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Nach Jahren der Totalisolation Abdullah Öcalans wurde im Spätsommer letzten Jahres die Gefängnistür Imralis einen Spalt geöffnet. Vorausgegangen war dem ausgerechnet die Erklärung des faschistischen MHP Chefs Devlet Bahceli, Öcalan im türkischen Parlament sprechen zu lassen. Im historische Aufruf „Für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“, der nach drei Besuchen einer Delegation der DEM Partei am Donnerstag, dem 27. Februar veröffentlicht wurde, rief Öcalan zur Niederlegung der Waffen und der Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf. Da der Aufruf gerade in einer Zeit getätigt wurde, in welcher der Krieg zwischen der Kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat ein neues Piek erreicht hat, ist die Verwunderung groß. Während die einen von einer Kapitulation sinnieren und die anderen aus einer bequemen Position westlicher Linker von einem Reformismus schwadronieren, ist die Realität eine andere. Im folgenden Kommentar versuchen wir die Gründe und die Folgen des Aufrufs Öcalans für euch einzuordnen.


Im Elit World Hotel in Istanbul hat die Imrali Delegation an jenem 27. Februar zur Pressekonferenz eingeladen. Der Raum ist überfüllt, Journalist:innen von sämtlichen Medien drängen sich vor dem Podium, über welchem das Bild der Imrali Delegation mit Abdullah Öcalan projiziert wird. Wie im Hotel, halten auch die Menschen in den vier Teilen Kurdistan den Atem. Die Menschen strömen zu Versammlungen, die in sämtlichen Städten angekündigt sind. Durch Rojava fahren schon vor der Ausstrahlung der Nachricht hupende Konvois und an den Laternen auf den Hauptstraßen sind hunderte gelbe Fahnen mit dem Konterfei Öcalans angebracht. Allesamt warten gespannt auf die Ankündigung der DEM-Partei Delegation. Ein Video des historischen Aufrufs Abdullah Öcalan wird an diesem Tag nicht veröffentlicht werden. Der Delegation wurde lediglich das Bildmaterial der Erklärung ausgehändigt. In Van und in Amed, wurde vom türkischen Staat gar die Übertragung der Pressekonferenz auf den aufgebauten Leinwänden untersagt. Man könnte fast denken, das geht ja schon mal gut los. Einige Menschen stimmt das traurig, manche vergraben das Gesicht in ihren Händen und Tränen rollen übers Gesicht. Die überwiegende Mehrheit ist schlichtweg glücklich, dass die Gefängnistüren Imralis einen Spalt weit geöffnet werden konnten.

Das lange Warten hat ein Ende. Am Donnerstag, den 27. Februar, wurde die von vielen Menschen herbeigesehnte Nachricht Abdullah Öcalan, dem Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), verlesen. Eigentlich hieß es schon vor dem 15. Februar, dem Jahrestag der Entführung Abdullah Öcalans , dass es nach Jahren der Totalisolation, endlich wieder eine Nachricht an die Außenwelt geben würde. Daraus sollte vorerst nichts werden. Der entscheidende Besuch auf der Gefängnisinsel stand noch aus und die Imrali Delegation hielt sich Mitte Februar noch zu Gesprächen in Südkurdistan auf.

Knapp zehn Jahre ist es ebenso her, dass das letzte Bild von Öcalan veröffentlicht wurde. Viele Kurd:innen können es daher noch nicht ganz fassen, nun endlich wieder ein ein Bild ihres politischen Vertreters zu Gesicht zu bekommen. Nun sitzt er da, zwischen Abgeordneten der Dem-Partei und den drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Hamili Yıldırım und Veysi Aktaş, welche bescheiden in die Kamera lächeln. Die Haare weiß, die Körperhaltung ausdrucksstark, einen Stoß Papiere in den Händen, der gemessen an seinem Inhalt das Zeug dazu haben kann, nicht nur die Zukunft der kurdischen Freiheitsbewegung, sondern den gesamten Mittleren Osten nachhaltig zu verändern. In rasender Geschwindigkeit verbreitet sich das Foto im Internet.

„Alle Gruppen müssen ihre Waffen niederlegen und die PKK muss sich auflösen“

Die Pressekonferenz fällt kurz aus, die Erklärung wird wenig später in handschriftlicher Form veröffentlicht. Blaue Tinte auf vier Seiten Papier, drunter die Unterschrift Abdullah Öcalans, datiert auf den 25. Februar 2025. Kurz nach 15 Uhr Ortszeit ist die Katze aus dem Sack. Auf der Presskonferenz wird das bestätigt, worüber zahlreiche Medien bereits spekuliert hatten. In dem verlesenen Statement ruft Öcalan dazu auf, dass eine Phase des Friedens und der Geschwisterlichkeit der Völker des Mittleren Ostens anbrechen müsse. Die Aufforderung folgt, dass alle Gruppen die Waffen niederlegen und die die PKK sich auflösen müsse. Eine neue Phase solle mit diesem Schritt eingeleitet werden, eine Phase des Friedens und einer demokratischen Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund führt Öcalan weiter aus: Die PKK wurde im 20. Jahrhundert gegründet, in der gewalttätigsten Epoche der Menschheitsgeschichte“. Und ja, die Welt war eine andere, als am 15. August 1984 die ersten Kugeln auf Stützpunkte des türkischen Staates abgefeuert wurden. Der darauffolgende Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat, die schnell anwachsende Guerilla mit abertausenden Menschen, die in den Bergen Nordkurdistans zu den Waffen griffen und der Aufbau einer schlagkräftigen Kaderpartei geschah, so das Statement, „im Schatten der Erfahrungen des Realsozialismus und des Kalten Krieges“.

Die Politik der verbrannten Erde, hieß in der Realität „völlige Leugnung der kurdischen Realität, die Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten – insbesondere der Meinungsfreiheit“. Die Folter in den Kerkern der Türkei, die Entführung von Tausenden und die Verbrennung von circa 3000 Dörfern zu Beginn der 90er Jahre, war die Realität eines Volkes, welches sich für den Weg des Widerstands entschieden hatte.

Die Entscheidung der Aufnahme des bewaffneten Kampfes war jedoch niemals ein Selbstzweck, sondern die Antwort auf eine Politik, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 sämtliche Organisationen zerschlug, die nicht der eingeschlagenen faschistischen Linie entsprachen.

Was sich jedoch auch in den vergangenen vier Jahrzehnten des bewaffneten Kampfes abzeichnete, war, dass keine der beiden Seiten in der Lage war, die Gegenseite entscheidend zu schlagen. Während die PKK weite Teile Nordkurdistans faktisch kontrollierte, konnte sie die türkische Armee nicht in Form des Guerillakriegs entgültig schlagen. Dies ließ unter anderem die Nato nicht zu, welcher in sämtlichen Situationen der Türkei aus der Bredouille half und immer neue technische Kriegsmittel für ihren Kampf gegen die Guerilla zukommen lies. Auf der anderen Seite wurde ebenso mit der Liberalisierung und der wirtschaftlichen Öffnung Anfang der 2000er Jahre die Türkei für ausländisches Kapital geöffnet, wodurch die angespannte wirtschaftliche Lage zum Preis des totalen Ausverkaufs der Türkei gekontert wurde.

Um ein Ende der Gewaltspirale in Aussicht zu stellen, wurde seitens der PKK erstmals 1993 ein einseitiger Waffenstillstand ausgerufen. Die Sowjetunion bestand zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, die ehemaligen Staaten des Ostblocks öffneten sich dem Weltmarkt und eine breit angelegte Welle der Liberalisierung setzte ein. Die Bedingungen, die vielen nationalen Befreiungsbewegungen zur Übernahme der Staatsmacht verhalfen, nämlich die Unterstützung des realsozialistischen Bocks, der sich über 1/3 der Welt spannte, galten auf einmal nicht mehr. Eine demokratischer Lösungsprozess, der aus einer Position der Stärke erfolgte und dadurch glaubhaft gemacht wurde, dass einseitig die Waffen niedergelegt wurden, schien das Gebot der Stunde. Die Antwort der türkischen Staatsführung war die Peitsche. Turgut Özal, der als Staatspräsident Verhandlungen mit Öcalans PKK führte, starb kurz nach bekanntwerden der Verhandlungen im Frühjahr 1993 unter mehr als zweifelhaften Umständen. Tansu Ciller, die folgend an die Macht kam, war durch Deutschland ausgestattet mit den Waffen aus alten Beständen der Nationalen Volksarmee der DDR, nun in der Lage den Krieg erneut zu eskalieren.

Spürbar sind bei vielen noch die Erinnerungen vom Ende des letzten Friedensprozesses. 2015 wurde dieser durch den Waffengang des Türkischen Staates beendet, woraufhin dies von der Jugend Nordkurdistans mit der Ausrufung der Autonomie in zahlreichen Städten beantwortet wurde. Monatelang konnten die Stadtteile gegen die Militärpolizei verteidigt werden, bis die türkische Armee mit Panzern und Kampfflugzeugen gegen die Aufständischen vorging und weite Teile der Innenstädte in Schutt und Asche legte. Keller in der Stadt Cizire, in denen Menschen Zuflucht gesucht hatten, wurden in Brand gesteckt und mindestens 177 Menschen bei lebendigem Leib verbrannt.

In ihrer über tausendjährigen gemeinsamen Geschichte waren die Beziehungen zwischen Türk:innen und Kurd:innen durch gegenseitige Zusammenarbeit und Bündnisse geprägt. (…) Die letzten zweihundert Jahre der kapitalistischen Moderne waren vor allem von dem Ziel geprägt, dieses Bündnis zu brechen. (…) Heute besteht die Hauptaufgabe darin, die historische Beziehung, die äußert fragil geworden ist, neu zu strukturieren

Zur Umsetzung eines neues Prozesses des Friedens, der vielleicht die letzte Chance auf eine friedliche Lösung des Konfliktes und damit der kurdischen Frage ist, soll die PKK also nun zu einem unbestimmten Zeitpunkt aufgelöst werden. „Wie ihresgleichen hat auch sie ihre Lebensdauer erreicht – dies erfordert eine Auflösung“, so Abdullah Öcalan in der Erklärung. Was die Alternative zu einem friedlichen Ausgang der Verhandlungen sein würde, lässt sich nur erahnen. Seit dem 7. Oktobers 2023 erlebt der Mittlere Osten eine Phase der Umgestaltung, die selbst die Bedeutung der US Intervention im Irak 2003 bei weitem übersteigt. Der Gaza-Streifen wurde dem Erdboden gleich gemacht und die Leben von zehntausenden Palästinenser:innen ausgelöscht. Die libanesische Hisbollah wurde in wenigen Monaten von Israel entscheidend geschwächt und mit dem Fall des syrischen Regimes zu guter Letzt die sogenannte „Achse des Widerstands“ zerbrochen. Die Pläne zur Umgestaltung der Region halten an und allen voran das von der USA gedeckte Israel werfen alles in die Waagschale, um ihre Stellung weiter auszubauen.

Geschichte wiederholt sich nur als Farce.

Wie auch die Aufteilung des Mittleren Ostens nach dem 1. Weltkrieg der Beginn von einer nicht enden wollenden Spirale von Gewalt und Unterdrückung war, so birgt die sich nun abermals vollziehende imperialistische Neugestaltung des Mittleren Ostens die Gefahr, ein weiteres Kapitel dieser blutigen Geschichte aufzuschlagen. Schon Hegel sagte, dass sich alle weltgeschichtlichen Ereignisse zweimal ereignen. Nach Marx habe er aber vergessen hinzuzufügen: „Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Der nun begonnene Friedensprozess solle, wie aus mehreren Erklärungen der kurdischen Freiheitsbewegung hervorgeht, eine Intervention gegen die Pläne darstellen, den Mittleren Osten weiter zu zersplittern und neue Tore für imperialistische Interventionen zu öffnen. Dialog und Einheit sollen dem entgegengesetzt werden. Nach jahrzehntelangem Blutvergießen lässt sich natürlich nur schwerlich ausmalen, was das bedeuten mag. Die Narben sind tief und an offenen Wunden wird weiterhin gerührt. So erfolgten wenige Minuten vor der Pressekonferenz Angriffe des türkischen Staates auf die Medya Verteidigungsgebiete im Nordirak und bereits am Folgetag wird Rojava wieder von türkischen Bomben heimgesucht. Jeder Angriff bringt den eingeleiteten Friedensprozess in Gefahr.
Der türkische Staat funktioniert nicht einheitlich und nach einem Interesse. So gibt es genügend Akteure, die ein Interesse daran haben, den Krieg aufrechtzuerhalten. Egal ob es die zahlreichen Militärs sind, oder CEOs und Aktionäre von Rüstungsunternehmen wie Aselsan und Roketsan. Was wird wohl Selçuk Bayraktar, der Vorstandsvorsitzende der Killerdrohnen-Firma Baykar, zu seinem Schwiegervater, dem Präsidenten Erdogan sagen, wenn er ihn das nächste mal am Essenstisch trifft? Man möchte fast meinen, dass dort die altbekannte Formel „Über Geld und Politik spricht man nicht“ keine Gültigkeit haben wird.
Die Gefahr besteht somit, dass das, was als „tiefer Staat“ gilt, sprich die Verflechtungen zwischen Rüstungsindustrie, Kapitalfraktionen, der Mafia und dem Staat, den kommenden Friedensprozess manipulieren könnte.

Blut lässt sich aber nicht mit Blut waschen.

Zwei Tage nach der Erklärung Abdullah Öcalans folgt nun die Verkündung eines einseitigen Waffenstillstands durch den Exekutivrat der PKK. Die Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans sei aber an Bedingungen geknüpft. Nur ein Kongress sei entschlussfähig, welcher unter dem Vorsitz Abdullah Öcalans stattfindet. Dass der Aufruf kein Ende, sondern ein Neuanfang sei, so der Exekutivrat, sollte einmal mehr den Anlass dafür liefern zu diskutieren, was Abdullah Öcalan in seiner historischen Botschaft vermittelt und wie dementsprechend die Zukunft aussehen könnte.

Bereits während der Pressekonferenz feiern die türkischen Medien und werten die Erklärung als eine einseitige Kapitulation. Tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass der türkische Staat, ausgestattet mit westlicher Technologie und mit einer Armee, die an der Anzahl der Köpfe gemessen die zweit größte der Nato ist, das Zentrum des Krieges mit der Guerilla innerhalb der letzten neun Jahre in den Nordirak verlagern konnte. Der aber wohl entscheidendere Faktor der Rechnung ist, dass trotz alledem die PKK als Organisation zehntausender Militanter nicht im Ansatz zerschlagen werden konnte. Viel mehr spricht die Anzahl von türkischer Militäroperationen auf eigenem Staatsgebiet dafür, dass die Guerilla in weiten Teilen Nordkurdistans wenn auch mit kleinen Teams präsent ist. Während der türkische Geheimdienst äußert, die Schuhgrößen aller Guerilleros zu kennen, zeichnet der Angriff auf den Drohnenproduzenten TUSAS im vergangenen Oktober eine gänzlich andere Realität.

Unterm Strich bleibt somit zu sagen, dass es der Türkei gelang, die Grenze zum Irak größtenteils zu militarisieren und einige Bergregionen in Südkurdistan mit großem Aufwand zu besetzen. Jedoch bleibt auch die letzte groß angekündigte Offensive, welche der finale Schlag gegen das strategisch wichtige Bergmassiv Gare sein sollte, ohne nennenswerte Erfolge. Ebenso ist es wieder einmal in den türkischen Medien leise um die Militäroperation geworden, welche in den Worten der Türkei ausgedrückt, die Klauen um die Guerilla schließen sollte. Statt von Schwäche zu sprechen, muss gesehen werden, dass außerdem mit der Revolution von Rojava eine Realität geschaffen wurde, welche niemand verleugnen kann. Was 2012 den Anfang in drei Regionen Nordostsyriens nahm, ist heute eine Kraft, welcher weit mehr als 100.000 Kämpfer:innen zu unterstehen, ganz zu schweigen von den zivilen Selbstverteidigungsstrukturen. Die Kämpfe an der Tishrin Front und der Karakozak Brücke haben unter Beweis gestellt, dass die Selbstverteidigungskräfte sich im Stillen mit allen technischen Erneuerungen bewegt haben. Mit Kamikazedrohnen wird tagtäglich die millionenschwere türkische Technik zerstört, während aus dem weit verzweigten Tunnel-System unter Nord- und Ostsyrien, die türkische Lufthoheit aus gekontert werden kann.

Selbst die am weitesten entwickelten Kampfdrohnen, die der türkische Staat vor einigen Jahren noch als Wunderwaffe im Kampf gegen die Freiheitsbewegung präsentierte, können nun mit neuen Luftverteidigungssystemen in Südkurdistan und Nord- und Ostsyrien vom Himmel geholt werden. Auf der anderen Seite werden nun selbst über große Distanzen hinweg türkische Militärbasen von der Guerilla mit großen Kamikazedrohnen trotz der von der Türkei eingesetzten Jammer getroffen.

„Der Aufruf von Rêber Apo ist keineswegs ein Ende, sondern im Gegenteil ein völliger Neuanfang“ (Exekutivrat PKK 1. März 2025)

Bei vielen Menschen, die für eine bessere Welt kämpfen und für welche die Arbeiterpartei Kurdistans eine Kraft darstellt, die zu den Vorreitern dieses Kampfes gehört, dürften die letzten Tagen viele Fragezeichen aufgeworfen haben. Was die Erklärung für die Zukunft heißen mag und wie sich der Prozess entwickeln wird, ist tatsächlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Anstatt sich aber in Vermutungen zu verlieren und wie es so oft der Fall ist, aus der bequemen Position der westlichen Linken, einen Verrat an sozialistischen Zielen und dem gemeinsamen Kampf zu wittern, tut man besser daran, den Erfahrungen einer Bewegung zu vertrauen, die vor über 50 Jahren den Kampf aufgenommen hat und einen dementsprechend reichen Erfahrungsschatz hat.

