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Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

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Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten stärken, so zumindest steht es in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition im Bundestag. Dieses Statement ist die Fortsetzung eines Trends, denn seit einigen Jahren schreiben sich Staaten vermehrt Feminismus auf die Fahne. Spätestens 2014 hat ein neues Schlagwort den Weg in den Wortschatz der Herrschenden gefunden: Feministische Außenpolitik. Die damalige schwedische Außenministerin Margot Wallström stellte dieses Konzept vor, das vorgibt, Frauen und Mädchen zu stärken, sie besser in Politik und Friedensverhandlungen einzubinden, und patriarchale und sexualisierte Gewalt zu bekämpfen.

Diese Idee von „Feminist Foreign Policy“, die über die Jahre von immer mehr Staaten aufgegriffen wurde, ist nun auch Teil des Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus FDP, Grünen und SPD, in der mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau die Außenministerin stellt. Im selben Dokument steht neben der Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ von Asylbewerber*innen und der Zusicherung bewaffneter Drohnen an die Bundeswehr auch, was für ein wichtiger NATO-Partner die Türkei sei – trotz „besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen“. Eine interessante Wortwahl, um die zahlreichen Angriffe des türkischen Staates etwa gegen die Frauenrevolution in Rojava, gegen feministische Demos, gegen Zivilist*innen und Genozid-Überlebende in den letzten Jahren zu beschreiben. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Türkei seit Jahren den IS unterstützt, der 2014 in Shingal einen Genozid an Êzîd*innen begangen hat, der vor allem auch ein Feminizid war.

Warum wir das alles erwähnen? Weil Deutschland jährlich Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Türkei liefert. Und weil an diesem Beispiel klar werden sollte, dass Abschiebungen, Aufrüstung, Rüstungsexporte – oder aktuell die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – im Widerspruch zu Frieden und Befreiung stehen.

Wolf im Schafspelz

Eine „feministische“ Außenpolitik scheint dabei an der Oberfläche besser zu sein als eine Außenpolitik, die sich überhaupt nicht mit Themen wie Feminismus auseinandersetzt. Allerdings ist diese subtile Vereinnahmung einer der radikalsten Bewegungen der Welt durch den Staat irreführend und demobilisierend.

Kapitalismus, Ausbeutung, Rassismus, staatliche Gewalt, Repression, koloniale Kontinuitäten – das sind Begriffe, die in den „Feminist Foreign Policy“-Kontexten kaum oder gar nicht vorkommen. Denn der Ansatz ist nicht an der Überwindung dieses Systems interessiert, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und patriarchaler Gewalt basiert. Solche staatlichen Ansätze tragen vielmehr dazu bei, notwendige revolutionäre Forderungen zu verwässern und Kämpfe zu schwächen.

Gleichberechtigung wird in dieser Spielart des liberalen Feminismus im Rahmen von „Repräsentation“ gedacht; dass eine Frau die Außenministerin stellt, wird an sich als Gewinn betrachtet, während die tiefsitzende patriarchale Mentalität in der Gesellschaft und das System selbst kaum in Frage gestellt werden.

Diese oberflächliche Nutzung feministischer Begriffe findet sich auch in den vielen NGO-Strukturen, mit denen westliche Staaten für strategische Zwecke seit Jahrzehnten à la social engineering Zivilgesellschaften im globalen Süden aufbauen wollen. Feministische Aktivist*innen in Ländern wie Afghanistan, Kurdistan und im Irak kritisieren zurecht, dass die unzähligen vom Westen gesponserten „Women’s Empowerment“-Projekte schwach und unkritisch sind. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit Regierungen und staatlich unterstützten Institutionen sind sie nicht nur keine Gefahr für patriarchale Strukturen, sondern eine der vielen Methoden, mit denen radikalere feministische Bewegungen gegen Kolonialismus, Besatzung und Krieg marginalisiert werden.

Diese Entwicklungen hängen mit einem globalen Trend zusammen, nämlich der sogenannten „Feminisierung“ des Sicherheitssektors: Es werden reihenweise staatsnahe und oft von Geheimdiensten informierte wissenschaftliche Arbeiten unter dem Dach „Gender, Peace, Security“ veröffentlicht. Gleichzeitig setzen Staaten, Militärbündnisse wie die NATO und ausbeuterische Konzerne das Thema Gender auf ihre Agenda, ohne dass daraus irgendetwas anderes folgt, als dass Frauen dieselbe patriarchale Politik von eh und je umsetzen sollen. Während in der Geschichte eine Antikriegshaltung eine der wichtigsten Strategien feministischer Bewegungen war, wird es nun als feministisch betrachtet, mehr Frauen in Staatsarmeen zu rekrutieren und mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie über die Bomben entscheiden können, die auf Menschen in verschiedenen Teilen der Welt herabregnen.

Feministische Außenpolitik ist somit eine vom patriarchalen Staatensystem abhängende und im Grunde konservative Methode, mit der die Entpolitisierung Widerstand leistender Bewegungen (z.B. revolutionärer Frauenbewegungen) durch neue Formen der westlichen Hegemonie durch scheinbar progressive Ideale verwirklicht wird.

Diese Entpolitisierung zeigt sich auch in Debatten um die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine. Liberaler Feminismus spricht performativ von Putins „toxischer Männlichkeit“ und „phallisch“ anmutenden Kanonenrohren. Dabei sollte sich Feminist*innen eher die Frage aufdrängen, wie jetzt revolutionäre Bündnisse gegen Krieg, Vertreibung, Militarismus, Imperialismus, sowie sexualisierte und staatliche Gewalt geknüpft werden können. Und das geschieht nicht durch staatliche top-down-Ansätze innerhalb nationaler Grenzen, sondern internationalistisch und durch selbstorganisierte Massen.

Feminismus gegen den Staat

In den vergangenen Jahren haben sich viele feministische Kämpfe ausdrücklich gegen den Staat gerichtet, mit der Begründung, dass der Staat eine Institution ist, die patriarchale Gewalt reproduziert. Staaten behindern aktiv den Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung, indem sie revolutionäre Bewegungen und Aktivist*innen kriminalisieren. In vielen Ländern ist der Staat dabei, existierende Rechte zur körperlichen Selbstbestimmung abzubauen. Und in Lateinamerika und der Karibik etwa wird seitens feministischer Gruppen der Begriff „Feminizid“ als eine Form der patriarchalen Gewalt betrachtet, die explizit durch den Staat ermöglicht und normalisiert wird.

Immer mehr feministische Bewegungen wenden sich aus diesen Gründen von den legalistischen, bürokratischen, reformorientierten Staatsfeminismen ab und wenden sich radikalen, revolutionären, auf Selbstorganisierung basierenden Formen der Politik zu. Diese sind oft lokal und gleichzeitig internationalistisch. In einem kapitalistischen System stehen Profite über Menschenleben. Dabei ist es weitgehend egal, wie ökologisch, wohlwollend oder sogar feministisch sich Regierungen geben. Vergessen werden Frauen und Queers in Knästen und in Kriegsgebieten. Vergessen werden Flüchtende an den EU-Außengrenzen, die voller Gewalt zurückgedrängt und dem Tod überlassen werden. Vergessen werden ausgebeutete Frauen auf der ganzen Welt und insbesondere im globalen Süden. Und – Stichwort „Rückführungsoffensive“ – all jene, die in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und Folter drohen, so wie es bereits die rot-grünen Landesregierungen in den letzten Jahren fleißig gemacht haben.

Feministische Außenpolitik kann sich nicht vom Staat, dem Bruder des Patriarchats, scheiden. Ihre Loyalität gilt der Macht, nicht der Freiheit. Sie hat herzlich wenig mit den vielen feministischen Bewegungen auf den Straßen der Welt zu tun, in denen Menschen tagtäglich ihre Leben riskieren, um sich Patriarchat, Kapitalismus, Polizeigewalt und militärischen Angriffen zu widersetzen. Dies sind zwei unterschiedliche Welten. Feminist*innen sollten sich aktiv dagegen wehren, dass ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Kämpfe durch Begriffe wie feministische Außenpolitik ihrer Bedeutung beraubt und mit Systemen der Gewalt und Ausbeutung vereinbar gemacht werden. Wir verdienen mehr als die rückständigen Ideologien und Methoden, die uns nun durch Staaten als Feminismus angedreht werden.

# Titelbild: Soldatinnen beim feierlichen Gelöbnis 2021, ©Bundeswehr/Sebastian Wilke

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Der ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Held der Stunde. Die deutschen Medien und ihr Publikum bewundern den smarten Ex-Komiker, der sich in schwerer Stunde als tapferer Staatsmann erwiesen hat. „Der melancholische Wolodimir Selenskij hat uns all die Jahre kaum interessiert. Nun sollten wir von ihm lernen“ schreibt die Süddeutsche Zeutung über den Politiker, der so auftritt als könnte man ihn „beim Elternabend treffen“.

Dabei wurde Selenskyj, der im Mai 2019 Präsident wurde, lange Zeit wenig ernstgenommen. Anfänglich galt er als eine Marionette des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der sich mit Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko überworfen hatte. Frisch gewählt erzwang Selenskyj im Juli 2019 die Neuwahl des Parlaments, die seine Partei „Sluha Naroda“ („Diener des Volkes“) mit 43,16 % haushoch gewann. Gegen die Macht der Oligarchen, gegen die er im Wahlkampf wetterte konnte er aber trotzdem wenig bewirken. Sobald es um Gesetze ging, die die Interessen von Kolomojskyj betrafen, wurden sie von unzähligen Änderungsanträgen fraktionsübergreifend torpediert. Gleichzeitig verlangte der IWF, von dessen Krediten die Ukraine abhängt, immer weitere „Strukturanpassungsmaßnahmen“, sprich eine neoliberlae Umgestaltung des Staatsapparates und immer mehr Maßnahmen gegen die Korruption. Der von der besagten Korruption durchtränkte Staatsapparat verweigerte sich jedoch dem Kampf. Mit großer Mühe setzte der Präsident eine Landreform durch, die es ausländischen Unternehmen erlaubte, Land in der Ukraine zu besitzen, was für Proteste inner- und außerhalb des Parlaments sorgte.

Verschiedene Ansätze, Reformen durchzuführen, wie etwa den georgischen Ex-Präsidenten und marktradikalen „Wunderreformer“ Michail Saakaschwili ins Land zu holen und ihn zum Vizepräsidenten zu ernennen, oder das Parlament durch die Stärkung des Präsidialamtes zu schwächen, glückten zunächst nicht. In nur zwei Jahren wurden vom Parlament drei Regierungschefs gewählt. In dieser Situation begann Selenskyj, ursprünglich als gemäßigte Alternative zur Poroschenko auftretend und sich auf die russischsprachige, wenn auch pro-westliche Wähler stützend, sich durch Unnachgiebigkeit gegenüber Russland zu profilieren. Auch das führte zunächst zu wenig politischem Erfolg, weil die westlichen Partner, allen voran die aus der EU, eher zu Mäßigung drängten und die Wiedereroberung der Krim und vom Donbass scheinbar für wenig realistisch hielten. Deutschland und Frankreich verweigerten die von Selenskyj erhoffte Revision der Minsker Abkommen, während die rechte Opposition um Poroschenko ihm deswegen Verrat und Schwäche vorwarfen.

Die Corona-Pandemie brachte das Land in eine noch desolatere Lage. Die Ukraine schien zu einem failed state zu werden und als solchen betrachteten die Kontrahenten aus Moskau sie anscheinend bei Kriegsantritt. Da Selenskij einerseits seine Wahlversprechen kaum erfüllen konnte, andererseits an der Wiedergewinnung der 2014 verlorenen Gebiete festhielt, wirkte er von Moskau aus gesehen wie ein schwacher Präsident, der reichlich provozierte. Dass Selenskyj durch seine Mediengesetzgebung der russlandfreundlichen „Oppositionsplattform – Für das Leben“ (OP) um den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk ihrer wichtige Ressourcen beraubte und anschließlich Medwedtschuk selber verhaften ließ, machte für Russland deutlich, dass die Chancen, einen Kurswechsel parlamentarisch herbeizuführen immer weiter in die Ferne rückten. Die fleißige Umrüstung der ukrainischen Armee – die Ukraine hat für die Armee mehr ausgegeben, als jedes andere postsowjetische Land außer Russland –, samt der Rhetorik, die keinen daran Zweifel ließ, dass Ukraine die Revision der Ergebnisse des Krieges von 2014 anstrebte, wurden von der russischen Propaganda dankbar aufgegriffen. Noch kurz vor dem Krieg sprach Selenskyj von der prinzipiellen Möglichkeit die Produktion von den Atomwaffen in der Ukraine zu starten.

Selenskiyj wirkte wie ein Politiker mit schwindendem Rückhalt. Doch wie sich kurz nach dem russischen Einmarsch zeigte, basierten die Pläne Moskaus auf einer eklatanten Fehleinschätzen des ukrainischen Nationalismus. Die Erwartung, weite Teile der Bevölkerung würden sich gegenüber dem Staat – dessen Unabhängigkeit bei der Gründung ein umstrittenes Projekt war – und nationalistscher Mobilisierung indifferent Verhalten, wurde durch einen beachtlichen „Wehrwillen“ karikiert. Entgegen Hoffnungen der Macher des im offiziellen Sprachgebrauch „Spezialoperation“ genannten Krieges, kündigte die russischsprachige Bevölkerung nicht massenweise dem ukrainischen Staat die Loyalität. Selenskyj wurde auch weder von Militärs, noch von rechten „Falken“ entmachtet, sondern wurde auf einmal parteiübergreifend als Führer der Nation in der Stunde der Not akzeptiert. Die Strategien, die darauf zielten, ihn Anhand seines früheren Berufes als Clown, Anhand seiner Herkunft als Jude oder anhand des in seinem Amt kaum vermeidbaren Umgangs mit den radikalen Nationalisten als Nazi in Augen der ukrainischen Öffentlichkeit zu diskreditieren, bringen nicht den gewünschten Effekt.

Die russische Führung und mit ihr loyale Medien teilen die Sicht, dass in der Ukraine die Würdigung der historischen Rolle der ukrainisch-faschistischen „Organisation der Ukrainischen Nationalisten“ (OUN) beim Kampf um den ukrainischen Nationalstaat zur kompletten Übernahme deren Programm führt. Freilich hat Ukraine eine blühende rechtsradikale Szene, deren bescheidene Erfolge bei den Wahlen in keinem Verhältnis zu ihrer Präsenz auf der Straße und an der Donbassfront stehen. Obwohl sich die ukrainischen Rechtsradikalen immer wieder an der jüdischen Herkunft von Selenskyj und Kolomojskyj, der armenischen Herkunft von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko und Ex-Innenminister Arsen Awakow, sowie der tatarischen des Oligarchen Renat Achmetow stören, steht die Vaterlandsverteidiung auf der Prioritätenliste ganz oben. Zudem sind einige OUN-Nostalgiker durchaus bereit, die jüdische Bevölkerung in die Nation einzugemeinden. Das aber nur solange sie loyal zur Ukraine sind und der Geschichtsversion, bei der die Beteiligung von Ukrainern an der Shoa schlicht geleugnet wird, nicht allzu laut widersprechen.

Die unerwartete Bereitschaft der ukrainischen Staatsbürger:innen, sich partei- und klassenübergreifend dem nationalen Konsens anzuschließen und die Staatlichkeit der Ukraine zu verteidigen, wird von den westlichen Verbündeten gewürdigt. Die Ukraine ist nicht Afghanistan, wo Armee und Bevölkerung nicht bereit sind sich für den Staat zu opfern. Es lohnt sich, Waffen dort hin zu schicken und die Kosten für Kriegsführung gegen zahlenmäßig überlegenen Feind zu übernehmen, jubeln die westlichen Medien. Selenskyjs Entscheidung wahllos Schusswaffen an die Zivilist:innen zu verteilen, würde woanders als Ende des staatlichen Gewaltmonopols gewertet, in diesem Fall rührt es die westliche Öffentlichkeit zu Tränen. Die Ukrainer:innen sind doch ein richtiges Volk, weil sie bereit sind einen Krieg für den eigenen Staat zu führen, trotz aller sonstigen Interessenkonflikte. Während in der Ukraine die versprengten Linken sich über besonderes eifrige Landesverteidigung zu profilieren versuchen, kommen die Kräfte, die auf die Russland gehofft haben im Unterschied zu 2014 gar nicht zum Vorschein. Diejenigen, denen an der Unabhängigkeit der Ukraine wenig gelegen ist, sind von der Öffentlichkeit endgültig ausgeschlossen. Putin meinte zwar, Lenin habe die Ukraine geschaffen, aber den entscheidenden Beitrag zur Schaffung eines ukrainischen Nationalbewusstseins scheint er gerade selber mit der „Spezialoperation“ zur Ordnung der politischen Verhältnisse geschaffen zu haben.

# Titelbild: sowjetisches Antikriegsplakat

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Verónica Gago ist Theoretikerin und Aktivistin aus Argentinien. Anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März haben wir mit ihr über den Stand der argentinischen feministischen Bewegung heute gesprochen – nach einem errungenen Sieg im Kampf um das Recht auf Abtreibung, zwei Jahren Pandemie und im sechsten Jahr des feministischen Streiks.

Mit der Feminismuswelle der letzten Jahre ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt aber Diskussionen, die über die gläserne Decke hinausgehen und eine Klassenanalyse mit einschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung heute etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung, sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger! Wir wollen frei und schuldenfrei leben! Gegen die Prekarität des Lebens! Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien! Wir Frauen gegen Verschuldung!“ um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine genaue Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung“ fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre Spitze findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es euch gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themen der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuerinnen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und antiextraktivistisch ist – die aus verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute überall sehen?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status Quo gestellt haben.

Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion: er ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie“ beginnt. Oder warum versucht wird, den Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Und deswegen gibt es auch viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lange gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle“ losgetreten, die über die Grenzen hinausging. Dabei wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung in Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war hier von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: Das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Aber mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem, was die Bewegung bereits erreichen konnten als Horizont – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch“ wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas-, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulationen und die Dollarisierung der Wirtschaft und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den letzten Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen oder gibt es andere Strategien, die im Moment wichtiger sind?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger ist, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist. Das Wichtige an diesem 8. März ist, wieder eine Wucht zu werden.

Von Verónica Gago ist bei Unrast das Buch „Für eine feministische Internationale“ erschienen. Foto: privat

# Titelbild: Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem argentinischen Kongress 2018 (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

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Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), einer Veranstaltung, bei der die Bundesbehörde regelmäßig den Diskurs simuliert, aber tatsächlich vor allem ihre Forderung nach mehr Geld und Befugnissen argumentativ absichert. In einem moderierten Gespräch äußerte sich Kahane per Videoschalte zur Zusammenarbeit von Polizei und „Zivilgesellschaft“ – und zwar an der Seite von Thilo Cablitz, dem Pressesprecher der Polizei Berlin. Das zeigt vor allem eines: Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) hat keine Berührungsängste, jedenfalls wenn es um die Behörden geht, die in der BRD für Repression und Machtabsicherung zuständig sind.

Nicht nur für diesen Kuschelkurs zieht die in Heidelberg sitzende Stiftung schon seit längerer Zeit Kritik von radikalen Linken auf sich und das durchaus zu Recht. Wie der aktuelle Zoff um einen Tweet von Dan Kedem, einem der Landessprecher der Linksjugend Solid Berlin, erneut gezeigt hat, sind Kahane und ihre Stiftung Teil eines sich linksliberal gebenden Milieus, das tatsächlich staatstragend und systemerhaltend agiert, sich von den Herrschenden für ihre Zwecke einspannen lässt und daher im Ergebnis mehr Schaden anrichtet, als zu helfen.

Die Nähe der AAS zu den Sicherheitsorganen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Positionierung. Es ist bezeichnend, dass Kahane und ihre Stiftung nicht nur mit der Polizei gut können, sondern auch mit dem Verfassungsschutz keine grundsätzlichen Probleme haben. Mit Stephan J. Kramer sitzt der Chef des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz im Stiftungsrat. Der als Erwachsener zum Judentum konvertierte Kramer war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, bevor Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ihn Ende 2015 an die Spitze seines Verfassungsschutzamtes holte mit dem Ziel, dieses zu „demokratisieren“. Im Stiftungsrat der AAS saß der Jurist schon bevor er den Behördenposten übernahm.
Das hielt diverse antirassistische Initiativen, darunter die Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“, die Opfer des NSU-Terrors unterstützt, im Juli 2016 nicht davon ab, in einer Erklärung Kritik zu üben. Moniert wurde dabei nicht nur das Verbleiben Kramers im Stiftungsrat der AAS, sondern auch ein Auftritt Kahanes bei einem Symposium ostdeutscher Verfassungsschutzämter. Eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten sei „für uns nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus“, konstatierten die Initiativen. Kahane erklärte damals gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, an Kramer festhalten zu wollen. Die AAS werde weiterhin mit Vertreter:innen des Verfassungsschutzes sprechen und versuchen, Reformen durchzusetzen.

Kahanes Äußerungen sind ebenso wie das Vorhaben von Kramer und Bartsch, den Verfassungsschutz „reformieren“ zu wollen, Ausdruck einer Haltung, die mit naiv noch schmeichelhaft umschrieben ist. Da versucht offenbar der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. Diese Haltung ist typisch für das erwähnte sich meist linksliberal gerierende Milieu, das seinen Frieden mit dem System gemacht hat. Weil es von einer tiefer gehenden Analyse der Verhältnisse absieht, unterschätzt es die Macht der Apparate, deren Eigendynamik und schlechten Absichten, glaubt an die „wehrhafte Demokratie“, wie sie der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP gerade postuliert hat.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist sozusagen qua Amt zu diesem Glauben und dem Verzicht auf fundierte Kritik verpflichtet. Wer jedes Jahr Millionen vom Staat bekommt, um die „demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“ (Selbstdarstellung), der wird es sich mit diesem Staat nicht verderben wollen. Dass Kahane und die AAS bei den Repressionsbehörden hoch willkommen sind, hat aber noch einen anderen Grund. Leistet die Stiftung doch für die Legitimation der Apparate und dieses Staates unschätzbare Dienste, die weit über den Verzicht auf Fundamentalkritik hinausgeht. Es ist eine Art Ablasshandel oder wie man heute eher sagen würde: ein Win-Win-Geschäft.

