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Ich mag das Aufreihen von Fakten nicht mehr. Ab jetzt ist nur noch Populismus. All die Daten, die Schlüsselmomente der letzten zehn Jahre, auf die es Reaktionen hätte geben müssen – egal, wen interessieren noch Fakten.

Die Namen der Journalist*innen, die sich an der lodernden Faschisierung in Deutschland zumindest ethisch mitschuldig machen, weil sie den Faschist*innen Raum einräumten und noch immer einräumen – ihre Namen fallen mir schneller ein, als die Namen der Opfer des rechten Terrors. Das ist ein jämmerlicher Fakt. Sämtliche Rassentheorien sind faktisch widerlegt und doch diskutieren große Publizist*innen mit Rassist*innen, als wären sie vernünftige Menschen. Als hätte es die Shoa in Deutschland nicht gegeben.

Und auch diejenigen, die sich als weiter „links“ als die „Liberalen“ verstehen, tragen Mitschuld. Jene, die so lange haderten mit den Termini und jonglierten mit Worthülsen. Konservativ, Mitte Rechts, rechts-konservativ, rechts außen, rechts außen außen … Der Euphemismus ist bloß ein kleiner Rausch in einer großen nüchternen Welt.

Wie oft soll eine Ideologie, die Ihre hässliche Fratze als bares Antlitz trägt, noch „enttarnt“ und „demaskiert“ werden? Natürlich kann die Gedankenwelt von Menschenfeinden, freiheitlich, demokratisch, hundertfach in Talkshows ausgebreitet werden. Aber warum?

Sag es leise, aber sag es: Es ist Faschismus.

Und Faschismus ist eine Ideologie der Vernichtung. Vernichten bedeutet, völlig zerstören, gänzlich zunichtemachen. Warum seit Jahren mit Menschen diskutiert wird, die nichts anderes im Sinn haben, als alle politischen Widersacher*innen und Andersdenkende schlichtweg auszulöschen, es will mir nicht in den Kopf. So wenig will das in meinen Kopf wie das Wort „Einzeltäter“. Wieder dieser Euphemismus. Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz. Und Einzeltäter. Landtagswahl in Thüringen. Einzeltäter. Oder „dumme Ossis“. Aber sicher nicht, ganz sicher nicht (organisierte) ideologische Rassist*innen oder gar Faschist*innen.

In Zeiten, in denen es scheint, als sei das Höchste aller querulantischen Gefühle des Durchschnittsmittebengels aus der Medienlandschaft, zu schreiben oder zu sagen BJÖRN HÖCKE IST EIN FASCHIST – in solchen Zeiten möchte ich Erich Kästner zitieren, weil ich keine Schellen verteilen darf. „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen, später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man muß den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf.”

Deutschland faschisiert sich. Der Schneeball rollt. Das liegt nicht an bloß Höcke-Lucke-Gauland oder einzeltäterischen anderen Bernds. Das liegt an einer Gesellschaft, die das mitträgt. Das liegt an einer Gesellschaft, die diesen Schneeball rollen lässt. Wieiviele Julians, Lianes, Martins, Jans und Ulfs profitieren fantastisch von dem Umstand, dass “die Deutschen” auch über 70 Jahre nach Hitler, immer noch nicht bereit sind, Faschismus zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen?

Es fängt an mit dem Etablieren faschistischer Rhetorik. Dem Normalisieren faschistischer Narrative. Mit Intoleranz, Spaltung, Hassreden, Hetze, brennenden Häusern, getöteten Menschen, Veränderungen von Gesetzen, der Einschränkung von Grundrechten. Es fängt mit Menschen an, die dabei zusehen. Wir sind noch eine Koalition mit einer Nazipartei davon entfernt, diesen Text nicht bloß als hysterischen Alarmismus zu empfinden.

Landesverräterische Grüße, Eure Jane



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Etwas mehr als hundert Jahre ist es her, da endete der Erste Weltkrieg. Die heimkehrenden Proletarier*innen und Soldat*innen hatten genug von jenen, die sie auf die imperialistische Schlachtbank des Völkermordens geführt hatten, und so begann eine Zeit, in der die Königshäuser und Adelsgeschlechter einen – vorsichtig ausgedrückt – schweren Stand in der Bevölkerung hatten.

