soziale und hersschaftskritische Bewegung anerkannt zu haben, welche allerdings von rechten Akteur*innen übernommen worden sei.:

Wir als Teil dieser radikalen Linken denken nicht, dass eine falsche Bewegungsanalyse der „Querdenker:innen“ dafür ausschlaggebend war, dass wir als Linke uns nicht in diese Bewegung eingemischt haben. Sondern vielmehr die Analyse der “Querdenker:innen” und Covid-Leugner:innen so einen Schritt von Beginn an unmöglich gemacht hat:..

1. Nicht alles, was herrschaftskritisch daherkommt, ist es auch

Unserer Ansicht nach konnte von Anfang an kaum progressives Potenzial in den Reihen der “Corona-Rebell:innen” gefunden werden. Die Bewegung kennzeichnet sich nicht dadurch, dass sie solidarisch ist und sich für die Ausgebeuteten, Unterdrückten oder die rassistisch und sexistisch Ausgegrenzten in diesen besonders schweren Zeiten einsetzt.

Dabei gibt es viel zu kritisieren:Beispielsweise an den neun Milliarden Euro staatlicher Geschenke an Lufthansa, während trotzdem hunderte Jobs gestrichen werden. Oder daran, dass der Einzelhandel oder der Kunst- und Kulturbetrieb in große Schwierigkeiten geraten bzw. vermeintlich “systemrelevante Jobs”, wie Kranknepfleger:innen keine Lohnerhöhungen oder Risikozahlungen bekommen, sondern einzig Beifall vom Balkon und ein dickes Dankeschön der Regierung.

Die Querdenker:innen in Stuttgart, Leipzig, Dresden und woanders, meckerten jedoch über die störende Maske beim shoppen oder eine nicht existente “Impfpflicht” und forderten schlicht die Rücknahme aller Corona-Schutzmaßnahmen. Zusätzlich verbreiteten sie Fake-News und (antisemitische) Verschwörungserzählungen. Ihnen geht es in erster Linie um sich selbst und den Erhalt ihrer Privilegien, und eben nicht um eine gesellschaftliche Veränderung im sozialen Sinn. Denn wirtschaftliche Konsequenzen und Folgen für unterprivilegierte Teile der Bevölkerung stehen nicht auf der Anklagebank, sondern lediglich die ganz persönlichen Einschränkungen und eine vermeintliche geheime Weltregierung mit Bill Gates an der Spitze.

Der Vergleich mit Frankreich ist unserer Meinung nach eine Beleidigung der Gelbwestenbewegung. Dort stand von Anfang an auf der Agenda, dass der Staat die Kosten der Krise durch neoliberale Maßnahmen auf die Schultern der mittleren bis unteren Schichten verteilt (wie auch in der Corona-Pandemie), anstatt diejenigen zu belasten, die durch den jahrzentelangen Abbau des Sozialstaats und der neoliberalen Politik profitierten und das auch künftig tun werden. Ziel der Proteste war es, der Regierung zu zeigen, dass diese unfaire Verteilungspolitik enden muss und es soziale Lösungen braucht, welche die Reichen stärker belasten als die Armen.

Dagegen sehen wir die Querdenker:innen als Spitze einer neoliberalen Verrohung, wie wir sie unter anderem in den USA und in vielen anderen Teilen der Welt beobachten können. Getrieben vonEgoismus und gespeist von Verschwörungsmythen, geht es ihnen darum, sich der gegenseitigen Rücksichtnahme und Solidarität zu entziehen. Die Verteidigung der eigenen Privilegien ist der einzige Maßstab und anstatt eine Umverteilung gesellschaftlichen Wohlstands von oben nach unten zu fordern, schüren sie Ressentiments, welche die Schwächsten unserer Gesellschaft treffen.

2. Teil einer (neu)rechten Strategie

Verschwörungserzählungen und -Mythen sind schon lange Teil rechter Strategien. Das Ganze hat Tradition von der “jüdischen-bolschewistischen Weltverschwörung” bis zum “großen Autausch”. Von Beginn an konnten Rechte und Verschwörungstheoretiker:innen die ideologische Stoßrichtung der “Querdenken-Proteste” festlegen und damit sogar teilweise Menschen erreichen, die vorher nicht zu ihrem Mobiliserungspotenzial zählten.