Mit den Millionen an Steuergeldern, die an die Stiftung zur Förderung von Projekten überwiesen werden, kauft sich der Staat frei von der Verpflichtung, rechts genauer hinzusehen. Das wird kurzerhand an die AAS und ähnliche Träger delegiert. Zugleich stellen Kahane und ihr Laden den Herrschenden nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ einen Persilschein aus. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat ihren Geldgeber:innen noch mehr anzubieten. Sie hetzt gegen alle, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht als bedauerlichen Auswuchs einer ansonsten ganz wunderbaren Ordnung, sondern sie als systemisch, als logische Folge der kapitalistischen Verhältnisse begreifen. Dazu nutzt die Stiftung extensiv den Antisemitismus-Vorwurf, was immer wieder zu Zoff mit radikalen Linken führt.

Kritik an Israel und jegliche Unterstützung für die Palästinenser:innen wird von der AAS in einer besonders penetranten Weise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Für die Stellungnahmen von Kahane sind solche Sätze typisch: „Antisemitische Zuschreibungen gegen Israel als jüdischen Staat sind die moderne Form des Antisemitismus, die Rechtsextreme über muslimische Milieus bis hin zur Linken eint. Unter dem Mantel der Israelkritik und des Kapitalismus-Bashings werden Juden zum Opfer von Hass und Gewalt.“

Wer es wagt, diese absurde Darstellung zu kritisieren, findet sich schnell im Mittelpunkt eines Shitstorms wieder. So wurde Dan Kedem von der Linksjugend Solid Berlin, selbst Jude, Mitte November Opfer einer regelrechten Hetzkampagne. Er hatte einen Post retweetet, in der die AAS erklärte, wer sich mit der Forderung nach Freiheit der Palästinenser:innen „from the river to the sea“ gemein mache, fordere die Zerstörung Israels. Als Kommentar schrieb Kedem dazu:

„Amadeu Antonio Stiftung liquidieren!“

Auch wenn das Verb im Zusammenhang mit einer Stiftung deren Auflösung meint, war diese Wortwahl mindestens ungeschickt. Kedem zog den Tweet dann auch schnell zurück und twitterte: „Zur Klarstellung – dieser Tweet war ein Shitpost. Die AAS halte ich für eine problematische Stiftung, die Arbeit leistet, die mich und viele andere linke Juden extrem beeinträchtigt. Wie man das anders lesen kann als „ich finde die AAS doof” ist mir wirklich unerklärlich.“

Diese Entschuldigung bewahrte ihn aber nicht vor der alsbald losgetretenen Kampagne, an der sich auch die Führung des Landesverbandes seiner Partei beteiligte. Die nutzte die Gelegenheit mit Kritik an Kedem und den neuen Sprecher:innenrat von Solid Berlin anzuschließen. Der hatte nämlich zuletzt die „Reformer“ der Berliner Linkspartei und ihre Orientierung auf eine Koalition mit SPD und Grünen massiv von links kritisiert.

Auf der Website klassegegenklasse.org wurde zur Solidarität mit Kedem aufgerufen. Jüdische und migrantische Stimmen würden insbesondere dann diskreditiert, „wenn sie nicht mit der staatstragenden Ideologie einhergehen“, hieß es dort. Stiftungen wie die Amadeu Antonio Stiftung und auch Die Linke stellten sich „hier immer wieder auf die Seite der Kriminalisierung von Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung“. Auch bei Twitter gab es neben Kritik auch Zuspruch für den Berliner Solid-Landessprecher. Die Bewegung „Palästina spricht“ twitterte: „Sie will Aufklärungsarbeit leisten, sich gegen Rassismus einsetzen & eine demokratische Zivilgesellschaft stärken. Doch statt diese Ziele durchzusetzen, bleibt die Amadeu Antonio Stiftung selber lieber unaufgeklärt, verbreitet antipalästinensischen Rassismus & zionistische Propaganda.“ Ein User warf der AAS bei Twitter vor, Menschen, die Kapitalismuskritik üben, als antisemitisch zu framen.

Dass Kahane tatsächlich kein perfides und reaktionäres Argument zu viel ist, wenn es darum geht, linke Kapitalismuskritiker:innen zu diffamieren, hatte sie im Sommer 2017 bewiesen. Im Juli des Jahres, kurz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, fiel sie der Protestbewegung im stiftungseigenen Portal Belltower News in den Rücken. „Linksextremismus ist keine Kinderkrankheit, sondern eine autoritäre, antidemokratische Ideologie“, schrieb sie damals. Dreist reduzierte die Autorin die Kapitalismuskritik auf „Feindseligkeit gegenüber Eliten“, die kein rechts und links kenne, und schlug mühelos die Brücke von dort zum Antisemitismus-Vorwurf: Der sei „das Grundgeräusch des Eliten-Bashings“. Wortreich verteidigte Kahane den Kapitalismus und die Globalisierung.

Fassungslos machen die kritische:n Leser:in folgende Sätze aus dem Beitrag: „Linke kritisieren den Kapitalismus in globalisierter Form grundsätzlich und sehen hier nur Elend und Zerstörung. Ihre Antwort für die Menschen in den Entwicklungsländern: „Lieber arm als ausgebeutet“ oder „lieber authentisch als industrialisiert“ ist ignorant, zynisch und in ihrem Wesen auch rassistisch.“ Diese Linken wollten „den Menschen in der nicht-weißen Welt die Art von Fortschritt vorenthalten, den sie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen“.

Bleibt nur hinzuzufügen: Von Kahane und ihrer Stiftung geht vielleicht mehr Gefahr aus als von denen, die sie angeblich bekämpft, den Rassist:innen und Nazis. Denn sie verwirren die Maßstäbe und entziehen letzten Endes einem entschlossenen Kampf gegen Rechts jede Grundlage. Man kann also davon ausgehen, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch unter der „Ampel“-Koalition weiter mit Steuergeldern gemästet wird.

# Titelbild: Kuscheln mit Bullen – Anetta Kahane zusammen mit dem Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), Foto: BKA

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So ziemlich das einzige der vielen die Straßen momentan noch verunzierenden Wahlplakate, zu dem ich als radikaler Linker aus vollem Herzen Ja sagen kann, ist eines der FDP. Traurig, aber wahr. „Wie es ist, darf es nicht bleiben“, steht groß darauf. Jawohl, so ist es, dachte ich spontan, als ich es zum ersten Mal sah: In dieser Scheißrepublik, in der die Marginalisierten mit Brosamen abgespeist werden und die Hackfressen oben sitzen und die Korken knallen lassen, muss sich ne Menge ändern. Aber dass das hier nicht gemeint war, war mir natürlich auch gleich klar.

Die Visage von FDP-Chef Christian Lindner neben dem Slogan ist auf dem Plakat nicht zu übersehen. Und der und seine Partei meinen natürlich mit der Bemerkung, dass es nicht so bleiben darf, wie es ist, genau das Gegenteil von dem, was ich damit verbinde.

Was wollen Leute wie Lindner uns mitteilen, wenn sie sagen, dass es so nicht bleiben kann?

Ich übersetze das mal ein wenig zugespitzt – sie meinen damit: Wir haben zwar schon alles, Haus, Garten, den Zweitwagen in der Garage, einen sicheren Job, zwei bis drei Urlaubsreisen im Jahr, genug finanzielle Rücklagen et cetera pp. Aber das reicht uns nicht. Wir wollen auch, dass es für alle Zeiten so bleibt, dass diese „Ordnung“ in Beton gegossen wird. Und wir wollen vor allem nicht, dass jemand uns sagt, dass es in diesem Land ungerecht zugeht und wir auf Kosten anderer Leben. Wir wollen nicht kritisiert werden.

Die ersten und wichtigsten Artikel des inoffiziellen Grundgesetzes dieser Leute heißen:

1. Jeder ist seines Glückes Schmied.

2. Leistung muss sich wieder lohnen.

3. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Und 4. Wer arm ist, ist einfach nur zu blöd, um reich zu sein.

Das ist genau die Denke der FDP und ihrer Klientel, weiter gefasst sicher auch von weiten Teilen der Mittel- und Oberschicht. Der 1. Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, Marco Buschmann, hat das gerade noch einmal in wünschenswerter Deutlichkeit klar gestellt. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht nur aus einem Grund auseinander“, bemerkte er kürzlich auf Twitter: „Die einen sparen in Geld. Das rostet weg. Die anderen sparen in Häusern und Aktien. Die werden immer wertvoller. Daher mehr Wohneigentum und Aktiensparen für alle!“

Für Typen wie diesen „Volksvertreter“ ist es offenbar unvorstellbar, dass es in diesem Land Menschen gibt, die weder sparen noch Aktien oder Häuser kaufen können – ganz einfach weil sie nicht genug Geld haben. Weil es gerade reicht, um das Leben zu fristen. Oder eben auch nicht und sie bei der Tafel anstehen müssen oder sonst wo. Obwohl: Buschmann weiß das alles sicher auch – darum ist das, was er da von sich gegeben hat, noch viel schlimmer. Denn er zeigt uns damit:

Die „Verlierer“ der Gesellschaft, die ALG-II- Empfänger, die kleinen Rentner und andere „Geringverdiener“ interessieren ihn und seinesgleichen nicht. Sie haben sie nicht auf der Rechnung, sie sind ihnen scheißegal, nur ein Klotz am Bein, den sie loswerden wollen. Sie sind für Buschmann und seinesgleichen die Verzichtbaren, die Überzähligen, das Kanonenfutter.

Darum ist die FDP auch der ideale Partner für Olaf Scholz, den Kandidaten, der bei der Bundestagswahl am Sonntag zwar offiziell für die SPD zur Bundestagswahl antritt, tatsächlich aber der Kandidat der Banken und Konzerne ist. Der wundersame Aufstieg dieses mehrfach totgesagten Mannes und gewesenen Kapitalismuskritikers (damals als Juso) ist nicht so unerklärlich, wie er manchmal erscheint. Er hat schließlich immer geliefert. Also aus Sicht der Herrschenden.

Als Erster Bürgermeister Hamburgs erstmal hunderte Millionen Steuergelder in das eigentlich schon gescheiterte Projekt Elbphilharmonie gepulvert, um der Stadt mit den meisten Millionären im Land das gebührende Symbol ins Zentrum zu pflanzen – und dazu noch ein nettes Konzerthaus zu schenken. Beim Deal mit der Hamburger Warburg-Bank in Sachen „CumEx“ hat Scholz erneut bewiesen, für wen seine Tür allzeit offen steht. Und natürlich hat er, wer erinnert sich nicht daran, den G-20-Gipfel im Sommer 2017 zur Zufriedenheit der Herrschenden durchgezogen. Wer immer noch glaubt, er sei bei der Organisation dieser Veranstaltung gescheitert, hat das Prinzip nicht begriffen. Der Gipfel an der Elbe war ein wunderbares und überaus erfolgreiches Manöver für die Sicherheitskräfte und zudem der Auftakt für eine anschließende Repressionswelle in der BRD. Also: Mission completed!

Dass Scholz anschließend zum Finanzminister und Vizekanzler befördert wurde, hat also seine Richtigkeit. Nun ja, und jetzt ist er halt ganz oben angekommen: Bundeskanzler. Er wird es, hundert Pro! Er ist der richtige, um die kommenden Sauereien durchzuziehen, die Schrauben wieder anzuziehen, die Lasten der Coronakrise auf die Leute abzuwälzen, die im Kapitalismus immer für Krisen büßen müssen.

Im Spiegel hat einer dieser Lindner-Buschmann-Typen, um sie mal so zu nennen, namens Michael Sauga schon die Befehle ausgegeben. „Warum Scholz den Schröder machen muss“ steht drüber. Und drunter: „SPD und Grüne nähren die Illusion, dass die Öko-Wende den Sozialstaat nicht betrifft. Die Wahrheit lautet: Die Republik braucht eine neue Agenda 2010.“ Die ersten Sätze, die der Lohnschreiber zu Papier gebracht hat, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Sauga schreibt: „Es ist knapp 20 Jahre her, dass Gerhard Schröder jenen Satz formulierte, der noch heute vielen Sozialdemokraten das Blut in den Adern gefrieren lässt. »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen«, verkündete der Kanzler in seiner Agenda-Rede im März des Jahres 2003. Einiges spricht dafür, dass bald wieder ein Sozialdemokrat im Kanzleramt sitzt. Mindestens genauso groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in nicht allzu ferner Zukunft ebenfalls eine Agenda-Rede halten muss.“

Deutschland stehe, belehrt uns uns der vollversorgte Autor, „vor dem größten industriellen Umbau seiner Geschichte“. Zudem wechsle in den nächsten Jahren fast jeder zehnte Beschäftigte in den Ruhestand: „Und doch scheint es für SPD und Grüne vor allem darum zu gehen, die rekordhohe deutsche Sozialleistungsquote zu erhöhen.“ Dann faselt Sauga noch was von „Finanzlücke“, „siechenden Kranken- und Rentenkassen“, „Rückgang des Beschäftigungspotenzials“ et cetera pp. Sein ekliges Credo gipfelt in dem Satz: „Eine Regierung aber, die es ernst meint mit der Klimawende, muss eher dem Schröder-Ansatz folgen: also erst für wirtschaftliche Dynamik sorgen, bevor sie ans Verteilen denkt.“

Das Lied kommt einem bekannt vor. Und wir werden es nach der Wahl so oder ähnlich noch oft hören. Denn, egal welche Konstellation regiert – die Lasten der Coronakrise werden wieder mal auf die abgewälzt werden, die sich nicht wehren können. Auf dass die „wirtschaftliche Dynamik“ die Kriegskassen deutscher Konzerne und die Taschen der Besitzenden weiter fülle! Grüne und Linke werden daran nichts ändern können, vielleicht nicht einmal wollen. Dass die Herrschenden das Verarmungsprogramm Hartz-IV damals am besten mit einer „rot-grünen“ Regierung durchsetzen konnten, ist ja bekannt. Aber es heißt andererseits ja auch, die Geschichte wiederhole sich nicht. Nun ja, im Kapitalismus schon!

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„Gentlemen please start your engines – and may the best woman win“ – „Meine Herren, bitte starten Sie Ihre Motoren – und möge die beste Frau gewinnen!“ Ziemlich genau so, läutet RuPaul Charles jede Folge ihrer (RuPaul und die Dragqueens werden in diesem Text je nach ihrem Auftreten mit „sie bzw. er bezeichnet) Kultserie ein, in der es darum geht, eine neue Königin im Reich des Drags ausfindig zu machen. Wer die Serie als Geheimtipp beschreibt, kommt gute fünf Jahre zu spät. Zurzeit ist die 13. Runde dieses Unterfangens auf der queeren Streamingplattform World of Wonders zu sehen, alle anderen Staffen auch auf Netflix.

In Deutschland wurde die Serie durch ProSieben kopiert und nennt sich „Queens of Drags“. Dies hat in der queeren Szene für viel Kritik gesorgt, da es sich hierbei um einen Akt kultureller Aneignung handle: Auch wenn neben Heidi Klum und Bill Kaulitz die Dragqueen Conchita Wurst als Moderatorin und Jurorin fungierte, stand hinter der Produktion ein rein profitorientierter Fernsehsender und nicht mehr die Ikone des Drags.

Denn wie niemand anders hat RuPaul dazu beigetragen, Drag aus der Schmuddelecke in den Mainstream zu katapultieren – und nebenbei eine milliardenschwere Industrie zu erschaffen. Begonnen hat der öffentliche Erfolg RuPauls im New York der 90er Jahre mit dem Videoclip zu ihrem Lied „Supermodel“, das auch in Europa auf MTV zu sehen war. Am 2. Februar 2009 wurde die erste Folge von RuPaul‘s Drag Race ausgestrahlt, das vor allem in der queeren Szene gefeiert wurde. Außer einem bemerkbar gestiegenem Produktionsbudget und Professionalität der teilnehmenden Drag Queens, hat sich an der Konzeption der Serie wenig geändert.

If you can’t love yourself how in the hell you gonn‘ love somebody else?“

Nach wie vor müssen die Dragqueens durch eine Reihe von Mini- und Maxi Challenges. Dabei ist das Snatch Game, eine „Quizshow“, in der sich die Drag Queens eine bekannte Persönlichkeit mimen, eines der Highlights jeder Serie, „RuSicals“, in denen die Dragqueens eine Broadwaynummer einlegen müssen, ließen schon einige Favoritinnen wortwörtlich straucheln („pun intended“), genauso wie die Sewing Challenges, in denen der Fokus auf das Schneidern ihrer Kleider liegt, die abschließend auf dem Laufsteg inszeniert werden müssen. Und immer noch endet jede Folge mit einem „Lip Sync“, in der die schlechtesten bzw. besten Dragqueens um „ihr Leben“ karaoken. RuPaul und ihre treuen Begleiter*innen in der Jury, insbesondere Michelle Visage (sowie seine Scriptschreiber*innen) sind wahre Meister*innen der eingängigen Repititionen und Wortspiele, die sich ins Hirn einbrennen und trotzdem nie langweilig werden.

Ebenso greift die Serie stets aktuelle Ereignisse und Diskurse, sowie Dauerbrenner auf. Es geht immer wieder um Politik, Diskriminierung und Identität, um Sex, Selbstermächtigung und Drogensucht, um prekäre Existenzen, Krankheit, Familie und dem oft steinigen Weg zur Selbstakzeptanz. Die Serie endet stets mit dem Mantra: „If you can’t love yourself how in the hell you gonn‘ love somebody else?“ – „Wenn du dich nicht selbst lieben kannst, wie kannst du jemand anderes lieben?“ – Diese Kombination erklärt einen Teil des wachsenden Publikums und der dreizehn Emmy Awards, die RuPaul seit 2016 verbuchen konnte.

We are all born naked and the rest is drag“

Vor allem aber ist das Sujet auch für weniger queere Menschen unglaublich unterhaltsam: Unerschrockene Männer, die sich jede Folge aufs Neue teilweise unglaublichen Verwandlungen unterziehen und dabei mit Stereotypen jonglieren. Die Serie erweist sich hier als lehrreich und ermöglicht einen Einblick in die verschiedenen Subkulturen, die Drag ausmachen und die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten schwuler Männer*. Was Rechte in Unkenntnis als „Genderwahnsinn“ beschreiben, wird hier erfahrbar und zeigt, dass es auch in der Welt des Drags Regeln gibt. So kam es zwar vor, dass auch Transfrauen teilnahmen, dies bleibt aber eine Ausnahme, genauso wie heterosexuelle Männer, denen die Tür aber im Grunde offensteht. Dieser Ausschluss RuPauls wird von einigen als transfeindlich bezeichnet, jedoch nimmt er auf andere Weise auch die gewählte Geschlechtlichkeit einer Transfrau ernst: es geht um die geschlechtliche Identifikation und nicht um das biologische Geschlecht, mit dem ein Mensch zufällig geboren wurde. In der 13. Staffel war dementsprechend die Teilnahme eines Transmanns, Gottmik, möglich, der das Konzept kein bisschen irritiert. Die Serie zeigt also nur einen Teil möglicher Geschlechtlichkeiten in Kombination geschlechtlicher Orientierungen und ist trotzdem ein Augenöffner, gerade für Menschen, die in ihrem Umfeld wenig Berührung mit queeren Lebenswelten haben. Das Problem sind nicht Männer die Korsetts tragen, sondern eine Gesellschaft, die viele Menschen in ihrer Entfaltung einengt. Oder wie RuPaul es zu sagen pflegt: „We are all born naked and the rest is drag“ – „Wir werden alle nackt geboren, der Rest ist Drag“

RuPaul’s Herstory

RuPaul hat also bereits viel beigetragen, um den Ziel Drag als eine eigene Kunstform zur gesellschaftlicher Anerkennung als Lebensstil, Profession und Kunstform zu verhelfen. Dabei verweist die Serie auch immer wieder auf die Geschichte des Widerstands – im Kontext von Drag der „Drag Herstory“ – der dieser Entwicklung vorausgehen musste, etwa zu den Stone Wall Riots, einem wichtigen politischen Datum für die schwule Bürgerrechtsbewegung, das auch den Christopher Street Day begründet. RuPaul’s Drag Race ist hier sowohl Motor als auch Zeugnis eines unleugbaren Wandels. Viele der Dragqueens berichten in der Show von den Anfeindungen mit denen sie nach wie vor zu kämpfen haben und nach wie vor sind Transmenschen of Colour in den USA (und wohl weltweit) eine Minorität, die wie keine andere von Mord und Totschlag bedroht ist. Oftmals wird auf den Kultfilm „Paris is Burning“ verwiesen, der Dragqueens aus dem New York der frühen 90er Jahre portraitiert und die einzigartige Ballkultur einfängt, in der das Vogueing entstand und ohne die RuPauls Drag Race nicht denkbar wäre. Eine der Protagonist*innen, Venus Xtravaganza, wurde während der Filmproduktion ermordet und nicht zuletzt der Anschlag mit 49 Toten auf den queeren Club „Pulse“ in Orlando zeigt, wie real die Bedrohung durch solche Gewalttaten ist. Dies alles muss gesagt werden, doch scheint es zugleich, dass gerade bei den Eltern der jüngeren Draggeneration die Akzeptanz zu steigen scheint. RuPaul hat sicher einen Anteil daran.

I‘m American – just like you too“

Die Wahl Trumps hat vor Augen geführt, wie fragil dieser Fortschritt ist. Die Möglichkeit als Transmensch in der US-Army zu dienen wurde unter seiner Legislatur beispielsweise zurückgenommen. Hier zeigt sich einer der Kippmomente in denen sich die progressive Serie, sich in den Dienst imperialistischer Propaganda stellt und pinkwashing betreibt. In der Staffel treten die Dragqueens etwa vor queeren Soldat*innen auf und uns bleibt das Narrativ nicht erspart, dass diese Menschen „unsere Freiheit“ verteidigen würden. Ebenso kritisch ist ein „RuSical in der britischen Auskopplung, in denen russische Hacker durch das Streuen von Falschnachrichten dafür verantwortlich gemacht werden, die „Nation entzweit“ und somit den Brexit möglich und Trump zur Macht verholfen zu haben. Auch wenn es zu russischer Einmischung in den Wahlkampf kam, muss aus einer kritischen Perspektive doch klar sein: die USA blicken auf eine lange rassistische Tradition und auch 2020 haben über 74 Millionen Amerikaner*innen Trump ihre Stimme verliehen. Das Narrativ, dass Putin für Trump verantwortlich sei, ist selbst eine nationalistische Verschwörungstheorie, die den Rassismus und Chauvinismus, der Trump zur Wahl verholfen hatte,externalisieren möchte. RuPaul steht hier also in einer klaren liberalen Tradition und macht aus seiner unkritischen Unterstützung der demokratischen Partei keinen Hehl, deren – zugegeben – progressivere Vertreter*innen immer wieder in die Show eingeladen werden, so etwa Nancy Pelosi und Alexandria Ocasio-Cortez.