Doch die soziale Revolution in Deutschland blieb unvollendet, eine informelle Koalition von monarchistischen, rechten, bürgerlichen und sozialdemokratischen Politikern presste den Aufbruch zurück in klassengesellschaftliche Bahnen. Dank ihnen gibt es sie bis heute, die von Geburt her Vornehmen. Und bis heute bereichern sie sich standesgemäß – mit freundlicher Unterstützung deutscher Regierungen. Grund genug für unser neue Boulevardreihe: Treffen Sie Deutschlands edelste Abzocker. Teil I erschien zu Franz von Bayern und dem Wittelsbacher-Clan.

Episode 2: Enteignet werden, das schickt sich nicht – Der Hohenzollern-Clan will Entschädigung

Zurück auf den Thron will der junge Prinz, der wie irgendwas zwischen einem typischen Start-up-Manager und einer Karotte aussieht, zumindest nach eigenem Bekunden nicht. Georg Friedrich von Preußen, aktuelles Oberhaupt der Hohenzollern, gibt sich betont „modern“. Sogar die strengen Eheschließungsgesetze seines Clans will er überdenken, und er besteht nicht einmal darauf, dass man ihn mit „Königliche Hoheit“ anredet – auch, wenn das viele aus Eigeninitiative noch tun.

Doch modern zu sein, das kann auch für den smarten Prinzen nicht heißen, Traditionen ganz über Bord zu werfen. Und eine der schönsten Gepflogenheiten des deutschen Adels besteht eben darin, Reichtümer zu erben und weiterzuvererben. Eine scheußliche Episode nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings unterbrach die ewige Erbfolge: Die sowjetische Einflusszone im Osten und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Denn dort machte man sich – schon wegen der massiven Unterstützung, die der Hitler-Faschismus von den Adligen erfuhr – daran, den Krautjunkern, Fürsten und Prinzen den Geldhahn zuzudrehen. Es wurde enteignet.

Die DDR aber hielt nicht. Und so kamen direkt nach ihrer Annexion auch diejenigen aus ihren vornehmen Löchern gekrochen, die noch Rechnungen mit dem Arbeiter- und Bauernstaat offen hatten. Schon 1991 stellte der Großvater des heutigen Hauschefs, Louis Ferdinand von Preußen, einen Antrag auf Entschädigung. Der übrigens hatte, anders als sein modernisierter Enkel heute, noch ganz andere Ambitionen: Er wollte ganz ohne jede Ironie Kaiser werden. Das deutsche Volk solle nach der Wiedervereinigung entscheiden, ob es ihm Untertan sein wolle, gab er dem Spiegel in einem Interview von 1993 zu Protokoll. Die Abdankung des Weltkriegsmörders Wilhelm sei ein „ein historischer Betriebsunfall“ gewesen.

Die Krone ist heute futsch. So viel gesteht sich der aktuelle Hohenzollern-Chef ein. Aber das muss nicht heißen, dass man nicht noch das ein oder andere Kunstwerk aus den profanen Fängen der Republik befreien könnte. Also geht der Rechtsstreit weiter, insgesamt um Gegenstände, deren Wert auf einen dreistelligen Millionenbetrag geschätzt wird.

Hatte dieser Mann wirklich mit den Nazis zu tun? August Wilhelm Prinz von Preußen im Berliner Sportpalast 1932 (Quelle: Wikipedia)

Die entscheidende Frage hierbei ist, ob der Clan dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub geleistet“ hat. Die Debatte ist juristische Haarspalterei. Denn dass die Vorfahren des modernen jungen Prinzen aktiv an der Zerstörung der Weimarer Republik gearbeitet haben, unter ihnen Hitler-Fans waren und einige von ihnen sich aktiv für die Nazis engagiert haben, ist unstrittig. Die mit Gutachten ausgetragene Schlacht dreht sich letztlich nur darum, was „erheblich“ bedeutet.