Zweifellos stellte die Integration ins Staatssystem vieler nationaler Befreiungsbewegungen zumeist die Liquidation der eigenen Ideale dar. Diese Gefahr besteht natürlich überall dort, wo auf den Staat, ob bürgerlich oder faschistisch, auf Kosten der eigenen Selbstverteidigungsmechanismen vertraut wird. Dass genau jetzt auch von der Kurdischen Freiheitsbewegung ein Prozess angestoßen wird, der nach einem Kompromiss mit dem türkischen Staat aussieht, weckt somit nicht ganz zu unrecht die Angst, dass die PKK dasselbe Schicksal ereilen könnte. Das Gebot der Stunde scheint aber nun eben ein Friedensprozess zu sein, der die Entrechtung einer ganzen Nation angehen soll.

Dass die PKK mehr ausmacht, als sich lediglich entlang des Hauptwiderspruch des kurdischen Volkes, dem Kolonialismus, zu bewegen, sollte alleine die Tatsache zeigen, dass sich die Freiheitsbewegung Kurdistans ebenso in der Verantwortung sah und sieht, die Kämpfe auf sämtlichen Teilen der Welt zu entwickeln. Weder Rojava, noch die Befreiten Berge Kurdistans, die Selbstverwaltung im Shengal oder im Mexmûr, können in Zeiten globaler Vernetzung als Inseln der Glückseligkeit bestehen, ohne ebenso gegen die zahlreichen Feinde eine gemeinsame Front auszubauen. Im Gegensatz zu vielen anderen Bewegungen, agiert die kurdische Freiheitsbewegung nicht aus einer Position der Schwäche weder auf militärischer, noch auf gesellschaftlicher Ebene. Die PKK hat heute wie auch in vergangenen Zeiten eine Massenbasis. Diejenigen, welche die Parteiführung nun des Revisionismus und Reformismus bezichtigen, kennen die Realität des Freiheitskampfes in Kurdistan nicht. Die PKK, das sind die Kinder des Kurdischen Volkes. Die PKK ist keine abstrakte Formation, die in den Kandil Bergen die Geschicke einer Bewegung von Millionen lenkt, sondern lebt in allen Häusern, in denen Bilder von Gefallenen Familienmitgliedern an den Wänden hängen und in denen die politischen Entwicklungen aufs genaueste verfolgt, diskutiert und mitbestimmt werden. Und das sind verdammt viele.

„Eine Organisierung von Kopf bis Fuß ist notwendig.“ (Abdullah Öcalan 2002)

Bereits zu früheren Zeiten hat die Kurdische Freiheitsbewegung unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage ist, sich entsprechend von Kritik und Selbstkritik neu zu erfinden. So wurde Anfang der 2000er Jahre auf dem 8. Parteikongress der PKK die Auflösung der Partei und der Übergang in den KADEK, dem Freiheits- und Demokratiekongress Kurdistans, verkündet. Abdullah Öcalans begrüßte 2002 die Gründung mit folgenden Worten: „KADEK muss zu einer Organisationsform werden, die die demokratische und freie Einheit der Völker des Mittleren Ostens zur Grundlage nimmt“. In dem Gründungsstatement von KADEK heißt es weiter: „Unser Kongress hat festgestellt, das die PKK mit der Verwirklichung des kurdischen Nationalen Erwachens ihre historische Mission vollendet und somit unwiderruflich ihren Platz in der Geschichte eingenommen hat. Vor diesem Hintergrund hat unser Kongress beschlossen, ab dem 4. April 2002 alle Tätigkeiten unter dem Namen der PKK einzustellen“.

Unter dem Dach von KADEK sollten von diesem Zeitpunkt an Organisationen und Parteien in allen Teilen Kurdistans gegründet werden. Die Antwort auf diese politische Öffnung und Dezentralisierung folgte mit dem Verbot der PKK 2002 in der EU und den USA auf den Fuß.

„Die Annäherung einiger Kreise, vor allem der nationalistisch-chauvinistischen und der Bandenkreise, die Entwicklungen ausschließlich als Resultat äußeren Drucks darzustellen, entspricht nicht der Realität. Natürlich spielen auch die äußeren Entwicklungen eine wichtige Rolle bei diesem Ergebnis, aber es ist nicht der erste Faktor. Die Hauptfaktoren ist das Entwicklungsniveau unserer Bewegung“ (Präsidialrat KADEK 2002)

Bereits 2002 hielt Abdullah Öcalan fest, dass mit der Gründung von KADEK eine Phase des „totalen Freiheits- und Demokratiekampf anstatt eines Bürgerkrieges“ eingeleitet werden sollte. In Folge von interner Probleme und unterschiedlichen Auslegungen der neuen Strategie, kam es in der Folgezeit zu harten Richtungskämpfen, was jedoch niemals die Notwendigkeit einer Umstrukturierung gänzlich in Frage stellte. Aufgrund der Mängel der neuen Organisationsform, kam es 2005 zur Neugründung der PKK in neuer Form. Der Name „Arbeiterpartei Kurdistans“ spiegele, so der damalige Sprecher des PKK-Rats, Murat Karayilan, „die Tradition des Widerstands und die Art und Weise, für sich selbst einzustellen“, wieder. „Deshalb wurde für richtig befunden, den Namen PKK, der so viele Bedeutungen trägt, erneut zu verwenden“.

War der damalige Prozess sicherlich von Unzulänglichkeiten geprägt, so wurde der Entschluss zur Umstrukturierung 2002 nicht im luftleeren Raum geschlossen. Seit dem hat sich viel getan und die PKK, die sich in erster Linie nicht als militärische sondern als ideologische Kraft versteht, konnte die die Revolution in Rojava verwirklichen und die Selbstverteidigungsstrukturen im Shengal schaffen. Ebenso hat die Frauenrevolution in Kurdistan den Mittleren Osten schon jetzt nachhaltig verändert. Dies stellte die Jin, Jiyan, Azadî Revolution nach der Ermordung Jina Aminis im September 2022 eindrücklich unter Beweis. Der jetzige Aufruf bedeutet also weder, die Waffen vom einen auf den anderen Tag niederzulegen, noch den politischen Kampf einzustellen und damit die Errungenschaften der Revolution preiszugeben. Zweifelsohne würden im Zuge eines erfolgreichen Prozesses stattdessen viele neue Aufgaben aufkommen, wie der Aufbau und die Stärkung gesellschaftlicher Organisationen. Wie aus der Erklärung des Exekutivrats der PKK hervorgeht, ist jetzt der türkische Staat in der Bringpflicht und die kommenden Wochen werden zeigen, welchen Weg der Prozess einschlagen wird.

Heute ist es für alle revolutionären Kräfte somit deutlich wichtiger denn je, an der Seite des kurdischen Volkes zu stehen und sich nicht in Passivität und einer abwartenden Haltung zu verlieren. Die historische Chance, die eines der größten Blutvergießen im Mittleren Osten, das vor mehr als 100 Jahren seinen Anfang nahm, zu beenden, sollte mit allen ihren Konsequenzen als solche erkannt werden. Gerade in einer Region, in welcher seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein Krieg den anderen ablöst, ist die Freiheitsbewegung Kurdistans eine Kraft, welche die Prophezeiung vom „Ende der Geschichte“ nicht als Schicksal akzeptiert. Einem primitiven Nationalismus stellt sie eine gänzlich neue Sichtweise auf das Leben gegenüber, in dem sie heute mit dem Demokratischen Sozialismus die so oft in den Dreck geworfene Fahne der Geschwisterlichkeit der Völker wieder hisst.

Foto: DEM Party

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Im venezolanischen Hinterland treffe ich Thomas Walter und Peter Krauth. Hier sind beide seit Jahren im Exil. Sie werden beschuldigt als Mitglieder der Gruppe K.O.M.I.T.T.E im Oktober 1994 einen Anschlag auf das Kreiswehrersatzamt in Brandenburg verübt zu haben, sowie ein halbes Jahr später ein Angriff auf einen Abschiebeknast versucht zu haben. In der Folge verließen sie gemeinsam mit ihrem, 2021 verstorbenen Genossen Bernhard Heidbreder, Deutschland und tauchten unter. 2017 beantragten Walter und Krauth in Venezuela Asyl, welches 2021 erteilt wurde. Im selben Jahr wurde auch der internationale Fahndungsaufruf von Interpol gelöscht. Doch die deutschen Behörden lassen nicht locker, 2015 wäre der vorgeworfene Tatbestand „Verabredung zur Tat“ nach Paragraf 30 StGB eigentlich auch nach deutschem Recht verjährt, die Bundesanwaltschaft setzte die Frist jedoch kurz vorher auf 40 Jahre hoch, so das es 2015 zu keiner Verjährung kam. Daher werden Walter und Krauth immer noch nach deutschem Haftbefehl gesucht. Nun, 30 Jahre nach dem gescheiterten Anschlag wurde erneut Anklage durch den Generalbundesanwalt erhoben.

Bart Vanzetti


Während Thomas und Peter hingebungsvoll die Kaffeebohnen am offenen Feuer rösten, sprechen wir über die Geschichte der Region und die Bedeutung von Ejido und Gemeindeland. Darüber wie das Land den Gesellschaften geraubt wird, immer und immer wieder. Sei es durch das Handelsabkommen NAFDA in Mexiko oder durch die Zerstörung der Allmende in Deutschland.

Im Plaudern steigt die Gewissheit, dass mit den beiden auf jeden Fall zuerst das Feuer ausgeht, als die Gesprächsthemen. Doch heute soll es um Verfolgung und Exil gehen.

Bart Vanzetti:Als jemand der selber politisch geflüchtet ist, interessiere ich mich für den Grund warum ihr überhaupt fliehen musstet. Warum musstet ihr Deutschland verlassen?

Thomas Walter:  Weil wir nicht Gefängnis wollten. Das fasst eigentlich alles zusammen. Denn wären wir nicht geflohen, wären wir im Gefängnis gelandet.

Die Anschuldigungen gegen uns beinhalten ja wir hätten eine terroristische Vereinigung gegründet und diese am Laufen gehalten.

Konkret sind die Vorwürfe wir hätten ein Trainingsgebäude der Bundeswehr abgebrannt und außerdem hätten wir geplant ein Abschiebegefängnis, welches gerade gebaut wurde, in die Luft zu sprengen.

Das Abschiebegefängnis, das war ein ehemaliger DDR-Frauenknast, der nach dem Fall der Mauer in die Hände der Bundesregierung kam und zum Abschiebegefängnis umgebaut werden solle, weil die Abschiebungen nicht effizient genug liefen. Deshalb sollten mehr abgeschoben werden. Der Knast war dabei praktisch, weil er nah am Flughafen Schönefeld war und so Asylbewerber zentral festgehalten werden. Sozusagen bis man ein Flugzeug voll hat und die dann direkt abgeschoben werden können.

– Glauben wir diesen Anschuldigungen, seid ihr die einzige Gruppe, die damals spezifisch eine solche Aktion in Solidarität mit Flüchtlingen gemacht habt. Nun bringt es euch, als Deutsche Staatsbürger ja nichts, so einen Abschiebeknast zu verhindern. Die Abschiebehaft war ja für Leute, die nicht aus Deutschland stammten. Warum habt ihr trotzdem solche Aktionen gemacht?

Thomas Walter: Jetzt mal dahingestellt, ob wir es gemacht haben oder nicht, ist es ja so: Wir als Bewohner und damit Teil von Deutschland sind ja mitverantwortlich für die Politik, die Deutschland macht. Die machen sie ja in unserem Namen. Und wenn die Leute, die nach Deutschland kommen, weil sie Schutz suchen, wieder abgeschoben werden sollen, dann ist es für uns ein Problem. Ein ganz persönliches Problem, weil ich bin der Meinung, dass diese Leute haben ein Recht auf Schutz und sollten bei uns geschützt werden. Und im schlimmsten Fall, wenn Deutschland sagt: Ich kann euch nicht schützen, ihr seid nach meinen Kriterien nicht „flüchtlingswürdig“, selbst dann gäb es auf keinen Fall Grund diese Leute einzusperren. Also Leute einzusperren ist sowieso Scheiße. Knast bringt ja nichts, oder hat der Knast schon mal jemals jemanden verbessert? Und Leute einzusperren, die beileibe gar nichts verbrochen haben, ist wirklich pervers. Du kannst die Leute vielleicht noch einsperren, wenn sie eine Gefahr für andere sind. Sexualstraftäter oder was weiß ich. Da kann man es noch besser nachvollziehen, aber Leute einsperren, die aus einem anderen Land geflohen sind? Indem sie verfolgt wurden? Was ist die Logik dabei? Es ist einfach pervers, es ist krank.

Übrigens, ich möchte noch eine Sache ein bisschen gerade stellen. Wir waren nicht die einzige Gruppe. Es gab 1995 von der Roten Zora, einen Ableger der Revolutionären Zellen, noch einen Anschlag auf ein Rüstungsunternehmen. Irgendwo im nordischen Fischkoppbereich [Lemwerder bei Bremen, Anm. d. Red.]. Das war bezüglich Kurdistan, also von der Motivation ähnlich. Die Sachen, die uns vorgeworfen werden, waren ja auch mit der Kurdistan Solidarität motiviert. In der Zeit wurde die PKK in Deutschland verboten und so behandelt, als wäre sie in Deutschland eine terroristische Organisation. Kurdische Leute wurden massiv verfolgt, weil sie angeblich der PKK angehörten. Ähnlich wie es heute in der Türkei ist. Na ja oder eigentlich auch immer noch in Deutschland heute, das hat ja nicht aufgehört.

Sprechen wir über internationale Solidarität, müssen wir auch über die heutige deutsche Linke sprechen. Nach dem Gaza-Krieg sehen wir noch deutlicher als zuvor in einem Großteil der deutschen Linken eine Solidarität mit dem Staat Israel. Damit wird sich in die Linie mit dem deutschen Staat gestellt und die Staatsraison Deutschlands übernommen. Dann lesen wir auf der Fassade von der Roten Flora in Hamburg: „Solidarität mit Israel“. Also mit dem Staat, der als Apartheidregime immerhin International wegen des Genozids angeklagt wurde. Da fragt man sich ja schon wie kommt es, das deutsche Linke sowas machen? Sich mit dem Staat Israel zu solidarisieren bedeutet ja auch eine Entsolidarisierung mit den Bevölkerungen und Realitäten aus dem Mittleren Osten. Woher kommt diese Verwirrung?

Thomas Walter: Ich glaube da wird ganz wild alles möglichen durcheinander geworfen. Die ganze Debatte darüber ist für mich völlig aus dem Ruder gelaufen und überhaupt nicht konkret. Als deutsche und gerade als deutsche Linke haben wir natürlich eine hohe Verantwortung gegenüber jüdischen Menschen. Und der Anspruch von jüdischen Menschen geschützt zu werden, den sehen wir natürlich auch. Nach Jahrhunderten Jahren an Pogromen und Verfolgung, natürlich speziell dem Holocaust. Das ist wichtig.
Nur die Frage, die man sich stellen muss, ist: Ist Israel wirklich dieser Platz, in dem die jüdischen Menschen geschützt werden?
Ich glaube, wenn man sich jetzt gerade in letzten Wochen und Monaten die Zeitungen anschaut, dann ist es eher der Platz, an dem jüdische Menschenleben am gefährdetsten sind auf der Welt. Jüdische Menschen leben viel sicherer in Teheran, dass von den Mullahs in einer klerikal faschistischen Diktatur regiert wird. Dort gibt es eine riesengroße jüdische Community und da gibt es weniger Gewaltverbrechen gegen Juden als in Israel. In New York, wo es die größte jüdische außer-israelische Community gibt, leben Juden viel sicherer als in Israel. Israel ist auf den besten Weg diesen angeblichen Schutzraum völlig in den Wind zu schießen. Die Israelis sind total gefährdet, also so gesehen ist die ganze Argumentation völlig falsch. Was die in Israel gerade treiben, ist Rassismus und  es ist ethnische Säuberung. Außerdem provoziert die Israelische Regierung den Hass von den Überlebenden von diesen ganzen Massakern. Dieser Hass wird auf Jahrzehnte und vielleicht auf Jahrhunderte immer stärker werden, da tun Sie sich nichts Gutes mit.

Und warum glaubst du dass jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, dir ins Gesicht guckt und ganz überzeugt sagt: Weil meine Großeltern die Juden umgebracht haben, muss ich jetzt den Staat Israel unterstützen?

Thomas Walter: Es ist verlogen. Die Deutschen wollen sich in erster Linie selber reinwaschen, sie wollen nicht mehr schuldig sein. In zweiter Linie wollen Sie Teil des geostrategischen Westens sein und da ist Israel halt ein wichtiger Teil in dem Gesamtgefüge der westlichen Macht, in dem was sie „die westlichen Werte“ nennen. In diesen NATO Gebilde wissen die Deutschen sehr genau, was ihnen guttut und was für sie wichtig ist. Und die NATO und die Unterstützung der USA und damit auch Israel ist für sie einfach sehr gut und zwar auch ökonomisch. Das ist eine ganz klare Interessenentscheidung wenn Deutsche sagen: Ich stelle mich auf der Seite Israels und damit der USA. Es ist eine Entscheidung, sich auf die Seite des bewaffneten Wohlstands zu stellen.