Dieser progressive Nationalismus bleibt in seinem Wesen Nationalismus und zeigt sich etwa auch in RuPauls Lied „American“. In diesem, auch musikalisch schwer erträglichen Song, spricht RuPaul in apologetischer Art und Weise seine Fellow Americans an – und schließt damit unbewusst den größeren Teil der Welt aus. Und auch wenn insgesamt ein entspannter und satirischer Umgang mit rassistischen Stereotypen herrscht, der die Serie ausmacht und gerne verziehen wird, ist gerade in die Darstellung fremdsprachiger Queens, besonders solchen aus Puerto Rico und dem afrikanischen Kontinent, problematisch und herablassend.

I marketed subversive Drag to a hundred million Motherfuckers in the world“

Was Jay-Z für Rap ist, das ist RuPaul für Drag. Beide kommen aus relativ armen Verhältnissen und wurden durch ihr reines Talent Ikonen in ihrem Genre. Beide haben darüber hinaus relativ früh die kapitalistische Logik verstanden, die eine subversive Kunstform zu einer milliardenschweren Industrie transformiert. Mit diesem Verständnis haben sie sich selbst vom Künstler* zum Kapitalisten* emporgeschwungen und verkörpern das Märchen der unbeschränkten Möglichkeiten. Gemessen an ihrem Vermögen sind sie die unbestreitbaren Könige bzw. Königinnen ihres Genres, ihrer Industrie geworden. RuPauls Vermögen wird auf 60 Millionen Dollar geschätzt und sie meint nicht ganz unbescheiden, aber treffend: „I marketed subversive Drag to a hundred million Motherfuckers in the world. I’m a motherfucking marketing genius over here“ – „Ich habe „Subversive Drag“ an 100 Millionen Motherfuckers auf der Welt vermarktet. Ich bin ein verdammtes Marketing-Genie“

Dabei wird die Serie stets als Plattform dargestellt, mit der es andere Queens schaffen, ihre Karrieren nachhaltig zu festigen – nicht nur die Gewinner*innen einer Staffel, die 100.000 Dollar einheimsen. Und dies stimmt: Auch Queens die früh aus dem Rennen scheiden, können mit weiteren Bookings im In- und Ausland und explodierenden Followerzahlen auf Instagram und TikTok rechnen. Auf der anderen Seite sind die Künstler*innen extrem von der Gunst RuPauls abhängig. Es ist mehr als eine Inszenierung als alleinherrschende Königin: RuPaul hat tatsächlich ein pater- bzw. maternalistisches Reich begründet, in der er – bewusst oder nicht – von der Ausbeutung der Künstler*innen profitiert. Die wäre ein ernsthaftes Sujet für eine Forschungsarbeit aus marxistischer und neogramscianischer Sicht: So wie Marx letztendliche von der kapitalistischen Warenproduktion fasziniert war, ist es spannend zu sehen, wie sich der Kapitalismus diese subversive Kunstform angeeignet hat – aus linker Sicht, sollte es hier sekundär sein, welches Gesicht diese Entwicklung repräsentiert.

RuPauls Drag Race ist also zugleich das Produkt eines emanzipatorischen Kampfes als auch einer ausbeuterischen Industrie – und am Ende vor allem eines: gute Unterhaltung.

# Titelbild: VH1, Cast der 13. Staffel

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Von URA Dresden

Es gibt seit Jahren und besonders in Zeiten der Pandemie unfassbar viele Gründe, um wütend zu sein und auf die Straße zu gehen. Unter anderem gegen Ausbeutung, Menschenverachtung, die Klimakatastrophe, den rechten Rollback und die anhaltende Unterdrückung von Frauen* und Menschen, die nicht in das dichotome Weltbild der zwei Geschlechter passen. Gegen die tatsächliche, aufzeigbare und globale autoritäre Formierung und gleichzeitig für bezahlbares Wohnen, gute Löhne und Sozialleistungen, welche die Menschen nicht in die Armut treiben. Für die Kollektivierung von Infrastruktur und Produktionsmitteln, sowie für mehr Demokratie und Mitbestimmung für Alle, ebenso wie für eine der wohl aktuell wichtigsten Fragen: wer leidet denn eigentlich unter den wirtschaftlichen Folgen von Corona, wer Bezahlt am Ende dafür und wer profitiert einmal mehr?

Im Beitrag „Corona Demonstrationen: die Verpasste Gelegenheit“ macht Marik Ratoun eine streitbare Analyse über die sogenannten „Querdenker“ und formuliert den Vorwurf an eine deutschsprachige radikale Linke, die „Querdenker“ nicht als soziale und hersschaftskritische Bewegung anerkannt zu haben, welche allerdings von rechten Akteur*innen übernommen worden sei.:

Wir als Teil dieser radikalen Linken denken nicht, dass eine falsche Bewegungsanalyse der „Querdenker:innen“ dafür ausschlaggebend war, dass wir als Linke uns nicht in diese Bewegung eingemischt haben. Sondern vielmehr die Analyse der „Querdenker:innen“ und Covid-Leugner:innen so einen Schritt von Beginn an unmöglich gemacht hat:..

1. Nicht alles, was herrschaftskritisch daherkommt, ist es auch

Unserer Ansicht nach konnte von Anfang an kaum progressives Potenzial in den Reihen der „Corona-Rebell:innen“ gefunden werden. Die Bewegung kennzeichnet sich nicht dadurch, dass sie solidarisch ist und sich für die Ausgebeuteten, Unterdrückten oder die rassistisch und sexistisch Ausgegrenzten in diesen besonders schweren Zeiten einsetzt.

Dabei gibt es viel zu kritisieren:Beispielsweise an den neun Milliarden Euro staatlicher Geschenke an Lufthansa, während trotzdem hunderte Jobs gestrichen werden. Oder daran, dass der Einzelhandel oder der Kunst- und Kulturbetrieb in große Schwierigkeiten geraten bzw. vermeintlich „systemrelevante Jobs“, wie Kranknepfleger:innen keine Lohnerhöhungen oder Risikozahlungen bekommen, sondern einzig Beifall vom Balkon und ein dickes Dankeschön der Regierung.

Die Querdenker:innen in Stuttgart, Leipzig, Dresden und woanders, meckerten jedoch über die störende Maske beim shoppen oder eine nicht existente „Impfpflicht“ und forderten schlicht die Rücknahme aller Corona-Schutzmaßnahmen. Zusätzlich verbreiteten sie Fake-News und (antisemitische) Verschwörungserzählungen. Ihnen geht es in erster Linie um sich selbst und den Erhalt ihrer Privilegien, und eben nicht um eine gesellschaftliche Veränderung im sozialen Sinn. Denn wirtschaftliche Konsequenzen und Folgen für unterprivilegierte Teile der Bevölkerung stehen nicht auf der Anklagebank, sondern lediglich die ganz persönlichen Einschränkungen und eine vermeintliche geheime Weltregierung mit Bill Gates an der Spitze.

Der Vergleich mit Frankreich ist unserer Meinung nach eine Beleidigung der Gelbwestenbewegung. Dort stand von Anfang an auf der Agenda, dass der Staat die Kosten der Krise durch neoliberale Maßnahmen auf die Schultern der mittleren bis unteren Schichten verteilt (wie auch in der Corona-Pandemie), anstatt diejenigen zu belasten, die durch den jahrzentelangen Abbau des Sozialstaats und der neoliberalen Politik profitierten und das auch künftig tun werden. Ziel der Proteste war es, der Regierung zu zeigen, dass diese unfaire Verteilungspolitik enden muss und es soziale Lösungen braucht, welche die Reichen stärker belasten als die Armen.

Dagegen sehen wir die Querdenker:innen als Spitze einer neoliberalen Verrohung, wie wir sie unter anderem in den USA und in vielen anderen Teilen der Welt beobachten können. Getrieben vonEgoismus und gespeist von Verschwörungsmythen, geht es ihnen darum, sich der gegenseitigen Rücksichtnahme und Solidarität zu entziehen. Die Verteidigung der eigenen Privilegien ist der einzige Maßstab und anstatt eine Umverteilung gesellschaftlichen Wohlstands von oben nach unten zu fordern, schüren sie Ressentiments, welche die Schwächsten unserer Gesellschaft treffen.

2. Teil einer (neu)rechten Strategie

Verschwörungserzählungen und -Mythen sind schon lange Teil rechter Strategien. Das Ganze hat Tradition von der „jüdischen-bolschewistischen Weltverschwörung“ bis zum „großen Autausch“. Von Beginn an konnten Rechte und Verschwörungstheoretiker:innen die ideologische Stoßrichtung der „Querdenken-Proteste“ festlegen und damit sogar teilweise Menschen erreichen, die vorher nicht zu ihrem Mobiliserungspotenzial zählten.

Des Weiteren kommt dazu, dass die verschwörungsideologische Szene nahezu resistent gegen jede Intervention von außen ist. Nur noch „alternative Medien“ zählen und alle anderen Diskussionsgrundlagen werden als Lügen abgetan. Es wird damit schwer für uns, vernunft- und faktenbasierte Diskussionen und Erklärungen zu nutzen und damit Gehör zu finden Denn mit Hilfe einer Strategie der Wirklichkeitskontruktion kann bei Ihnen alles gerechtfertigt und behauptet werden. Gemeinsame Standpunkte und Inhalte sind schwer zu finden, was wir nach wie vor an den unfassbar schwammigen Inhalten dieser Bewegung sehen.

Die radikale Linke sollte sich diesen entgrenzten Populismus als Strategie nicht zu eigen machen.

Den Versuch, in die Querdenken-Bewegung hineinzugehen und deren Anhänger:innen grundlegend von einer anderen Weltsicht und anderen Zielen zu überzeugen, hätten wir daher als sehr engagiert wahrgenommen. Die Spucke für Diskussionen mit Menschen, die für jegliche Ansätze jenseits ihrer verschwörungsideoligischen Weltbilder völlig unempfänglich sind, können wir uns lieber sparen.

Stattdessen wäre es sinnvoll gewesen, parallel und in Abgrenzung zu den Querdenker:innen, eigene Kritikpunkte stark zu machen, um die Protesthegemonie gegen die Corona-Politik nicht Rechten und Verschwörungsanhänger:innen zu überlassen, sondern tatsächlich progressive und soziale Kämpfe stark zu machen. Dadurch wäre eine alternative Protestmöglichkeit geboten, für Menschen, die aus guten Gründen gegen die Pandmiepolitik der Regierung sind, aber nicht mit Rechten von AfD bis NSU-Unterstützerumfeld demonstrieren wollen..

Dies sind die zwei inhaltlichen Punkte des ursprünglichen Artikels, denen wir gern eine andere Perspektive gegenüberstellen wollen. Ausdrücklich anschließen möchten wir uns hingegen der Aussage des Autors, dass der Staat oder gar der kapitalistische Mainstream kein Bollwerk gegen den Faschismus sein kann. Wer sich zu sehr auf diesen verlässt, ist weiterhin verlassen.

So sehen wir auch die Kommentare infolge der verbotenen Querdenken-Demonstration am 12.12. in Dresden kritisch, welche aus den Lobgesängen für „das konsquente Verhalten der Polizei“ nicht mehr herauskommen und im Staat das Heilmittel gegen den schwarz-weiß-roten Corona-Maßnahmen-Protest beschreien und herbeisehnen. Offenbar sind die Bilder aus Leipzig wenige Wochen zuvor schnell vergessen worden.

Wir stimmen dem Autor darin zu, dass die radikale Linke an sich auch stärker in undurchsichtigen Situationen intervenieren sollte und an einer Kapitalismus- und herrschaftskritischen Linie festhalten muss. Wir müssen uns daran gewöhnen, uns im diskursiven Handgemenge auch mal die Finger schmutzig zu machen, wenn wir aus der eigenen Bubble rauswollen und nicht jedes Aufbegehren direkt zu verschreien. Doch dürfen wir auch nicht hinter unsere emanzipatorischen Mindeststandarts fallen, sondern sollten genau beobachten, wo tatsächlich progressive Potenziale erkennbar sind und wo nicht. Bei den Querdenker:innen fehlt uns dieses Potential leider.

Doch müssen wir die Kritik annehmen, keine gute Alternative angeboten zu haben, die es geschafft hat, mehr als die sowieso schon von linken Ideen Überzeugten zu erreichen. Dies wurde zwar versucht durch Forderungskataloge, die guten Aktionen gegen Tönnies oder durch das Aufzeigen der menschenverachtenden Politik an Europas Außengrenzen. Doch leider waren diese, wie so oft, nicht mit dem nötigen Erfolg verbunden.

In den letzten Jahren mussten wir oft feststellen, dass es eine radikale Linke aus eigener Kraft nicht schafft, breite Bewegungen anzustoßen. Den verzweifelten Wunsch, jeden Strohhalm als möglichen Rettungsring zu sehen, können wir nachvollziehen, doch sehen wir es als notwendige Bedingung, im Vorhinein genau hinzuschauen, ob es Anknüpfungspunkte für uns gibt und progressive Potenziale zu erkennen sind.

3. Widerstand gegen die Querdenker:innen als Chance aka überholen ohne einzuholen

Wir sind der Meinung, dass wir den Kampf gegen das neoliberale Krisenmanagement mit dem Widerstand gegen die Covid-Leugner:innen, Verschwörungs-Anhänger:innen und regressive Kräfte innerhalb der Proteste vereinen müssen. Denn diese sind ebenso wenig an grundlegenden und sozialen Lösungen interessiert, wie es die Regierung ist. Denn das Corona-Virus ist nicht nur eine Grippe. Es beinhaltet: schwere Krankheit bis zum Tod, Insolvenz der Kulturbranche, Kürzungen im sozialen Bereich – während gleichzeitig zwangsmäßige Corona-Partys in Fabriken und Betrieben stattfinden – soziale Isolation, eine krasse Zunahme häuslicher Gewalt, das weitere abhängen ohnehin schon abgehängter und prekarisierter Kinder, die Überlastung des medizinischen und gesundheitlichen Sektors und eine zunehmende Ungleichverteilung des Reichtums und materieller Güter. Wie Eingangs erwähnt, sind dies genug Gründe, um sauer zu sein, die Regierung und deren Maßnahmen zu verurteilen. Wir müssen aber klar machen, dass sowohl die Leugner:innen, als auch die verpatzte Sozialpolitik der Regierenden zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Die Wut über die Folgen der Corona-Krise kann eine Chance bieten, eine wirkliche soziale Bewegung ins Leben zu rufen, die intersektionale Kämpfe verbindet. Eine Bewegung, die für Solidarität steht, anstatt für Egoismus und damit einen grundlegenden Fehler der kapitalistischen Verwertungslogik, Profite über Menschenleben zustellen, zu überwinden sucht.

Diese Chance ist noch lange nicht verpasst, da vor allem die sozialen und ökonomischen Folgen dieser Pandemie nicht absehbar sind, aber schon jetzt klar ist, dass wir, und nicht die Krisenprofiteure die Zeche zahlen müssen – den Fehler nicht in diese Konflikte zu intervinieren sollten wir nicht noch einmal machen.

# Titelbild: Nutshell Fotografie, CC BY-NC 2.0, Corona-Leugner*innen im Mauerpark am 02.08.2020

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Am 17. Dezember verstarb in der Berliner Charité mit 61 Jahren Gennadi Adolfowitsch Kernes an den Folgen einer COVID-19-Infektion. Der Bürgermeister von Charkow war eine der markantesten Figuren der ukrainischen Politik der letzten Jahrzehnte. Anhand seines Lebenslaufs lässt sich die Entwicklung des postsowjetischen Kapitalismus besser verstehen.

Die ursprüngliche Akkumulation

Der 1959 im Charkow geborene Gennadi Kernes schlug sich nach dem Abschluss einer Berufsschule mit Gelegenheitsjobs durch, bis er ein Geschäftsmodell entwickelte, das in einem Staat, der private unternehmerische Tätigkeit für immer abschaffen wollte, schnellen, wenn auch illegalen Reichtum versprach. Die Sowjetunion verbat ihren Bürger:innen den Besitz von Devisen, bot aber gleichzeitig für die ausländische Tourist:innen begehrte, weil in Einzelhandel kaum vorhandene Waren in speziellen Läden an um an harte Weltwährungen zu kommen. Um diese Läden herum blühte ein Schwarzmarkt für Devisen und „Zertifikate“, die zum Betreten der Läden berechtigten. Die Sowjetbürger:innen, die in den Westen auswandern wollten, versuchten ihre Wertsachen gegen im neuen Leben dringend benötigte Dollar einzutauschen. Und genau diese Dollars behaupteten Kernes und seine Geschäftspartner anzubieten. Als besonders effektiv erwies sich, wenn während Übergabe ein woher geschmierte Milizionär (sowjetische Polizei) am Horizont erschien. Die Opfer des Betrugs suchten so ohne Nachzählen mit einem Bündel angeblicher Dollar das Weite. Da die ganze Transaktion illegal war, hatte Kernes nicht zu befürchten, dass sich eines seiner Opfer an die Miliz wenden würde, mit der Beschwerde, statt Dollar eine Packung geschnittenes Papier im Tausch für Edelmetalle oder Rubel erhalten zu haben.

Kurz vor dem Ende der Sowjetunion landete Kernes dann doch noch auf der Anklagebank und wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. In die unabhängige Ukraine, der ein Übergang zur Marktwirtschaft bevorstand, kam er dank seiner vorherigen Tätigkeit mit zwei Dingen, die unentbehrlich für eine erfolgreiche Kapitalistenkarriere waren – Startkapital und die richtigen Bekanntschaften.

Politische Ökonomie

Als sich „Gepa“, wie Kernes in einschlägigen Kreisen genannt wurde, 1998 für den Gang in die Politik entschloss, kontrollierte seine NPK-Holding bereits die wichtigsten Medien der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Er war eine der Schlüsselfiguren bei der Privatisierung des ehemaligen sowjetischen Staatseigentums. Als Sekretär des Stadtrates und enger Vertrauter und Wahlkampfsponsor des damaligen Bürgermeisters Michail Dobkin konnte er bei der Vergabe von Aufträgen an die Privatunternehmen mitentscheiden.

Die erste „Orangene Revolution“ 2004/2005 zwang ukrainische Politiker:innen zu unangenehmen Entscheidungen: Der Wahlsieg des als prorussisch geltenden Wiktor Janukowitsch wurde von den Anhänger:innen seines prowestlichen Herausforderers Wiktor Juschenko als Resultat massiver Fälschungen beanstandet. Kernes ergriff zuerst entschlossen die Partei für das prowestliche, „orangene“ Lager und überlebte sogar ein Attentat der prorussischen paramilitärischen Organisation „Oplot“. Doch 2010 trat Kernes Janukowitschs „Partei der Regionen“ bei. Im selben Jahr wurde er als Nachfolger Dobkins zum Bürgermeister von Charkow gewählt.

Als im es Winter 2013/14 wieder zu Massenprotesten gegen den inzwischen doch noch zum Präsidenten gewählten Janukowitsch kam, zeigte sich Kernes als bekennender Gegner des „Maidans“. Die neue ukrainische Regierung befürchtete, dass in Charkow, wie in Donezk und Lugansk die prorussischen Kräfte die Oberhand gewinnen könnten. Seite an Seite mit den „Oplot“-Aktivisten traten Kernes und Dobkin bei den Anti-Maidan-Demos auf. Die Tatsache, dass in der neuen Regierung das Amt des Innenministers an den Charkower Multimillionär Arsen Awakow ging, der als Erzfeind von Kernes galt, trug ebenfalls zu Spannungen bei. Nachdem er sich im Februar 2014 in Genf mit dem Oligarchen Igor Kolomoiski traf, der schon früh für den Maidan Partei ergriffen hatte, änderte Kernes seine Position erneut. Er flog nach Charkow zurück und sprach vor pro-russischen Demonstrant:innen darüber, dass Charkow sei ein Teil der unabhängigen Ukraine und werde es immer bleiben.

Am 7. April wurden in Donezk und Lugansk die Gründung der „Volksrepubliken“ verkündet, am 8. April nahm in Charkow eine aus der Westukraine eingeflogene Polizeispezialeinheit die Anti-Maidan-Aktivisten, die sich in dem Gebäude der Stadtverwaltung verbarrikadiert hatten fest. Im russischsprachigen Charkow fand kein „Russischer Frühling“ statt und die neuen Machthaber ließen Kernes im Amt, obwohl er für sie eine der meist verhasstesten Figuren der ukrainischen Politik war. Schließlich galt er als einer der Geldgeber der „Tituschki“ – Provokateure und Schlägertrupps im Zivil, die in den Tagen der Maidanproteste berüchtigt wurden. Während Kernes weiterregierte, setzte sich der Anführer von „Oplot“, Jewgeni Schilin, der die Kader für „Tituschki“ bereit stellte, erst in die „Volksrepublik Donzek“ und später nach Russland ab, wo er im September 2016 von einem Unbekannten erschossen wurde.

Nun galt Kernes als ein Garant der Stabilität im Region, zumal als ein Schützling von Kolomoiski, dessen Gewicht in der ukrainischen Politik beständig wuchs. Dass die politische Macht in der Ukraine kaum von der wirtschaftlichen getrennt ist, wird zwar von vielen westlichen Beobachter:innen kritisiert, dennoch gelten alle Politiker:innen, die sich gegen die „Volksrepubliken“ entschieden hatten als, vom Standpunkt der „guten Demokrat:innen“, kleineres Übel.

Am 28. April 2014 entging Kernes nur knapp dem Tod, als ihn die Kugel eines Heckenschützes traf. Das Attentat wurde nie aufgeklärt, obwohl der von nun an den Rollstuhl gefesselte Kernes, dem Innenminister Awakow die Schuld gab. Ab diesem Zeitpunkt war der Charkower „Stadtvater“ in Augen seiner Wähler:innen ein Märtyrer. Ein Jahr nach dem Attentat wurde er als erster Bürgermeister in der neueren Geschichte der Stadt für eine zweite Amtszeit wiedergewählt – mit satten 65,8 Prozent der Wähler:innenstimmen.