Die Gegner der Entschädigung können eine lange Liste von Beweisen vorlegen. Ab 1930 engagierte sich der jüngere Bruder des damaligen Kronprinzen, August Wilhelm Prinz von Preußen, in „NSDAP und SA als Zugpferd zur Gewinnung konservativer Wähler“, wie der Historiker Stephan Malinowski schreibt. Der Kronprinz selbst, Wilhelm Prinz von Preußen, empfing bereits 1926 Nazi-Granden auf seinem Schloss Cecilienhof. 1932 schlug er Hitler als Reichskanzler unter sich als Reichspräsident vor. Er warb für die Wahl Hitlers im zweiten Wahlgang der Reichspräsidentschaft 1932, die in SA und SS versammelten Terroristen nennt er ein „wunderbares Menschenmaterial“, das „dort eine wertvolle Erziehung genießt“. Und so weiter. Und so fort.

Weniger relevant für die juristische Bewertung der Angelegenheit ist die noch ältere Geschichte der Hohenzollern. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Typ, der jetzt Entschädigung fordert, ist der Ururenkel des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II. Dessen Regentschaft schließt nicht nur das imperialistische Völkermorden des Ersten Weltkriegs ein. Wilhelm machte sich einen Namen als standhafter Antidemokrat, der das „Füsilieren“ aller sozialdemokratischen Abgeordneten herbeisehnte, Sozialisten und Juden hasste (schon 1927 empfahl er: „Die Presse, Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. Ich glaube, das Beste wäre Gas.“). Als deutsche Truppen sich im Juli 1900 nach China aufmachten, um dort die Interessen seiner Majestät mit dem Bajonett zu vertreten, wandte sich Wilhelm II. in seiner berühmten Hunnenrede an die Soldaten: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

Der ganze Prozess erweckt, jenseits aller durch hochbezahlte Anwälte ausgetragenen Paragraphenschlachten, einen Eindruck, den der Dramaturg Bernd Stegemann treffend zusammenfasst: „Ein Familien-Clan, der über tausend Jahre die mitteleuropäische Geschichte mit Kriegen, Vetternwirtschaft und Katastrophen heimgesucht hat, kommt nach den letzten beiden totalen Niederlagen wieder angelaufen und klagt auf die Aushändigung seines kriminell zusammengerafften Reichtums.“

Und das Bedrückende an der ganzen Sache: Sie hat Aussicht auf Erfolg. Die Hohenzollern sind keineswegs schief angesehene Schmuddelkinder einer selbstbewussten Republik, sondern beliebt und geschätzt von nicht wenigen Politikern. „Schon zur Zeit meines Großvaters war der Kontakt zur brandenburgischen, aber auch Berliner Landesregierung sehr eng. Dies führe ich weiter und so habe ich mich besonders über den Besuch des brandenburgischen Ministerpräsidenten im Januar auf der Burg Hohenzollern gefreut“, schwärmt Georg Friedrich von Preußen. Und so hofft auch die andere, staatliche Seite auf „gütliche Einigung“.

Die Verhandlungsstrategie der adligen Kläger dürfte dabei genau darauf ausgerichtet sein. „Vermutlich sind die Justiziare der Familie mit einer Maximalforderung in die Verhandlungen gegangen. Sie wussten, dass sie vollkommen überzogen ist. So fordert man 100 Prozent und spekuliert, dass man 45 Prozent bekommt“, meint der Historiker Malinowski.

Bisschen was ist ihnen ja schon noch geblieben… Burg Hohenzollern, der Stammsitz des Fürstengeschlechts (Quelle: Wikipedia)

Abgesehen von der Übelkeit, die diese Klage auslöst, dürften die Hohenzollern trotz ihrer verbrecherischen Rolle im 20. Jahrhundert heute keineswegs am Hungertuch nagen. Die der Familie gehörende „Unternehmensgruppe Fürst von Hohenzollern“ verfügt über hochwertige Immobilien, ist Deutschlands drittgrößter privater Waldbesitzer und hält Anteile an mehreren Betrieben. Was sich für schlechte Zeiten noch in den Schatztruhen des Clans befindet, kann man nur spekulieren. Als 2012 Bargeld gebraucht wurde, um Bedienstete zu entlohnen und Apanagen, also die Zuwendungen für die Clanmitglieder, zu bezahlen, warf das Haus den „Beau Sancy“, einen 34,98-karätigen Diamanten auf den Markt. Erlös: 7,5 Millionen Euro.