Ich weiß du liest auch gern deutsche Zeitungen. Dort konnte man jetzt lesen, dass die Aktien von Rheinmetall so gestiegen ist wie noch nie zuvor. Meinst du das dass auch damit zusammenhängt?

Thomas Walter: Es ist immer einfach sich einzelne Haupttäter hinaus zu suchen und nur darauf zu schauen. Das ist für mich nicht das größte Problem. Der Vorstand von Rheinmetall etwa, natürlich sind das egoistische Arschlöcher, die Geld verdienen wollen und denen Menschenleben komplett egal sind. Das große Problem ist aber, dass es in Deutschland, und zwar auch in Deutschlands Linken, sehr viele Menschen gibt, die das gut finden. Die meinen dann tatsächlich sie sind bedroht durch Russland und Deutschland müsste massiv aufrüsten. Die meinen das Rheinmetall ihre Interessen als Deutsche vertritt. Und das ist für mich die große Problematik.
Wenn Tadzio Müller, ein Denker und Kopf der Klimabewegung, zu Rheinmetall Entwaffnen sagt: Leute ihr müsst doch auch sehen, die USA sind strategisch geschwächt und wir brauchen nun mal die Rüstungsfirmen, dann bist du ideologisch und theoretisch am Ende. So. Dann hast du dich sozusagen mit deinem Gegner den du eigentlich bekämpfst, zusammen getan. Das Klima geht kaputt wegen dem Kapitalismus. Das führende Land des Kapitalismus ist die USA, Deutschland macht natürlich fleißig mit, aber führend ist unangefochten die USA. Ohne Zerstörung oder zumindest Begrenzung des Kapitalismus kann es kein Ende des Klimawandels geben. Wenn also ein Klimawandelgegner hingeht und sagt wir brauchen Rheinmetall, um uns zu verteidigen vor den bösen Russen, dann hat er sich ins eigene Knie geschossen. Das ist einfach nur dumm.

Zurück zu der Gruppe um die es hier geht. Die Gruppe hat ja auch Flugblätter und Erklärungen geschrieben, in der Regel war die Gruppe also öffentlich zugänglich und man konnte sie auch kontaktieren. Wie sahen dahingehend die Diskussionen aus, wer hat diskutiert was in den Erklärungen und Kommuniqués drinsteht, wie war die Struktur, war es basisdemokratisch oder gab es ein Zentralkomitee?

Thomas Walter: Aber grundsätzlich waren die Bewegungen aus der Zeit horizontal aufgebaut. Die Leute, die sich zusammengefunden haben, um Sachen zu machen haben gemeinsam diskutiert und dann wurde sich geeinigt. Dann gab es einen Konsens und keine Chefs, die etwas vorgegeben haben oder so. Aber grundsätzlich gibt es das Problem bei abgeschotteten Gruppen, die sich ja abschotten müssen, weil Sie Sachen machen, die vom Staat verfolgt werden, dass Sie schlecht diskutieren können mit Leuten, die nicht ein Teil davon sind. Dann ist dieser Austausch immer einseitig. So eine Gruppe kann zwar ein Flugblatt schreiben, kann Texte schreiben und die dann veröffentlichen, aber es wirklich lesen oder gar antworten, tun die Leute in den seltensten Fällen. Und ein wirkliches Gespräch gibt es wahrscheinlich nie. Das war ja auch eines der größten Probleme von der RAF. Die haben sich im Laufe der Jahre so dermaßen vom Rest der Bewegung und der Linken in Deutschland abgekapselt, dass sie sich nicht mehr verständigen konnten. Das waren wie zwei verschiedene Welten.

– Nun werdet ihr ja seit 30 Jahren vom Deutschen Staat verfolgt und lebt im Exil. Juristisch gesehen, ist im Grunde keine besonders Schwerwiegende Sache passiert. Es wurde niemand getötet & wahrscheinlich auch niemand verletzt. Warum lässt die deutsche Regierung eure Verfolgung nicht los? 

Peter Kraus: Ich denke da kommen zwei Sachen zusammen. Erstens die Thematik. Da es sich bei den Angriffen auf direkte Angriffe auf Repressions-Anstalten des Staates handelt, ist es für den Staat sehr heikel. Denn der Staat braucht diese Anstalten um zu existieren, ohne Repression gibt es keinen Staat. Und zweitens: Der deutsche Staat ist nun von seiner Grundformation sehr auf Effizienz und auf theoretisch sauberes Argumentieren angelegt. Also die können es sich nicht leisten zu sagen: „Ja, damals haben wir es so gesehen, doch heute sehen wir es anders“ – das geht nicht. Die Deutschen haben eine Meinung und die bleibt 1.000 Jahre lang bestehen. Das hat jetzt nichts mit dem tausendjährigen Reich zu tun, auch wenn es da natürlich Parallelen gibt. Wenn die Deutschen jetzt aber gesagt haben jemand ist Straftäter, dann würden Sie sich lächerlich machen, wenn sie irgendwann sagen würden: „Okay ist ja nix passiert, das können wir auch mal wegpacken.“ Vor sich selber und auch dem Rest der Welt. Nein, das können sie nicht. Sie sind einfach Bürokraten, sie müssen sich an ihr Regelwerk halten und müssen diese Verfolgung, bis ins letzte Glied aufrechterhalten. Wenn es notwendig ist, dann werden Sie wahrscheinlich noch mal die Gesetze ändern. In unserem Fall wurden zwar nicht die Gesetze verändert, aber so ungebogen, dass man aus 20 Jahren Verjährungsfrist 40 Jahre machen konnte. Wenn man sich da mal in die Begründung reinließt ist es total absurd, dann kann man nur den Kopf schütteln. Das hat mit Rechtswesen nichts mehr zu tun, das ist nicht logisch. Und dennoch bin ich mir sicher: Wenn ihnen irgendetwas einfällt, um nochmal aus 40 Jahren 80 Jahren zu machen, dann werden sie auch das tun. Einfach um Recht zu behalten, damit niemand auf die Idee kommt zu sagen: Der Staat ist angreifbar. Er ist irgendwie menschlich und macht Fehler. Der Staat soll nicht menschlich sein, der Staat ist eine Intuition und ist unangreifbar. Das ist ein Prinzip und gerade für die Deutschen ist es heilig. In allen anderen Ländern der Welt, durch die wir gekommen sind, hat es stets nur Unverständnis ausgelöst. Die Leute verstehen das nicht, die sagen, es ist doch lange her und es ist nichts passiert, warum ist jetzt nicht vorbei. In Kolumbien wird nach 10 Jahren niemand mehr drüber reden, Sie sagen: Okay, es ist vorbei, es ist nichts passiert. In Venezuela ist es genauso, 8 Jahre und dann ist es vergessen. Deutschland ist da anders, ganz speziell. Vielleicht ist auch England, Frankreich und Italien auch so. Die ganzen zentralen europäischen Mächte scheinen so zu funktionieren.

Thomas Walter: Ich kann mir auch noch eine andere Begründung vorstellen die dazukommt. Die ganze Geschichte damals, die war nicht besonders professionell. Das war ein bisschen tollpatschig alles, es wurden viele Fehler gemacht. Die Bullen haben sich irgendwie einen gelacht und dachten sich das sind solche Deppen, die haben wir in 2 Jahren. Dass sie diese dann in 20,30 Jahren nicht gekriegt haben, hat sie ja ganz persönlich als Bullen, als Staatsanwälte gewurmt. Dann zu sagen: „Okay, ihr habt gewonnen“ ist einfach noch mal eine schwere Übung für so Persönlichkeiten, die einfach gewohnt sind immer recht zu haben und immer alles schaffen, was sie sich vornehmen und ja eigentlich auch alle Mittel dafür haben. Also das könnte auch eine Rolle spielen oder ein Faktor sein.

– Ihr seid hier jetzt ja in ein Land gekommen, welches angeblich eine Revolution hinter sich hat und auch eine Linke Regierung hat. Das war bestimmt auch mit Hoffnungen verbunden. 2017 seid ihr an die Öffentlichkeit gegangen und habt offiziell Asylanträge gestellt. Als die angenommen wurden, wart ihr damit wahrscheinlich die ersten Deutschen die offen als politische Flüchtlinge anerkannt worden sind. Kam das für euch überraschend oder eher nicht?

Thomas Walter: Also in anderen Ländern soll es so welche Vorfälle ja vorher schon gegeben haben. Margit Schiller [ehm. Mitglied der RAF, Anm. d. Red.], ist zum Beispiel in Kuba untergekommen. Aber sie hatte kein Strafverfahren. Sie ist abgehauen, weil sie befürchten musste, dass sie eingesperrt wird und eine Sicherungsverwahrung bekommt. Aber Sie hatte eben keinen aktuellen Haftbefehl. Das ist schon was anderes in unserem Fall, da gibt es einen deutschen und europäischen Haftbefehl. Und, trotz des Haftbefehls hat die Regierung hier uns beschützt, das ist schon ziemlich besonders. Da kannst du von der Regierung halten, was du willst aber das die das gemacht haben, ist schon ziemlich mutig und einmalig. Uns hat das auch gewundert. Wir hätten jetzt eher gedacht die schleimen sich bei den Deutschen ein. Aber dass sie sich in dem Fall einfach ans Gesetz halten, hätten wir so nicht gedacht. Denn juristisch war es ja eindeutig und die Sachen waren hier verjährt und konnten nicht verfolgt werden. Doch Sie haben sich einfach ans Gesetz gehalten und dafür in Kauf genommen, von den Deutschen schräg angeguckt zu werden. Obwohl sie doch ökonomisch gesehen die Deutschen eigentlich brauchen. Die Turbinen von dem größten Wasserkraftwerk in Venezuela werden von Siemens geliefert und niemand anderes kann die bauen, also da sind sie eigentlich auf den „Good Will“ von der deutschen Regierung angewiesen. Daher war das schon ein bisschen erstaunlich was die gemacht haben.

Aber sie haben euch trotz des Haftbefehles aufgenommen und euch Asyl gegeben. Wie ist es als politischer Flüchtling in Venezuela?

Walter: Die Regierung hat uns zwar diesen Titel gegeben „politische Flüchtlinge“ aber darüber hinaus haben sie uns überhaupt nichts gegeben. Wir kriegen gar nix. Also keine Ausstellung eines Personalausweises oder Reisepasses. Der hiesige Vertreter der Flüchtlingskommission hat keinen Finger gerührt um uns einen UN-Pass als Staatenlose oder als Flüchtlinge zu besorgen. Wir konnten kein Bankkonto aufmachen und so weiter. Also sie haben nichts getan, sie lassen es einfach still, sie bemühen sich dann nicht weiter.

Wie ist es bei anderen politischen Flüchtlingen aus anderen Ländern?

Thomas Walter: Es gibt viele Kolumbianer, da ist es anders. Einfach, weil die kolumbianische Botschaft da viel humaner als die Deutschen sind. Die Deutschen sagen: Ne, die sind gesucht von der Polizei, die kriegen keine Pässe. Beziehungsweise sie geben uns einen Pass, weil das deutsche Recht sagt, das jeder Bürger einen Anspruch hat auf ein Passdokument und dem müssen sie nachgehen. Aber sie geben uns einen Pass, der nur einem Monat gültig ist und die Flüchtlingsbehörde beziehungsweise das Einwohnermeldeamt hier weigern sich uns mit diesem Zettel Personalausweise auszustellen.

Meinst du, das hat mit der allgemeinen Art der Bürokratie zu tun und ist eine politische Entscheidung oder denkst du, das ist die Faulheit einzelner Beamten?

Thomas Walter: Ne, es ist keine politische Entscheidung, es ist eine politische Nicht-Entscheidung. In dieser Gesellschaftsordnung läuft alles so, dass niemand irgendwas tut in dem Verwaltungsapparat, ohne einen Befehl dafür bekommen zu haben. Also die Gesetze werden nicht angewandt, solange nicht ein Anruf aus Caracas kommt, von dem zuständigen Ministerium und jemand dann sagt: übe oder führe das Gesetz aus. Sonst wird lieber nichts gemacht, dann kannst du ja auch nichts Falsches machen. Das ist nicht unbedingt Böswilligkeit, sondern es ist fehlende Gutwilligkeit.
Bei einem baskischen Kollegen von uns zum Beispiel, der hat eine ähnliche Situation und dem haben wir auch zum Teil unsere Anerkennung zu verdanken. Der hat richtig kämpfen müssen für seine Sache. Der Kollege hat also seine Anerkennung als Flüchtling bekommen, aber hatte dann auch die Situation und bekam keinen Ausweis, keine Papiere. Dann ist er vor die Ministerien gezogen und hat dort einen Hungerstreik gemacht. Erst hat er einen Hungerstreik vor der spanischen Botschaft gemacht, damit die einen Pass ausstellen, die haben sie sich geweigert, weil sie die Basken hassen und dann hat er sich vors Innenministerium gestellt und hat dort wochenlang kampiert und da auf jeden Fall richtig Druck gemacht. Und nach langem Nerven haben, hat der Chef der Einwohnermeldebehörde dann gesagt: Komm, mache ich dir halt jetzt einen Ausweis. Ohne jeglichen Papierkram und ohne Gebühren. Bei dir machen wir ne Ausnahme, du hast so lang genervt, da kriegst du halt mal dein Ausweis. Ist zwar nur ein Jahr gültig, also muss er sich nach einem Jahr wieder hinstellen und Hungerstreiken oder was weiß ich was. Also es geht grundsätzlich schon, wenn sich jemand irgendwie aufständisch ist. Wir haben jetzt halt beide keine Lust gehabt irgendwelche Hungerstreiks zu machen oder uns an Brücken zu ketten oder so. Auch wenn es mit Papieren schon schöner ist, es geht auch ohne. Es gibt hier so viel Leute die einen unterstützen, man kann Bankkonten nutzen von Freunden und Freundinnen. Man kann ohne Führerschein Auto fahren, wenn man kontrolliert wird bezahlt man halt nen paar Dollar, es geht alles Mögliche. Also die Lebensqualität an sich wird nicht wesentlich eingeschränkt, wenn man keine Papiere hat. Das ist ein ziemlich flexibles Land im Grunde, alles wird auf der Straße geregelt, in persönlichen Verhandlungen meistens.

Peter Krauth: Also um noch mal zu unterstützen, was Walter grade gesagt hat: Als ich verhaftet wurde am Flughafen waren es zum Beispiel selbst die Interpol-Bullen, die erst mal beim Innenministerium anrufen mussten. Dort kam dann der direkte Befehl, also es hat nicht ein kleiner Beamter gesagt: Den nehmen wir jetzt fest. Sondern das ging mit dem Telefon bis zum Innenminister. Die Entscheidungen kommen von oben, weil unten eine totale Angst herrscht etwas falsch zu machen.
Also deshalb mussten wir zum Beispiel auch 3 Jahre warten bis unser Asylantrag entschieden wurde. Weil niemand das entscheiden wollte. Keine Ahnung, wie sie es im Endeffekt gemacht haben aber wahrscheinlich hing das auch mit dem Hungerstreik von dem baskischen Kollegen zusammen.

– Es gibt ja viele, die denken, weil die Regierung ja schon großzügig ist, sei es besser erst mal die Füße stillzuhalten und es ruhig anzugehen. Bei dem, was ihr erzählt, klingt es eher so, dass es besser wäre den Weg in die Öffentlichkeit zu gehen?

Peter Krauth: logisch, du musst immer, egal um was es geht, etwas fordern. Also jetzt hier oder in Deutschland oder egal wo. Solange in unserem Fall zum Beispiel nicht darüber geredet wird, kümmert sich auch niemand drum. Also unser Versuch ist ja auch Öffentlichkeit zu schaffen, wir machen Zeitungsinterviews, Filme und Interviews über unseren Fall und um da drüber aufmerksam zu machen, wie Hanebüchen die Geschichte eigentlich ist. Dass es eigentlich um einen Fall geht, der völlig jenseits von Gut und Böse ist. Der einfach überhaupt keinen Sinn mehr macht, 30–35 Jahre her und nix ist passiert. Aber die Verfolgung läuft genauso wie immer.

– Vielen Dank euch beiden für das Interview. Ich wünsche euch alles Gute und dass die deutschen Behörden ihren Repressionsdrang euch gegenüber beendet.

Foto: Bart Vanzetti privat

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„Wenn ich jetzt an das Erlebte denke, dann kommt es mir vor als wenn ich mich einen Film erinnere. Ich frag mich manchmal ob das alles wirklich so passiert ist“.

Sicherlich hört ihr diese Worte nicht zum ersten Mal. Sie begegnen einem immer wieder, in Büchern mit erdachten Helden oder in Filmen, in welchen Fiktion und Fantasie alles möglich erscheinen lassen. Sind sie aber Abbild der Realität, bekommen sie, wenn man kurz innehält und darüber nachdenkt, eine bleiern schwere Bedeutung.

Heval Rubar ist als kleiner Junge mit seiner Mutter Ende der 80er Jahre aus Nordkurdistan nach Deutschland gekommen. Sein Vater hatte hier zuvor Arbeit gefunden. 25 Jahre später führt Rubars Weg zurück nach Kurdistan. Der IS ist auf dem Vormarsch. Den Kochlöffel tauscht er gegen die BKC. Serviert werden nun 7,62 mm.


LowerClassMagazine: Kobanê ist das Symbol des Widerstands gegen den IS schlechthin. Als die Offensive des IS gegen die kleine Stadt begann, die einer der Ausgangspunkte der Rojava Revolution 2012 war, berichtete auf einmal die ganze Welt über den Kampf der Kurdinnen und Kurden. Wie hast du die damalige Situation wahrgenommen?