Kapitalist, Demokrat, König

„Gepa, der König von Charkow“ war in der Tat durchaus populär bei der Bevölkerung. Er gab sich stets als Lokalpatriot, der einerseits gewillt ist, sich mit Kiew anzulegen, andererseits aber auch immer zu Kompromissen bereit ist, wenn sie nur für neue Geldflüsse in die Region sorgten.

Unter Kernes wurden mehrere Industrieanlagen aus der Sowjetzeit stillgelegt und abgerissen, an ihrer Stelle entstanden riesige Wohnkomplexe. Ein Teil der Wohnungen wurde „sozial schwachen“ Familien zugeteilt, während der Großteil profitabel verkauft wurde. Kernes machte Charkow zu einer der saubersten Städte der Ukraine, aber bei jedem Bau- oder Renovierungsprogramm kam es zu Skandalen um Geldwäsche, die Vermittlung der Aufträge und überhöhte Preise, für die die Stadtverwaltung Baumaterialien bei „befreundeten“ Unternehmen bezog. Kernes machte Charkow zur Vorzeigestadt in Sachen Barrierefreiheit – aber erst als er selber auf einen Rollstuhl angewiesen war. Er verhinderte den Abbau der sowjetischen Denkmäler – obwohl er selber vom Zerfall der Sowjetunion unmittelbar profitiert hatte. Er schützte den Status der russischen Sprache – und behielt die Macht, weil er Charkows Verblieb in der Ukraine sicherte. Bei seinen Wahlkämpfen wurde er von Unternehmerverband und Gewerkschaften der Stadt gleichermaßen unterstützt.

Als Faktor in der gesamtukrainischer Politik konnte der „König von Charkow“ nur bedingt wirken. Er galt zwar weiterhin als ein Überbleibsel der Janukowitsch-Zeit. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 unterstützte Kernes offiziell den Amtsinhaber Petro Poroschenko, der vom Newcomer Wolodymyr Selenskyj vernichtend geschlagen wurde. Poroschenko war auch mal Mitglied in Janukowitschs „Partei der Regionen“, stand nach dem Sieg von Maidan gerade für unbedingte Westbindung. Selenskyj wurde im Wahlkampf nachgesagt von Kolomojski unterstützt zu werden. Der Kreis der Akteur:innen der ukrainischen Politik scheint sich wenig zu ändern. Noch vom Berliner Krankenbett aus gewann Kernes die Regionalwahlen am 25. Oktober 2020. So treibt nach seinem Tod eine Frage die ukrainische Öffentlichkeit um: Was passiert mit dem Charkower Modell, das voll und ganz durch die Person Kernes zusammengehalten wurde?

Das Gepas Charkow keine Stadt war, wo Kapital frei vor sich hin konkurrieren konnten, weil bereits die Konkurrenz mit außerökonomischen Gewaltmitteln ausgefochten war und ihre Gewinner:innen das Geld aus der Staatskassen in ihre eigene Kassen scheffeln, haben die Anhänger:innen von „richtiger“, „reiner“ Marktwirtschaft häufig moniert. Dies ist aber keine Anomalie, sondern direkte Folge der Einführung des Kapitalismus auf den Ruinen des Realsozialismus. Neukapitalistische Länder müssten sich den Spielregeln stellen, die ihnen keine reale Chancen einräumen. Dass der ukrainischer Staat kein ideeller Gesamtkapitalist wurde, sondern zum umkämpften Instrument solcher Kapitalisten wie Kernes (auf der Regionalen Ebene) oder Kolomojski (auf Landesebene) – das ist nicht einfach nur deren Verkommenheit geschuldet.

# Titelbild: Sergiy Bobok. From Wikimedia Commons. License CC BY-SA 4.0, Massenandrang bei Kernes‘ Beerdigung am 04.01.2021

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Elemente im Betrieb. Teil 2

Betriebliche Repression gegen renitente, unangepasste Beschäftigte dringt sehr selten an die Öffentlichkeit. Fast könnte man glauben, dass sie kaum existierte. Zwar gibt es heute insgesamt einen erschreckenden Mangel an Berufstätigen, die sich zusammen tun, etwa in Betriebsgruppen, aktiven Betriebsräten, als gewerkschaftliche Vertrauensleute, oder niederschwellig: kritischen Whatsapp + Telegram-Gruppen etc. (von „Betriebszellen“ – also der Organisationsform von Kommunist*innen der 1950er und frühen 1970er Jahre – ganz zu schweigen). Daher gibt es heute weniger offene Konflikte am Arbeitsplatz als in vergangenen Jahrzehnten.

Dennoch geschieht nach meiner Beobachtung in deutschen Betrieben mehr, als einer breiten Öffentlichkeit (oder auch einer linken Szene-Öffentlichkeit) bekannt wird.

Thesen über den unbekannten Stress am Arbeitsplatz

  1. Viele Konflikte versickern innerbetrieblich: individuelle Streitereien durch Einzelkämpfer*innen oder aufwändige Betriebsratsarbeit, gescheiterte Versuche, Betriebsräte oder Betriebsgruppen zu gründen…. Konflikte versickern außerbetrieblich in nervenzehrenden Arbeitsgerichtsprozessen. Am Ende hindern Abfindungen mit Schweigeklauseln ausscheidende Kolleg*innen daran auszupacken, obwohl sie eigentlich die prädestinierten Whistleblower wären.
  2. Für die meisten öffentlich-rechtlichen, privaten oder auch alternativen Medien sind innerbetriebliche Konflikte, Interessenvertretung und arbeitgeber-unabhängige Organisierung ein „sub-political Topic“ – ein Thema außerhalb der Debatte.
  3. Viele Konflikte, Schikanen, Entlassungen werden heute nicht mehr als als Teil einer größeren strategischen Bewegung der Gegenseite – Union Busting – erkannt und daher abgetan.
  4. Besonders erschreckend: Die Betroffenen selbst erkennen oftmals nicht, oder wollen es nicht wahrhaben, dass hinter Repressalien, die sie am Arbeitsplatz erleiden, Methode steckt.
  5. Diese systematische Verdrängung, das Nicht-Erkennen, Nicht- Wahrhabenwollen kann für die Einzelnen zu seelischen oder psychosomatischen Erkrankungen führen.
  6. Die gute Nachricht: Klassenbewusstsein ist gesünder! Beschäftigte mit einem klaren Verständnis vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit leben womöglich riskanter, weil sie schneller gefeuert werden, sind dafür aber weniger anfällig für solche Krankheiten, die typisch sind für eine neoliberal geprägte Arbeitskultur.

Verschleierung als integraler Bestandteil der neoliberalen Epoche

Die kanadische Bestsellerautorin Naomi Klein verwendet in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ ein Wort, das in der deutschen Übersetzung sehr altmodisch ist: obskurieren. Es bedeutet verdunkeln, unverständlich machen. Die neoliberale Epoche, deren Siegeszug wir mit dem Staatsstreich in Chile am 11. September 1973 recht genau datieren können (und deren Ende wir möglicherweise gerade erleben), hat sich darin geübt, ihre Herrschaft unkenntlich zu machen, ihre Mechanismen zu verschleiern, ihre Grausamkeiten zu verdunkeln.

Zwar sind Folter, Hinrichtungen, Todesschwadrone der Pinochet-Diktatur durch Amnesty International bekannt, nicht aber die enge Verbindung der chilenischen Dikatur zur Chicagoer Schule des neoliberalen Wirtschaftsgurus Milton Friedman. Dass Pinochets systematische Folter und Friedmans ökonomische Schock-Therapie in einem direkten Zusammenhang stehen, dass sie sich nicht nur ergänzen, sondern sogar ähneln – hier Elektro-Schocks an Körpern, dort Schocks für die Volkswirtschaft durch Privatisierung, Kürzungungen, Massenentlassung und Preissteigerung – wird von der bürgerlichen Presse abgetan.

Stattdessen: Verschwörungstheorie

Während ein Wort wie ‚obskurieren‘ im Deutschen vom Aussterben bedroht ist, findet ein anderes heute geradezu inflationäre Verwendung: Verschörungstheorie. Meist in einem reflexartig heraus geschleuderten Satz: „Das sind ja Verschwörungstheorien!“

Neulich fiel genau dieses Wort im Gespräch mit meinem Freund Andy, den ich lange nicht gesehen hatte. Er war monatelang mit Burn-out krank geschrieben, erfuhr ich zu meinem Erstaunen, und kehrte gerade wieder an seinen Arbeitsplatz zurück (Wiedereingliederung nach dem Hamburger Modell),1 an dem er 20 Jahre lang ein geschätzter Kollege gewesen war:

„Elmar, ich neige ja nicht zu Verschwörungstheorien“, sagte er und ich wurde hellhörig, „aber ich glaube mittlerweile, die wollen mich auf der Arbeit gezielt fertig machen. Da ist irgendwas im Gange. Ich kriege dauernd komische Bemerkungen reingedrückt. Auf Teamsitzungen zählen meine Vorschläge nichts mehr. Es liegen im Pausenraum Broschüren herum: ‚Unser Unternehmen soll jünger und weiblicher werden‘. Ey, ich bin über 50 — soll ich mir jetzt Botox spritzen und mich geschlechtsumwandeln lassen? Dann bekam ich auf einmal eine Abmahnung. Das hat mir echt den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich bekam richtige Panikattacken.“

Im Gespräch erzählte mir Andy beläufig, dass er einige Tage zuvor in einem Wortgefecht mit seinem Chef rausgehauen hatte: „Mach doch, dann gehe ich halt zur Gewerkschaft!“ Ich bin davon überzeugt, dass er genau deshalb auf der Abschussliste landete. Das Management hatte diesen Laden, einen Sozialträger, soeben von einem gemeinnützigen Verein in eine gGmbH umgewandelt hat, möglicherweise stehen weitere Änderungen und Einschnitte bevor, bei denen Gewerkschafter*innen eher störend sind. Einen Betriebsrat gibt es bislang auch nicht.

Framing: Es ist zum verrückt werden

Andy hält den Zusammenhang zwischen der Abmahung und seiner Erwähnung des Worts „Gewerkschaft“ für zufällig, ja konstruiert. Vermutlich ist Andy genau deshalb krank geworden — wie so viele andere. Weil sein Rahmen, das Erklärungsmuster, das er verwendet, und das Bild, das er sieht, nicht mehr zusammen passen, weil das Framing nicht stimmt, weil der Rahmen vom Bild verrückt ist. (Seine Firma ist keine große Familie. Die Geschäftsführung ist skrupellos. Sie führt etwas im Schilde.)

Jetzt bewirbt er sich woanders. Zu kämpfen, sich mit Kolleg*innen zu organisieren, kommt ihm nicht in den Sinn, stattdesen hat er eine Gesprächstherapie und ein Achtsamkeitstraining hinter sich. Und ich verstehe ihn. Dieser Laden bietet vermutlich wirklich keine Perspektive, zu kämpfen. Scheiß drauf. Allerdings hätte in 20 Jahren beruflicher Tätigkeit doch eine Verbindung zu Kolleg*innen entstehen sollen, aus der zumindest ein Minimum an Solidarität und gemeinsamer Gegenwehr erwachsen könnte, oder?

Union Busting: Gezieltes, präventives Aussieben nach Einstellung

Tatsächlich werden sehr viele Leute auf der Arbeit fertig gemacht und gefeuert, nicht bloß weil sie als überzeugte Klassenkämpfer*innen aufgefallen sind, sondern weil sie POTENTIELLE Gewerkschafter*innen und aktive Betriebsratsmitglieder sind, also erst später, wenn Konflikte auftreten, in diese Rolle schlüpfen könnten.

Die neue Schule des Union Busting erfasst die Einstellung (englisch: Attitiude) der Beschäftigten mit soziologischen und psychologischen Methoden, die aus der Truppenbetreuung des US-Militärs während des 1. Weltkriegs herrühren. Damals sollte die Kampfbereitschaft einzelner Abteilungen erforscht werden. Heute sind Bewerbungstests und Assessment-Center darauf geeicht, Einstellung, Temperament und Charakter der Bewerber*innen zu bestimmen, so dass die Personalabteilung potentielle Gewerkschafter*innen präventiv heraus filtern kann. Das klingt ziemlich abgefahren, viel davon ist Scharlatanerie, bildet aber dennoch seit den Anfängen in den USA in den 1930er Jahren eine belegbare Praxis von Personalabteilungen, die bis heute stetig verfeinert wird und von der einer milliardenschwere Dienstleistungsindustrie lebt. Stichworte: Labor Relations, Union Avoidance, Counter-Organization, Human Resources.

Im Gegensatz zur Nachkriegszeit wird dieser Union-Busting Zusammenhang, der mit „Anti-Kommunismus“ nur ungenügend beschrieben ist, heute auch in Deutschland tunlichst verschwiegen, ja militant geleugnet. Im Jahr 1954 geschah das alles noch ganz offen. Damals feuerten Stahl- und Automobil-Konzerne in der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone Bayern 852 Gewerkschafter der IG Metall, davon 60 Betriebsratsmitglieder,2 nachdem diese einen großen Streik desaströs verloren hatte, einfach weil sie gestreikt hatten und in der IG Metall waren. Punkt. Die Zuständigen Arbeitsgerichte segneten das willfährig ab.

Nach dem KPD-Verbot 1956 wurde die antikommunistische Verfolgung zur offiziellen westdeutschen Staatsdoktrin und bot ungeahnte Möglichkeiten, unliebsame Elemente im Betrieb einfach zu entsorgen.

Die Methoden des Neoliberalismus sind raffinierter

Tatsächlich geht die neoliberale Ideologie weit über einen Anti-Kommunismus oder Anti-Sozialismus hinaus. „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht; es gibt einzelne Männer und Frauen und Familien“, lautet ein berühmtes Zitat der Milton Friedman-Schülerin Margaret Thatcher.3 Der Neoliberalismus ist anti-gemeinschaftlich. Er sieht den Menschen nicht als soziales Wesen, sondern als einzelgängerisches, gieriges Raubtier. Die neoliberale Ideologie ist aus dieser anti-kollektiven Grundeinstellung nicht bloß gegen Gewerkschaften, Betriebsräte und sozialistische Parteien gerichtet, sondern auch gegen kollektive Fortbewegungsmittel wie Eisenbahnen, kommunale Strom-, Gas- und Wasserversorgung, auch gegen kollektive Besitz-, Produktions- und Wohnformen wie Genossenschaften und sozialen Wohnungungsbau.

Während ihre Chef-Ideologen wie Friedrich A. Hayek oder Ayn Rand das unverhohlen propagieren, leugnet die neoliberale Funktionselite diesen Zusammenhang in der öffentlichen Debatte und versteckt ihn hinter einem Vorhang aus Sachzwängen, wirtschaftlichen Notwendigkeiten, Effizienz und unternehmerischer Freiheit. (Die Unterscheidung zwischen Lügen, Leugnen und Glauben fällt mitunter schwer: Viele Anhänger der neoliberalen Philosophie leben in einem sektenhaften Gedankengebäude, das von dogmatischen Glaubenssätzen, Hierarchien und finanziellen Interessen zusammen gehalten wird.)

Die Obskurierung ist ein wesentlicher Bestandteil der neoliberalen Epoche.

Ein paar konkrete Beispiele des unerkannten Klassenkampfs: Profitable Hostels wie das Wombat’s in Berlin werden geschlossen, um Betriebsrat und Tarifvertrag loszuwerden, Fabriken wie Otis in Stadthagen, Krankenhäuser wie die Weserklinik des Median-Konzerns in Bad Oeynhausen, Möbelhäuser von XXXLutz werden dicht gemacht, obwohl sie profitabel sind, nur um Streikhochburgen oder aktive Betriebsräte zu schleifen.

Nach außen hin leugnet das jeweilige Management den willkürliche Charakter, das kriegerische Motiv dieser Vergeltungsschläge zumeist. Die Presse hält das für „Verschörungstheorien“, die zuständige Gewerkschaft skandalisiert den Zusammenhang nicht, weil er wie Systemkritik klingt, die einer staatstragenden Institution offenbar nicht zusteht, welche beisitzende Richter*innen in Arbeitsgerichte entsendet, in Aufsichtsräten von Großkonzernen oder der Deutschen Rentenversicherung sitzt und immer noch aufs Engste mit der neoliberalen Regierungspartei SPD verwoben ist.

Was wir im Großen finden – die mutwillige Schließung, die durch konstruierte Sachzwänge getarnt wird – lässt sich auch im Kleinen, gegen Einzelne gerichtet, nachweisen.

Daraus folgt zusammen gefasst:

  1. Du darfst am Arbeitsplatz nicht allein bleiben, sondern musst erst eine(n), dann mehrere enge Vertraute gewinnen, mit denen Du – wenn die Zeit reif ist oder Not an der Frau – strategisch handeln kannst. Toni Kelb schrieb 1971:Einzelkämpfer zu sein ist ein Übergangsstadium. Ein Zustand, den du überwinden mußt. So schnell es irgend geht. Es ist eine Not, aus der du keine Tugend machen darfst.
  2. Du musst konspirativ, also verdeckt und vorsichtig vorgehen. Vertrauliche Gespräche müsst ihr außerhalb der Firma führen und gegenseitige Verschwiegenheit vereinbaren. Stell Dir einfach vor, Du würdest in einer Diktatur leben. (Zum Glück ist das Risiko weitaus geringer: Du wirst höchstwahrscheinlich nicht aus einem Flugzeug ins Meer geworfen, beim Weg zur Arbeit erschossen, eingesperrt und gefoltert, sondern einfach nur gefeuert. Aber auch das ist zu vermeiden.)
  3. Du solltest Dich und deine vertrauten Kolleg*innen impfen und ein klares Bewusstsein von oben und unten, von Interessenskonflikten zwischen Arbeit und Kapital entwickeln. Recherchiere intensiv zu eurer Firma, eurer Branche und ihrer Geschichte (aus Sicht der Beschäftigten). Das hält Dich gesund und bereitet dich auf harte Zeiten vor. Es gibt Dir Orientierung.
  4. Du brauchst tragfähige Kontakte zu Unterstützer*innen und Berater*innen außerhalb der Firma. Auch um Rat und Orientierung zu finden.

Wozu das Ganze?

Deine wichtigste Aufgabe ist es, im Betrieb schwelende Konflikte aufzugreifen. Sie müssen der Belegschaft bewusst werden, damit sie nicht verschleiert und unterdrückt, sondern ausgetragen werden können. […]

Die resignierte »freiwillige« Unterordnung ist eine Scheinlösung. Stattdessen wollen wir eine echte Lösung herbeiführen helfen: Die Unterdrückten erzwingen eine demokratische Lösung, indem sie [Konflikte] offen austragen.

(Toni Kelb, 1971)

Was so leicht klingt, ist oft harte, jahrelange Arbeit. Die auch scheitern kann…

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[HINWEIS des Autoren: Ich freue mich über Kritik, Resonanz, eigene Betrachtungen und Erlebnisse! (Kontakt: elmar.wigand@posteo.de) Ich will aus der Serie ein Handbuch entstehen lassen, das ich zusammen mit Interessierten und Betroffenen diskutieren und verbessern möchte.]

# Titelbild: gemeinfrei, Pinkertons begleiten Streikbrecher in Ohio 1884

1Die stufenweise Wiedereingliederung (§ 74 SGB V, § 44 SGB IX) in das Erwerbsleben (§ 27 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III) wird im Volksmund umgangssprachlich auch als das „Hamburger Modell“ bezeichnet und als StW abgekürzt. Oft wird diese Maßnahme vom Akutkrankenhaus oder danach von einer Rehabilitationseinrichtung meistens wegen einer länger andauernden stationären oder ambulanten Akutbehandlung empfohlen. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Modell_(Rehabilitation), abgerufen 3.12.2020.

2„Die Unternehmer nahmen fürchterliche Rache und säuberten ihre Betriebe von aktiven Gewerkschaftskadern: 852 Metaller, darunter 60 Betriebsräte, wurden von ihren Firmen nicht wieder eingestellt und fanden aufgrund von »Schwarzen Listen« keine Arbeit mehr. In 1.500 Prozessen mussten sich Streikposten wegen Landfriedensbruch, Körperverletzung oder Beleidigung verantworten.“ Quelle: Vor 41 Jahren: Der bayerische Metallarbeiterstreik 1954, Arbeiterstimme 109, September 1995, Seite 9. http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/3750

3Britische Premierministerin von 19790-1990. Interview mit Woman’s Own, 23.7.1987, https://de.wikiquote.org/wiki/Margaret_Thatcher

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Seit rund drei Monaten erlebt Belarus die größten Aufstände seiner Geschichte. Nachdem wir im ersten Teil (Link) näher auf die ökonomische Geschichte des Landes und die Entstehung der Protestbewegung eingegangen sind, wenden wir unseren Blick jetzt in die Zukunft. Welche Szenarien sind im Hinblick auf die ökonomische Krise und verschiedene geopolitische Interessen denkbar? Ist eine neoliberale Entwicklung unvermeidbar oder gibt es eine sozialrevolutionäre Perspektive?

Es gibt dabei verschiedene Richtungen, in die sich die Situation nach dem Sturz Lukashenkos entwickeln kann. Für uns am Wahrscheinlichsten (und deswegen Gegenstand dieses Artikels) sind die Annäherung an den russischen Staat bzw. die EU.

Eine Annäherung an Russland kann auf mehrere Weisen erfolgen. Zum Einen gibt es die Möglichkeit einer militärischen Intervention, so wie 2014 bei der Annexion der Krim im Kontext der Maidan-Proteste. Aktuell ist dies zwar unwahrscheinlich, das könnte sich jedoch ändern sobald die Proteste weniger friedlich verlaufen und sich Russland infolgedessen als Ordnungsmacht präsentiert. Dies wäre für Russland vor allem von Interesse, da es sich schon seit Längerem die Option offen hält, Belarus in das russische Staatsgebiet zu integrieren. Sollten Politiker*innen mit einer pro-russischen Agenda an die Macht kommen, so würden sie sich vermutlich durch Handelsabkommen und Staatshilfen an Russland binden. Das könnte die Übernahme der belarussischen Wirtschaft durch russische Oligarchen beinhalten. Auf der anderen Seite dieses Spannungsverhältnisses steht die EU. Sie repräsentiert für viele Menschen ein gutes Leben in einer gut funktionierenden Wirtschaft sowie einen funktionierenden Rechtsstaat.