Des Weiteren kommt dazu, dass die verschwörungsideologische Szene nahezu resistent gegen jede Intervention von außen ist. Nur noch “alternative Medien” zählen und alle anderen Diskussionsgrundlagen werden als Lügen abgetan. Es wird damit schwer für uns, vernunft- und faktenbasierte Diskussionen und Erklärungen zu nutzen und damit Gehör zu finden Denn mit Hilfe einer Strategie der Wirklichkeitskontruktion kann bei Ihnen alles gerechtfertigt und behauptet werden. Gemeinsame Standpunkte und Inhalte sind schwer zu finden, was wir nach wie vor an den unfassbar schwammigen Inhalten dieser Bewegung sehen.

Die radikale Linke sollte sich diesen entgrenzten Populismus als Strategie nicht zu eigen machen.

Den Versuch, in die Querdenken-Bewegung hineinzugehen und deren Anhänger:innen grundlegend von einer anderen Weltsicht und anderen Zielen zu überzeugen, hätten wir daher als sehr engagiert wahrgenommen. Die Spucke für Diskussionen mit Menschen, die für jegliche Ansätze jenseits ihrer verschwörungsideoligischen Weltbilder völlig unempfänglich sind, können wir uns lieber sparen.

Stattdessen wäre es sinnvoll gewesen, parallel und in Abgrenzung zu den Querdenker:innen, eigene Kritikpunkte stark zu machen, um die Protesthegemonie gegen die Corona-Politik nicht Rechten und Verschwörungsanhänger:innen zu überlassen, sondern tatsächlich progressive und soziale Kämpfe stark zu machen. Dadurch wäre eine alternative Protestmöglichkeit geboten, für Menschen, die aus guten Gründen gegen die Pandmiepolitik der Regierung sind, aber nicht mit Rechten von AfD bis NSU-Unterstützerumfeld demonstrieren wollen..

Dies sind die zwei inhaltlichen Punkte des ursprünglichen Artikels, denen wir gern eine andere Perspektive gegenüberstellen wollen. Ausdrücklich anschließen möchten wir uns hingegen der Aussage des Autors, dass der Staat oder gar der kapitalistische Mainstream kein Bollwerk gegen den Faschismus sein kann. Wer sich zu sehr auf diesen verlässt, ist weiterhin verlassen.

So sehen wir auch die Kommentare infolge der verbotenen Querdenken-Demonstration am 12.12. in Dresden kritisch, welche aus den Lobgesängen für “das konsquente Verhalten der Polizei” nicht mehr herauskommen und im Staat das Heilmittel gegen den schwarz-weiß-roten Corona-Maßnahmen-Protest beschreien und herbeisehnen. Offenbar sind die Bilder aus Leipzig wenige Wochen zuvor schnell vergessen worden.

Wir stimmen dem Autor darin zu, dass die radikale Linke an sich auch stärker in undurchsichtigen Situationen intervenieren sollte und an einer Kapitalismus- und herrschaftskritischen Linie festhalten muss. Wir müssen uns daran gewöhnen, uns im diskursiven Handgemenge auch mal die Finger schmutzig zu machen, wenn wir aus der eigenen Bubble rauswollen und nicht jedes Aufbegehren direkt zu verschreien. Doch dürfen wir auch nicht hinter unsere emanzipatorischen Mindeststandarts fallen, sondern sollten genau beobachten, wo tatsächlich progressive Potenziale erkennbar sind und wo nicht. Bei den Querdenker:innen fehlt uns dieses Potential leider.

Doch müssen wir die Kritik annehmen, keine gute Alternative angeboten zu haben, die es geschafft hat, mehr als die sowieso schon von linken Ideen Überzeugten zu erreichen. Dies wurde zwar versucht durch Forderungskataloge, die guten Aktionen gegen Tönnies oder durch das Aufzeigen der menschenverachtenden Politik an Europas Außengrenzen. Doch leider waren diese, wie so oft, nicht mit dem nötigen Erfolg verbunden.

In den letzten Jahren mussten wir oft feststellen, dass es eine radikale Linke aus eigener Kraft nicht schafft, breite Bewegungen anzustoßen. Den verzweifelten Wunsch, jeden Strohhalm als möglichen Rettungsring zu sehen, können wir nachvollziehen, doch sehen wir es als notwendige Bedingung, im Vorhinein genau hinzuschauen, ob es Anknüpfungspunkte für uns gibt und progressive Potenziale zu erkennen sind.