An dem wertvollen Stein kann man sich den letztlichen Ursprung des Reichtums der heute so modernen Blaublüter auch verdeutlichen, wenn man will. Woher haben die den denn? Von Opa, Uropa, Ururopa, bis zurück zu Friedrich dem I. Woher hat der den? Von anderen Adligen, Wilhelm II. von Oranien-Nassau, vor ihm hatte ihn Friedrich Heinrich von Oranien-Nassau. Und so weiter, bis zu Nicolas de Harlay, seigneur de Sancy, der ihn als Botschafter von Heinrich dem III. am Hof Sultan Selims erworben haben soll. So weit so gut. Aber wo kam er denn her? Hat ihn Nicolas de Harlay eigenhändig geschürft? Oder Sultan Selim?

Natürlich nicht. Wahrscheinlich kam er aus den berühmten indischen Golkonda-Minen. Und dort ging es richtig zur Sache. Zehntausende Arbeiter*innen – Männer, Frauen, Kinder – schürften viele der dicksten Klunker, die sich Generationen von Adeligen zur Dekoration in die Kronen steckten oder zur Begleichung ihrer Schulden weiterverkauften. Die Minenarbeiter beschrieb ein zeitgenössischer Beobachter, Jaques de Coutres, im 17. Jahrhundert als „die Ärmsten der Armen“. Sie hatten, gibt die niederländische Forscherin Karin Hofmeester Zeugnisse von Beobachtern wieder, kaum genug zu essen, lebten in mit Stroh bedeckten Hütten und waren voll mit Schmutz aus den Minen. Kurz: Das Geschäft war die mittelalterliche Version des heutigen Handels mit „Blutdiamanten“.

Zurück zu den Hohenzollern. Wie es bei Reichen eben so der Fall ist, gilt das alte Sprichwort: Wenn einer reich geworden ist, frage ihn, aus wessen Arbeit. Im Keller der Prunkschlösser des deutschen Adels liegen Leichenberge. Wenn wir schon gezwungen sind, eine Debatte über das Eigentum dieser Leute zu führen, warum dann nicht eine darüber, dass sie alles, bis auf’s letzte Seidenhemd, an Reparationen abgeben sollten. An die Nachfahren chinesischer Boxer genauso wie an die der abertausenden Soldaten, die sie in den Tod schickten.

Dass das nicht so ist, liegt daran, dass selbst die bürgerliche Revolution in Deutschland unvollendet blieb. Oder, um es mit den Erinnerungen des oben bereits erwähnten Möchtegernmonarchen Louis Ferdinand an die Ereignisse von 1918 zu formulieren: „Wäre es eine richtige Revolution gewesen, hätte man uns wohl umgebracht, wie die Zarenfamilie in Rußland.“

# Titelbild: Hitler und Kronprinz Wilhelm, 1933, Quelle: Wikipedia

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Wenn jemand eine Frau und ihr achtjähriges Kind vor einen Zug stößt, der kleine junge stirbt und die Mutter nur knapp dem Tod entgeht, ist das keine Tat, die jemanden unberührt lässt. Man wird wütend. Und natürlich fragt man sich: Warum? Wie zur Hölle kann jemand einen so sinnlosen, grausamen Mord begehen? Man will Antworten.

Die traurige Wahrheit zu dem Mord in Frankfurt ist: Es gibt derzeit keine Antworten. Man kann zu dem Tod des 8-jährigen Jungen nichts Sinnvolles sagen, denn man weiß so gut wie nichts. Man kann sein Mitgefühl, seinen Schmerz ausdrücken. Aber ansonsten sollte man schlichtweg schweigen.

Aber man weiß doch, der Täter war schwarz!!!, werden nun jene antworten, die ihren eigenen Rassismus mit einer Erklärung der Realität verwechseln. Für sie ist die Sache einfach: Die barbarischen Wilden sind eben so und wer die reinlässt, der wird mitschuldig. Von da ist es dann nicht mehr weit zur in den letzten Tagen in sozialen Netzwerken gängigen Aufforderung alle Fremden samt jenen Linken, die ihnen Willkommen zurufen, abzuschieben, aufzuhängen oder abzuknallen.

Diese Armada der angeblich Erschrockenen, Mitfühlenden Trauernden trägt zwar wenig zum Verstehen der Untat von Frankfurt bei. Sie sagt aber etwas über Mord und Totschlag aus – und zwar den der neuen alten deutschen Faschisten.