Tikhanovskaja, eine wichtige Oppositionsfigur, hat bereits angedeutet, dass sie im Kontakt mit der EU steht und dass nach einem Abdanken Lukashenkos Gelder von dieser Seite fließen würden. Diesen ersten Annäherungen würden wohl Verhandlungen über Handelsabkommen folgen. Sowohl EU-Gelder als auch Handelsabkommen gehen typischerweise mit dem Druck neoliberale Reformen umzusetzen einher, die die Souveränität und das soziale Gefüge von Belarus und seiner Bevölkerung untergraben. Wenn wir von neoliberalen Reformen sprechen, meinen wir die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft nach marktfundamentalistischen Prinzipien: der dogmatische Glaube an Privatisierung, Deregulierung, die forcierte Öffnung lokaler Märkte und Sparprogramme, welche meist hauptsächlich den sozialen Sektor treffen würden. Ein maßgebendes Instrument für neoliberale Reformen sind Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese sind normalerweise an sogenannte Strukturanpassungsprogramme geknüpft. Durch das de facto-Monopol des IWF für diese Art von Krediten besitzt diese Institution extrem viel Macht. Staaten, die auf Hilfsgelder angewiesen sind, haben meistens keinerlei Verhandlungsspielraum.

Ein gutes Beispiel, wie die neoliberale Umgestaltung ehemaliger Sowjetrepubliken in der Praxis aussehen kann, findet sich im Polen der 1980er und 90er Jahre. Dort schaffte es die Gewerkschaft Solidarność nach fast einem Jahrzehnt im Untergrund mit ihrem neu gegründeten Parteiflügel die Wahl zu gewinnen und die Regierung zu stellen. Nun stand Solidarność vor der Aufgabe, die ruinierte Wirtschaft zu reformieren. Dafür brauchte es dringend Gelder, um den Staatsapparat am Leben zu halten und nicht an den Staatsschulden bankrott zu gehen. Die Gewerkschaft schlug ein ökonomisches Programm vor, in dem Staatsbetriebe in selbstverwaltete Kooperativen umgewandelt werden sollten. Das war jedoch nicht kompatibel mit den Bedingungen, die der IWF für die Vergabe von Hilfsgeldern in Milliardenhöhe aufstellte. Das Abkommen sah die Abschaffung von Preiskontrollen, den Abbau von Subventionen, sowie den Verkauf der staatlichen Minen, Werften und Fabriken vor. Nach kurzer Zeit gab es im schwer verarmten Polen nun zwar wieder Brot in den Supermärkten zu kaufen. Dieses konnte sich jedoch kaum jemand leisten. Die Einkommensunterschiede stiegen rasant, 1994 ging die Arbeitslosenrate auf 16,4% hoch. Außerdem wurden 33% der Betriebe geschlossen. Laut Berechnungen eines polnischen Ökonomen hätte es 2016 1,5 Millionen weniger Arbeitslose gegeben, wenn die Reformierung der Wirtschaft nicht neoliberalen Grundsätzen gefolgt wäre.

Neoliberale Reformen würden für Belarus bedeuten, dass die staatseigenen Unternehmen, in denen 39,2% der Bevölkerung arbeiten, privatisiert und an ausländische Investor*innen verkauft werden. Das würde einen harten Schlag für den belarussischen Staatshaushalt bedeuten. Dadurch könnten internationale Kredite nicht mehr gedeckt werden, woraufhin der IWF nun von der Regierung verlangen könnte, die Wirtschaft durch Strukturanpassungsprogramme zu sanieren. Die Folgen wären absehbar: Abbau der universellen Gesundheitsversorgung und des Bildungswesens, Kürzung der Sozialhilfen, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, Streichung von Arbeitsschutzgesetzen. Die daraus resultierende Verarmung der Bevölkerung stellt für die EU eine Chance auf billige Arbeitskräfte dar, welche nur einen Steinwurf entfernt sind. Vom Beispiel Polens lässt sich auch ableiten, welche langfristigen Szenarien bei der neoliberalen Umwandlung der belarussischen Gesellschaft möglich sind. Die doppelte Enttäuschung – erst vom Staatssozialismus, dann von den Arbeitsrechtsreformen westlicher Demokratien – schafft einen Nährboden für das Erstarken faschistischer Bewegungen. Nicht nur der Aufschwung der polnischen rechtskonservativen PiS-Partei, sondern auch die Entwicklungen in Ungarn oder in der Ukraine verstärken das Bild einer (solchen) historischen Konstante.

In beiden oben beschriebenen Szenarien – Annäherung an die EU oder Russland – gehen wir also davon aus, dass sich die materiellen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Klassen verschlechtern werden. Die unmittelbaren Verbesserungen, die mit einer Liberalisierung einhergehen können, wollen wir dabei nicht unter den Teppich kehren: aktuell werden Menschen für die Teilnahme an einer Demonstration oder Mitgliedschaft in einer politischen Organisation verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Hoffnung, nach dem Sturz Lukashenkos neu gewonnene Freiheiten für eine langfristige Politisierung der Bewegungen nutzen zu können, ist unter diesen Umständen nachvollziehbar und berechtigt. Trotzdem sehen wir in der aktuellen Situation auch das Potential, dass die Proteste nicht nur minimale Verbesserungen, sondern auch aus sozialrevolutionärer Sicht positive tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen. Die Nachbarschaftsversammlungen, die inzwischen überall in Minsk stattfinden, sind zu einer wichtigen Basis für die Proteste geworden. „Wir organisieren gegenseitige Hilfe wenn jemand etwas braucht, veranstalten Flohmärkte aus deren Erlös die Bußgelder gedeckt werden, die die Regierung von Demonstrierenden verlangt. Und wir helfen denen, die von der Polizei Gewalt erfahren“, erzählt Jasja bei einem dieser Treffen. „Das sind kleine Schritte, mit denen wir ein wenig Macht erlangen. Wenn wir all diese kleinen Schritte vereinen, haben wir große Macht“, ergänzt Wera ihre Nachbarin. Hier werden revolutionäre Konzepte wie Gegenmacht, gegenseitige Hilfe oder Dezentralisierung gelebt, auch wenn sie nicht immer als solche benannt werden.
Zwar scheinen bisher eher wenige Menschen die Nachbarschaftsorganisierung als Kernstück einer neuen Gesellschaftsordnung zu betrachten. Aber für eine Gesellschaft, die sich jahrzehntelang unter einem repressiven Regime weggeduckt hat, stellt diese Selbstermächtigung einen enormen Schritt dar.

Ähnliches lässt sich über die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen sagen. Auch wenn den vergangenen Aufrufen zum Generalstreik, zuletzt zum 26. Oktober, nur einige Betriebe folgten, ist die Idee des Streiks als politischem Instrument dennoch in der Bewegung verankert. Langsam entstehen auch erste Impulse kollektiver Arbeit: Seit drei Jahren besteht in Minsk ein Druckerei-Kollektiv, das inzwischen vier Personen einen Lebensunterhalt garantiert. In den Protesten spielen sie eine wichtige Rolle: „Alle Druckereien hier werden zensiert, so dass sich seit Beginn der Proteste viele weigern, irgendetwas zu drucken, was damit oder der weiß-rot-weißen Symbolik zu tun hat. Aber unser Kollektiv arbeitet von Anfang an ohne jegliche Zensur. Als zum Streik aufgerufen wurde, druckten wir alle Materialien dazu kostenlos oder gegen Spenden“, erzählt ein Mitarbeiter.

Allerdings gibt es verschiedene Hürden, die der Entstehung einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung im Wege stehen. Zum einen die mangelnde Tradition gewerkschaftlicher Organisierung. Die staatlichen Gewerkschaften sind in realsozialistischer Kontinuität vor allem ein Mittel der verstärkten Ausbeutung, jeder Versuch der Selbstorganisierung wird im Keim erstickt. Genau wie in der BRD gibt es in Belarus kein Recht auf politischen Streik, auf die erste Streikwelle im August folgten Massenentlassungen und Verhaftungen. Zum anderen wird jegliche sozialistische oder kommunistische Rhetorik mit dem Lukashenko-Regime und Abhängigkeit von der Sowjetunion in Verbindung gebracht. „Nach 26 Jahren Überleben im „Sozialstaat“ glauben die Menschen nicht an Sozialismus. Durch die lange sowjetische Geschichte und der kontinuierlichen pro-kommunistischen Rhetorik in Fernsehen und Alltag, sind sie skeptisch im Bezug auf Kommunismus.“, berichtet ein belarussischer Anarchist im Interview mit Crimethink. Das macht es auch für jede außerparlamentarische Opposition schwer, revolutionäre Ideen mit realpolitischer Perspektive in der Gesellschaft zu verankern.

Ein mögliches Ende des Regimes wird kein Machtvakuum nach sich ziehen: schon jetzt verhandeln verschiedene oppositionelle und internationale Akteur*innen und Teile der herrschenden Klasse, um die ökonomischen und politischen Verhältnisse des Belarus von morgen neu zu ordnen. Die breite Protestbewegung hat momentan keine gemeinsame Vorstellung davon, was in dieser Situation geschehen soll. Nach monatelangen Protesten und einem ersten Erfolg ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich viele durch kleine Zugeständnisse, wie Amnestie für gemäßigtere politische Gefangene, vorerst befrieden lassen. Wenn aber neoliberale Reformen mit der gleichen Geschwindigkeit wie z.B. in Polen umgesetzt werden, muss die Antwort der Bewegung direkt kommen. Wenn es einen Raum für die Mitgestaltung der Veränderung gibt, dann jetzt. Was es braucht, ist eine Organisierung der Gesellschaft an der Basis. Nur wenn sich die Nachbarschaftsversammlungen und Ansätze der unabhängigen Gewerkschaften konföderieren, können sie die Vision so einer Veränderung entwickeln. Die Impulse dafür zu setzen ist Aufgabe einer organisierten Kraft, die das Ende des Lukashenko-Regimes erst als Anfang einer sozialrevolutionären Umgestaltung der belarussischen Gesellschaft begreift

Diese Kraft sehen wir momentan am ehesten in der belarussischen anarchistischen Bewegung. Anarchist*innen haben von Beginn an an den Demonstrationen teilgenommen, sich in den Nachbarschaftsversammlungen eingebracht, Texte gedruckt und Programme veröffentlicht. Tatsächlich ist die anarchistische Bewegung die einzige größere linksradikale Kraft, die die Proteste unterstützt, da ein Großteil der kommunistischen Bewegung in regimetreuen Parteien organisiert ist. Das Potential, dass in der Annäherung der breiten Protestbewegung an libertäre Ideen steckt, hat auch das Regime erkannt: eine Verhaftungswelle folgt der nächsten, der größte Teil der Bewegung ist im Knast oder auf der Flucht, einigen Anarchist*innen droht nun sogar die Todesstrafe. Als Internationalist*innen begreifen wir die Kämpfe in Belarus auch als unser Ringen um eine lebenswerte Zukunft. Nicht aus einem westlichen Paternalismus heraus oder weil es hier nichts zu tun gäbe. Sondern weil auch die Kräfte der Herrschaft und Unterdrückung nicht vor Staatsgrenzen halt machen und ein Kampf um Befreiung genau deshalb nur international sein kann.

Die Kämpfe in Belarus stellen uns vor die Wahl: bleiben wir am Rand stehen als Zuschauer*innen von Kämpfen, deren Ende im Neoliberalismus doch eh schon zu Beginn klar war. Oder aber bringen wir uns ein, organisieren Kundgebungen, sammeln Soligelder, finden heraus, wer hier in der BRD an der Unterdrückung unserer Genoss*innen verdient. Und zeigen ihnen, dass sie nicht allein sind. Belarus befindet sich in einer Zeit des Umbruchs. Nach Jahren des Schweigens und der Isolation spüren die Menschen jetzt, dass die Macht auf der Straße liegt, dass nichts bleiben muss wie es ist.

Wir wünschen ihnen dabei viel Kraft und Hoffnung.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Sonntagsdemo am 18.10.2020

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Die CDU verschiebt ihren Parteitag vom 4. Dezember 2020 in das Frühjahr 2021. Der rechte Parteiflügel um Friedrich Merz sieht darin eine Verschwörung der Parteioberen gegen sich. Der selbsternannte Kämpfer gegen das Establishment teilt ordentlich aus und sieht sich als Opfer. Dabei hat die CDU-Führung nicht ohne Grund wenig Vertrauen in den mandatslosen Merz.

Am 4. Dezember 2020, wollte Friedrich Merz sich eigentlich zum Parteivorsitzenden (und damit vermutlich auch nächsten Kanzlerkandidaten) der Union wählen lassen. Doch der Parteitag wurde aufgrund der Covid-19 Pandemie abgesagt. Der rechte Flügel um Merz sieht das als Verschwörung des „Establishments“ zu dem er sich, ebenso wie zur Oberschicht, selbstverständlich nicht zählt. Dass die CDU-Führung Merz verhindern will, liegt jedoch weniger an seiner vermeintlichen Außenseiterrolle, sondern ist lediglich eine rein taktische Entscheidung der Politstrateg*innen. Man weiß dort, dass Merz Stimmen von FDP und AfD abgraben würde, allerdings bei gleichzeitigen Verlusten an SPD und Grüne. Es ist zweifelhaft, dass die neugewonnenen Stimmen aus dem rechten Lager Letztere aufwiegen würden. In weiten Teilen der Partei dagegen genießt Friedrich Merz viel Unterstützung. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er bei einer Mitgliederbefragung gewinnen würde. Seine Inszenierung als Kämpfer gegen das Establishment und Stimme des kleinen Mannes trifft gerade auf Kreisebene und bei Mitgliedern ohne Mandate auf Gegenliebe. Besonders viel Wut bekommt dabei einer seiner direkten Kontrahenten ab. So verkündete Merz am 26. Oktober auf Twitter: „Ich habe klare Hinweise darauf, dass Armin Laschet die Devise ausgegeben hat: Er brauche mehr Zeit, um seine Performance zu verbessern.“ Merz versucht, den Parteivorsitz zu gewinnen und setzt dabei auch auf einen schmutzigen Wahlkampf mit direkten Angriffen. Ob das seine Chancen erhöht und seiner politischen Karriere zuträglich ist, darf bezweifelt werden.

Aber noch einmal zurück zu den Anfängen. Die Karriere von Friedrich Merz ist eigentlich nicht größer bemerkenswert, wäre da nicht sein frühes Karriereende. Damals, Anfang der Nuller-Jahre, unterlag der von ihm vertretene rechte Parteiflügel in einem CDU-internen Machtkampf dem liberalen Flügel um Angela Merkel. Doch Merz hielt sich in der Öffentlichkeit, wurde sehr gerne von Zeitungen zitiert und hatte Stammgast-Status in Talkshows, wo er regelmäßig seine neoliberalen und nationalistischen Positionen vertrat. Daran änderte weder etwas, dass er 1997 gegen die Einführung des Straftatbestandes der Vergewaltigung in der Ehe gestimmt hatte, noch diese kleine Geschichte: Anfang der Nuller-Jahre hatte Merz nämlich einen Regierungslaptop verloren, der nur dank einem ehrlichen Finder wieder auftauchte. Als Dank schickte Friedrich Merz dem wohnungslosen Mann sein eigenes Buch. So viel Arroganz muss sein. Und das alles, obwohl er nicht mal einen relevanten Posten inne hat oder hatte. Darauf angesprochen, dass er nichts weiter als ein Apparatschik des CDU-Parteiapparats war und ist, reagiert er in der Regel sehr genervt. So das letzte Mal bei Markus Lanz, als Luisa Neubauer (Fridays for Future) ihn darauf hinwies, dass er „mandatspolitisch“ nichts ist.

Merz große mediale Präsenz ist aber weder dem Zufall, noch seinen regelmäßigen Ausfälligkeiten geschuldet. Er ist – ähnlich wie Karl Theodor zu Guttenberg Mitte der Nuller-Jahre – der Wunschkandidat des konservativen Establishments. Dementsprechend regelmäßig wird er in Schlagzeilen erwähnt und von der konservativen Presse mit wohlwollender Berichterstattung bedacht. Denn letztlich steht er in erster Linie für Sozialabbau und Law and Order – und damit Klassenkampf von oben. Daran ändert auch seine neue Begeisterung für eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene nichts, im Gegenteil; Sie ist lediglich ein Beleg für den Opportunismus der Grünen und ihren Wunsch, die SPD auf Bundesebene als Juniorpartner der Union abzulösen. Dass die Grünen sich bei ihren Annäherungsversuchen nicht nur auf den wirtschaftsliberalen Unionsflügel um Merkel beschränken, sondern präventiv auch schon mal mit den Parteirechten um Merz gut stellen, überrascht dann auch nicht weiter.

Der weitere Verlauf des innerparteilichen Machtkampfes bleibt also spannend – vor allem für Gegner*innen der Union. Denn das Jahr 2021 ist das, was man im politischen Jargon „Superwahljahr“ nennt. Die anstehende Bundestagswahl, sowie Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und vier weiteren Ländern verlangen nach einer klaren Linie und vor allem einer geklärten Führungsfrage. Keins von beidem kann die CDU momentan vorweisen.

Die SPD hat mit ihrer frühen Nominierung von Olaf Scholz als Kanzlerkandidat die Union bereits unter Druck gesetzt. Auch der aktuelle Richtungskampf zwischen wirtschaftsliberalen und konservativen, sowie rechtspopulistischen Kräften innerhalb der Partei trägt vermutlich ebensowenig zum großen Erfolg bei, wie es eine deutlich nach rechts rückende CDU unter Merz langfristig wohl tun würde. Hinzu kommt, dass Friedrich Merz sich durch seine jüngsten homophoben und chauvinistischen Ausfälle mit etwas Glück jede Chance auf den Parteivorsitz selbst verbaut und so seine Karriere zum zweiten und hoffentlich auch letzten Mal beendet haben könnte.

# Titelbild: Olaf Kosinsky, CC BY-SA 3.0-de, Friedrich Merz beim „politischen Aschermittwoch im Februar 2020

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Bei den Protesten gegen Lukaschenko in Belarus mischen auch anarchistische Gruppen mit. Am 21. Oktober hat das LCM Xenia, Igor und Pjetr interviewt, Anarchist*innen aus Minsk, Belarus getroffen. Sie erzählten von ihren Erfahrungen und Perspektiven auf die Protestwelle, im Zuge derer seit Anfang August hunderttausende Menschen wöchentlich auf die Straße gehen. Sie fordern den Rücktritt des Diktators Lukashenko, Neuwahlen und Freiheit für politische Gefangene. Einige Tage nach dem Interview wurden Xenia und Igor selbst verhaftet.

Wieso beteiligt ihr euch an den Protesten?

Pjetr: Wir sehen zwar, wie sich die Proteste in Richtung Neoliberalismus bewegen, wie versucht wird einen freien Markt zu errichten und soziale Rechte abzubauen. In ökonomischer Hinsicht stimmt diese Bewegung also nicht mit unserer Ideologie überein, es gibt keinen Diskurs über Arbeiter*innenselbstverwaltung und soziale Rechte.

In politischer Hinsicht aber schon. Seit vielen Jahren leben wir unter dieser Diktatur, wir haben keine Möglichkeit, uns offen als Anarchist*innen zu bezeichnen, keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit. Es ist also sehr wichtig, diese Bewegung zu unterstützen, da sie mehr Raum für Freiheit verspricht. Wir denken, dass ein Ende dieser Diktatur auch im wirtschaftlichen Bereich mehr Handlungsspielraum eröffnen wird. Vielleicht werden wir eine stärkere Arbeiter*innenbewegung bekommen, mit mehr Freiheit sich zu organisieren.

Igor: Alle bisherigen Proteste in Belarus waren, wie wir hier dazu sagen, ziemlich zahnlos. Es waren eher kleine Sachen, wie Applausaktionen, die trotzdem sehr bald von der Bereitschaftspolizei, von OMON, zerschlagen wurden. Und die Leute haben danach nicht weiter gemacht. Das, was in diesem Sommer begann, als erheblicher Widerstand geleistet wurde, ist wirklich etwas Wunderbares für unsere Gesellschaft. Also ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass wir jetzt ein wenig stagnieren, denn das ist etwas wirklich Unerwartetes und bereits ein großer Schritt vorwärts für unsere Gesellschaft.

Ihr meintet, die Proteste gehen in eine neoliberale Richtung. Denkt ihr, es gibt auch Aussicht auf emanzipatorischere Lösungen? Was für Perspektiven seht ihr generell in den Protesten?

Igor: Ich denke die Chance, dass diese Revolution weiter in Richtung einer emanzipatorischen Perspektive geht, ist sehr gering. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie mit diesen neoliberalen Reformen zu Ende geht, aber dennoch wird sie die Plattform schaffen, von der aus anarchistische Ideen weiter verbreitet werden können.

Pjetr: Ich denke auch diese neoliberalen Reformen werden kommen, weil alle großen politischen Akteure dafür sind. Zum Beispiel fördern dies ehemalige Präsidentschaftskandidat*innen. Aber wenn sie an die Macht kommen, dann wegen des Drucks von der Straße, also werden sie uns in Zukunft irgendwie respektieren müssen.

Xenia: Das Wichtigste ist, dass sich das Bewusstsein der Menschen bereits verändert hat. Die Menschen haben erkannt, was sie tun können, was ihre Interessen sind, wie sie sich organisieren und handeln können. Und das ist bereits eine ganz erhebliche Veränderung. Wir werden nicht mehr so leben, wie wir früher gelebt haben.

Gibt es irgendwelche Gruppen oder Personen, die den Protest anführen?

Xenia: Wir haben uns oft einen führungslosen Protest gewünscht, und das haben wir jetzt erreicht. Im Moment ist er sehr selbstorganisiert, die Menschen versammeln sich in den Nachbarschaften und entscheiden selbst, wie sie handeln wollen.

Igor: Das stimmt, aber es gibt Leute, die versuchen, die Proteste anzuführen, zum Beispiel dieser Koordinierungsrat um Tikhanowskaja. Auch Blogger*innen haben ihre eigene Agenda, am populärsten ist Nexta. Aber auch der Telegramkanal der anarchistischen Gruppe Pramen, der im Moment fast 10.000 Abonnent*innen hat, ist sehr beliebt.