3. Widerstand gegen die Querdenker:innen als Chance aka überholen ohne einzuholen

Wir sind der Meinung, dass wir den Kampf gegen das neoliberale Krisenmanagement mit dem Widerstand gegen die Covid-Leugner:innen, Verschwörungs-Anhänger:innen und regressive Kräfte innerhalb der Proteste vereinen müssen. Denn diese sind ebenso wenig an grundlegenden und sozialen Lösungen interessiert, wie es die Regierung ist. Denn das Corona-Virus ist nicht nur eine Grippe. Es beinhaltet: schwere Krankheit bis zum Tod, Insolvenz der Kulturbranche, Kürzungen im sozialen Bereich – während gleichzeitig zwangsmäßige Corona-Partys in Fabriken und Betrieben stattfinden – soziale Isolation, eine krasse Zunahme häuslicher Gewalt, das weitere abhängen ohnehin schon abgehängter und prekarisierter Kinder, die Überlastung des medizinischen und gesundheitlichen Sektors und eine zunehmende Ungleichverteilung des Reichtums und materieller Güter. Wie Eingangs erwähnt, sind dies genug Gründe, um sauer zu sein, die Regierung und deren Maßnahmen zu verurteilen. Wir müssen aber klar machen, dass sowohl die Leugner:innen, als auch die verpatzte Sozialpolitik der Regierenden zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Die Wut über die Folgen der Corona-Krise kann eine Chance bieten, eine wirkliche soziale Bewegung ins Leben zu rufen, die intersektionale Kämpfe verbindet. Eine Bewegung, die für Solidarität steht, anstatt für Egoismus und damit einen grundlegenden Fehler der kapitalistischen Verwertungslogik, Profite über Menschenleben zustellen, zu überwinden sucht.

Diese Chance ist noch lange nicht verpasst, da vor allem die sozialen und ökonomischen Folgen dieser Pandemie nicht absehbar sind, aber schon jetzt klar ist, dass wir, und nicht die Krisenprofiteure die Zeche zahlen müssen – den Fehler nicht in diese Konflikte zu intervinieren sollten wir nicht noch einmal machen.

# Titelbild: Nutshell Fotografie, CC BY-NC 2.0, Corona-Leugner*innen im Mauerpark am 02.08.2020

GET POST FORMAT

Am 17. Dezember verstarb in der Berliner Charité mit 61 Jahren Gennadi Adolfowitsch Kernes an den Folgen einer COVID-19-Infektion. Der Bürgermeister von Charkow war eine der markantesten Figuren der ukrainischen Politik der letzten Jahrzehnte. Anhand seines Lebenslaufs lässt sich die Entwicklung des postsowjetischen Kapitalismus besser verstehen.

Die ursprüngliche Akkumulation

Der 1959 im Charkow geborene Gennadi Kernes schlug sich nach dem Abschluss einer Berufsschule mit Gelegenheitsjobs durch, bis er ein Geschäftsmodell entwickelte, das in einem Staat, der private unternehmerische Tätigkeit für immer abschaffen wollte, schnellen, wenn auch illegalen Reichtum versprach. Die Sowjetunion verbat ihren Bürger:innen den Besitz von Devisen, bot aber gleichzeitig für die ausländische Tourist:innen begehrte, weil in Einzelhandel kaum vorhandene Waren in speziellen Läden an um an harte Weltwährungen zu kommen. Um diese Läden herum blühte ein Schwarzmarkt für Devisen und „Zertifikate“, die zum Betreten der Läden berechtigten. Die Sowjetbürger:innen, die in den Westen auswandern wollten, versuchten ihre Wertsachen gegen im neuen Leben dringend benötigte Dollar einzutauschen. Und genau diese Dollars behaupteten Kernes und seine Geschäftspartner anzubieten. Als besonders effektiv erwies sich, wenn während Übergabe ein woher geschmierte Milizionär (sowjetische Polizei) am Horizont erschien. Die Opfer des Betrugs suchten so ohne Nachzählen mit einem Bündel angeblicher Dollar das Weite. Da die ganze Transaktion illegal war, hatte Kernes nicht zu befürchten, dass sich eines seiner Opfer an die Miliz wenden würde, mit der Beschwerde, statt Dollar eine Packung geschnittenes Papier im Tausch für Edelmetalle oder Rubel erhalten zu haben.

Kurz vor dem Ende der Sowjetunion landete Kernes dann doch noch auf der Anklagebank und wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. In die unabhängige Ukraine, der ein Übergang zur Marktwirtschaft bevorstand, kam er dank seiner vorherigen Tätigkeit mit zwei Dingen, die unentbehrlich für eine erfolgreiche Kapitalistenkarriere waren – Startkapital und die richtigen Bekanntschaften.