Die Dehumanisierung des als Schädling markierten Fremden, die sich seit zwei Tagen ins Netz ergießt, spricht Bände darüber, was die bislang mehrheitlich noch verbal, immer häufiger aber physisch wütenden Rassisten zu tun bereit sind. Wer so denkt, wie diese Leute schreiben, den trennt nur noch Unentschlossenheit von Anders Behring Breivik, den Faschisten und 32-fachen Kindermörder von Utoya.

Und jetzt? Muss man wieder darüber schreiben, dass es eben Rassismus ist, bei dem Tod des einen Kindes Kampagnen zu machen, bei dem Tod eines anderen Verständnis für den Täter zu zeigen? Muss man ein weiteres Mal darauf hinweisen, dass man aus Hautfarben keine Charaktereigenschaften ableiten kann? Muss man denen, die das aber- und abertausendfache Vergasen von Kindern für „Fliegenschiss“ halten, aufzeigen, warum man ihnen die Sorge um Kinder nicht abnimmt? Muss man jenen, die jedes Kind im Mittelmeer ertrinken sehen wollen, das keinen Ariernachweis vorzeigen kann, wirklich erklären, warum man sie nicht für die humanistischen, besorgten Bürger hält, als die sie sich so gerne inszenieren?

Keinem von ihnen, keiner Weidel und keinem Höcke, sollte man, wenn man halbwegs vernünftig nachdenkt, auch nur einen leisen Anflug von echtem Entsetzen und echter Trauer unterstellen. Im Gegenteil. Tief drinnen in ihrer verdorbenen Seele sind sie froh. Seht her, wir haben es euch gesagt. Nun wählt uns. Gebt uns die Macht. Und dann lasst uns gemeinsam die Kinder der Fremden umbringen, in den lybischen Foltercamps, im Meer, oder, wenn es sein muss, per Schießbefehl an der Grenze – auch auf Kinder, wie Beatrix von Storch einst erläuterte.

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Kommentar

Ein Sommertag im Juni 2019. Die Uhr am Gebäude der Scientology Kirche im Hamburger Zentrum zeigt fünf nach eins. Dieselbe Zeit wie die Turmuhr der Hauptkirche St. Petri vis-à-vis. Auf der kurzen Straße dazwischen haben sich Demonstrant*innen versammelt, an die 250 vielleicht. Vor den Reden läuft Musik, schön laut, aber selbst das geht fast unter im Trubel eines ganz normalen Einkaufssonnabends.

Einen Steinwurf entfernt bevölkern Tourist*innen und Einheimische die Mönckebergstraße, das nächste Schaufenster im Blick, Fastfood oder den Coffee to go in der Hand. Sie mustern die Demonstrant*innen eher wie Tiere im Zoo, sofern sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wer der Mann auf dem Foto ist, das auf ein Plakat am Lautsprecherwagen geheftet worden ist? Auf diese Frage würden die meisten Passanten wohl antworten: Das ist doch dieser Politiker, der erschossen wurde.

Das Bild zeigt in der Tat den Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der am 2. Juni auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen mit einem Kopfschuss ermordet wurde. Vermutlich von dem Neonazi Stephan Ernst. Die Kundgebung an diesem Sonnabend richtet sich gegen die „geistigen Brandstifter“, die für solche Taten den Boden bereiten – darum findet sie vor dem Bürogebäude statt, in dem sich die Geschäftsstelle des Hamburger Landesverbands der protofaschistischen AfD befindet.

Die Interventionistische Linke (IL) Hamburg hat zur Demo aufgerufen, für einen Politiker der CDU. Ungewohnt genug, aber in diesen Tagen gerät vieles durcheinander. Die politische Öffentlichkeit beruhigt sich mit den üblichen Ritualen. Auf allen Kanälen sondern „Extremismusexperten“ Statements ab, die TV-Talks verhackstücken den Lübcke-Mord und Politiker*innen üben sich in Abgrenzerei. Gebot der Stunde: nach ganz rechts zeigen, auf die „bösen Nazis“, die offenbar aufgetaucht sind wie Kai aus der Kiste und mit denen man nichts zu tun hat.