Pjetr: Zwischen diesen verschiedenen Oppositionsführer*innen gibt es eine Art Rollenverteilung. Tikhanowskaja und der Koordinationsrat versuchen den politischen Diskurs zu bestimmen, während Blogger*innen wie Nexta und andere die Straßenproteste koordinieren.

Gestern wurden Nexta, die größte Plattform der Proteste, und deren Symbole als extremistisch eingestuft. Warum denkt ihr ist das passiert und wird es Auswirkungen haben?

Xenia: Ich denke, dass sie nicht in der Lage sein werden tatsächlich zu verhindern, dass diese Plattform gelesen wird. Nexta war einer der ersten Blogs, der den Massen beigebracht hat VPNs zu benutzen, also werden die Leute trotzdem Zugang dazu haben. Ich denke, es wird die Leute nur noch mehr davon überzeugen, diese Quelle zu nutzen.

Igor: Das zeigt einmal mehr die ganze Absurdität eines solchen Begriffs wie Extremismus. Zum Beispiel wurde anfangs die Hälfte der anarchistischen Websites auch als extremistisch deklariert. Und okay, jetzt wird Nexta als solche eingestuft. Ich glaube, es war ein weiterer Versuch, jede Art oppositionellen Denkens zu stoppen.

Welche Rolle haben Anarchist*innen in den Protesten? Welche Rolle könnten oder sollten sie eurer Meinung nach in Zukunft übernehmen?

Igor: Ursprünglich war die anarchistische Präsenz ziemlich schwach, würde ich sagen. Wir waren nur einige Bezugsgruppen, die an den Protesten teilnahmen. Wir waren dort, aber ohne eine klare und überzeugende Agenda. Aber dann hat sich das geändert. Jetzt nehmen Anarchist*innen mehr und mehr den Raum ein. Beispielsweise sucht jetzt Nexta die Freundschaft und den Rat von Anarchist*innen.

Xenia: Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese Tendenz noch zunimmt, denn ja, wir werden jetzt irgendwie erwähnt, aber es ist immer noch nicht sehr viel. Es wäre schön, wenn wir als ernstzunehmende politische Kraft wahrgenommen werden.

Pjetr: Interessant ist, dass es Impulse aus der Gesellschaft gibt, die wir hätten vorschlagen können. Zum Beispiel Solidaritätsfonds, Initiativen gegenseitiger Hilfe, Blockade-Taktiken und sogar Barrikaden. All dies hätte von uns kommen können, aber es kam von der Basisbewegung.

Deshalb denke ich, dass dies eine gute Gelegenheit für Anarchist*innen ist, neue Protesttaktiken vorzuschlagen. Dadurch können horizontale Netzwerke geschaffen werden, die für die Zukunft erhalten bleiben.

Igor: Was auch spannend ist, ist das es inzwischen einige Bilder von Anarchist*innen gibt, die fast schon wie ein Mythos sind. Da gibt es zum Beispiel Gerüchte, dass Anarchist*innen alle Proteste koordinieren, dass Anarchist*innen die Barrikaden errichten, dass Anarchist*innen die ganze Zeit in der ersten Reihe stehen. Aber das hat eher wenig mit der Realität zu tun.

Pramen hat ein anarchistisches Programm für die Aufstände in Belarus veröffentlicht. Glaubt ihr, dass es irgendeine Perspektive hat?

Pjetr: Ich habe das Programm mitgeschrieben und denke, man kann es dafür kritisieren, dass es opportunistisch und nicht radikal genug ist. Man kann es auch dafür kritisieren, dass es keine konkreten Vorschläge dafür liefert, was zu tun ist, damit die Revolution siegt. Die Perspektive sehe ich darin, dass es einen Vektor hin zu einer anarchistischen Ausrichtung darstellt.

Was können wir aus diesen Protesten lernen?

Igor: Eine wichtige Lektion der Proteste ist, dass Anarchie auch ohne Anarchist*innen funktioniert. Das weckt große Hoffnung auf weitere Veränderungen.

Pjetr: Uns ist bewusst geworden, dass wir uns besser auf die Revolution vorbereiten müssen. Wir brauchen eine anarchistische Organisation, die nicht nur eine abstrakte Vision hat, sondern auch ein konkretes Programm, mit einer konkreten Vision, welche Veränderungen wir erreichen wollen, wie unsere Gesellschaft organisiert sein soll, und was unser Plan ist, wenn eine Revolution gegen die Diktatur, in der wir leben, stattfindet – ich glaube, wir brauchen mehr gesunden Optimismus.

Was haltet ihr im Hinblick auf internationale Solidarität für notwendig und was wünscht ihr euch?

Xenia: Verschiedene Leute haben uns gefragt, ob wir materielle Unterstützung brauchen, aber im Moment wir können das nicht klar als „schickt uns Geld“, „schickt uns Waffen“ oder „schickt uns Menschen“ formulieren. Für mich ist es einfach wichtig, dass die Menschen ihre Solidarität ausdrücken, dass sie uns Briefe schreiben und fragen, wie sie helfen können. Das ist bereits eine große Hilfe. Außerdem ist es schön wahrgenommen zu werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten.

Pjetr: Ich möchte allen, die diese Zeilen lesen, für ihre moralische Unterstützung danken. Aber auch praktische Solidarität kann etwas bewirken. Es könnte Kampagnen geben, die Druck auf die Regierungen der Länder aufbauen, die die belarussische Revolution nicht unterstützen, oder die dem belarussische Regime sogar aktiv helfen. Da wäre zum Beispiel die Firma Volkswagen, die Profite daraus schlägt, dass die repressiven Institutionen hier in Belarus hauptsächlich ihre Fahrzeuge benutzen. Und auch einige IT-Firmen, wie Synesis, die dem belarussischen Regime Entschlüsselungs-Software zur Verfügung stellen. Auch finanzielle Unterstützung ist willkommen.

Wollt Ihr noch etwas hinzufügen?

Pjetr: Ich möchte vielleicht etwas persönliches sagen. Früher habe ich mir die Revolution als etwas wirklich Schönes und Wunderbares vorgestellt, als eine Art Kreativität der Massen, mit einem Anstieg des sozialen Lebens. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass dies auch mit einer Zunahme der Repressionen und der Macht einhergeht. Schließlich scheint es nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Angst zu sein. Wir müssen also noch mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, uns gegenseitig zu unterstützen und uns umeinander zu kümmern.

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Heute ist es ein Jahr her, dass sich die Menschen in Chile massenhaft und spontan erhoben, um ein menschenwürdiges Leben einzufordern. Was als Protest gegen den Anstieg des U-Bahn-Tickets begann, eskalierte zu einer nationalen Bewegung gegen 30 Jahre Demokratie unter dem von der Diktatur auferlegten neoliberalen Joch.

Es war ein schwieriges Jahr. Die Pandemie war ein Verbündeter des Staates, der die Situation ausgenutzt hat und seit März eine Ausgangssperre verhängt und Militär in die Straßen gebracht hat. Die Maßnahmen, die gegen die Verbreitung der Pandemie getroffen wurden, haben nur der Wirtschaft, den Unternehmen genutzt, was die Gültigkeit der Forderungen des Volkes nur bekräftigt hat. Und während die Gesundheitssituation es geschafft hat, die Proteste seit März einzudämmen, sind die Menschen seit September, mit der Aufhebung der Quarantäne, wieder auf die Straße zurückgekehrt. Die Monate der Pandemie, in denen die Leute eingesperrt waren und die Arbeiterklasse völlig im Stich gelassen wurde, waren Monate, in denen die Wut nur weiter kochten. Obwohl die Quarantäne die Bewegung auf der Straße, die Massendemonstrationen zum Erliegen brachte, hatte sie nicht den gleichen Effekt in Bezug auf Organisation und Solidarität. Die noch größere Prekarität, die durch den Covid erzeugt wurde, erforderte, dass diese andere Formen annehmen mussten, vor allem durch kollektive Organisierung von Dingen, die sonst ein Sozialstaat übernehmen würde. Überall im Land haben sich Nachbarschaften organisiert, wurden Suppenküchen aufgemacht, die denjenigen, die wegen der Ausgangssperre nicht einmal mehr arbeiten gehen durften, nicht verhungern zu lassen. Denn der Staat lies die Leute im Stich.

Und während für die Gesundheit und das Überleben der Arbeiterklasse kein Geld zur Verfüfung stand, investierte die Regierung eifrig in Repressionsmittel. Im Laufe des Jahres wurden Wasserwerfer aus der Türkei und Waffen aus aller Herren Länder gekauft, um die Polizei auszurüsten. Und die neuen Spielzeuge werden eingesetzt. Seit die Menschen auf die Straße zurückgekehrt sind, hat die Repression zugenommen. Erst vor drei Wochen machte ein Video in sozialen Medien die Runde, die einen Polizeibeamten zeigten, der einen 16-jährigen Demonstranten von einer Brücke stieß. Er blieb bewusstlos mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen. Er wurde von Demonstranten und selbstorganisierten Gesundheitsbrigaden gerettet. Kein Polizeibeamter hat geholfen. Im Gegenteil, sie behinderten die Rettungsversuche. Der Demonstrant überlebte und wurde im Krankenhaus inhaftiert. Der Polizist, ungestraft. Jeden Tag gibt es explizite Bilder von Polizeimissbrauch, die ungestraft bleiben.

Die Brutalität der Büttel des Staates ist aber nur eine Seite der Repression. Politische Gefangenschaft wird als Mittel zur Einschüchterung des Protests eingesetzt. Nur sehr wenige der tausenden Gefangenen der Revolte haben ihre Freiheit wiedererlangt, einige sind bereits verurteilt worden; für andere werden Strafen von bis zu 20 Jahren gefordert. Und während in den Städten die Polizei marodiert, hat der Staat die Militarisierung in den Mapuche-Gemeinden im Süden des Landes massiv verstärkt und seine Agenten führen ständig Überfälle auf ihre Gemeinden durch. Ein Mapuche-Führer, Alejandro Treuquil, wurde im Juni dieses Jahres von Unbekannten kaltblütig in seinem Haus ermordet, nachdem er sich über Drohungen der Polizei beschwert hatte. Die mehr als 400 Opfer von Augentrauma und staatlicher Gewalt während der Revolte werden völlig im Stich gelassen, ohne Reaktion auf ihre Beschwerden.

Und weil jeder Knüppelschlag eine moralische Rechtfertigung braucht versucht der Staat schamlos, zu destabilisieren und Gewalt zu erzeugen, um den Protest weiter zu kriminalisieren. Vor einigen Tagen wurde ein Polizist entdeckt, der soziale Organisationen der gegenseitigen Hilfe infiltriert hatte und der ständig Mitglieder zum Angriff auf Polizei und Polizeistationen aufstachelte. Für diese Aufgabe wurden dem Polizist eine komplett falsche Identität gegeben. Wir fragen uns, wie viele dieser Fälle es noch gibt. Nachdem wir das ganze Jahr über von rechtsextremen Gruppen und dem Staat gehört haben, wie sie die Bewegung beschuldigen, von ausländischen Agenten inszeniert worden zu sein, ohne jemals über Beweise zu verfügen, erleben wir nun, dass diejenigen, die wirklich versuchen, zu manipulieren und Chaos zu schaffen, sie selbst sind.

In einer Woche, am 25. Oktober, findet schließlich das erwartete Plebiszit statt, das ursprünglich im April stattfinden sollte, aber wegen der Corona-Pandemie um sechs Monate verschoben wurde. Dieser Prozess wurde von der Rechten bereits völlig behindert und gefesselt, als im November 2019 im Kongress das so genannte „Abkommen für den Frieden“ unterzeichnet wurde. Dieses Abkommen, das zwischen der Regierung und einer parlamentarischen Opposition geschlossen wurde, die nicht in der Lage war, die Millionen von Menschen auf der Straßeauch nur ansatzweise zu vertreten, eröffnete die Möglichkeit, eine Volksabstimmung durchzuführen, um zu entscheiden, ob eine neue Verfassung gewünscht wurde oder nicht, schloss aber die Möglichkeit aus, diesen Prozess über eine verfassungsgebende Versammlung abzuwickeln. Für den Entwurfsmechanismus stehen zwei Optionen zur Verfügung: Die erste ist ein Verfassungskonvent, dessen Mitglieder zwar zu 100 Prozent vom Volk gewählt werden. Doch das geltende Wahlgesetz erschwert unabhängige Kandidaturen und gibt Mitgliedern politischer Parteien den Vorzug. Der zweite ist ein gemischter Konvent, der sich zu 50 Prozent aus Parlamentariern (von ihnen selbst gewählt) und zu 50 Prozent aus Volksabstimmungen zusammensetzt. Und während diese Abstimmung, ein hart erkämpftes Minimalzugeständnis nach eine Jahr Protest, tausenden Gefangenen und Verletzten, dutzenden von Agenten des Staates ermordeten, jetzt ansteht, haben sich die Herrschenden noch ein Hintertürchen offen gehalten: Wenn es aus Sicht von Regierung oder Kongress „pandemiebedingt“ notwendig sein sollte, können sie das Referendum bis einen Tag vor der Durchführung absetzen.

Es schmerzt, dass die Hoffnungen auf eine ander Gesellchaft, die mit so viel Blut auf den Straßen erkämpft wurden, nun in den Händen eines Verfassungskonvents liegen. Die größte Forderung des Volkes war von Anfang an klar, eine verfassungsgebende Versammlung, um die Möglichkeit zu haben, Geschichte aus der Realität des Volkes heraus zu schreiben. Das Misstrauen gegenüber dem Prozess ist offensichtlich und gerechtfertigt. Das chilenische Volk hatte noch nie die Gelegenheit, eine verfassungsgebende Versammlung abzuhalten. Die Verfassungen von 1925 und 1980 wurden von einer kleinen Gruppe geschrieben und von einem Diktator durchgesetzt. Das erste nach einem brutalen Massaker in der Salpeterpampa, bei dem etwa 2000 Arbeiter und keine Soldaten starben, und das zweite mitten in Pinochets Diktatur.

Es schmerzt, für den Moment darauf zu vertrauen zu müssen, dass ein von der Elite kooptierter Verfassungsprozess zu einem wirklichen Wandel führen kann, der die Ungleichheit beendet, die indigene Bevölkerung und Vielfalt anerkennt, das Rentensystem verändert, eine gerechte Gesundheits- und Bildungspolitik umsetzt und die Plünderung der Ressourcen des Landes durch ausländische Unternehmen kontrolliert, die mit denselben Unternehmen verbündet sind, die das „Friedensabkommen“ ausgehandelt haben.

Es schmerzt, an die Möglichkeit zu denken, dass wir einen ähnlichen Prozess erleben werden wie beim Übergang zur Demokratie 1990, wo durch politische Ränkespiele die Privilegien und der Machtmissbrauch einer kleinen Gruppe verewigt wurden, was uns 30 Jahre später mit der Idee auf die Straße brachte, dass „wir nichts zu verlieren haben, denn sie haben uns bereits alles genommen.“

# Titelbild: Frente Fotográfico, Organsierte Nachbar*innen demonstrieren in Santa Rosa, Santiago am 14.10.2020

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„Bringen Sie Ihr Business voran – mit dem führenden Innovationstreiber.“ So steht es nach wie vor auf der Website der Wirecard AG, die anscheinend weitgehend unverändert online geblieben ist. Innovativ war dass Unternehmen, dessen Namen mittlerweile einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, tatsächlich, allerdings nicht im normalerweise mit dem Begriff verbundenen positiven Sinn. Neu und einmalig in der Nachkriegsgeschichte war vor allem das Ausmaß an Manipulation und Betrug in diesem Fall, die Methoden der Verschleierung und das völlige Versagen der Politik. So eifrig, wie Wirecard als „deutsche Technologiehoffnung“ hochgejubelt, so schnell wurde der Laden zur „heißen Kartoffel“, als die Unternehmensführung im Juni eingestehen musste, dass Aktiva über 1,9 Milliarden Euro in ihrer Bilanz nicht zu belegen seien.

Seit Wochen ist der Vorgang in den Schlagzeilen. Wobei die Darstellung als unterhaltsames Schurkenstück, als spannender Wirtschaftskrimi, wie sie in den Leitmedien von Spiegel bis Handesblatt gang und gäbe ist, als unzulässige und verschleiernde Romantisierung gesehen werden muss. Tatsächlich handelt es sich um einen schweren Fall von Wirtschaftskriminalität, der einen erheblichen Schaden für die Allgemeinheit und nicht zuletzt für viele der rund 5.800 Mitarbeiter*innen bedeutet. Vor allem aber ist der Fall in bestürzender Deutlichkeit exemplarisch für Verfallsprozesse und Krisenphänomene des real existierenden Spätkapitalismus‘ und zeigt auf, wie wenig die als legal geltende Wirtschaft von der Organisierten Kriminalität trennt; wohin der Deregulierungwahn führt, wie sehr Verwaltung und Politik sich zum Knecht der Konzerne gemacht haben.

Zu den Fakten. Die Wirecard AG meldete am 25. Juni Insolvenz an. Inzwischen haben die Kündigungen von Mitarbeiter*innen begonnen. Das Unternehmen war 1999 in Aschheim bei München als so genanntes Start-up gegründet worden. In einer Zeit, in der der Onlinehandel noch in den Anfängen steckte, bestand die Geschäftsidee darin, den elektronischen Zahlungsverkehr auszugliedern und diesen für andere Firmen abzuwickeln. Die Firma schloss mit möglichst vielen Händler*innen Verträge über die Akzeptanz von Kredit- oder EC-Karten und anderen Bezahlverfahren, etwa via Smartphone, ab und stelle die technische Lösung dafür zur Verfügung. Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Spiegel wickelte Wirecard zuletzt Zahlungen für rund 313.000 Kunden ab, darunter Aldi und TUI.

Schon relativ früh tauchten Berichte über Unregelmäßigkeiten auf. Im Rückblick kann man sich fragen, warum bei denen, die das Unternehmen zu überwachen hatten, nicht früher die Alarmglocken schellten. Bereits im Mai 2008 veröffentlichte ein*e unter Pseudonym schreibender Benutzer*in in einem Internetforum eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie. Er vermutete „systematische Ausplünderung der Erlöse aus den Kapitalerhöhungen“. Später wurde bekannt, dass Mitglieder der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), animiert durch den Forenbeitrag, auf fallende Kurse vor Bekanntmachung der Bilanzdefizite spekulierten. In der Folge wurden zwei SdK-Vertreter zu Haftstrafen verurteilt. Wirecard machte weiter. Ähnliches wiederholte im Februar 2016 und im Februar 2017, als das Manager Magazin über intransparente Bilanzierungen bei dem Münchner Konzern berichtete.

Doch nicht mal als die Financial Times (FT) im Februar 2019 über Machenschaften bei Wirecard schrieb, platzte die Bombe. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), deren Aufgabe es gewesen wäre, Wirecard auf die Finger zu schauen, erstattete erst einmal Anzeige gegen den recherchierenden FT-Journalisten und setzte dann einen einzigen Angestellten der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung in Bewegung, um den Fall zu durchleuchten. Firmen vom Fach setzten für solche Aufträge aus gutem Grund für gewöhnlich 40 hochspezialisierte Expert*innen ein.

Es war immer derselbe Trick. Wirecard zeigte mit dem Finger auf böse Spekulant*innen, die das Unternehmen angeblich nur mit Schmutz bewarfen, um den Kurs zu manipulieren und Extraprofite einzustreichen. Da fragte dann kaum einer mehr danach, was an den Berichten dran sein könnte. Das änderte sich erst, so stellt es zumindest der Spiegel dar, als im Herbst 2019 mit dem japanischen Technologiegiganten Softbank ein neuer Investor einstieg. Diese drängten auf eine Sonderprüfung der Bilanzen. Anfang November nahm die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ihre Arbeit auf. Der Anfang vom Ende des Konzerns.

Wie immer in solchen Fällen, stürzte das Lügengebäude nach dem ersten Bröckeln mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit zusammen. Jetzt bewahrheitete sich, was jahrelang Gegenstand von Gerüchten gewesen war. Wirecard hatte ein undurchsichtiges Netz aus Scheinfirmen und gefälschten Geschäften gesponnen, viele Umsätze waren Fake, Luftbuchungen von fiktiven Einnahmen erfundener Partner*innen auf nicht existierenden Bankkonten. Tatsächlich hatte der Konzern mit der eigentlichen Zahlungsabwicklung offenbar seit Jahren Verluste erwirtschaftet. Die BaFin erstattete Anfang Juni 2020 aufgrund des Verdachts der Marktmanipulation Anzeige gegen den Vorstandvorsitzenden Markus Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder der Wirecard und ließ deren Geschäftsräume durchsuchen. Am 1. Juli rückten ein Dutzend Staatsanwält*innen und 33 Polizeibeamt*inneen sowie mehrere IT-Spezialist*innen in den Büros der Firmen ein. Ermittelt wird jetzt wegen Marktmanipulation, Bilanzfälschung, Betrug und Veruntreuung von Vermögen, auch dem Verdacht der Geldwäsche gehen die Ermittler nach.

Der Fokus der Medien richtet sich vor allem auf die beiden Wirecard-Anführer, die als die bösen Buben identifiziert wurden: Markus Braun, Vorstandsvorsitzender bis Mitte Juni, und Jan Marsalek, Vorstand für das operative Geschäft, beide aus Österreich. Braun wurde verhaftet, kam für sage und schreibe fünf Millionen Euro Kaution wieder auf freien Fuß und dann aufgrund eines erweiterten Haftbefehls erneut in Untersuchungshaft. Marsalek ist auf der Flucht, angeblich mit einigen Millionen Euro im Gepäck. Sogar in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen xy… ungelöst“ wurde nach ihm gefahndet.

Marsalek eignet sich prima als böser Bube und Sündenbock, dem man die Schuld an dem Desaster aufbürden kann. Der Spiegel praktizierte das in einem ellenlangen Beitrag, der sicher auch interessante Details zu Tage fördert, aber vor allem der Romantisierung, Psychologisierung und Individualisierung des Falls Vorschub leistete. Er wird als charismatischer Quereinsteiger präsentiert, der die Drecksarbeit für Braun erledigt habe. Das Nachrichtenmagazin harft: „Er führte das Leben eines offenbar vom Glück geküssten Parvenüs, der es ganz aus eigener Kraft zu Reichtum und Einfluss schaffte, samt Privatjets, Luxushotel, Partys in St. Tropez und Cognac Rémy Martin Louis XIII für 2500 Euro die Flasche.“ Da schwingt eine gewisse Bewunderung der Lohnschreiber*innen von der Brandstwiete mit. Der Spiegel machte sich sogar die Mühe, Nachbar*innen von Marsalek zu befragen und seine in der Nähe Wiens wohnende Mutter auszuhorchen.