Politische Ökonomie

Als sich „Gepa“, wie Kernes in einschlägigen Kreisen genannt wurde, 1998 für den Gang in die Politik entschloss, kontrollierte seine NPK-Holding bereits die wichtigsten Medien der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Er war eine der Schlüsselfiguren bei der Privatisierung des ehemaligen sowjetischen Staatseigentums. Als Sekretär des Stadtrates und enger Vertrauter und Wahlkampfsponsor des damaligen Bürgermeisters Michail Dobkin konnte er bei der Vergabe von Aufträgen an die Privatunternehmen mitentscheiden.

Die erste „Orangene Revolution“ 2004/2005 zwang ukrainische Politiker:innen zu unangenehmen Entscheidungen: Der Wahlsieg des als prorussisch geltenden Wiktor Janukowitsch wurde von den Anhänger:innen seines prowestlichen Herausforderers Wiktor Juschenko als Resultat massiver Fälschungen beanstandet. Kernes ergriff zuerst entschlossen die Partei für das prowestliche, „orangene“ Lager und überlebte sogar ein Attentat der prorussischen paramilitärischen Organisation „Oplot“. Doch 2010 trat Kernes Janukowitschs „Partei der Regionen“ bei. Im selben Jahr wurde er als Nachfolger Dobkins zum Bürgermeister von Charkow gewählt.

Als im es Winter 2013/14 wieder zu Massenprotesten gegen den inzwischen doch noch zum Präsidenten gewählten Janukowitsch kam, zeigte sich Kernes als bekennender Gegner des „Maidans“. Die neue ukrainische Regierung befürchtete, dass in Charkow, wie in Donezk und Lugansk die prorussischen Kräfte die Oberhand gewinnen könnten. Seite an Seite mit den „Oplot“-Aktivisten traten Kernes und Dobkin bei den Anti-Maidan-Demos auf. Die Tatsache, dass in der neuen Regierung das Amt des Innenministers an den Charkower Multimillionär Arsen Awakow ging, der als Erzfeind von Kernes galt, trug ebenfalls zu Spannungen bei. Nachdem er sich im Februar 2014 in Genf mit dem Oligarchen Igor Kolomoiski traf, der schon früh für den Maidan Partei ergriffen hatte, änderte Kernes seine Position erneut. Er flog nach Charkow zurück und sprach vor pro-russischen Demonstrant:innen darüber, dass Charkow sei ein Teil der unabhängigen Ukraine und werde es immer bleiben.

Am 7. April wurden in Donezk und Lugansk die Gründung der „Volksrepubliken“ verkündet, am 8. April nahm in Charkow eine aus der Westukraine eingeflogene Polizeispezialeinheit die Anti-Maidan-Aktivisten, die sich in dem Gebäude der Stadtverwaltung verbarrikadiert hatten fest. Im russischsprachigen Charkow fand kein „Russischer Frühling“ statt und die neuen Machthaber ließen Kernes im Amt, obwohl er für sie eine der meist verhasstesten Figuren der ukrainischen Politik war. Schließlich galt er als einer der Geldgeber der „Tituschki“ – Provokateure und Schlägertrupps im Zivil, die in den Tagen der Maidanproteste berüchtigt wurden. Während Kernes weiterregierte, setzte sich der Anführer von „Oplot“, Jewgeni Schilin, der die Kader für „Tituschki“ bereit stellte, erst in die „Volksrepublik Donzek“ und später nach Russland ab, wo er im September 2016 von einem Unbekannten erschossen wurde.

Nun galt Kernes als ein Garant der Stabilität im Region, zumal als ein Schützling von Kolomoiski, dessen Gewicht in der ukrainischen Politik beständig wuchs. Dass die politische Macht in der Ukraine kaum von der wirtschaftlichen getrennt ist, wird zwar von vielen westlichen Beobachter:innen kritisiert, dennoch gelten alle Politiker:innen, die sich gegen die „Volksrepubliken“ entschieden hatten als, vom Standpunkt der „guten Demokrat:innen“, kleineres Übel.

Am 28. April 2014 entging Kernes nur knapp dem Tod, als ihn die Kugel eines Heckenschützes traf. Das Attentat wurde nie aufgeklärt, obwohl der von nun an den Rollstuhl gefesselte Kernes, dem Innenminister Awakow die Schuld gab. Ab diesem Zeitpunkt war der Charkower „Stadtvater“ in Augen seiner Wähler:innen ein Märtyrer. Ein Jahr nach dem Attentat wurde er als erster Bürgermeister in der neueren Geschichte der Stadt für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – mit satten 65,8 Prozent der Wähler:innenstimmen.

Kapitalist, Demokrat, König

„Gepa, der König von Charkow“ war in der Tat durchaus populär bei der Bevölkerung. Er gab sich stets als Lokalpatriot, der einerseits gewillt ist, sich mit Kiew anzulegen, andererseits aber auch immer zu Kompromissen bereit ist, wenn sie nur für neue Geldflüsse in die Region sorgten.