Heval Rubar: Zu dieser Zeit habe ich in einem Restaurant in Deutschland gearbeitet. Die Gräueltaten des IS habe ich dann im Fernsehen gesehen. Ich habe gesehen, dass der IS immer mehr Städte eingenommen hat und nach Shengal gegangen ist. Tausende Menschen wurden dort getötet und Frauen die Köpfe abgeschnitten. Das habe ich im Internet gesehen und das hat mir weh getan. Daraufhin habe ich überlegt und mir gesagt, dass wir irgendwann alle sterben, für etwas Schönes zu sterben, das könne jedoch nicht jeder. Meine Entscheidung stand damit fest, nach Shengal gehen zu wollen und gegen diese Bedrohung für die ganze Menschheit zu kämpfen. Die Freunde, denen ich meinen Wunsch mitgeteilt habe, zu gehen und zu kämpfen, wollten mich eigentlich in die Berge schicken. Später sollte ich dann politische Arbeiten in Deutschland führen. Für mich stand aber fest, dass ich kämpfen wollte. Meinem damaligen Chef habe ich gesagt, dass ich mir Urlaub nehme. Die Tage, die mir bis zur Abreise geblieben sind, hab ich in dem Dorf verbracht, wo meine Eltern und ich lange gelebt haben. Dort habe ich noch einmal ihre Gräber auf dem Friedhof besucht. Vier Tage später war ich schon in der Stadt Urfa. Ein paar Tage musste ich in Nordkurdistan, in Urfa, warten, bis ein Weg nach Kobanê offen war. Wir waren zu siebt, zwei aus Deutschland, drei aus Frankreich. Von diesen sieben Freunden sind drei im Kampf gefallen und drei sind zurück nach Europa gegangen. Eigentlich sind wir nur zum Helfen gekommen und wollten danach wieder zurück.

Wie war das Gefühl als du in Kobanê angekommen bist? Wie können wir uns die damalige Situation dort vor Ort vorstellen?

Bevor wir an die Front gegangen sind, haben wir erst einmal 40 Tage lang militärische Ausbildung gesehen. Zu dem Zeitpunkt war kein Weg nach Shengal offen. Die Ausbildung war noch nicht ganz fertig, als der Angriff des IS auf Kobanê begonnen hat. Das erste, was ich mir dann in Kobane gedacht habe, war ‚Oh Gott sind wir arm‘. Die dort erlebte Freundschaft hat mich aber direkt von Herzen berührt.

Zunächst sind wir zur Front in das Dorf Şêxler gegangen. Hinter der Frontlinie haben wir immer direkt zwei Dörfer geräumt, damit sich das, was in Shengal passiert ist, nicht noch einmal wiederholt. Ich selbst war BKC-Schütze in einem ‚Haraketli Tabur‘, eine bewegliche Einheit. Wir wurden immer dorthin geschickt, wo es zu Gefechten gekommen ist. Şehîd Arîn Mîrkan war in derselben Einheit.

Mahmud Berxwedan (Binefs) war zu dieser Zeit der verantwortliche Kommandant in Kobanê. Nachdem wir uns zurückgezogen hatten, hat er zu uns gesagt, dass wir uns etwas ausruhen sollen. An der Front hatten wir ja keine Möglichkeit uns zu rasieren, keine Dusche und kein richtiges Essen. Wir haben unsere Kleidung gewaschen und uns circa eine Stunde ausgeruht. Unsere Kleider waren immer noch nass, als Mahmud Berxwedan wieder zu uns gekommen ist. Wir müssen sollten uns schnell bereit machen, da der IS nach dem Freitagsgebet einen Angriff plane. Wie befürchtet kam es am Freitag zu einem großen Angriff. Es waren wirklich ganz viele. Wie Ameisen haben sie ausgesehen. Sie sind auf uns zu gerannt und haben “Tekbir Allahu Ekber” geschrien. Wir waren zu dritt, ich, ein RPG Schütze und ein weiterer Freund. Wir hatten an der ersten Linie unser Mewzî, unsere Stellung. Zwischen mir und dem Mewzî, in dem der Freund mit dem Raketenwerfer lag, war ein Abstand von 50 Metern. Nachts wollte der IS vorstoßen. Mit mir war ein Junge, der augenscheinlich etwas Angst gehabt hat. Er meinte, er gehe mal kurz schauen, wo denn der Feind bleibe. Dann war er weg.

Gerade an diesem Tag hatte ich meine Kalaschnikow und meine Rext, die Weste mit Magazinen, nicht dabei gehabt. Die Freunde meinten nämlich, dass ich so beweglicher wäre und schneller rennen könne. Insgesamt waren wir nicht gut ausgestattet. Unsere Pistolen waren alt, wie hatten keine Kugeln und wir mussten von den getöteten Feinden die Waffen nehmen. An diesem Tag hatte ich nur noch eine Granate dabei.

Mein Mewzî hatte ich aus umliegenden Steinen errichtet. Vorne war ein kleines Loch, um daraus mit der BKC schießen zu können. Der Platz war sehr gut. Dann kam der IS mit Allahu Ekber und ich hab angefangen mit der BKC zu schießen. Ich glaube, dass ich in dieser Nacht viele von ihnen getötet habe. Viel konnte ich aufgrund der Dunkelheit nicht sehen. Vielleicht habe ich auch niemanden getroffen (lacht). Als mir die Patronen ausgegangen sind habe ich mit meiner Pistole weitergekämpft. Irgendwann hat sich aber eine Patrone verkeilt. In dieser Dunkelheit konnte ich höchstens 6-7 Meter weit sehen. Als ich mich umgeschaut habe, musste ich feststellen, dass zwei IS Leute mit einem Raketenwerfer auf mich zulaufen. Ihre Schüsse haben mich zum Glück verfehlt. Das Feuer haben sie dann eingestellt, da sie mich lebend wollten, um meinen Kopf abzuschneiden. Daraufhin habe ich meine einzige Granate genommen, den Stift gezogen und sie an meinen Brustkorb gedrückt. Im Bruchteil einer Sekunde habe ich mich aber noch umentschieden und die Bombe in Richtung der Stimmen geworfen. Nach der Explosion war es leise. Ich muss ziemliches Gück gehabt haben. Über Funk wurde mir dann gesagt, dass ich mich zurückziehen soll. Die 500 Meter zu unserer neuen Linie bin ich dann teilweise gerannt, teilweise auf dem Boden gekrochen. Meine Arme und Beine waren danach blutig. An diesem Tag hatten sie es nicht mehr geschafft unsere Stellung zu nehmen.

Wie ging es danach weiter? Die Stadt Kobanê ist ja mehr und mehr in eine Umzingelung geraten.

Erst einmal ist um 9 Uhr am nächsten Morgen Essen gekommen. Außer Mandarinen und Brot gab es aber nichts. Nachdem ich eine Mandarine und etwas Brot gegessen habe, ist eine Freundin auf mich zu gekommen und meinte zu mir, dass ich zusammen mit Heval Silava in ein vorgelagerte Stellung gehen soll. Von der letzten Nacht war zwar meine ganze Kleidung blutig, aber alle Kugeln hatten mich verfehlt. Die Freunde meinten deshalb, dass ich wieder in die vorgelagerte Stellung gehen solle, weil die Kugeln mich eh nicht treffen würden. Insgesamt hatten wir in der Stadt drei Verteidigungslinien aufgebaut. Als der Angriff des IS losging, sind sie direkt mit drei Panzern, mit schweren Dotschka-Maschinengewehren und dahinter zu Fuß auf uns zugerannt. Heval Silava hat eine Rakete aus der RPG geschossen, der Schuss ging aber leider daneben.

Unsere Stellung am Mishtenur Hügel war nicht länger zu halten. Ich und Heval Silava wollten uns aus dem Gebäude zurückziehen. Weit sind wir nicht gekommen, nach wenigen Metern mussten wir uns fallen lassen. Nun wurde auch von hinten auf uns geschossen. Die Feinde waren in das Stadtviertel Kaniya Kurda, das in unserem Rücken lag, eingedrungen. Beim Sprung hinter eine Mauer, hat mich eine Kugel an der linken Hüfte getroffen und ist an der Schulter wieder ausgetreten. Heval Silava wurde auch getroffen. Wahrscheinlich waren das Scharfschützen. Die IS-Kämpfer waren daraufhin nur fünf Meter von uns entfernt. Sie hätten uns in dieser Situation mit Leichtigkeit töten können, aber sie wollten uns lebend gefangen nehmen, um uns dann zu enthaupten. Mit dieser Methode sollte unsere Moral und unsere Psyche zerstört werden.

Unserer Kommandantin Heval Medya gelang es, sich zu uns durchzuschlagen. Sie rief uns zu, dass wir aufstehen und rennen sollten. Ich war dazu außerstande und bin eingeschlafen. Vor meinem inneren Auge habe ich Weizenfelder gesehen über denen ich geflogen bin, was sehr sehr schön war (pfeift leise). Dann bin ich wieder aufgewacht, auf dem Rücken von einem Freund. Ich wurde zu einer Ambulanz gebracht. Dort wurden mir die ganze Zeit Backpfeifen gegeben, damit ich nicht einschlafe. Ich und ein weiterer Freund mussten aufgrund der Schwere unserer Verletzungen zur Behandlung nach Urfa gebracht werden. Auch dort konnten sie mich nicht versorgen, da sich mittlerweile zu viel Blut im Oberkörper gesammelt hatte. Es hieße, ich müsse nach Amed gebracht werden. Ich war nicht in der Lage zu sprechen. Die Worte vom Arzt konnte ich aber ganz klar hören: “Vielleicht wird er überleben”. Mehrere Stunden hat die Fahrt mit dem Rettungswagen nach Amed gedauert. Währenddessen bin ich weggetreten….

…. Erst vier Tage später hab ich meine Augen im Krankenhaus wieder aufgemacht, ich lag also im Koma. Nach 12 Tagen mussten mich die Freunde aus dem Krankenhaus holen, weil die türkische Polizei in den Krankenhäusern auf der Suche nach verletzten Freunden war. Illegal bin ich dann wieder über die Grenze nach Derik gebracht worden, wo ich einen Monat Kräfte sammeln konnte. Danach ging es wieder nach Kobanê.

In Kobanê war in der Geschichte der Freiheitsbewegung Kurdistans eine wesentliche Erfahrung. Wenige Organisationen der Region haben solch eine Praxis im Städtekrieg entwickeln können. Kannst du uns schildern wie die Kriegsführung in Kobane ausgesehen hat?

Wir mussten Tag und Nacht kämpfen. Ich erinnere mich noch genau an die Kälte. Fast alle Freunde waren verwundet. Ein Freund hatte beispielsweise Maden in seiner Wunde und auch meine Wunde war sehr schwer entzündet. Einmal am Tag hat sich ein Arzt unsere Verletzungen angeguckt. Wir haben trotzdem weiter gekämpft. Stück für Stück ist es uns gelungen, den IS aus der Stadt heraus zu treiben, wodurch sich die Kämpfe wieder auf die Dörfer verlagert haben. Zur Verteidigung der Stadt sind Menschen aus allen Teilen Kurdistans nach Rojava gekommen. In meinem Taxim waren auch türkische Internationalisten von sozialistischen und kommunistischen Organisationen. Vor Ort habe ich auch zwei kurdische Frauen kennengelernt, die aus Europa nach Kobanê gekommen sind und dort gefallen sind. Es ist dabei auch Realität, dass manche an die Front gekommen und dort direkt gefallen sind, ehe sie überhaupt ein Glas Wasser in der Stadt getrunken haben.

Die Bilder von Şehîd Arîn Mîrkan sind mir noch klar im Kopf. Sie hat sich in die Luft gesprengt hat, um den Vormarsch des IS zu stoppen. Neben ihr haben sich noch andere FreundInnen aufgeopfert. Ein anderer Freund, der später in Raqqa gefallen ist, hatte in einer Situation bereits den Stift aus seiner Handgranate gezogen und dann festgestellt, dass sich nicht Feinde, sondern FreundInnen nähern. Mit seiner Hand hat er die Granate dann so fest umschlossen, dass die anderen von uns keine Schrapnells abbekommen. Er aber hat seinen Unterarm durch die Explosion verloren. Ein anderer Freund, dessen ganze Schädeldecke durch eine Kugel aufgerissen worden war, hat nur mit einem Tuch verbunden weitergekämpft. Später ist er auch im Kampf gefallen. Insgesamt kann man sagen, dass wir alle sehr große Hoffnung hatten und in jedem Moment diese tiefe Freundschaft gespürt haben. Wir wussten für was wir sterben würden.

Den Islamischen Staat stellen sich viele Menschen auf der Welt als ‚das Böse‘ schlechthin dar. Wie hast du den IS ‚von Angesicht zu Angesicht‘ wahrgenommen.

Einen anderen Tag haben wir furchtbaren Lärm und „Tekbir – Allahu Ekber“ Schreie gehört. Wir dachten, dass das bestimmt tausende von denen sein müssen. Gesehen haben wir aber nur einen, den wir dann niedergeschossen haben. Erst dann haben wir festgestellt, dass er sich einen Lautsprecher auf den Rücken geschnallt hatte. Die IS Kämpfer waren nicht dumm und sie haben auch nicht schlecht gekämpft. Ich selbst hatte, bevor ich nach Kobane gekommen bin, keine Ahnung von Krieg. Das was ich wusste habe ich vorher durch das Anschauen von Kriegsfilmen gelernt. In der 40 tägigen Ausbildung haben wir gelernt wie man schießt. Das meiste habe ich im Krieg selbst gelernt. Wenn beispielsweise ein Freund oder eine Freundin neben mir waren, die bereits Erfahrung aus dem Guerillakrieg in den Bergen hatten, hab ich immer nachgefragt. Auch von IS Kämpfern habe ich mir abgeschaut, wie sie sich bewegen und wo sie in Deckung gehen. Wenn du überleben willst, dann musst du deinen Kopf benutzen und schnell lernen. Im Städtekrieg bewegt man sich von Haus zu Haus, indem man mit Vorschlaghämmern Löcher in die Wände schlägt. Das hat der IS natürlich zeitgleich auch gemacht. Wer es zuerst in einen Raum geschafft hat, der hat überlebt.

Der Sieg in Kobanê jährt sich nun zum 10. mal. Kobane ist zu so etwas wie einem modernen Mythos geworden. Welche Auswirkungen hat der Kampf für dich persönlich gehabt? Was hat sich nach dem Sieg von Kobanê für das Kurdische Volk geändert?

Ich bin ja eigentlich nicht für das kurdische Volk nach Kobanê gekommen, sondern für Shengal und die Menschheit. Wenn du die Freundschaft im Krieg erlebst und du siehst, wie sich jemand für einen anderen Freund und vor eine Kugel wirft, dann vergisst du das dein Leben lang nicht. Erklären kann ich das Gefühl nicht so gut, das muss man selbst erlebt haben. Mit dem Kriegseintritt der Internationalen Anti-IS Koalition hat sich die Lage natürlich verändert und wir hatten nicht mehr das Gefühl, komplett alleine dazustehen. Als die Flugzeuge angefangen haben, die Stellungen des IS zu bombardieren, hab ich zum Spaß gesagt, dass wir von jetzt an gut schlafen können. Natürlich war das nicht so. Im Krieg waren wir froh, wenn wir in der Nacht mal 1-2 Stunden die Augen zu bekommen haben.

Kobanê war von seiner Bedeutung wie Stalingrad. Du weißt, dass du für was kämpfst und das erfüllt dich mit Stolz. Unsere eigenen Gefallenen haben wir immer versucht zu bergen. Manchmal sind dafür vier oder fünf FreundInnen gefallen. Ich kann mich noch erinnern, dass unsere Einheit zwei FreundInnen bergen wollte. Ein Team ist losgegangen und sieben FreundInnen sind gefallen. Der IS hatte dort eine Mine platziert. Eine zweite Gruppe ist daraufhin losgegangen und 12 FreundInnen wurden verletzt. Erst als Flugzeuge der Koalition gekommen sind und lauter Staub nach der Bombardierung in der Luft war, konnten wir unsere Gefallenen bergen.

Beim IS war das etwas anderes. Wenn ein normaler Kämpfer getötet wurde, war das denen egal. Einmal haben wir aber einen Emir erschossen. Die IS Kämpfer sind wie Verrückte unter unserem Feuer zum Emir gerannt, um ihn vom Boden aufzuheben. Bestimmt 250-300 von denen sind dabei gestorben. Irgendwann sind uns die Kugeln ausgegangen und dann haben wir nicht weiter geschossen.

In zahlreichen Revolutionen in der Geschichte blieb das Kriegshandwerk Sache der Männer. Frauen wurde untersagt sich daran zu beteiligen. Im Gegendatz dazu wird die außerordentliche Rolle von Frauen in der Verteidigung Kobanes oft hervorgehoben. Wie hast du die Rolle von Frauen im Krieg wahrgenommen?

Diese Frage ist sehr wichtig. An unserer Seite haben sehr viele Frauen gekämpft. Die Wahrheit ist, dass die meisten Frauen besser als wir Männer gekämpft haben. Dadurch, dass sie an unserer Seite gekämpft haben, haben auch wir mehr Kraft bekommen. Wenn du neben einer Frau gekämpfst, dann empfindest du Stolz. Ich habe ja davon erzählt, dass als ich mit Heval Silava in der Stellung war. Damals hatte sie zuerst gesagt, dass sie den anrückenden Feind mit ihrer RPG beschießt. In der Situation konnte ich natürlich nicht sagen, dass ich Angst hatte. Stattdessen hab ich dann gesagt: „Ich schieße auch mit“.