Wesentlich spannender als dieses Herumstochern in Marsaleks Biographie ist die Information, dass einer seiner offenbar engeren Gesprächspartner ausgerechnet ein Mann war, der im vergangenen Jahr für einen der größten Politskandale Österreichs mitverantwortlich war: Johann Gudenus, von 2017 an geschäftsführender Klubobmann der FPÖ im Nationalrat und ein enger Vertrauter des langjährigen FPÖ-Parteichefs und Vizekanzlers Österreichs, Heinz-Christian Strache. Gudenus und Strache waren bekanntlich die Hauptprotagonisten der Ibiza-Affäre, die zum Sturz der österreichischen Regierung führte.

Was das Ganze genau für eine Bewandtnis hat, wird nicht klar. Von diesem Geraune ist es aber nicht weit zu der Vermutung, die wohl der eigentlich Kern des Beitrags ist: Die Russen sollen mal wieder an allem schuld sein. Das Magazin fragt: „War der Wirecard-Vorstand nur ein Aufschneider, der mit seinen Kontakten zu Politik, Thinktanks, der Sicherheitsszene angab und offensichtlich eine große Leidenschaft für alles Militärische besaß? Oder arbeitete Marsalek tatsächlich eng mit Russland zusammen?“ Die Antwort liefert man gleich mit: „Man kann sich die Frage stellen, ob Marsalek mit den Russen oder für sie gearbeitet hat“, wird ein namentlich nicht bezeichneter Beamter aus dem österreichischen Sicherheitsapparat, zitiert. Dann ist da noch die Rede von irgendwelchen Zementfabriken in Libyen und Papieren, die Marsalek angeblich im Besitz hatte – mit geheimen Informationen über das Nervengift Nowitschok, dem Gift, mit dem der ehemalige russische Spion und Überläufer Sergej Wiktorowitsch Skripal und seine Tochter im März 2018 im englischen Salisbury vergiftet worden sein sollen und das aktuell mit dem Fall Nawalny wieder Schlagzeilen macht. Damit ist die Räuberpistole dann komplett.

Das Ziel dieses Manövers liegt auf der Hand: Marsalek als mafiösen Drahtzieher hinzustellen mit Kontakten zu Geheimdiensten, zur FPÖ und nach Russland. Das lenkt prima vom Versagen der deutschen Politik ab. Von der ist ganz zum Schluss des Beitrags und eher beiläufig die Rede. Das Lobbying für Wirecard sei erfolgreich gewesen, heißt es da lakonisch. Unter anderem habe der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Wolfgang Schmidt, das Unternehmen protegiert. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) habe bereits im Februar 2019 von Ermittlungen der BaFin gegen Wirecard gewusst. Mehr ist zur Rolle von Finanzministerium und Scholz in dem Fall nicht zu erfahren.

Exemplarisch führt der Spiegel vor, wie man einen Vorgang, der symptomatisch ist für den Kapitalismus im Spätstadium, in eine Art Gaunermoritat umdichtet. Die Geschichte sei „viel zu verrückt“, heißt es im Einstieg des Beitrags, die Charaktere „derart überzeichnet“, die Handlungsstränge „so bizarr“, dass man unweigerlich denke: So eine Story könne „nur in Hollywood spielen, niemals im echten Leben“. Das Gegenteil ist richtig! Der Vorgang ist nicht verrückt, sondern absolut normal angesichts des Amoklauf des Geldes. Überraschend ist eher, dass Derartiges nicht viel öfter geschieht. Kurz gesagt: Der Fall Wirecard ist systemisch.

# Titelbild: Gemeinfrei, Internet World Fair 2017 in Munich, Germany, Wirecard-Stand

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Belarus/Weißrussland gilt in hiesigen Medien vor allem als eine Diktatur. Für viele Linke in den postsowjetischen Ländern galt das Land als Hoffnungsträger und es wurden lange Debatten darüber geführt, ob die dortige Gesellschaft als sozialistisch zu betrachten sei.

Was macht die Republik Belarus so besonderes?

Tatsächlich unterscheidet sich die Entwicklung des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion stark von denen der Nachbarländer. Nachdem 1994 Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewann, wurde der Kurs auf Privatisierungen und Stärkung des antisowjetisch-antirussischen Nationalbewusstseins ad acta gelegt. Der neue Präsident appellierte an die durch die ersten Reformen schnell entstandene Sowjetnostalgie und sah die Rettung der marktwirtschaftlich unrentablen aber weiterhin funktionierenden Industrie als nationale Priorität an.

Mit massiven Subventionen laufen in Belarus weiterhin die zur Sowjetzeit gebauten Werke. Die „harten aber notwendigen Maßnahmen“, von denen die Reformer*innen in Polen, in den baltischen Ländern und Russland sprachen, blieben der Republik erspart. Das sowjetische Sozialsystem wurde zwar runtergefahren aber nicht komplett vernichtet. Im Unterscheid zu den Nachbarländern gibt es in Belarus kaum absolute Armut, keine organisierte Kriminalität und keine unter sich konkurrierende Oligarchenklasse, die die Politik kräftig mitgestaltet.

Unter den positiven Eigenschaften des untergegangenen Realsozialismus, die er in seinem Staat nicht missen möchte, zählen für Lukaschenko neben der funktionierenden Industrie und der russischen Sprache auch die ominöse Einheit zwischen dem konsolidierten Volk und der Staatsführung. Weswegen es in Belarus auch keine ernsthafte Konkurrenz bei den Wahlen, keine unabhängigen Gewerkschaften, nur eingeschränkt oppositionelle Medien und kaum legale Protestmöglichkeiten gibt.

An die Macht gekommen löste Lukaschenko das Parlament auf, änderte kurzerhand die Verfassung und regierte von nun an ohne Gewaltenteilung weiter. Es gibt in Belarus keine herrschende Partei, Staatsideologie oder Massenbewegung, auf die sich die Herrschaft stürzt. Die zentrale Institution von Lukaschenkos Modell ist der Präsident selbst. Sein Verdienst, dem Land die Massenschließung der Betriebe zu ersparen, schaffte ihm reale Unterstützung in der Bevölkerung. Der durch die staatlichen Medien geschaffene Kult und die Zensur gegen die Opposition leisteten ebenfalls einen Beitrag zu seinen wiederholten Wahlerfolgen.

Trotz der omnipräsenten sowjetischen Symbolik gibt es in Belarus selbstverständlich Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Marktwirtschaft. Bis 1998 wurden etliche Betriebe privatisiert. Jedoch verhindert der Staat durch seine Eingriffe die Pleite und darauffolgend Schließung von strategisch wichtigen Betrieben – was bei westlichen Experten für entsetztes Kopfschütteln sorgt. Der Staat drängt die Banken dazu, Kredite an die minusmachenden Betriebe zu vergeben. Aus Sicht der belarussischen Staatsführung ein Erfolg, werden doch dadurch Infrastruktur und Arbeitsplätze erhalten. Aus Sicht der „wohlmeinenden“ westlichen Beobachter eine grobe Verletzung der Regeln, die den längst überfälligen Marktabgang der Konkurrenzverlierer verhindert.

In der Landwirtschaft wurden die sowjetischen Kolchosen in Aktiengesellschaften umgewandelt. Auch hier kommen die staatlichen Subventionen massiv zum Einsatz, was die „Ernährungssouveränität“ der Republik gewährleisten soll. Die Lebensmittelpreise reguliert der Staat ebenso wie den Zugang der ausländischen Investoren (die es ja durchaus gibt) zum eigenen Markt.

Was hat das alles mit Russland und der EU zu tun?

Da Belarus auf Exporte angewiesen ist, braucht es, wie schon davor die UdSSR, Devisen für die Betätigung auf dem Weltmarkt. Lukaschenko redet seit seinem Machtantritt von der „Unabhängigkeit“, hat aber real mit einer doppelten Abhängigkeit zu tun. Seine antiimperialistische Rhetorik und Verweigerungshaltung gegenüber der EU und der NATO prämierte der große Nachbar im Osten mit Lieferungen von Energie zu „politischen“ Preisen. Erdöl und Gas fließen jedoch nicht nur von Russland nach Weißrussland, sondern auch von dort weiter in den Westen. Die noch aus der Sowjetzeit stammenden Raffinerien verarbeiten die Rohstoffe und verkaufen sie weiter ins Ausland. Rohstoffe aus Russland unter dem Marktpreis beziehen, mit der erhaltenen Industrie verarbeiten und dann zu Marktpreisen weiterverkaufen, die Gewinne zur Subvention der eigenen Wirtschaft verwenden und deren Produkte dann zollfrei nach Russland absetzen – das ist die ökonomische Formel des belarussischen „Sonderweges“.

Auch wenn Lukaschenkos Reden sich bisweilen wie die Verlautbarungen von Antiglobalisierungsforen anhören, ist das Land sehr wohl Teil des Weltmarktes und zudem extrem von Öl- und Gaspreisen abhängig. Sollte also Russland sich dazu entscheiden, die Bedingungen zu ändern oder aus dem Westen neue Sanktionen wegen Nichteinhalten von demokratischen oder marktwirtschaftlichen Regeln kommen, sollten sich die Weltmarktpreise ändern, dann gerät Lukaschenkos Modell mächtig ins Wanken. Eine Lösung in der Vergangenheit war, sich neue Absatzmärkte unter den ähnlich verfemten Staaten (Venezuela, Iran, Sudan usw.) zu suchen – was neue Sanktionen aus dem Westen einbrachte. Seit über zehn Jahren versucht Belarus, sich auch Hilfe von der anderen Seite zu verschaffen. Für die Staaten, die akute Probleme mit Zahlungsfähigkeit haben, bittet die IWF Kredite an, um die sich Belarus immer wieder bemüht. Doch die Kredite gibt es nicht ohne Bedingungen, deren Erfüllung einer Demontage von Lukaschenkos Wirtschaftsmodell gleich kämme. Die belarussische Wirtschaft soll sich endlich unsubventioniert der internationalen Konkurrenz stellen.

Je mehr die Nachbarländer zu Mitgliedern oder Vertragspartner*innen der EU werden, umso wichtiger wird Russland als Absatzmarkt für die belarussischen Waren. Da Russland nun mal auch ein kapitalistischer Staat ist, gibt es regelmäßig Krach zwischen Käufer und Verkäufer, wobei Russland – große Überraschung – den „politischen“ Preis für Öl und Gas als einen politischen Hebel benutzt. Sobald die Preise erhöht werden, wachsen belarussische Schulden. Als Schuldner sitzt Belarus gegenüber dem Gläubiger am kürzeren Hebel.

In Folge solcher Interessenkonflikte fror Minsk das bis dahin forcierte Projekt der Schaffung eines russisch-weißrussischen Unionsstaates ein. Ein Projekt, von dem sich viele sowjetnostalgischen Linken eine Wiedergründung der neuen UdSSR auf freiwilliger Basis versprachen, existiert seit 15 Jahren nur noch auf dem Papier. Dafür gibt es seit 2014 die Eurasische Wirtschaftsunion mit einem Binnenmarkt, jedoch ohne Perspektive von weiterer Verschmelzung zu einem Staat.

2009 trat Belarus dem „Östliche Partnerschaft“-Programm der EU bei. 2016 wurden die EU-Sanktionen gegen die „letzte Diktatur“ Europas aufgehoben. Womöglich spielte dabei Lukaschenkos Haltung in Ukrainekonflikt eine entscheidende Rolle. Die von den russischen Gegensanktionen betroffenen EU-Agrarprodukte werden über Belarus und unter dem belarussischen „Label“ nach Russland eingeführt. Es ist also nicht so, dass Lukaschenko nicht kompromissbereit oder für seinen westlichen Verhandlungspartner nutzlos wäre. Nur in puncto Machtteilung wollte das Minsker „Väterchen“ keine Abstriche machen. Da aber die EU durchaus begründet der Meinung ist, die Opposition sei noch kompromissbereiter und nützlicher, unterstützt sie fröhlich jeden Protest gegen Lukaschenko und verlangt von ihm „Demokratisierung“. Weil er ja kein Demokrat sei, läuft es auf Abgang aus.

Warum Proteste und wer protestiert gegen was?

Bei jeder Wiederwahl von Lukaschenko gab es Proteste, mal größere, mal kleinere. Jedes Mal wurde der Präsident mit Hilfe polizeilicher Mitteln damit fertig und verwies dabei auf die Unterstützung der „einfachen Leute“, die hinter ihm stehen. Ausgerechnet 2020, im Jahr der Präsidentenwahl kam die Corona-Krise. Lukaschenko zog konsequent die „pandemieskeptische“ Linie durch, was zur Folge hatte, dass es im Unterscheid zu Russland und den EU-Ländern keine staatlichen Hilfen und Entschädigungen für niemanden gab. Die innige Liebe der „einfachen Leute“ auf die das „Väterchen“ bisher stets verwies, dürfte infolge der Maßnahmen, die in Belarus in den letzten Jahren zwecks Wirtschaftsstabilisierung ergriffen wurden, Schaden erlitten haben. Noch vor Russland wurde in Belarus 2017 das Rentenalter erhöht, Streiks sind de facto verboten, Kündigungsschutz existiert nicht, die meisten Arbeiter*innen werden mit den einjährigen Kontrakten beschäftigt. Besonders originelle Maßnahme war die Einführung von „Steuer auf Arbeitslosigkeit“ die „Sozialschmarotzer“ zu Kasse bieten sollte 2017.

Da keine zuverlässigen soziologischen Umfragen zugelassen wurden, rankten sich schon im Vorfeld der Wahlen wilde Spekulationen, wie es um die Zustimmung zum Präsidenten real bestellt sei. Die Logik einer „konsolidierten“ Demokratie verlangt aber, dass die Wahlergebnisse auf gar kein Fall schlechter ausfallen als die bisherigen, denn ansonsten würden die Maßnahmen wie die bisherigen Verfassungsänderungen fragwürdig erscheinen. Da die Wahlergebnisse sehr schnell und einfach als Ergebnis von „Eingriffen“ zu überführen waren – und dass, nachdem die aussichtsreichsten Kandidaten bereits im Vorfeld aus dem Verkehr gezogen wurden. Damit schuf Lukaschenko den unmittelbaren Anlass für die Proteste, bei denen sich alle Motive für Unzufriedenheit mit seiner Herrschaft nebeneinander artikulieren.

Oppositionelle Parteien und Organisationen wurden ohne Rücksicht auf politische Ausrichtung aus der Öffentlichkeit gedrängt. Es stimmt zwar, dass bisher die größten oppositionellen Gruppen mit einem national-liberalen Programm auftraten, aber auch einige sozialdemokratische, kommunistische und anarchistische Gruppen wurden mit Repression überzogen. Bei den gegenwärtigen Protesten spielen die alten „nationalen“ Oppositionsparteien (Christdemokraten, Belarussische Volksfront, Vereinigte Bürgerpartei) eine auffällig kleine Rolle. Bezeichnenderweise spricht einer der führenden Köpfe der Proteste, der Manager einer dem russischen „Gazprom“ zugehörigen Bank Wiktor Babariko besser russisch als belarussisch und akzentfreier als Lukaschenko. Dass der Minimalkonsens der Protestierenden die Forderung nach faireren Wahlen bildet, ist schon vielsagend und keineswegs so neutral, wie es unbedarften Beobachter*innen vorkommt. Von der Forderung der Herrschaftsermächtigung nach Regeln versprechen sich diejenigen am meisten, die Lukaschenkos System zugunsten von „normalem“ Kapitalismus, den es allerdings in Belarus noch aufzubauen gilt, verwerfen wollen. Als Rettung der infolge der Ölpreisflaute erschütterten Wirtschaft fallen denen zuallererst die Kredite des IWF ein. Der Blogger Sergei Tichanowski berichtet gern über die heldenhaften Farmer*innen und Kleinunternehmer*innen, die unter der staatlichen Bürokratie leiden. Seine Ehefrau und Ersatzkandidatin Swetlana spricht in ihrem Wahlprogramm davon, dass die „Menschen sich selber Arbeitsplätze schaffen sollen“. Dafür sollen für „kleine und mittelständische Unternehmen Barrieren abgebaut werden“. Weitere neue Arbeitsplätze sollen durch ausländische Investitionen geschaffen werden. Die rentablen Staatsbetriebe sollen weiterlaufen, über alle anderen dürfen „die Spezialisten entscheiden“. Babariko verlangt eine Liberalisierung der Wirtschaft und den Austritt des Landes aus dem Militärbündnis mit Russland. Der langjährige Mitstreiter Lukaschenkos Waleri Zepkalo verspricht jedem Bürger drei Hektar Land als staatlich geschenktes Privateigentum. Die stolzen Belarussen sollen nicht länger ihr Dasein als Lohnarbeiter*innen in Kolchosen und Sowchosen fristen, sondern „Herren ihres Landes werden“. Das bedeutet aber nicht, dass alle Protestierenden Anhänger*innen solcher Forderungen seien. Die Zusammensetzung des am 18. August gebildeten Koordinationsrates der Opposition lässt jedoch kaum daran zweifeln, dass in Falle der Abganges Lukaschenkos „schmerzhafte, aber notwendige“ Marktreformen anstehen. Der einzige Vertreter der streikenden Arbeiter*innen, Sergei Dylewski, trägt zwar ein Anarchie-Zeichen-Tattoo, sagt aber von sich, keine politische Ansichten zu haben. Nach den eigenen Angaben hat er früher für den Oppositionellen Schriftsteller Wladimir Nekljajew gestimmt. Jetzt unterstützt er Swetlana Tichanowskaja.

Die Arbeitsniederlegung der Arbeiter*innen in den Staatsbetrieben versetzte zwar dem offiziellen Bild Lukaschenkos als Beschützer der „einfachen Menschen“ einen schweren Schlag, jedoch weitete es sich nicht zur einem Generalstreik aus. Bestreikt wurden eben nur staatlichen Betriebe, während die Opposition gerade Polizist*innen dazu aufruft zu kündigen und ihnen neue Jobs bei oppositionellen Arbeitgeber*innen verspricht. Gerade fungieren die Streikkomitees nicht als proletarisches Korrektiv oder gar Gegengewicht zum bürgerlich-liberalen Koordinationsrat der Opposition.

Die oppositionellen linken Organisationen nehmen aktiv am Protest teil, haben sich aber bisher wenig mit einem eigenem Programm profiliert. Die belarussische vereinigte Linkspartei „Gerechte Welt“, gegründet von den oppositionellen Mitgliedern der Kommunistischen Partei ist inzwischen eher eine gemäßigte Kraft, die ihre Zukunft als ein Teil des pluralistischen Parteispektrums nach Lukaschenko sieht. Die Belarussische Partei der Werktätigen (BPT) mit etwas mehr als 1.000 Mitgliedern hat keine offizielle Registrierung. Sie orientierte sich lange Zeit an der Gewerkschaftsbewegung, arbeitete aber auch mit der liberalen Opposition zusammen. Der marxistische Zirkel „KrasnoBy“ interveniert in die Proteste mit den Aufrufen, Streikstrukturen auszubauen und sich dabei von dem Koordinationsrat unabhängig zu machen.

Im anarchistischen Spektrum läuft seit längerem eine Auseinandersetzung zwischen linksnationalistischen Gruppen wie „Poschug“, die belarussische Identität stark machen und dem gegenüber allen Nationalismen kritisch eingestellten Kollektiv „Pramen“. Daneben machte die militant-plattformistische „Revolutionäre Aktion“ von sich reden. Die betonte Gewaltlosigkeit der aktuellen Proteste steht aber in starken Kontrast zu deren bisherigen Aktionismus.

Es gibt auch die linken Verteidiger des Präsidenten, vor allem die Kommunistische Partei von Belarus (KPB), die zur Pro-Lukaschenko-Kundgebungen mobilisiert. In einer gemeinsamen Erklärung mit den kommunistischen Parteien Russlands und Ukraine gibt sie ihre Gründe zur Protokoll: „Es ist notwendig, das zu bewahren, was im Laufe vieler Jahre geschaffen wurde“. Zur Seite springt auch der Führer der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) Gennadi Sjuganow, der sich vor allem um die russischen Nationalstaatsinteressen seinen Kopf zerbricht: „Schließlich werden in Belarus sogar Fahrgestelle für ›Jars‹- und ›Topol- M‹-Raketen hergestellt. Wir selbst sind nicht in der Lage, sie zu produzieren. Sogar unser U-Boot-Flotten-Managementsystem befindet sich größtenteils auf dem Territorium von Belarus. Alle unsere Öl- und Gaspipelines, alle unsere direkten Verbindungen nach Europa führen durch Belarus. Daher ist die Frage für uns absolut prinzipiell.“

#Titelbild: Marco Fieber, CC BY-ND 2.0, Proteste gegen Lukaschenko 2015

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Gegenüber der fürchterlichen Explosion von Beirut am 5. August 2020 wirkt der Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009 beim U-Bahnbau beinahe wie eine Lappalie. (Damals starben zwei Menschen – eine weitere Person nahm sich später das Leben.) Immerhin verschwand dabei das bedeutendste historische Archiv Europas nördlich der Alpen in einem fast fünfzig Meter tiefen mit Schlamm und Grundwasser gefüllten Krater.

Ein Zitat des NDR-Korrespondenten Carsten Kühntopp vom 05. August zu den verheerenden Explosionen in Beirut dürfte geschichtsbewussten Kölner*innen in den Ohren klingeln. Wenn wir es leicht anpassen, ist es durchaus auf das Rheinland anwendbar.

„Deshalb ist die Mega-Explosion das jüngste und fürchterlichste Beispiel dafür, wie die Eliten des Libanon das Land über Jahrzehnte herunter gewirtschaftet haben. Die Libanesen sind mit einer völlig korrupten und unfähigen politischen Klasse geschlagen. Anstatt auch nur eines der strukturellen Probleme des Landes anzugehen, waren diese Räuberbarone stets nur damit beschäftigt, ihr eigenes Nest zu polstern. […] Nach einer Untersuchung der Explosionskatastrophe dürfte man einige untergeordnete Beamte als Schuldige präsentieren. In Wirklichkeit ist es die politische Klasse selbst, die kollektiv für das Unglück verantwortlich ist.“

Leider finden deutsche Journalist*innen so klare Worte meist nur, wenn es sich um das Ausland handelt – und auch nur dann, wenn es nicht um nützliche Diktaturen geht wie Saudi-Arabien oder interessante Einflussgebiete wie die Ukraine, sondern um geostrategische Rivalen und ihre potentiellen Verbündeten, sozialistische Regime, Abtrünnige der neuen Weltordnung, korrupte „Bananenrepubliken“ oder Wackelkandidaten wie den Libanon, welcher demnächst vom Internationalen Währungsfond (IWF) einer Rosskur unterzogen wird.