Unter Kernes wurden mehrere Industrieanlagen aus der Sowjetzeit stillgelegt und abgerissen, an ihrer Stelle entstanden riesige Wohnkomplexe. Ein Teil der Wohnungen wurde „sozial schwachen“ Familien zugeteilt, während der Großteil profitabel verkauft wurde. Kernes machte Charkow zu einer der saubersten Städte der Ukraine, aber bei jedem Bau- oder Renovierungsprogramm kam es zu Skandalen um Geldwäsche, die Vermittlung der Aufträge und überhöhte Preise, für die die Stadtverwaltung Baumaterialien bei „befreundeten“ Unternehmen bezog. Kernes machte Charkow zur Vorzeigestadt in Sachen Barrierefreiheit – aber erst als er selber auf einen Rollstuhl angewiesen war. Er verhinderte den Abbau der sowjetischen Denkmäler – obwohl er selber vom Zerfall der Sowjetunion unmittelbar profitiert hatte. Er schützte den Status der russischen Sprache – und behielt die Macht, weil er Charkows Verblieb in der Ukraine sicherte. Bei seinen Wahlkämpfen wurde er von Unternehmerverband und Gewerkschaften der Stadt gleichermaßen unterstützt.

Als Faktor in der gesamtukrainischer Politik konnte der „König von Charkow“ nur bedingt wirken. Er galt zwar weiterhin als ein Überbleibsel der Janukowitsch-Zeit. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 unterstützte Kernes offiziell den Amtsinhaber Petro Poroschenko, der vom Newcomer Wolodymyr Selenskyj vernichtend geschlagen wurde. Poroschenko war auch mal Mitglied in Janukowitschs „Partei der Regionen“, stand nach dem Sieg von Maidan gerade für unbedingte Westbindung. Selenskyj wurde im Wahlkampf nachgesagt von Kolomojski unterstützt zu werden. Der Kreis der Akteur:innen der ukrainischen Politik scheint sich wenig zu ändern. Noch vom Berliner Krankenbett aus gewann Kernes die Regionalwahlen am 25. Oktober 2020. So treibt nach seinem Tod eine Frage die ukrainische Öffentlichkeit um: Was passiert mit dem Charkower Modell, das voll und ganz durch die Person Kernes zusammengehalten wurde?

Das Gepas Charkow keine Stadt war, wo Kapital frei vor sich hin konkurrieren konnten, weil bereits die Konkurrenz mit außerökonomischen Gewaltmitteln ausgefochten war und ihre Gewinner:innen das Geld aus der Staatskassen in ihre eigene Kassen scheffeln, haben die Anhänger:innen von „richtiger“, „reiner“ Marktwirtschaft häufig moniert. Dies ist aber keine Anomalie, sondern direkte Folge der Einführung des Kapitalismus auf den Ruinen des Realsozialismus. Neukapitalistische Länder müssten sich den Spielregeln stellen, die ihnen keine reale Chancen einräumen. Dass der ukrainischer Staat kein ideeller Gesamtkapitalist wurde, sondern zum umkämpften Instrument solcher Kapitalisten wie Kernes (auf der Regionalen Ebene) oder Kolomojski (auf Landesebene) – das ist nicht einfach nur deren Verkommenheit geschuldet.

# Titelbild: Sergiy Bobok. From Wikimedia Commons. License CC BY-SA 4.0, Massenandrang bei Kernes’ Beerdigung am 04.01.2021

GET POST FORMAT

Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

Artikel

0 ... 12 von 1316 gefundene Artikel

Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten […]

Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten […]

Der ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Held der Stunde. Die deutschen Medien und ihr Publikum bewundern den smarten Ex-Komiker, der […]

Verónica Gago ist Theoretikerin und Aktivistin aus Argentinien. Anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März haben wir mit ihr über […]

Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung […]

So ziemlich das einzige der vielen die Straßen momentan noch verunzierenden Wahlplakate, zu dem ich als radikaler Linker aus vollem […]

„Gentlemen please start your engines – and may the best woman win“ – “Meine Herren, bitte starten Sie Ihre Motoren […]

Von URA Dresden Es gibt seit Jahren und besonders in Zeiten der Pandemie unfassbar viele Gründe, um wütend zu sein […]

Am 17. Dezember verstarb in der Berliner Charité mit 61 Jahren Gennadi Adolfowitsch Kernes an den Folgen einer COVID-19-Infektion. Der […]

Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) […]