In der Verteidigung von Kobanê haben die Frauen wirklich eine große Rolle gespielt. Auch der IS hat große Angst vor den Frauen gehabt, gerade bei ihrem „tilili“ Schlachtruf. Die Frauen waren stärker als Männer und sie waren immer an vorderster Linie. In meinem vorherigen Leben in Deutschland habe ich Frauen anders gesehen. Beispielsweise meine Mutter und meine Schwester, die sich immer um die Kinder kümmern und Essen machen sollten. Wenn du siehst, dass Frauen zweimal so stark wie Männer kämpfen, dann verändert das natürlich ein solches Weltbild. Ich könnte noch viel mehr davon erzählen, wenn man es aber nicht selber erlebt hat, dann kann man sich das nur schwer vorstellen.

Was willst du unserern Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?

Der Widerstand von Kobanê war ein Stich ins Herz vom IS und genauso ins Herz der Türkei. Die berüchtigsten Kämpfer und Kommandanten vom IS sind in Kobanê getötet worden. Diese Kräfte wollen daher immer noch Kobanê einnehmen. Der IS hat seinen Fehler eingesehen, zuerst versucht zu haben Kobanê vor dem Rest Syriens einzunehmen. Mit solch einem Widerstand hatte niemand gerechnet. Gerade besteht aber die Gefahr, dass versucht wird, Kobanê zu umzingeln, indem von der Karakozak Brücke und Ain Issa angegriffen wird. Jedes Kind hier weiß aber, dass in Kobanê die Menschheit verteidigt wurde. Wenn Kobanê gefallen wäre, dann hätte den Vormarsch des IS keiner stoppen können.

Jedes eingenommene Dorf hat für den IS zehn neue Kämpfer bedeutet, jede Stadt hundert. Die Zahl der Kämpfer ist also stetig gewachsen. In den Dörfern, die wir befreit haben, habe ich einen IS Kämpfer gesehen, der nicht einmal eine Pistole hatte und auf Badelatschen gelaufen ist. Vier Kugeln von mir hatten ihn getroffen, er ist trotzdem „Allahu Ekbar“ schreiend auf uns zu gerannt. Erst nachdem ihn die fünften Kugel in den Kopf getroffen hatte, ist er in sich zusammengesackt. Bei der Durchsuchung haben wir eine Spritze und Drogen gefunden. Das war bei sehr vielen IS-Kämpfern so. In einem Gefecht an der Karakozak Brücke haben wir 17 Kämpfer aus den Spezialeinheiten von IS getötet. Unter ihnen waren Deutsche, Griechen, Chinesen und Afrikaner. Alle waren sehr hochgewachsen und trugen große Dolche bei sich. Bei dem Deutschen haben wir einen Koran auf Deutsch gefunden. Ebenso waren auch Tschetschenen, Kurden und Türken mit dabei. Hätten wir den IS damals nicht in Kobanê gestoppt, dann hätte ihn niemand mehr stoppen können. Ich glaube nicht, dass sie Kobane angreifen. Das liegt nicht nur an unserer Stärke, sondern daran, dass Kobane zu einem Symbol für die Welt geworden ist. In diesem Leben kann aber alles passieren.

Foto: YPGà Kobané4,VOA,C0 via wikimedia

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Seit knapp zwei Monaten greift der faschistische türkische Staat wieder großflächig Gebiete in Rojava an. Diese erneute militärische Operation mit dem Namen „Klauenschwert“ zeichnet sich dabei vor allem durch wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur aus, der revolutionäre Geist Rojavas soll mit allen Mitteln des Spezialkrieges gebrochen werden. Drohnen-Attentate, Flugzeugangriffe und Großflächenbombardements sind in Rojava unlängst wieder zum Alltag geworden. Überdies hat Erdoğan mehrmals mit einer Bodenoffensive bis tief in die Gebiete der Autonomen Selbstverwaltung gedroht. Wir haben mit Kämpferinnen von YPJ-International über ihre Einschätzung der Lage, ihre Gründe vor Ort zu sein und ihren Appell an uns Linke in Deutschland gesprochen. YPJ-International ist eine Einheit aus Frauen und umfasst internationalistische Freiwillige aus verschiedenen Ländern der Welt und ist strukturell an die vielfältigen Verteidigungseinheiten Rojavas angebunden. Das Interview entstand im Dezember 2022.

Warum habt ihr euch entschieden, Teil von YPJ-International zu werden? Werdet ihr auch in Zukunft dort bleiben?

Zunächst wollen wir euch erst einmal für euer Interesse und eure Fragen danken. Es ist wichtig, insbesondere in Zeiten des intensivierten Angriffs miteinander im Austausch zu bleiben und internationalistische Perspektiven aufzubauen.
Die Gründe, sich den Frauenverteidigungseinheiten YPJ anzuschließen, sind vielfältig und oft auch mit persönlichen Erfahrungen verknüpft. Dennoch lässt sich feststellen, dass viele von uns mit dem Leben innerhalb der durch Kapitalismus, Patriarchat und Staat zersetzten Gesellschaft nicht mehr einverstanden waren. In unserer Suche nach Alternativen schien uns die Revolution in Rojava Antworten zu bieten. Viele von uns haben bereits vorher die Analysen von Abdullah Öcalan gelesen und wollten an den Ort, wo nach seinen Ideen eine Revolution entsteht. Insbesondere als Frau liegt es oft nicht nahe sich einer bewaffneten Einheit anzuschließen. Zu groß die Zweifel am eigenen Können, zu fremd das Bild der kämpfenden Frau – auch wenn wir es mit Bewunderung auf Fotos wahrnehmen. Doch wir haben den Schritt gewagt und keine von uns hat ihn bisher bereut. Im Gegenteil, wir lernen uns selbst, die Revolution und den Befreiungskampf der Frauen täglich besser kennen und sind ein Teil davon geworden. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht in erster Linie hier sind, weil die Verteidigungseinheiten auf unsere Unterstützung angewiesen wären. Wir sind hier, weil wir ein Teil der Revolution, ein Teil der Antwort auf den faschistischen Angriff und ein Teil der Hoffnung auf eine freie Welt sein wollen. Einige von uns werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren und dort weiter für die Revolution kämpfen, doch aktuell sehen wir uns einer Offensive entgegen, die keine von uns ans Zurückkehren denken lässt. Wir haben dafür trainiert und uns vorbereitet, an der Seite der Freund*innen, Genoss*innen und der Menschen Nord- und Ostsyriens gegen den türkischen Faschismus Widerstand zu leisten.

Wie bewältigt ihr euren Alltag, euer Leben in der Gemeinschaft in der aktuellen Situation? Hat sich etwas grundlegend verändert? Wie ist eure Stimmung?

Der türkische Staat greift insbesondere die Infrastruktur, also Gas-, Strom-, Wasser- und Kraftstoffanlagen an. Das wirkt sich auf alle, die hier in Nord- und Ostsyrien leben, aus. Als militärische Einheit sind wir auf eine mögliche Bodeninvasion vorbereitet. Es war seit langer Zeit davon auszugehen, dass wir uns eines Tages erneuten Invasionsbestrebungen gegenüber sehen werden und die Revolution verteidigen müssen. Wir müssen jedoch feststellen, dass Rojava auch vor dem 19. November im Kriegszustand war, wenn auch in einem Krieg niederer Intensität. Einige Freundinnen sind nun an die Front gegangen, andere konzentrieren sich auf medizinische Notversorgung oder Pressearbeiten. In einer Situation wie dieser steigt natürlich das Arbeitslevel nochmal an und es entsteht auch mal Stress. Aber durch unsere Prinzipien und eine gemeinsame Planung und Bewältigung des Alltags können wir uns immer gegenseitig unterstützen und aufeinander achten. Die Stimmung ist kämpferisch.


Was bereitet euch am meisten Sorge und was sind eure Ängste? Was gibt euch Hoffnung und Moral?

Niemand von uns will Krieg, denn Krieg bedeutet immer Leiden, insbesondere für die Bevölkerung. Doch im Falle eines Angriffes, wie diesem, sind wir bereit die Revolution und die befreiten Gebiete zu verteidigen – bis zum letzten Blutstropfen. Wir können auf unsere eigene Stärke und ebenso auf die Freundinnen neben uns vertrauen. Das gibt uns Mut. Hoffnung ist kein sich ohne dein Zutun einstellender Zustand. Hoffnung ist immer eine Entscheidung. Solange wir also hoffen, solange kämpfen wir und solange lassen wir nicht zu, dass das faschistische System Angst in unseren Herzen sät. Das System des Nationalstaats hat uns gelehrt, dass es keine Alternative gäbe und dass wir nichts an all dem Leid, der Gewalt und Unterdrückung ändern könnten. Also ist Hoffnung auch Widerstand gegen eine Lüge, die dir Fesseln anlegt und dich zum Stillstand bringt.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage vor Ort ein und die Androhung des türkisch-faschistischen Staates von einem erneuten Einsatz von Bodentruppen? Denkt ihr, dass es dieses Mal um den Fortbestand oder die Zerschlagung der Revolution geht?

Wir nehmen die Androhung einer erneuten Invasion durchaus ernst und bereiten uns darauf vor. Die Angriffe des türkischen Staates sind nicht als bloße Landbesetzungsversuche zu werten. Es geht um einen Genozid, um die Vernichtung des kurdischen Volkes sowie all der Menschen, die hier in Frieden und Freiheit nach dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus leben wollen. Wir befinden uns in einer Phase des Kampfes um das Sein oder Nicht-Sein. Nachdem Erdoğan in den Bergen Kurdistans empfindliche Rückschläge erlitt, scheint er es nun erneut in Rojava probieren zu wollen. Es gibt für ihn nur die Möglichkeit des Krieges, eine andere Lösung käme ebenso seiner Vernichtung gleich wie eine militärische Niederlage. Der heldenhafte Widerstand der Freundinnen und Freunde in den Bergen Kurdistans hat ihn noch mehr in die Enge getrieben. Die vielfältigen grausamen und völkerrechtswidrigen Mittel, zu denen er vergeblich greift, um den Widerstand zu brechen, zeigen wozu er bereit ist. In Nord- und Ostsyrien greift der türkische Staat insbesondere auf islamistische Schläferzellen und Söldnertruppen zurück. Damit verfolgt er die Strategie, die Revolution an möglichst vielen Fronten anzugreifen und zu schwächen. Es wurden in den letzten Wochen sowohl gezielt Sicherheitskräfte, die für die Bewachung IS-Gefangener zuständig waren, bombardiert als auch sogenannte IS-Schläferzellen aktiviert.

Wie schätzt ihr die Drohnenangriffe auf Vertreter*innen der Internationalen Anti-IS Koalition und die ausbleibenden Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ein?

Es ist nicht möglich für den türkischen Staat in den syrischen Luftraum einzudringen, ohne dass die Koalitionsmächte und Russland davon erfahren. Die Angriffe waren abgesprochen und zielten darauf, unsere Kräfte vor Ort zu treffen. Gerade hier zeigt sich das Gesicht unseres wahren Feindes – des Systems des kapitalistischen, imperialistischen Nationalstaats. Die Türkei ist ein wichtiger Teil dieses Systems, wohingegen die Revolution eine Bedrohung für dieses darstellt. Dementsprechend wollen wir nicht auf direkte Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft bauen. Doch sollte der Welt bewusst sein, dass mit den Angriffen des türkischen Staates auch der weltweit gefürchtete Islamische Staat, der durch unsere Verteidigungseinheiten besiegt wurde, wieder erstarkt. Immer noch sind zehntausende IS-Terroristen und Terroristinnen in unseren Händen, unter ihnen auch Tausende aus Europa und den USA. Eine unserer Missionen gegen Untergrundbewegungen des IS mussten wir bereits auf Grund der Angriffe stoppen. Sollte die Situation sich zuspitzen, wird es immer schwerer werden all die Gefangenen sicher zu verwahren.

Wie bewertet ihr die Aussage der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), fest an der Seite der Türkei im „Kampf gegen Terrorismus“ zu stehen und die Rolle Deutschlands im Krieg gegen die Revolution von Rojava generell?

Der deutsche Staat und der türkische Staat sind historisch eng miteinander verbunden. Die beiden Staaten verfügten immer über weitgehende diplomatische, wirtschaftliche, militärische aber auch ideelle Verbindungen. Das türkische Militär wurde maßgeblich durch deutsche Soldaten ausgebildet und die Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung aufgebaut. Mustafa Kemal Atatürk galt Hitler als großes Vorbild. Der Aufstand von Dersim 1937 wurde durch deutsches Giftgas niedergeschlagen. Heute wird Cyanwasserstoff (Blausäure, Anmerk. d. R.) gegen die Guerilla eingesetzt. In Deutschland ist diese Chemikalie besser bekannt unter dem Namen Zyklon B. Auch in dem Kampf gegen das kurdische Volk und die Befreiungsphilosophie Öcalans stand die BRD immer an der Seite des türkischen Staates. Als Innenministerin erhält die Sozialdemokratin Nancy Faeser eine Politik der Verfolgung und Kriminalisierung kurdischer und internationalistischer Kämpfe aufrecht. Die Arbeiterpartei PKK und ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan werden als terroristisch eingestuft. Die Solidaritätsbewegung Rojavas als auch Gruppen, die das System des demokratischen Konföderalismus als ihre Grundlage betrachten, werden Repressalien ausgesetzt. Der erste Bericht der Tagesschau zu den türkischen Angriffen war mit Aufnahmen aus dem türkischen Verteidigungsministerium gespickt. Dabei wurde gezeigt, wie Drohnen 12 Zivilist*innen ermordeten. Kurzum: Machen wir uns nichts vor, der türkische und der deutsche Staat bilden eine Einheit und sind Feinde unserer Befreiungskämpfe. Doch umso mehr müssen wir uns bewusst werden, dass auch die revolutionären und widerständigen Kämpfe der kurdischen und türkischen Menschen mit denen in Deutschland verbunden sind. Nur wenn wir unsere Bewegung als eine gemeinsame internationalistische Revolution begreifen, können wir uns erfolgreich wehren.

Wie beurteilt ihr die aktuelle Kriegssituation hinsichtlich der Angriffe und des Widerstands in Rojhlat (Ostkurdistan) und dem Iran?

Der Widerstand in Rojhilat und dem Iran zeigt uns, dass die Revolution der Frauen im 21. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten ist. Dass der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ dabei weltweit an Stärke gewann und Frauen dazu ermutigte gegen ihre Fesseln anzukämpfen, zeigt erneut, dass die Revolution in Kurdistan nicht nur für das kurdische Volk oder den Mittleren Osten eine entscheidende Rolle einnimmt. Diese Revolution ist eine Internationalistische, was bedeutet, dass ihre Philosophie auf der gesamten Welt Perspektiven auf eine Befreiung von Unterdrückung ermöglicht.

Nehmt ihr einen Unterschied in der Motivation/ Kraft/ Moral der Bewegung wahr im Vergleich zu 20152018 oder 2019?

Nach dem Besatzungsangriff gegen Serêkaniyê und Gire Spî intensivierte der türkische Staat Drohnenangriffe, die gezielt führende Personen der Revolution töteten. Allein in diesem Jahr sind mindestens acht YPJ-Kämpferinnen, darunter erfahrende Kommandantinnen, im Kampf gegen den IS durch Drohnenangriffe getötet worden. Außerdem wurden wichtige Vertrauenspersonen, Politiker*innen und Menschen mit gesellschaftlichen Aufgaben aus den zivilen Gebieten gezielt exekutiert. Erdoğan will der Gesellschaft dadurch gezielt ihre Vorreiter*innen nehmen. Die Ausweitung der angewandten Kriegsmethoden macht sich bemerkbar. Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren mussten wir uns auf die neue Art der Angriffe einstellen und dementsprechend andere Vorkehrungen treffen. Was dem türkischen Staat jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist mit diesen Methoden die Bevölkerung von der Revolution zu entfernen. Im Gegenteil, als die Angriffe seit dem 19. November intensiviert wurden, sind viele ehemalige YPG- und YPJ-Kämpferinnen, die aus unterschiedlichen Gründen die militärischen Einheiten verlassen hatten, wieder zurückgekommen. Das politische Verständnis innerhalb der Bevölkerung über das Ziel dieser Methoden, ist sehr hoch und noch höher ist die Entschlossenheit, sie ins Leere laufen zu lassen. Der Fortschritt in der Organisierung der Zivilgesellschaft, im Vergleich zu den Jahren zuvor, ist spürbar. Kommunen, Räte, Initiativen und Vereine geben täglich Erklärungen ab, die ihre Verbundenheit mit den YPJ/YPG und SDF (Syrian Democratic Forces, Anmerk. d. R.) ausdrücken. 
Gerade dadurch, dass die Angriffe so stark gegen die Bevölkerung gerichtet werden, entwickelt sich dort ein ungemeiner Kampfgeist und Wille. Über die Jahre haben wir an Erfahrung gewonnen, die wir teils schmerzlich bezahlen mussten, etwa mit dem Verlust Efrîns und Serêkaniyês. Insbesondere im Kampf innerhalb der Städte gegen eine gut ausgestattete NATO-Armee mit dschihadistischer Unterstützung am Boden haben wir uns weiterentwickelt. Es wurde aus Fehlern und Kritiken gelernt, so dass sich nun besser auf die aktuelle Lage angepasst werden kann.