Da kam der Evangelische Kirchentag in Dortmund gerade recht. Kirchentage sind bekanntlich ein willkommener Ort für Politiker*innen, hochmoralische, aber folgenlose Ansprachen zu halten und sich Absolution für ihr Tun und Reden abzuholen. So auch diesmal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte Abscheu und Entsetzen über den „braunen Terror“ und salbaderte über „verrohte Sprache“ im Netz und anderswo. Der Zukunft vertrauen, das falle „vielen Deutschen heute nicht leicht“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schwadronierte, „Rechtsextremismus“ müsse „in den Anfängen“ und „ohne Tabu“ bekämpft werden.

Sie begreifen nichts, und sie wissen nicht, was sie reden, könnte man in leichter Abwandlung eines Bibelwortes diese Äußerungen kommentieren. Es soll hier gar nicht um die Verstrickungen staatlicher Stellen, voran des Verfassungsschutzes, in Nazistrukturen gehen, wie sie sich beim NSU-Komplex zur Genüge gezeigt haben. Vielleicht wird sich noch herausstellen, wie viel „tiefer Staat“, wie viel „Strategie der Spannung“ in Taten wie dem Mord an Lübcke stecken.

Es geht um etwas Grundsätzlicheres: Rechte Gewalt, faschistischer Terror sind Ausfluss spätkapitalistischer Zerfallsprozesse, einer allgemeinen Verrohung. Dass sich mit Steinmeier ausgerechnet einer der Architekten des Verarmungsprojekts Agenda 2010 über „verrohte Sprache“ beklagt, ist zum einen grotesk und zeigt zum anderen die ganze Ignoranz der politischen Klasse. Wenn man täglich ums materielle Überleben kämpft, kann man schon mal das Vertrauen in die Zukunft verlieren.

Mit ihrem Klassenkampf von oben haben die Herrschenden, vor allem nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz 1990, die Verrohung dieser Gesellschaft angefacht. Die AfD und die Neonazis sind nur ein Symptom dieser Entwicklung. Dass Geflüchtete und alle, die sich auf ihre Seite stellen, zunehmend zum Ziel rechter Gewalt werden, daran haben SPD, CDU, FDP und Grüne ihren Anteil. Indem sie das Asylrecht komplett demontiert haben, indem sie es zulassen, dass Tausende auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, indem sie dafür sorgen, dass Menschen in das Kriegsland Afghanistan abgeschoben werden. Indem sie, wie SPD und CDU gerade im Bundestag, das Asylrecht immer weiter verschärfen und damit indirekt all denen Recht geben, die in den Asylsuchenden ein Problem sehen.

Sozialismus oder Barbarei – das ist mehr als eine Parole, die man so hinsagt. Wir sind doch längst auf dem Weg in die Barbarei oder sogar schon mittendrin. Die Szenerie bei der Kundgebung vor der Hamburger AfD-Zentrale, passte da ins Bild. Für die fröhlich konsumierende Masse ist doch der Mord an Walter Lübcke so weit weg und so irreal wie ein Fall in irgendeinem „Tatort“ am Sonntagabend oder ein der US-amerikanischen CSI-Serien. Sie haben sich vor den Zumutungen der Gegenwart längst in eine Art Autismus geflüchtet.

Titelbild: Andreas Arnold/dpa

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So etwas kann ja jedem mal passieren. Man geht auf eine Party, schaut sich um und denkt: Wo kommen denn auf einmal die Nazis her? Egal, wenn ich schon hier bin, sing ich denen was. Zugegeben, das ist polemisch zugespitzt, aber so ähnlich klang die Erklärung, mit der sich der TV-Clown und Klampfenhalter Reinhold Beckmann am Sonntag auf Facebook entschuldige, was er auf der Geburtstagsfeier des rechten Medienmannes Matthias Matussek am Vorabend zu suchen hatte.

Auf einem ganz anderen Parkett gab es zufällig am selben Tag einen zweiten Skandal, der erschreckende Parallelen aufwies, beim Regionalligisten Chemnitzer FC.

Aber der Reihe nach. Matussek war bekanntlich mal Feuilleton-Chef beim Spiegel und kippte nach ganz Rechtsaußen ab. Vor einem Jahr machte er sich auf der „Merkel muss weg!“-Demo in Hamburg zum Deppen und fabulierte von „jungen muslimischen Bodybuildern“, die das Land fluten. Am Sonnabend feierte Matussek seinen 65. Geburtstag mit einer Schar von Gästen, die bei jedem klar denkenden Menschen nur Brechreiz auslösen können. Bilder der Party machten in den sozialen Netzwerken schnell die Runde.