Strukturelle Ursachen? Versandet, vergessen, übertüncht

Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln beim U-Bahnbau (Bauabschnitt: Bilfinger Berger) am 3. März 2009, Bild: Frank Domahs, Lizenz: GNU free

Der Kölner Krater ist elf Jahre nach dem Einsturz längst nicht verschwunden. Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung sind versandet, das zu Grunde liegende Strukturproblem vergessen und übertüncht: eine dysfunktionale Sub-Unternehmer-Kaskade, die nach allen Regeln der neoliberalen Wirtschaftsberatung das Gemeinwesen ausplündert und Projekte in Desaster führt. Ausgehend von gleich mehreren Generalunternehmern wie Bilfinger Berger (in deren Abschnitt der Einsturz passierte), breiteten sich durch Sparzwang, Kostendumping und Profitgier kaskadenformig Lohndumping, Schlamperei, Pfusch und Kriminalität in der „optimierten Wertschöpfungskette“ aus. Ohne behördliche Kontrollen konnte das kriminogene Sub-Unternehmermilieu prächtig gedeihen.

Wie in Beirut gab es auch in Köln mehr als deutliche Warnungen, die komplett ignoriert wurden: Bis zu vier Zentimenter große Risse im Fundament des Stadtarchivs, die Ende 2008 festgestellt worden waren, aber von unfähigen oder korrupten Gutachtern nicht auf ihre Ursachen untersucht wurden. Der Kirchturm von St. Johann Baptist, 300 Meter weiter an der U-Bahn-Strecke gelegen, war bereits im September 2004 abgesackt wie der schiefe Turm von Pisa und musste mit viel Aufwand stabilisiert werden.

Fast wirkt es wie ein Wunder, dass im Kölner Krater nicht mehr Leute starben. Die Bauarbeiter gingen gerade in die Mittagspause, einige von ihnen warnten noch die Archivmitarbeiter*innen, weil sie ein fürchterliches Knirschen und Knarzen im Untergrund hörten. Diese konnten das Gebäude gerade noch rechzeitig verlassen. Das nahe gelegene Friedrich-Wilhelm-Gymnasium blieb verschont. Im Strafprozess um den Einsturz des Kölner Stadtarchivs sprach das Landgericht im Oktober 2018 drei von vier Angeklagten frei. Lediglich ein Bauüberwacher der Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) erhielt eine Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung.

Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs, 3. März 2019, Foto: Elke Wetzig, Lizenz: CC BY-SA 4.0

„Katastrophen“ und „Unfälle“, wie in Beirut oder Köln kündigen sich vorher an. Wie schlimm die Konsequenzen aussehen, hängt maßgeblich davon ab, ob die jeweilige Verwaltung willens und/oder fähig ist, den Schutz der Bevölkerung vor Kapitalinteressen zu stellen. In Köln ist das nicht passiert, in Beirut genausowenig. Beispiele wie diese lassen sich noch und nöcher finden: Die Betreibergesellschaft der 2018 eingestürzten Autobahnbrücke in Genua ignorierten über Jahre Warnungen über deren Einsturzgefahr, 43 Menschen kamen um‘s Leben. Die zu Grunde gesparte Infrastruktur in New Orleans etwa führte dazu, dass in Folge des Hurrikans Kathrina 2005 1836 Menschen starben, zehntausende ihr Wohnungen verloren. Und der profitable „Wiederaufbau“ führte zu einer weiteren sozialen Katastrophe. Die plattgemachten Viertel wurden zum Gentrifizierungshotspot. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich das bevor stehende Szenario für Beirut auszumalen. Die Hafengegen dürfte nach dem Vorbild von New Orleans neu gestaltet, privatisiert und verhökert werden.

Man könnte das eingangs genannte Zitat deswegen beliebig auf New Orleans, die eingestürzte Autobahnbrücke von Genua, wie eben auch auf Köln anwenden:

Deshalb ist der [Einsturz des historischen Archivs der Stadt Köln] das jüngste und fürchterlichste Beispiel dafür, wie die Eliten [Kölns die Stadt] über Jahrzehnte herunter gewirtschaftet haben. [Die Rheinländer] sind mit einer völlig korrupten und unfähigen politischen Klasse geschlagen. Anstatt auch nur eines der strukturellen Probleme der Stadt anzugehen, waren diese Räuberbarone stets nur damit beschäftigt, ihr eigenes Nest zu polstern. Nach einer Untersuchung der [Einsturzkatastrophe beim U-Bahn-Bau] dürfte man einige untergeordnete Beamte als Schuldige präsentieren. In Wirklichkeit ist es die politische Klasse selbst, die kollektiv für das Unglück verantwortlich ist.

# Titelbild: ANF english, Löscharbeiten nach der Explosion

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Von der Kampagne Shut Down Schweinesystem

Die Corona-Krise ist vorbei. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich anschaut in welchem Tempo eine Maßnahme nach der anderen gelockert wird. Insbesondere Nordrhein-Westfalen nimmt hierbei unter Ministerpräsident Armin Laschet eine Vorreiterrolle ein. Dass breite Teile der Bevölkerung wieder die Einkaufsstraßen fluten, ihre sozialen Kontakte reaktivieren, dicht an dicht gedrängt in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist kaum verwunderlich.

Denn der staatlicherseits angestrebte Spagat zwischen fortlaufendem Zwang zur Arbeit und den sogenannten Social Distancing Maßnahmen im Privaten war schwer nachvollziehbar. Die großen Corona-Partys fanden schließlich staatlich angeordnet in Großbetrieben, wie Amazon-Fulfillment-Centern, dem Bausektor oder Schlachtbetrieben statt und auch überall sonst, wo man auf Saisonarbeiter*innen aus dem (EU-)Ausland angewiesen ist. Diejenigen die nicht weiter arbeiten durften, sahen sich aus dem Nichts mit existenziellen Fragen konfrontiert, auf die der Staat mit Tropfen auf den heissen Stein, wie etwa einem viel zu gering ausfallenden Kurzarbeiter*innengeld, keine angemessene Antwort gab.

Die haarsträubenden Arbeits- und Wohnbedingungen tausender Saisonarbeiter*innen, die, einzig zum Wohl des deutschen Wirtschaftsstandorts und gegen jede Corona-Schutzverordnung, tausendfach eingeflogen wurden, sprechen Bände über die Prioritäten, die während der Pandemie gesetzt werden. Es geht hierbei nicht um den Schutz von Menschenleben, sondern um die Sicherung von Kapitalinteressen und die Fortführung des kapitalistischen Normalvollzugs.

Was die Kampagne #LeaveNoOneBehind schon zu Beginn der Pandemie voraussagte, wird spätestens jetzt Realität: Die Marginalisierten und Prekarisierten trifft die Krise – die auch ohne Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre und jetzt noch verschärft zu Tage tritt – am stärksten. Die Beispiele aus Ernte- und Schlachtbetrieben wie in Bornheim oder Gütersloh, zahlreichen Geflüchtetenlagern (bspw. in Bremen, Suhl und Ellwangen), aus den Wohnkomplexen Maschmühlenweg und Groner Landstraße in Göttingen und zuletzt aus den Landkreisen Coesfeld und Oldenburg weisen trotz lokaler Besonderheiten viele Gemeinsamkeiten auf.

All diese Orte wurden während der noch immer grassierenden Pandemie zu Corona-Hotspots. Betroffen sind zum Großteil migrantische und prekarisierte Arbeiter*innen. Schon vor der Corona-Krise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und nun von den implementierten Corona-Schutzmaßnahmen fast schon mehr betroffen als geschützt: Wo man dazu gezwungen ist, auf engstem Raum nebeneinander zu wohnen und zu arbeiten, sich mit hunderten oder gar tausenden Anderen eine prekäre Lebensrealität teilt und es gleichzeitig am Nötigsten für einen effektiven Infektionsschutz fehlt, ist Armut der Grund für Krankheit oder sogar Tod.

Der Fall des am Virus verstorbenen Feldarbeiters in Bad Krozingen, wie auch die unzähligen Ausbrüche in Göttingen oder im Schlachtbetrieb Tönnies strafen die vielzitierte Phrase „Vor dem Virus sind wir alle gleich“ mit frappierender Evidenz Lügen. Die Corona-Krise zeigt überdeutlich auf, dass soziale Lage und Gesundheit unmittelbar miteinander verbunden sind und, dass man für Kohle bereit ist, über Leichen zu gehen.

Als wäre das für sich noch nicht genug, befeuern Politik und Medien eine rassistische Mobilisierung gegen die am schlimmsten von der Pandemie Getroffenen. So sprach etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet vor dem Hintergrund der jüngsten Ausbrüche in den Schlachtbetrieben davon, dass das Virus aus Rumänien oder Bulgarien eingeschleppt worden sei, während die von ihm forcierte Lockerung der Maßnahmen in keinem Zusammenhang damit stünde. Gleichermaßen bediente etwa die bundesweite Presse rassistische Motive, wonach migrantische Großfamilien für die steigenden Infektionszahlen in Göttingen verantwortlich seien und fütterten somit jenes rassistische Narrativ, welches dem Terroranschlag von Hanau am 19. Februar 2020 den Nährboden bereitete.

Im Rahmen des jüngsten Skandals trifft es also wieder eine Produktionsstätte, in der mehrheitlich osteuropäische Saisonarbeiter*innen unter prekären Bedingungen beschäftigt und untergebracht sind: Wochenlang werden die Arbeiter*innen in die Schlachthöfe gekarrt, arbeiten und leben auf engstem Raum und sind so einem unverantwortlichen Infektionsrisiko ausgesetzt. Die öffentlich gewordenen Bilder zeigen überfüllte Kantinen, mangelhafte Schutzausrüstung und bereitgestellte Unterkünfte, die eher den Ställen der geschlachteten Tiere ähneln, als einer menschenwürdigen Wohnsituation. Den Arbeiter*innen werden mitunter 7-Bett-Zimmer zu horrenden Preisen bereitgestellt, deren Kosten bereits vom ohnehin unwürdig geringen Lohn abgezogen werden. Die Lebensmittelversorgung während des Lockdowns, die von Tönnies übernommen werden sollte, ist unzureichend und hat bereits zu massiven Versorgungsengpässen gesorgt.

Die rigorose Durchsetzung des Lockdowns in den betroffenen Landkreisen durch massive Polizeipräsenz an den Unterkünften der Belegschaft macht auch hier wieder den rassistischen Charakter der staatlichen Institutionen deutlich. Nirgendwo sonst wurde in solch einer repressiven Weise das Leben der Menschen während der Pandemie kontrolliert und durchleuchtet wie bei den betroffenen, meist osteuropäischen Saisonarbeiter*innen.

Ausgestattet mit Werk- und Leiharbeitsverträgen von Sub-Subunternehmen, ist es den Arbeiter*innen kaum möglich ihre Arbeitsrechte wahrzunehmen und gegen die miserablen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Drohender Lohnausfall stellt die Betroffenen von einem Tag auf den anderen vor existenzielle Bedrohungen. Die Angst in Armut und Obdachlosigkeit abzurutschen und die neuerlich verabschiedeten Maßnahmen verschärfen die Abhängigkeit von diesem Schweinesystem und verhindern eine solidarische Praxis der Belegschaft untereinander.

Die Beschäftigung über Subunternehmen in Werksverträgen, menschenunwürdige Unterbringung, schlechte Verpflegung und der ausbleibende Seuchenschutz in Zeiten der Pandemie sind keine Einzelfälle, sondern haben System. Der deutsche Wirtschaftsstandort im Allgemeinen, das einzelne Unternehmen im Besonderen, profitieren hier von der ökonomischen Abgeschlagenheit osteuropäischer Nachbarstaaten. In Zeiten eines globalisierten Arbeitsmarktes wird hier ein internationaler Klassenwiderspruch deutlich: Es wurde eine Armee billiger Arbeitskräfte geschaffen, deren prekäre Situation sie dazu nötigt, unter widrigsten Bedingungen als Arbeitsmigrant*innen in der Reproduktion, auf Spargelfeldern oder in Schlachtbetrieben diejenigen Tätigkeiten zu verrichten, für die sich Deutsche noch zu schade sind und müssen dann auch noch froh darüber sein, damit ihre Familien ernähren zu können.

Dennoch zeigt der Arbeitskampf der Feldarbeiter*innen in Bornheim, dass sich, zumindest im Ansatz, gegen solche Zustände gewehrt werden kann. Sie legten die Arbeit nieder und organisierten sich, nachdem ihnen ihre Lohnzahlungen vorenthalten wurden. Die Folge waren acht Tage wilde Streiks, die es den Arbeiter*innen am Ende ermöglichten zumindest einen Teil ihrer rechtmäßig zustehenden Kohle zu erkämpfen. Es wurde deutlich, dass durch Organisierung und Solidarisierung gegen die Arbeitsbedingungen die Arbeiter*innen eine Selbstermächtigung herbeigeführt haben, das welche die strukturelle Benachteiligung der ausländischen Arbeiter*innen aufbrechen konnte.

Wir rufen dazu auf, die negative mediale Öffentlichkeit, die Tönnies gerade hat, nicht abbrechen zu lassen und sich mit den Arbeiter*innen sichtbar und praktisch zu solidarisieren. Das ist auf vielfältige Art und Weise möglich! Als anlassbezogenes Bündnis „Shut Down Schweinesystem“ werden wir in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin Imageschaden gegen Tönnies und dem Schweinesystem als solchem betreiben und dabei Solidarität mit den Beschäftigten ausdrücken. Dementsprechend wollen wir auch alles tun, den Arbeiter*innen das zur Verfügung zu stellen, was praktisch gebraucht wird; seien es materielle Hilfsgüter oder Kanäle, um ihre Stimmen Widerhall zu verleihen. Als radikale Linke können wir die Geschehnisse mit skandalisieren, aber was benötigt wird, das wissen die Arbeiter*innen am Ende noch immer am besten.

#Titelbild: shut down schweinesystem, twitter, Aktion von Shut Down Schweinesystem, bei Besselmann, einem Subunternehmen von Tönnies

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Der Ex-Präsident von Georgien Michail Saakaschwili nimmt einen zweiten Anlauf die Ukraine von Korruption zu befreien. Sein Rezept – „Antielitenrevolution“ durch radikale Marktreformen.

Michail Saakaschwili ist zurück. Der ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Ausbürgerung durch seinen Amtsvorgänger Petro Poroschenko rückgängig gemacht und ihn zum „Berater für Reformen“ ernannt. Der Vater des „georgischen Wirtschaftswunders“ soll nun in der Ukraine ein zweites Wunder vollbringen. Zum zigsten Mal wird angekündigt, die Korruption nun endgültig zu beenden. Saakaschwilis Lösung lautet: „Mehr Konkurrenz, weniger Filz“.

Ein kapitalistischer Revolutionär

Der 52-jährige Saakaschwili schaut auf eine abwechslungsreiche politische Karriere zurück. 2003 kam er in Georgien in der Folge der sogenannten „Rosenrevolution“ an die Macht. Die semifriedlichen Proteste gegen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen stürzten den ehemaligen sowjetischen Funktionär Eduard Schewardnadse. Saakaschwili und seine Partei „Vereinte Nationale Bewegung“ (VNB) setzten sich bei den Neuwahlen durch. Zur Überraschung aller Beobachter, gelang der neuen Regierung etwas Einmaliges im postsowjetischen Raum: ausgerechnet im seit der Sowjetzeit wegen Korruption berüchtigten Georgien begann sich die Situation rasant zu ändern. Verkehrspolizisten hörten auf Schmiergeld anzunehmen, Touristen verloren die bis dahin sehr begründete Angst vor Straßenkriminalität, das marode Straßennetz wurde erneuert.

Saakaschwilis Rezepte waren einfach, deren Durchsetzung rabiat. Im Gegensatz zur Ukraine, wo es eine starke Protestbewegung gegen Korruption gab, fand in Georgien eine marktliberale „Revolution von oben“ statt. Der Großteil des Staatsapparates wurde gefeuert und durch im Westen ausgebildete junge Spezialisten ersetzt. Die neuangestellten Beamten, besonderes bei der Polizei und Staatsanwaltsschaft bekamen mehr Geld als die gefeuerten Vorgänger, galten jedoch als unabhängig von den lokalen Netzwerken. Oberstes Ziel war nun, das Land attraktiv für ausländisches Kapital zu machen – noch übriggebliebenes Staatseigentum wurde privatisiert, Steuern gesenkt und die Formalitäten bei der Unternehmensgründung maximal erleichtert. Gegen die organisierte Kriminalität, die noch zur Sowjetzeit einen Faktor der lokalen Politik bildete, wurden drakonische Strafen verhängt. Die Reformer machten sich den Ehrenkodex der Oberkaste der kriminellen Welt, der „Diebe im Gesetz“ zu nutze, der es verbietet, den eigenen Status zu verleugnen. Ein Geständnis dazu zu gehören, reichte aus, um zu sieben Jahren Haft verurteilt zu werden. Im Bildungsbereich vergab der Staat nun „Bildungsgutscheine“ die Eltern und Studierende bei den staatlichen oder privaten Bildungseinrichtungen einlösen konnten, was die Konkurrenz befeuerte. Arbeitsschutzgesetze aus der Sowjetzeit wurden abgeschafft, die Arbeitsaufsichtsbehörde aufgelöst, der Arbeitsmarkt dereguliert. Gewerkschaftliche Aktivitäten wurden eingeschränkt.

Vor dem Hintergrund des Rekordwirtschaftswachstums galt Georgien im Westen als ein Musterland der „Transformation“, ein Labor der monetaristischen Wirtschaftspolitik. Auch ein verlorener Krieg gegen Russland im August 2008 schien den Ruf Saakaschwilis nicht erschüttert zu haben. Jedoch ließ die auf Forderung der Tourismusbranche ausgerichtete Wirtschaftspolitik nach und nach die Zustimmung der Bevölkerung in Agrarland Georgien schwinden. Dazu kam die Arbeitslosigkeit und die überfüllten Gefängnisse – direktes Ergebnis des Antikorruptionkampfes. Nachdem 2012 die VNB die Wahlen verlor, endete 2013 Saakaschwilis Amtszeit. Nochmal kandidieren durfte er laut Verfassung nicht und die neue Regierung begann wiederum, gegen ihn wegen Korruption zu ermitteln. Einem Haftbefehl entzog sich der “Vater des georgischen Wirtschaftswunders“ durch die Flucht in die USA.

Mit „Neoliberalismus“gegen Korruption

2015 wurde Saakaschwili samt einem Team ausgewählter georgischer Reformer in die Ukraine eingeladen. Ein anderer „postrevolutionärer“ Präsident — Petro Poroschenko – machte ihn zum Gouverneur der Region Odessa. Der Versuch die „Revolution von oben“ zu wiederholen, scheiterte diesmal schon im Ansatz. Einen Austausch der kompletten Staatsführung konnte das Provinzoberhaupt nicht bewerkstelligen und jeder Versuch in Odessa eine „zero tolerance“-Politik umzusetzen, stieß auf den Widerstand der gut vernetzten Freunde der lokalen Größen aus anderen Regionen. Saakaschwili beschuldigte den Zoll, die Odessaer Staatsanwaltschaft, das Innenministerium und sogar den Geheimdienst SBU in Schmuggel und Schutzgelderpressung verwickelt zu sein. Er beschuldigte ebenso die größten Unternehmen vor Ort der Monopolbildung und beklagte die schlechten Bedingungen für ausländische Investoren und einheimische Kleinunternehmer.

Allerdings waren nicht nur die Besitzer sondern auch die zahlreichen Mitarbeiter der von der Korruption profitierenden Unternehmen gegen den georgischen „Polittouristen“ aufgebracht. Die Prinzipien der fairen Marktkonkurrenz schienen nicht für alle an oberster Stelle zu stehen. Als sich Saakaschwili es dann auch noch mit dem Innenminister, Arsen Awakow, dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj und schließlich auch mit dem Präsidenten Poroschenko verscherzte, wurde er im November 2016 nicht nur des Amtes enthoben, sondern genau mit denselben Vorwürfen konfrontiert, mit denen er seinerseits nie geizte – korrupt und sogar mit seinem Erzfeind Putin insgeheim im Bunde soll er sein.

Zurück auf die Barrikaden

Der von der Auslieferung nach Georgien bedrohte Saakaschwili wollte nicht aufgeben. Diesmal versuchte er es mit der Bewegung von unten. Er ging zu den Protesierenden vor dem Kiewer Parlament, kündigte eine neue „antielitäre Revolution“ an. Weitere Verzögerung der radikalen Marktreformen seien fatal für die Ukraine und schadeten dem Kampf gegen Moskau, so seine Botschaft. An die enttäuschten Hoffnungen des Maidan-Aufstands appellierend, gründete er seine eigene Partei – „Bewegung der neuen Kräfte “ (RNS). Seine Anhänger lieferten sich Schlachten mit der Polizei und schützten den Expräsidenten und Exgouverneur bis zum Schluss vor Festnahme und Abschiebung.

Nachdem im Februar 2018 der nun offiziell staatenlose Saakaschwili dennoch nach Polen abgeschoben wurde, versuchte er weiterhin Einfluss auf die ukrainische Politik zu nehmen. Erst unterstützte er die Präsidentschaftskandidatur von Julia Timoschenko, Ex-Regierungschefin, die immer wieder im Mittelpunkt von Korruptionsskandalen stand. Danach rief er seine Anhänger auf, die Partei des neuen Präsidenten Selenskyj zu wählen. Scheinbar hat es ihm das Comeback in die ukrainische Politik ermöglicht. Allerdings gilt der politische Neuling Selenskyj als mit dem Oligarchen Kolomojskyj eng affiliiert. Neue Konflikte dürfe also nicht lange auf sich warten lassen.

# Text: Alexander Amethystow

#Bild: wikimedia.commons

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