Nehmt ihr die Proteste in Deutschland gegen die Angriffe auf Kurdistan wahr?

Auf jeden Fall. Die weltweiten Proteste werden in den Abendnachrichten im kurdischen Fernsehen gezeigt. Es gibt uns sehr viel Hoffnung und Stärke unsere Freund*innen und Genoss*innen Zuhause zu sehen. Manchmal erschreckt es uns aber auch, wenn z.B. in Berlin nur etwa 20 Personen an einer Kundgebung teilnehmen. Dennoch, jede Aktion ist ein Ausdruck der Solidarität und ebenso ein Teil des Kampfes, wie unsere Arbeiten hier vor Ort.

Was wollt ihr den linken, feministischen Kräften in Deutschland sagen? Was kann aus eurer Sicht hier in den Zentren der Rüstung gegen den Krieg getan werden?

Wie bereits oben erwähnt, freuen wir uns über jegliche Form von solidarischen Aktionen. Doch Internationalismus bedeutet nicht fremde Kämpfe zu unterstützen, sondern vielmehr sich als Teil des Kampfes, als Teil eines revolutionären Prozesses zu begreifen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet. Deswegen ist es wichtig, sich mit der Idee, der Philosophie dieser Revolution auseinander zu setzen, eine eigene militante Persönlichkeit aufzubauen und sich, insbesondere als Frauen gemeinsam zu organisieren. Statt uns zu spalten, Hoffnungslosigkeit zu verbreiten und im Individualismus zu versinken, müssen wir insbesondere in Deutschland wieder eine kämpferische Bewegung werden, die um ihre Geschichte weiß und Antworten auf die Probleme der Gesellschaft geben kann. Wie Şehîd Bager Nûjiyan sagte: „Den härtesten Kampf führst du immer gegen dich selbst.“

Auch wollen wir dazu aufrufen, nach Rojava zu kommen und sich uns hier anzuschließen, um zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Neben den Verteidigungseinheiten könnt ihr euch auch an Arbeiten in der Jugend, Gesellschaft, Jineolojî sowie an Frauen-, Kultur-, Presse- und Gesundheitsarbeiten beteiligen. Gerade wegen der engen Verbundenheit zwischen dem deutschen und den türkischen Staat ist es notwendig, dass die Komplizenschaft mit dem faschistischen AKP-MHP Regime der Türkei aufgedeckt wird. Wir glauben, dass es viele verschiedene Formen gibt dies zu tun und appellieren an euch, jetzt den Druck von unten und auf der Straße zu verstärken. Wir wissen, dass der türkische Staat den Zeitpunkt für die aktuelle Operation gegen Rojava nicht zufällig gewählt hat. Fussball-WM und der Krieg in der Ukraine sind für Erdoğan gute Ablenkungsmöglichkeiten. Auch haben wir beobachtet, dass den Angriffen hier nicht die nötige Aufmerksamkeit in der BRD zukommt. Wir glauben, dass es die dringende Aufgabe einer sich als internationalistisch verstehenden Linken in Deutschland sein muss, der Bevölkerung ins Gedächtnis zu rufen, was hier gerade passiert und entsprechende Personen in Wirtschaft und Politik dafür zur Verantwortung zu ziehen. Genauso wie die Verteidigungseinheiten der YPJ/YPG alles geben, um das historisch einmalige revolutionäre Projekt staatenloser Radikaldemokratie als Wert der ganzen Menschheit zu verteidigen, müssen Linke in Deutschland ihrer Verantwortung nachkommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den Krieg zu stoppen. Wir glauben, dass die Möglichkeiten hierfür noch lange nicht ausgeschöpft sind. Zudem kommt es aktuell wieder zu einer verstärkten Reorganisierung des Islamischen Staats. Leider beobachten wir, dass in Europa islamistische Gruppen nach wie vor kaum als Gegner im antifaschistischen Kampf verstanden werden und es immense Schwachstellen in Bezug auf Recherche, Aufklärung und Aktionen gibt. Es muss uns bewusst sein, dass der IS in Europa sowohl massenhaft Ressourcen sammelt, als auch Kämpfer rekrutiert. Die Menschen hier vor Ort sind bereit, ihr Leben für die Verteidigung der Frauenrevolution aufs Spiel zu setzen. Wir erwarten daher, dass unsere Genoss*innen in der BRD die Wichtigkeit von Rojava verstehen und ihr Handeln als eine historische Verantwortung begreifen, vor allem all denjenigen gegenüber, die ihr Leben für den Traum einer freien Gesellschaft gegeben haben.

Şehîd namirin

#Gastbeitrag AK36

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Gastbeitrag von WJAS

Seit dem 19.11.2022 greift die türkische Regierung erneut die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien mit Artillerie, Drohnen und Luftschlägen an. Es ist das erste Mal, dass die militärischen Angriffe der Türkei das gesamte selbstverwaltete Gebiet auf einmal betreffen und dass flächendeckend zivile Ziele und kritische Infrastruktur attackiert werden. Präsident Erdogan droht zudem offen mit einer Bodenoffensive. 

Wir – das Europa Komitee der Stiftung der Freien Frau in Syrien (Weqfa Jina Azad a Sûrî, kurz: WJAS) – sind mit unseren Partnerinnen der Stiftung WJAS in Nord- und Ostsyrien durch Videocalls und Messenger-Nachrichten in Kontakt und verfolgen wütend, entsetzt aber auch beeindruckt von der Stärke der Frauen und der kurdischen Bewegung, das Geschehen vor Ort und den Widerstand der Menschen. 

Berichte aus erster Hand 

Wir sprechen mit S., die die Stiftungsarbeiten von Qamişlo aus koordiniert. „Die Arbeiten gehen trotz massiver militärischer Anschläge weiter, wo immer es möglich ist“, berichtet sie.

„Weil zunehmend zivile Strukturen wie Schulen, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke etc. angegriffen werden, ist die Lage besonders gefährlich und die Gebäude der Stiftung werden nur noch wenig genutzt, da sie potentielle Angriffsziele darstellen. Stattdessen wird die Arbeit nach draußen verlagert und dezentralisiert.“ 

Sie erzählt, dass einige Projekte in den Gegenden liegen, die direkt unter Beschuss stehen. Im Al Hol und im Roj-Camp beispielsweise, mussten die Arbeiten temporär ausgesetzt werden, aktuell laufen sie bereits weiter (Stand: 11 Dez. 2022). In Kobanê mussten aus dem Waisenhaus, das dort von der Stiftung betrieben wird, 30 Kinder evakuiert werden. Die mobile Klinik, ein gemeinschaftliches Projekt der Stiftung und der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V., die in den Dörfern um Derik herum eine medizinische Basisversorgung für Frauen und Kinder anbietet, musste ebenfalls vorübergehend ihre Arbeit einstellen.

Direkte Arbeit mit der Zivilbevölkerung und das Nothilfeprojekt

S. berichtet konzentriert über das Nothilfeprojekt, das vor einigen Monaten ins Leben gerufen wurde. Es wurde bereits im Vorfeld begonnen, Ersthelfer*innen in medizinischen Sofortmaßnahmen zu schulen, damit sie im Angriffsfall verletzten Menschen Erste Hilfe leisten können, denn es gibt überall zu wenig medizinisches Personal. Zu den Lerninhalten gehören Kenntnisse über Brandwunden, Giftgasinhalation und diverse andere Verletzungen. In einigen Orten des Landes wurden Keller vorbereitet und mit Schlafplätzen, Lebensmitteln, Heizmaterialien und medizinischem Material ausgestattet, um so Schutzräume für die Bevölkerung und die Arbeiten der Stiftung zu schaffen.

Die direkte Arbeit mit der Zivilbevölkerung, die ohne Pause und auch unter Kriegsbedingungen weitergeht, beinhaltet zwei Aspekte, erläutert S.: 

  1. Den ideologischen Aspekt: durch Gespräche und Ermutigung aber auch durch das Vorleben vom „weiter machen und nicht aufgeben“ den Menschen beizustehen, die bleiben und ihr Land beschützen wollen oder nicht fliehen können. Dass die Menschen in ihren Städten und in ihren Häusern bleiben, ist ein Akt des Widerstandes, denn eins der Ziele der türkischen Angriffe ist, dass die Menschen ihre Häuser verlassen und so Platz für die türkischen Besatzer und ihre dschihadistischen Milizen zu schaffen.
  1. Den praktischen Aspekt: durch die Ausbildung von Ersthelfer*innen wird den Menschen die Möglichkeit gegeben, in der bedrohlichen Kriegssituation aktiv zu werden und selbst etwas tun zu können, anstatt nur ohnmächtig zuschauen zu müssen. Durch die Bereitstellung und Ausstattung der Keller wird ein Schutzraum zur Verfügung gestellt.

Kritische Infrastruktur und zivile Ziele werden bewusst zerstört

Während unsere Partnerin über ihre Arbeiten mit der Stiftung berichtet, wird es bei ihr im Hintergrund plötzlich dunkel – Stromausfall. Die türkische Regierung bombardiert gezielt Elektrizitätswerke und Stromleitungen, um die zivile Bevölkerung vom Leben abzuschneiden und zum Verlassen ihrer Häuser zu zwingen. Weitere kritische Infrastruktur wird gezielt vernichtet, um den Menschen die Hoffnung zu rauben und den Widerstand zu brechen: Kliniken, Schulen, Getreidesilos, Ölfelder, Kraftwerke, Wasserleitungen. „Doch das ist nicht alles“, erzählt uns S., „Es werden gezielt Camps und Gefängnisse bombardiert, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind. Diesen wird so zur Flucht verholfen. Wir werden also nicht nur durch die Angriffe der türkischen Regierung, sondern auch durch befreite IS-Kämpfer bedroht!“. 

Die Arbeit in den Gesundheitsstrukturen ist gefährlich geworden

Ein weiteres Gespräch führen wir mit M., einer Mitarbeiterin der Stiftung, die in den Gesundheitsstrukturen aktiv ist. Sie arbeitet seit 30 Jahren als Hebamme, koordiniert zudem die Gesundheitsarbeiten der Stiftung, führt Ausbildungen durch und hält Vorträge zu medizinischen Themen. Die aktuellen Kriegshandlungen, insbesondere die Luftschläge belasten sie und ihre Arbeit im Gesundheitssektor sehr. „Das schlimmste ist“, berichtet M, „dass es zum Alltag und zur Selbstverständlichkeit geworden ist, täglich die Zielscheibe von tödlichen Angriffen des türkischen Regimes zu sein.“ Sie vergleicht die andauernden Angriffe mit einem Regen von Bomben der nicht aufhört und der, anders als ein normaler Regen, mit Tod und Trauer von Zivilisten endet. Ihr Alltag und ihre Arbeitsbedingungen sind schwierig geworden. „Die Wege zu den verschiedenen Einrichtungen sind gefährlich, die Straßen sind zum Teil gesperrt, es wurden Autos in die Luft gesprengt, die Sicherheit auf den Straßen ist nicht gewährleistet.“, berichtet M. Trotzdem arbeitet sie an 7 Tagen der Woche – denn Geburten und Notfälle nehmen auf Ausnahmesituationen keine Rücksicht und sie wird gebraucht – jetzt mehr denn je. 

Wir sind beeindruckt von ihrer Ausdauer. „Guckt mal“, sagt sie, „seit 2011 leben wir hier in andauernden Kriegsbedingungen. Und trotzdem haben wir die Hoffnung nicht verloren. Wir wollen hier in unseren Häusern bleiben und weiter in unseren Projekten arbeiten!“. Daher haben sie sich vorbereitet, Medikamente und Materialien gekauft, Keller angemietet. So können Projekte weiterlaufen und Einrichtungen, wie z.B. die von der Stiftung betriebenen Polikliniken weiterhin Patient*innen behandeln. Aber die Vorräte werden nicht ewig reichen. Es ist in der aktuellen Situation schwierig Medikamente zu bekommen und diese sind teuer geworden. Deshalb ist es wichtig die Vorräte jetzt so aufzustocken, dass sie bis Ende des Jahres reichen.

Wir müssen den politischen Druck auf die internationale Gemeinschaft erhöhen 

„Was können wir tun?“, fragen wir unsere Partnerinnen von der Stiftung. S. lächelt. Ihr ist es wichtig, dass die Menschen in der Welt erfahren, was in Nord-Ost-Syrien passiert und welchen Kampf insbesondere die Frauenorganisationen dort führen. Die Proteste in Europa stellen für sie und für die gesamte Bevölkerung eine wichtige moralische Unterstützung dar. Sie wünschen sich zudem politischen Druck auf die europäischen Regierungen, damit diese sich entschieden gegen den türkischen Überfall wenden. Dieser Krieg muss sofort beendet werden, damit die Menschen in Nord- und Ostsyrien wieder in Frieden leben können!

Außerdem benötigt die Stiftung dringend finanzielle Unterstützung, um die verschiedenen Projekte, insbesondere das Nothilfeprojekt, weiter durchführen zu können. Neben medizinischen Materialien, Medikamenten und Nahrungsmitteln sind besonders warme Kleidung, Decken und Heizmaterial für die Öfen unbedingt notwendig, denn es ist Winter und die Menschen sind zum Teil von lebenswichtiger Versorgung abgeschnitten. 

Wir bleiben mit den Frauen der Stiftung in Kontakt und werden weiterhin berichten und protestieren! Wenn ihr unsere Arbeit und die Frauen in Nord- und Ostsyrien konkret unterstützen wollt, könnt ihr spenden, Flyer verteilen, Veranstaltungen organisieren und eigene Ideen umsetzen!

Kurdistan Hilfe e.V.
Stichwort: WJAS
Bank: Hamburger Sparkasse
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPDEHHXXX 

Foto: WJAS

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Fast genau zehn Jahre nach dem Attentat auf drei Genoss:innen der kurdischen Freiheitsbewegung 2013 in Paris kam es am 23. Dezember zu einem erneuten Mordangriff auf Kurd:innen.

Hubert Maulhofer sprach mit Konstantin von der internationalen Kampagne „Defend Kurdistan“ über das Geschehene und die Hintergründe.

Kannst du uns kurz etwas zur aktuellen Situation und dem Attentat des 23. Dezember geben?

Am 23. Dezember kam es mitten am Tag im Stadtzentrum von Paris, dort wo sich das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya“ befindet, zu einem blutigen Attentat. Der Täter schoss auf mehrere Menschen, die sich vor dem Kulturzentrum und in einem anliegenden Restaurant und Friseursalon befanden.

Drei Menschen sind dabei getötet worden, weitere teilweise schwer verletzt. Der Angreifer konnte durch den Mut einiger Menschen schließlich überwältigt werden, noch bevor die Polizei eintraf. Im Zuge dieses Anschlags kam es zu wütenden Protesten in ganz Europa, die dieses Attentat als eine Folge der anti-kurdischen Politik anprangern, welche sich immer weiter zuspitzt. Am 24. Dezember fand eine Großdemonstration in Paris statt. Die Demonstrationen wurden mehrfach von der französischen Polizei angegriffen und es kam zu Straßenschlachten.

In der kurdischen Community und in internationalistischen Zusammenhängen wird aktuell über eine Verbindung des Täters zum türkischen Staat bzw. dessen Geheimdienst MIT diskutiert und eine Parallele zu den Mordanschlägen von 2013 auf drei Genoss:innen in Paris gezogen. Was kannst du uns dazu sagen?

Wir sehen, dass dieses Attentat sich einreiht in eine anti-kurdische Politik. Von der Türkei und Nordkurdistan, wo tausende Menschen der Oppositionspartei HDP verhaftet werden, über die Giftgas-Angriffe der türkischen Armee in Südkurdistan bis zu den Angriffen auf Nord-Ost-Syrien, Rojava und die autonome Selbstverwaltung, bei denen gezielt zivile und lebensnotwendige Infrastruktur zerbombt wurde.

Auch in Europa existiert eine anti-kurdische Politik in Form der Kriminalisierung der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrer Unterstützer:innen. Die Repression durch europäische Staaten wie die BRD und Frankreich nimmt immer weiter zu. Einen Tag vor dem Attentat in Paris wurde beispielsweise in Nürnberg ein Genosse inhaftiert, das dortige kurdische Kulturzentrum durchsucht. Diese Politik ermöglicht ein Klima, in welchem Anschläge, wie der von Paris, stattfinden können. Gleichzeitig sehen wir aber auch eine Kontinuität in diesem Attentat zu der Ermordung der Genossinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez die im gleichen Stadtteil 2013 durch einen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordet wurden. Das Attentat jetzt fand zudem zu einem Zeitpunkt statt, in dem das jährliche Gedenken für die 2013 ermordeten Genossinnen im Pariser Kulturzentrum stattfanden. Wir werten den Angriff daher als einen gezielten Anschlag.

Was wissen wir über den Täter?

Es handelt sich um einen 69-jährigen Mann. Er hat bereits in der Vergangenheit Geflüchtete in einem Camp mit einem Schwert angegriffen und saß deshalb im Gefängnis. Er wurde aber vor elf Tagen aus dem Gefängnis entlassen. Die Tatsache, dass das Attentat in Paris in dem von mir oben angeführten Kontext stattfindet, und auch die Tatsache, dass er diese Tat mitten am Tag in einer Stadt wie Paris durchführen konnte, zeigt entgegen den Aussagen vieler bürgerlicher Medien, dass es sich hierbei nicht um eine Einzeltat handelt. Es geht um einen rassistischen, anti-kurdischen Mord. Das war ein gezielter Angriff auf die Aktivitäten der kurdischen Freiheitsbewegung in Europa. Wir sehen den türkischen Staat in der Verantwortung für diesen Mord.