Mit feinem Gespür hatte sich Matussek die größten reaktionären Ekelpakete aus Medien und Politik eingeladen. Unter ihnen die heimatvertriebene Erika Steinbach, Leiterin der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, Dieter Stein, Gründer der faschistischen Junge Freiheit, Andreas Lombard, Chefredakteur des rechen Magazins Cato und Moderator von AfD-Veranstaltungen. Dazu die für ihre schmierigen Kolumnen berüchtigten “Journalisten” Franz-Josef Wagner (Bild) und Jan Fleischhauer.(Spiegel).

Als Sahnehäubchen war noch Mario Müller dabei, einer der Stars der „Identitären“, vorbestraft, weil er einen Antifa-Aktivisten schwer verletzte.. Und dann stürzte sich noch Reinhold Beckmann ins Getümmel und hatte nichts Besseres zu tun, als der illustren Runde ein Ständchen zu trällern. Peinlicher als dieser Auftritt war nur noch seine Fb-Erklärung am Tag danach, als der Shitstorm gegen ihn schon tobte.

Er wisse um Matusseks Wandlung vom Marxisten zum Anhänger der „neuen Rechten“ und habe lange überlegt, ob er zu dessen 65. gehen soll, barmt der Ex-Talker. Dann habe er beschlossen, ihm ein „vergiftetes Geschenk“ mitzubringen, habe den Dylan-Songs „Things Have Changed“ mit einem Text gesungen, der den Werdegang des Geburtstagskinds kritisch beleuchtete. Beckmann: „Ich wollte so meine Widerworte gegen seinen Irrweg setzen.“

Ihm sei „nicht ganz klar“ gewesen, mit wem Matussek da feiern würde, behauptete der TV-Mann weiter: „Ich muss zugeben, ich habe mich da verlaufen, ich hätte dort nicht hingehen sollen.“ Er hat sich „verlaufen“, das ist doch rührend! Leider muss man die ganze Erklärung von Beckmann als Versuch werten, seinen Arsch zu retten, denn er hat nicht nur einen Ruf im Bürgertum zu verlieren, sondern arbeitet immer noch für diverse Medien.

Spannend an Beckmanns Einlassung ist die Parallele zu einer Entschuldigung, die Dieter Frahn, ein Spieler des Regionalligisten Chemnitzer FC, am Wochenende vorbrachte. Der Vorgang ist groß in den Medien, darum nur soviel: Mit einer Trauerminute und seinem Konterfei auf der Videowand war vor einem Spiel des CFC des kürzlich an Krebs gestorbenen früheren Fanbeauftragten, stadtbekannten Neonazis und Gründers der Hooligangruppe “Holligans Nazis Rassisten” (HooNaRa) Thomas Haller gedacht worden.

Frahn hatte nach einem von ihm erzielten Tor dann auch noch an ein T-Shirt der lokalen Hooligans hoch gehalten. Er wurde nach dem Spiel mit einer Geldstrafe belegt und mit den Worten zitiert: „Dass dieses T-Shirt so tief in der Naziszene verbreitet ist“, sei ihm nicht bewusst gewesen. Er habe Haller gekannt: „Mir persönlich gegenüber ist er nie politisch geworden.“

Die beiden zeitgleichen Skandale zeigen Zweierlei. Wie gesellschaftlich akzeptiert Nazis und ihr protofaschistisches Umfeld schon geworden sind, und mit welcher Mischung aus Naivität und Ignoranz weite Teile des Bürgertums der Faschisierung der Gesellschaft begegnen. Der Matussek ist halt nur auf einem Irrweg, von dem man ihm abbringen möchte, mit ein paar „Widerworten“. Und mit dem Kumpel auf der Stadiontribüne kann man prima über Fußball quatschen. Sie sind hoffähig geworden, die netten Nazis von nebenan.

#Titelbild: M.Golejewski/RubyImages
Neonaziaufmarsch vom 01.09.2019 in Chemnitz. Gegen diese Menschen hilft kein Gitarrenständchen.

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15. November 2019 | Jane

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