Wir glauben, dass der französische Staat erneut „ein Auge zugedrückt“ hat, so ein Anschlag findet nicht einfach so statt. Der französische Staat hat kein Interesse daran, gegen die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes in Frankreich vorzugehen. Die mangelnde Aufklärung im Rahmen der Ermordung der drei Genossinnen 2013 bekräftigt dies und unsere Annahme, dass der 23. Dezember 2022 die Fortführung des Jahres 2013 ist.

Was wissen wir über die ermordeten Genoss:innen?

Bei den Gefallenen handelt es sich um Emine Kara, M. Şirin Aydın und Abdurrahman Kızıl.

Emine Kara war eine Genossin die aktiv in der kurdischen Frauenbewegung war und sich bereits seit 1989 in der Bewegung engagierte. In den Bergen und an vielen Orten in Kurdistan war sie aktiv und hat vor allem auch in Rojava eine große Rolle beim Aufbau der dortigen Selbstverwaltung gespielt. Sie half aktiv mit bei der Unterstützung der Jesid:innen nach den Massakern des sogenannten Islamischen Staats im Schengal. 2019 ist sie nach Europa gegangen, hat vor allem in Frankreich gewirkt und war aktiver teil des Vorbereitungskomitees für die Gedenkdemonstration an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris.

Abdurrahman Kızıl war ein heimatverbundener Kurde, der sich in der Diaspora aktiv für die Rechte des kurdischen Volkes eingesetzt und an der demokratischen Gesellschaftsföderation in Frankreich beteiligt hat.

M. Şirin Aydın war ein kurdischer Musiker. Er war in der Diaspora bekannt für seine Lieder und ein Symbol der Vielfalt des Widerstands und der kurdischen Kultur.

Wie geht es jetzt weiter?

Der kurdische Dachverband in Europa „KCDK-E“ hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Am 24. Dezember fand daraufhin in Paris eine erste Großdemonstration statt, auch Busse aus Deutschland sind angereist.

Gleichzeitig wird es in den kommenden Tagen überall in Europa zu Aktionen kommen. Die Hauptproteste werden jedoch vorerst in Frankreich und Paris stattfinden, um eine Verschleppung des Falls durch den französischen Staat zu verhindern.

Auch viele internationalistische Kräfte haben sich bereits solidarisiert und ihre Unterstützung ausgedrückt. Es ist an der Zeit, dass all diejenigen die hinter dem kurdischen Volk, der kurdischen Freiheitsbewegung und der Revolution stehen, für all diejenigen, die den türkischen Faschismus, seine europäischen Unterstützer und den Imperialismus bekämpfen, auf die Straße gehen und zur Aktion schreiten. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit ist es wichtig, diese Geschehnisse nicht aus den Augen zu verlieren.

Update: Alle sind eingeladen nach Paris zu kommen und ihre Solidarität auszudrücken. Es gibt eine ständige Mahnwache vor dem Ahmet Kaya Kulturzentrum. Es wird aufgerufen überall dezentral Aktionen zu organisieren, um die Trauer und Wut zum Ausdruck zu bringen. Es wird eine große Beerdigung und Verabschiedung der Leichname in Paris geben. Alle sind aufgerufen und eingeladen daran teilzunehmen, allerdings ist noch unklar, wann die Leichname freigegeben werden. Sollte das vor dem 07.01.2023 passieren, wird für den 07.01. zu dezentralen Aktionen aufgerufen. Ansonsten wird am 07.01.2023 in Paris die alljährliche Gedenkdemonstration für Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez stattfinden. Wir rufen alle jetzt dazu auf an dieser Demonstration teilzunehmen und den nun sechs in Paris ermordeten Genoss:innen zu Gedenken.

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Die Fenster beben, der Boden bebt, ich höre meinen Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Ein weiterer Knall. Ich kann das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über meinen Rücken.

Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Auf meinen Namen folgt der Befehl, mich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und ich trage nur meine Kamera. Mich ärgert es, dass ich keinen zusätzlichen Akku habe. Ich fühle mich unbeholfen: Warum denke ich in diesem schrecklichen Moment ausgerechnet daran?

Die Großmutter der Familie kontrolliert die Stimmung, hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und heißesten Raum, etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Händen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Händen auf und sagt: „Erdogan, warum tust du uns das an? Was haben wir getan? Kurd*innen zu sein? Wir haben Kinder! Was haben wir getan? Wir haben doch nur jeden Tag unsere Mahlzeiten zubereitet und versucht zu leben?“

Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. „Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden“, sagt er und liest ihre Namen vor: „Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan“. Außerdem wurden auch weitere Gebiete, außerhalb von Nordostysyrien, die aber für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren große Bedeutung haben, getroffen. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.

Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekannt gab, dass die Operation „Klaue und Schwert“ erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den Vereinigten Staaten und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff geben haben oder wegschauten.

In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen die Trümmer auf und die Türkei grifft wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Es starben zehn weitere Menschen. Ein halbes Dutzend wurde verletzt.

Dieses Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.

In der Nacht werden von der Familie, bei der ich zu Besuch bin, viele Anrufe getätigt. Man versucht herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer WhatsApp-Gruppe von Verwandten von Gefallenen, die während dieses seit zu vielen Jahren andauernden Konflikts starben. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es die vom Islamischen Staat hinterlassenen Minen entschärfte. „Ich hoffe, es gibt keine Toten“, murmelt die betagte Frau vor sich hin.

„Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, da muss etwas passiert sein“, erklärt Muhamed. Die App „Syria live map“ zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten. Als die Luftangriffe begannen, twitterte Minister Akar, dass die „Stunde des jüngsten Gerichts“ gekommen sei, zusammen mit Bildern eines startenden Kampfjets und einer Explosion. „Zeit um Rechenschaft abzulegen! Diese Schurken bezahlen für ihre verräterischen Angriffe“, schrieb er in einem anderen Tweet.

13. November in Istanbul. Eine Frau sitzt um 15:40 Uhr auf einer Bank auf der Istiklal Caddesi. Sie bleibt 40 Minuten an Ort und Stelle, steht auf, geht hinaus und wenige Minuten später explodiert eine Bombe, bei der sechs getötet und 81 verletzt werden. Keine terroristische Gruppe übernimmt die Verantwortung für den Angriff. Am nächsten Tag behauptet Innenminister Süleyman Soylu, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trage die Verantwortung für den Anschlag. Er gibt außerdem die Festnahme des mutmaßlichen Terroristen und 50 weiterer Personen bekannt. Soylu behauptet, der Angriff sei von der Stadt Kobanê koordiniert worden. Die aktuellen türkischen Angriffe auf Nordostsyrien werden so von Ankara als Reaktion auf den Angriff in Istanbul gerechtfertigt.

Aber die Invasion war schon lange vorher geplant. Seit Frühjahr 2022 versucht Erdogan, in das Gebiet einzudringen, das er heute angreift. Bisher hat ihm die Zustimmung der USA und Russlands gefehlt. Hinsichtlich des Anschlags in Istanbul gibt es noch keine eindeutigen Beweise, wer ihn ausgeführt hat, aber Ankara beschuldigt weiterhin die PKK und die nordsyrische YPG. Das Attentat dient der Türkei als Vorwand, um neue Angriffe zu starten.

Dass der Beginn der Invasion auf den Beginn der Weltmeisterschaft in Katar fällt, scheint keine Zufall zu sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Gräueltaten in Zeiten passieren, in denen sich die Aufmerksamkeit der Welt auf die Weltmeisterschaft konzentriert.

Knapp sieben Monate sind es noch bis zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die für Erdogan zur schwierigsten Wahl seiner gesamten politischen Laufbahn geworden ist: Sein Land befindet sich in den letzten Jahren in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Erdogan weiß, dass die türkische Wählerschaft mit Nationalismus und Kriegskampagnen liebäugelt und er ist sich darüber im Klaren, dass das das Einzige ist, was ihn an der Macht halten könnte.

Die Opposition, die sich aus sechs Parteien mit mehr oder weniger nationalistischem Charakter zusammensetzt, ist ebenfalls ein entschiedener Verteidiger einer „starken Hand“ gegen die Kurd*innen. Erdogan erklärte: „Wir beschränken uns nicht auf einen Luftangriff, wir werden uns mit dem Verteidigungsministerium und den Militärkommandeuren beratschlagen, inwiefern wir unsere Bodentruppen einsetzen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“

Seit 2016 ist die Türkei dreimal in Nordostsyrien einmarschiert und hat hunderte Kilometer Territorium von der autonomen Selbstverwaltung besetzt. Jetzt droht Erdogan wieder in ein Gebiet einzudringen, in dem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland militärisch präsent sind. Dieser Modus Operandi ist der türkischen Regierung bestens bekannt: Angriff auf die Kurden, wenn die Popularitätswerte sinken, und das Versprechen, das Osmanische Reich wieder aufzubauen.

Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Flächendecken zu. Erdogan erklärte in einem Fernsehinterview: „Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, Artillerie und Soldaten ausrotten.“ Zur gleichen Zeit bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den IS und der Anti-Terrorismus-Einheiten YAT.

Erdogans angeblicher „Kampf gegen den Terror“ bedroht erneut das Leben von fünf Millionen Menschen, die seit 10 Jahren autonom leben und inmitten des Krieges Tage des Friedens suchen, die ihnen immer verweigert wurden.

Autor*innen: Mauricio Centurión und Ariadna Masmitjà

Titelbild: Türkischer Luftangriff auf Zirgan vom 3.12.22

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Die Türkei führt seit Tagen erneut eine großangelegte Militäroperation gegen die befreiten Gebiete der Selbstverwaltung in Nord-Ost-Syrien und Rojava. Zur aktuellen Lage und den politischen Hintergründen sprach Hubert Maulhofer mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Internationalistischen Kommune in Rojava und der Kampagne Riseup4Rojava.

Vielleicht kannst du zu Beginn kurz erzählen, was seit dem begonnen Angriff der Türkei am vergangenen Sonntag in Rojava passiert ist?

In der Nacht vom 19. auf den 20. November hat die türkische Besatzungsarmee mit massiven Luftangriffen und Bombardements des gesamten Grenzgebiets, sowie Angriffen bis tief hinein ins Landesinnere, begonnen.

Diese Angriffe setzen sich bis zu diesem Moment fort. Es gibt ununterbrochene Angriffe mit Kampfjets, Drohnen und Hubschraubern. Getroffen wurden militärische Ziele der Genoss:innen der YPG, der YPJ und der SDF. Aber auch viele zivile Orte wurden angegriffen, beispielsweise das Stadtzentrum von Kobane und Qamislo.

Vor allem in den letzten zwei Tagen wurde begonnen fokussiert die zivile und ökonomische Infrastruktur anzugreifen. Also Ölfelder, Stromversorgung, Gasversorgung und Wasserversorgung. Krankenhäuser und Kliniken, sowie Schulen wurden bombardiert. So wie es aktuell aussieht ist nicht mit einer Entspannung der Lage zu rechnen.

Trotz dieser massiven Angriffe, der Schäden und der gefallenen Freunde und Freundinnen ist die Moral in der Bevölkerung hoch. Das Volk leistet Widerstand, ist auf der Straße und kämpft gegen diese Angriffe.

Als Kampagne „RiseUp4Rojava“ habt ihr regelmäßig daraufhin gewiesen das Rojava in einem permanenten Kriegszustand ist. Wurde die Strategie der Türkei, einer Kriegsführung niedriger Intensität, jetzt zu einer Kriegsführung hoher Intensität gewandelt?

Das was gerade passiert ist eine neue Eskalationsstufe. Aber wir müssen klar herausstellen, dass es sich nicht um einen neuen Beginn des Krieges handelt. In den letzten drei Jahren, nach der Besatzung von Serekaniyê und Gîrê Spî 2019, herrschte kein Frieden. Die Region befindet sich konstant im Krieg. Insbesondere an den Frontlinien gab es täglich Angriffe. Der Krieg gegen Rojava wird und wurde aber nicht nur militärisch sondern auch auf allen anderen Ebenen weiter geführt. Medial, ökonomisch, politisch wurde Druck auf die Bevölkerung ausgeübt, beispielsweise durch das Kappen der Wasserversorgung und das gezielte Ermorden von Schlüsselfiguren der Revolution.

Der Krieg des türkischen Staats gegen die kurdische Freiheitsbewegung erstreckt sich ja nicht lediglich auf die befreiten Gebiete Nord-Ost-Syriens. Auch in den Bergen Südkurdistans herrscht Krieg, innerhalb der Türkei kommt es zu massiver Repression. Wie hängt all das miteinander zusammen?

Der Krieg in Rojava darf nicht getrennt betrachtet werden von den Entwicklungen der gesamten Region. Der Krieg ist alltäglich in Nordkurdistan, in Südkurdistan, in Ostkurdistan, in Rojava. Die gesamte Region ist in Bewegung. Ein Krieg in Rojava, ein Krieg in Südkurdistan, ein Volksaufstand in Ostkurdistan und dem gesamten Iran. Das kurdische Volk, in allen vier Teilen Kurdistans unterdrückt und kolonisiert, mit brutalster Repression und Vernichtungspolitik konfrontiert, steht auf.

Innenpolitisch ist die Position des Erdogan-Regimes nicht gefestigt. Die ökonomische Krise in der Türkei ist enorm. Die sozial-politische Krise in der Türkei hat sich massiv verschärft. Im Zusammenhang mit den Wahlen im kommenden Jahr befindet sich Erdogan unter extremen Druck, er versucht das eigene Überleben durch den Krieg zu sichern. Der erwünschte Erfolg durch den Krieg gegen die Guerillakräfte der PKK in den Bergen Südkurdistans ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, an bestimmten Stellen konnte die Türkei zwar einige Geländegewinne verzeichnen, aber nur unter extremen Verlusten in den Reihen der türkischen Armee und dem Nutzen von allem was sie zur Verfügung stehen haben, inklusive dem massiven Gebrauch von Giftgas.

In der Türkei konnte die Opposition der HDP trotz massiver Inhaftierungen, Repression und Verleumdungen nicht mundtot gemacht werden. Die Unterstützung der Bevölkerung gegenüber dem Freiheitskampf konnte nicht gebrochen werden.

Die aktuellen Angriffe auf Rojava jetzt sind ein weiterer verzweifelter Versuch des Erdogan-Regimes sich selbst am Leben zu erhalten.

Wachsende Verwerfungen auf internationaler Ebene, innenpolitischer Druck der Opposition, eine gigantische Inflation, ein Krieg der Millionen Dollar und das Leben türkischer Soldaten fordert. Es scheint manchmal so, dass sich Erdogan und sein Staatsapparat in ihren Großmachtsphantasien beginnen zu übernehmen…

Das kann man definitiv so sagen. Ich meinte ja schon, dass es sich mit der Kriegsführung um einen Versuch handelt, an der Macht zu bleiben und den eigenen Absturz zu verhindern. Nichtsdestotrotz darf man die Türkei nicht unterschätzen. Sie verfügt über die zweitgrößte NATO-Armee. Erdogan hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft in den Krisen zwischen verschiedenen Interessen zu manövrieren und sich die Unterstützung für seine Politik national wie international zu sichern.

Aber das was gerade passiert ist kein Zeichen der Stärke des Regimes, sondern ein Ausdruck der Schwäche und der innenpolitischen Krise.

Vor den Wahlen 2023 versucht Erdogan nun über das Mittel des Krieges auch die Opposition erneut mundtot zu machen und auf Linie zu bringen. Mann muss sagen, dass ihm dies, abseits der HDP, auch gelungen ist. Wie sich das jedoch in den kommenden Monaten weiterentwickelt bleibt abzuwarten. Denn in diesem Kontext wird der Widerstand und der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung und der Bevölkerung, sowie der Verlauf des Krieges einen entscheidende Rolle spielen.

Was für ein Interesse haben die beiden in Syrien präsenten Weltmächte USA und Russland in der aktuellen Lage? Nach Außen positionieren sich beide Seiten ja vermeintlich gegen eine größere Militäroperation.

Der Krieg der Türkei gegen die kurdische Bewegung, in allen Teilen Kurdistans, könnten nicht ohne die Unterstützung der USA funktionieren. Im Fall von Rojava hat Russland teilweise eine ähnliche Rolle inne.

Die Besatzung von Êfrîn, Sêrêkaniyê und Gîrê Spî wäre ohne die Zustimmung Russlands und der USA nicht möglich gewesen.

Der Krieg in Südkurdistan wäre nicht möglich, jedenfalls nicht in dieser Intensität, ohne die Zustimmung der USA und der NATO.

Die AKP Erdogans, als ein Projekt des vermeintlich moderaten politischen Islams, welches die sunnitischen Kräfte in der Region bündeln soll für die Interessen der westlichen Staaten, ist für die USA ein strategischer Partner. Das schon seit dem Kalten Krieg und als zentraler Teil des sogenannten „Greater Middle East Projects“. In diesen strategischen

Planungen der NATO bezogen auf den mittleren Osten ist die kurdische Freiheitsbewegung ein großes Problem. Dementsprechend lies man stets der Türkei auch in ihrem Vernichtungswillen indirekt und direkt freie Hand und unterstützte sie. Das ist eine Realität seit dem Beginn des Freiheitskampfes in Kurdistan.

Das heißt es gibt Überschneidungen in den Interessen der Türkei und den USA. Es mag unterschiedliche Formen geben wie man gedenkt diese Politik umzusetzen. Vernichtungspolitik als Mittel der Türkei einerseits und Integration-Assimilation-Korruption als Mittel der USA andererseits, um in Rojava eine weitere KDP [Anm. d. Red.: Regierungspartei in Südkurdistan die mit der Türkei kollaboriert] wie in Südkurdistan aufzubauen. Der Inhalt, die Vernichtung der Freiheitsbewegung, bleibt jedoch der gleiche.

Auch für Russland ist die Türkei ein wichtiger Partner. Ökonomisch ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner geworden. Russland hat stets über die Türkei versucht Einfluss auf die NATO zu nehmen, Widersprüche innerhalb der NATO zu verschärfen.

Durch die verstärkte Konfrontation der NATO mit Russland im Rahmen des Ukrainekriegs und die Restrukturierung der NATO, spielt die Türkei in der NATO eine wichtige Rolle.

Wenn wir als Internationalist:innen nicht an die Nationalstaaten appellieren, da wir wissen, dass von Ihnen nichts zu erwarten ist, was ist zu tun? Was ist euer Aufruf als Kampagne RiseUp4Rojava?

Vor einigen Tagen haben wir den sogenannten „Tag X“ ausgerufen.

Wir müssen sehen, dass, unabhängig davon ob es aktuell zu einer Bodenoffensive kommt oder nicht, Rojava sich im Krieg befindet. Die Revolution ist gefährdet.

Der Wille zum Sieg und Kampf gegen den türkischen Faschismus in der Bevölkerung ist groß, aber es braucht jetzt Internationale Solidarität.

Das was in Rojava in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut wurde ist gefährdet. Die kurdische Freiheitsbewegung führt seit Jahrzehnten einen Kampf für Demokratie, Frauenbefreiung und ökologisches Wirtschaften.

Sie ist ein Beispiel dafür, wie konsequent gekämpft werden kann. Sie zeigt wie mit erhobenen Kopf den größten Schwierigkeiten getrotzt werden kann und bei allen Widersprüchen und Schwierigkeiten an der eigenen politischen Linie festgehalten werden kann. Für uns Internationalist:innen spielt diese Revolution auch gerade deshalb eine wichtige Rolle, weil sie zeigt, dass ein anderes Leben möglich ist, eine gesellschaftliche Alternative möglich ist. Die Front gegen den Faschismus muss international organisiert sein. Eine Niederlage Rojavas hätte massive Auswirkungen auf die revolutionären Kräfte weltweit, der Erfolg jedoch genauso.

Überall dort wo wir sind, wo wir leben und arbeiten, muss der türkische Faschismus angegriffen werden. Wir müssen unsere Solidarität mit dem Widerstand Kurdistans auf die Straße tragen. Wir sagen, jede Aktion und Beteiligung ist erwünscht. Von kleinen symbolischen Aktionen, über Massendemonstrationen und Blockaden. Einerseits haben diese Aktionen natürlich den Effekt Druck auf den deutschen Staat aufzubauen. Andererseits dürfen wir nicht die Wirkung unterschätzen, die diese Aktionen hier in Rojava haben. Sie gegeben Kraft und Mut weiterzukämpfen. Wenn du im Kampf bist und siehst, dass überall auf der Welt Menschen hinter dir stehen und sich auch als Teil dieses Kampfes sehen, das ist unbeschreiblich.

Unser Aufruf ist an alle: Geht auf die Straße, organisiert euch. Lasst diejenigen die dachten sie verdienen sich eine goldene Nase an diesem Vernichtungskrieg, es bereuen. Sorgt dafür, dass diejenigen die diese Vernichtungspolitik unterstützen, es bereuen werden.

#Titelbild: Trümmer der Pressestelle der YPG in Qerecox nach der Bombardierung durch die Türkei 2017

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Von Bahram Ghadimi und Shekoufeh Mohammadi

Unter dem Schutz von Schreien, welche die Nacht durchdringen, nimmt eine Frau ihr Kopftuch ab und wirft es tanzend in das auf der Straße lodernde Feuer, damit aus dem Herzen von mehr als vier Jahrzehnten Unterdrückung und Repression ein Weg zu Licht, Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet werden kann. Es gibt viele solcher Brände und unzählige dieser Frauen, welche die Flammen mit dem Schleier nähren, der ihnen vom Regime der Islamischen Republik Iran als Kleiderordnung auferlegt wurde, um sie zu unterdrücken. Unerschrocken weben sie mit ihren Haaren ein Seil aus Bewusstsein und Widerstand, um den Gefängniszaun zu umgehen, der uns seit Jahren mit Mauern der Armut, Dächern der Erniedrigung und Fenstern aus Lügen gefangen hält.

Der Funke dieses Feuers wurde entzündet, als das Lächeln im Gesicht einer kurdischen Frau namens Mahsa (Gina) Amini ausgelöscht wurde. Eine 22-jährige Frau, die mit ihrem Bruder nach Teheran gereist war, um Verwandte zu besuchen, wurde von der Sittenpolizei der Islamischen Republik unter dem Vorwand verhaftet, sie halte sich nicht an die Kleiderordnung. In Gewahrsam schlug ihr ein Polizist auf den Kopf, so dass sie das Bewusstsein verlor. Mahsa wurde ins Krankenhaus eingeliefert und starb einige Stunden später. Schon in den ersten Stunden des Wartens und der Protestaktionen vor dem Kasra-Krankenhaus in Teheran war die Familie von Mahsa Amini nicht allein; die Mütter aller anderen Wegbereiter auf dem Weg in die Freiheit haben sie begleitet, damit dieser Kampf ein weiterer Stern am Himmel dieser dunklen Nacht wird, in der seit Jahren der Traum von einem hellen Horizont geträumt wird: mit dem Aufstand der Hungrigen im Winter 2018, mit den Protesten im Herbst 2019, mit dem Aufstand der Durstigen (Proteste gegen Wasserknappheit) im Sommer 2021 und mit Hunderten von Protesten und Streiks von Arbeitern, Lehrern, Rentnern, Studenten und Gewerkschaftern im ganzen Iran. So wird der Schrei „Tod dem Diktator“ und die Parole „Brot, Arbeit, Freiheit“ zu einer gemeinsamen Stimme, der die Ohren der Unterdrücker nicht mehr entkommen können.

Und wir können unsere Mobiltelefone keinen Moment aus den Augen lassen: Telegram ist der Kanal, der uns mit einer Heimat verbindet, die wir vor Jahren zurücklassen mussten und in die wir immer noch zurückkehren wollen. Jeden Augenblick erhalten wir von unseren Freunden im Iran Nachrichten über die Geschehnisse in verschiedenen Städten und Ortschaften, ein Foto, ein Video, eine Meldung:

Eine Person wird in Teheran verhaftet. Wir haben diesen Satz noch nicht zu Ende gelesen, als die Nachricht der Verhaftung von Aktivisten in der Provinz Aserbaidschan eintrifft… dann wird Minu Majidi in Kermanshah durch einen direkten Schuß der Polizei getötet… die Studentenwohnheime der Universität von Shiraz werden angegriffen… in Ashnaviyeh greift die Polizei die Menge an und tötet zwei Menschen…in Izeh wird der Belagerungszustand ausgerufen… überall im Iran schlagen Flammen aus den Barrikaden und die Menschen sind auf den Straßen… in Quchan wird das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Brand gesteckt… in Anzali hat das Volk die Stadt erobert… in Esfarayen reißen sie die riesigen Transparente mit Bildern von Khamenei und anderen Persönlichkeiten des Regimes herunter… in Ahvaz, wo sich die Menschen seit Jahrzehnten gegen die rassistische staatliche Repression wehren und der Kampf der Arbeiter immer noch stark ist, verwandelt die Solidarität mit den Protestierenden in anderen Städten, insbesondere in Kurdistan, die Straßen in ein Schlachtfeld… Die Stadt Qom, eines der religiösen Symbole des Regimes, ist zu einem Kriegsgebiet geworden, und in der konservativen Stadt Mashhad, einem der wichtigsten Stützpunkte des Staates, wird ein Polizeipräsidium angegriffen und mit allen darin befindlichen Patrouillen in Brand gesetzt… In Teheran wird von einem Polizeipräsidium aus auf Demonstranten geschossen, einige Stunden später steht das Gebäude in Flammen.

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, welche der Ruf der ersten spontanen Proteste war, umfasst immer noch die wichtigsten Forderungen des iranischen Volkes. Dieser Slogan, einer der wichtigsten Slogans der Frauen von Rojava gegen den männlichen Chauvinismus, hat aus symbolischen Gründen ein starkes Echo im Iran gefunden: In der kurdischen Sprache hat Gina eine gemeinsame etymologische Wurzel mit dem Wort Jian, das Leben bedeutet. Gleichzeitig ist es eine Parole gegen den staatlichen Machismus, der seit mehr als vierzig Jahren im Namen des Islam die verschiedenen Mechanismen des Kapitalismus im Iran anführt: Privatisierung, die Schaffung von Freihandelszonen und Industriekorridoren, unkontrollierte Ausbeutung und die Zerstörung des Lebens von Arbeitern und verarmten Menschen. Gleichzeitig ist die Ermordung von Gina ein weiteres Beispiel für die von der Islamischen Republik unterstützten Feminizide; und schließlich ist seit dreiundvierzig Jahren die Freiheit, sowohl politisch als auch gesellschaftlich, eine der zentralen Forderungen im Iran.

Und wir warten immer noch auf Nachrichten, die aufgrund der landesweiten Blockade des Internetzuganges durch den iranischen Staat nur tröpfchenweise kommen. Währenddessen steigt die Zahl der verletzten und getöteten Demonstranten weiter an.

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Rezension von “The Other Side of the River”

Vielen Filmen zu (dem Befreiungskampf in) Kurdistan begegne ich mittlerweile mit dem Verdacht, ob die Protagonist:innen im Grunde zur Befriedigung fremder Sehnsüchte genutzt werden. Und dieser Verdacht ist meines Erachtens nicht unbegründet.

Es gab eine Zeit, in der sogar im türkischen Mainstream Filme mit Andeutungen oder direkten Erwähnungen zu Kurd:innen erstmalig zögerliche Aufmerksamkeit bekamen. Viele der Geschichten waren sehr vorhersehbar: Es gab einen türkischen Protagonisten, der Vorurteile abzubauen hatte, und die Kurd:innen sahen wir nur durch seine Perspektive. (Das Musterbeispiel hierfür ist Yangin Var [2011]) Mal lachend, mal mit Tränen beobachteten wir, wie der Türke weicher wurde, je mehr er die Kurd:innen kennenlernte: “Sie sind doch (Überraschung!) auch Menschen wie wir – sie lachen, machen Witze, sind manchmal auch traurig und bieten ihre Hilfe noch vor dem Entstehen eines Bedarfs an. Sie sind sogar gastfreundlicher als die Türken und sprechen manchmal ein witziges Türkisch – wie halt die alten, lustigen Türken in unseren Dörfern! Sie wären, wenn sich diese Bosheit entfernen ließe, niedlich und es gäbe keinen richtigen Grund mehr, einander nicht zu mögen!”

Die Phase solcher Filme ist (zum Glück?) nun wenigstens vorläufig auf Eis und seit jener Zeit sind ebenfalls unzählige gute Erzählungen und Bilder von und über (den Widerstand in) Kurdistan entstanden.

In Europa gabe es ebenfalls eine zeitlich parallele Entwicklung des Blickes auf die Kurd:innen. Kurdistan rückte auch hier in den Fokus des Mainstreams. In einer Zeit, in der zehntausende Menschen durch die Grausamkeit des islamistischen Terrors und im Kampf dagegen ums Leben kamen. In vielen dieser Erzählungen waren wir gezwungen, uns in die Gefühlswelt des angereisten Europäers hineinzuversetzen. Der Ansatz in vielen zeitgenössischen Erzählungen, dass die westlichen Zuschauer:innen lieber eine Identifikationsperson bekommen sollten, damit (auch) sie das Geschehene nachvollziehen können, war voll im Gang. Wir mussten uns Gedanken machen, wie der angereiste Europäer als ein in relativen Wohlstand geborener Mensch das alles wahrgenommen hätte. “Es ist ja schließlich nicht immer wie in Büchern oder Revolutionsliedern – das haben da alle drauf, aber weißt er das auch oder muss man in erst einmal ganz sanft an Unterdrückung und Armut gewöhnen – ihm erklären, wie es im Nahen Osten halt so ist?”

Der neue Dokumentarfilm “The Other Side Of The River” (Antonia Killian, 2022) zeichnet sich genau damit aus, diese Erzählweise vermeiden zu können (und damit enttäuscht er glücklicherweise die Pessimist:innen!).

Antonia Killian, die deutsche Regisseurin des Films, verbrachte nach eigenen Erzählungen bei zwei Besuchen mehr als ein Jahr in Nord-Ost Syrien (aka Rojava), bekam Einblicke in das Leben von Hala, einer jungen Frau aus Manbidsch und ließ sich währenddessen auf den Raum, die Zeit und den Kontext ein, in denen ihre Geschichte stattfindet. Im Vordergrund sehen wir diesmal nicht die Kurd:innen – aber sie sind doch immer da.

Die Region ist zwar noch einmal von westlichen Augen gesehen vor uns, dennoch mit einem neugierigen Blick, der verstehen will. Das bringt möglicherweise einen Vorteil mit: Auf einige Details dürfte die Regisseurin aufmerksamer geschaut haben, als diejenigen, die sie jeden Tag zu sehen bekommen.

Die Protagonistin Hala ist die Tochter einer arabischen Familie aus Manbidsch und ihr familiäres Umfeld sympathisierte bislang mit dem IS. Sie ist eine der Frauen, die ihre schwarzen Hijabs ausgezogen haben, nachdem QSD/YPG den IS besiegt hatte. Bei der ersten Gelegenheit schwamm sie über den Euphrat und schloss sich auf der anderen Seite des Flusses der Asayiş an – der örtlichen Polizei der autonomen Region. Ihre Schwester folgte ihr und schloss sich ebenfalls an.

An jenen Tagen war Hala noch 19 Jahre alt – im Film wird sie 21. Sie erzählt, dass sich fast alle Männer aus ihrer Familie dem IS angeschlossen hatten und sie Angst vor ihren Cousins habe, die im IS sind und sie ständig mit dem Tod bedrohen, weil sie durch ihre Haltung und ihr Handeln die Ehre der Familie befleckt habe. Für den Fall, dass sie von den Cousins geschnappt würde, führt sie immer eine Granate mit sich.

Der Film beinhaltet viele Sätze zu Männern und der Männlichkeit und wir kehren jedes mal zur Geschichte von Hala zurück. Die Erzählungen von Frauen werden vom Schatten ihrer Väter begleitet. Der Mann, den wir erst an späterer Stelle des Filmes zu sehen bekommen, trägt sein Baby auf dem Arm und spricht überzeugt von der durch seine zwei Töchter befleckte Ehre der Familie. “Es ist doch unvorstellbar, dass sie als Frauen überhaupt arbeiten – und noch dqzu mit einer Waffe herumlaufen? Hâşa! Tövbe!

Nach einer Weile sehen wir endlich die Schwester von Hala, von der immer wieder die Rede war, bei ihrer Rückkehr zur Familie: Im weißen Kleid der Hochzeit, weil die Ehre nur durch eine Ehe zu retten ist. Hala und ihre Schwester posieren vor der Kamera mit ihren vollgeschminkten und -gepuderten Gesichtern. Auf der Hochzeit gibt es keine Musik, denn die um die Ehre bettelnden haben weder Recht noch Lust, Spaß zu haben.

Im Dorf von Hala ist die Familie nicht die einzige, die sich wie eine Zelle des IS versteht und aufbaut. Einige Menschen erzählen immer wieder von einem “Früher”, das eigentlich fast gestern war, und Hala erwidert auf die überraschten Fragen immer mit derselben Antwort: “In jedem Haus hier, das ihr seht, gab es wenigstens zehn IS-Mitglieder!”

Im Vordergrund zeigt uns der Film die Arten und Bedingungen des Widerstands von Frauen in der Region, und er vernachlässigt dabei dessen Quellen nicht. Die Regisseurin erzählt einmal, dass sie Hala vier Tage lang nicht sehen konnten, weil sie auf Befehl ihrer Vorgesetzten in Gewahrsam genommen wurde: Sie hatte nämlich ihr Elternhaus mit Granaten und Waffen angegriffen, nachdem sie von Plänen ihres Vater hörte, eine weitere, kleinere Tochter zu verheiraten. Die Wut von Hala war verständlich, aber die Aktion verstieß nichtsdestotrotz gegen die Regeln. Ihre Vorgesetzte versuchte, ihr zu erklären, warum die Aktion fehl am Platz war, jedoch weigerte sie sich, eine richtige Selbstkritik abzulegen: Denn es war ein durchaus nachvollziehbarer Fehler.

Hala ist eine junge Frau, die durch die Intervention der nordsyrischen Verteidigungskräfte einen Weg fand, sich nach außen zu öffnen. Killian bringt uns einerseits ihre Geschichte näher und wirft zugleich mutige Blicke auf die eiternden Wunden vieler Gesellschaften im Nahen Osten. Hala, die in einer Szene mit voller Stolz und Freude ihre erste eigene Wohnung zeigt, wird auf der Straße von einer Frau angesprochen, deren Augen nur hinter der schwarzen Hijab zu sehen sind. Hala knabbert ihr Börek, hört dabei ihrem Anliegen zu und teilt der Kamera mit, dass sie sich mit ihren sechs Kindern der Asayiş anschließen wolle. Die Frau in Hijab kommt in das Gebäude der örtlichen Polizei, in dem nur Frauen sind, und erzählt ihre Geschichte. Sie und ihre Kinder sind den ständigen Belästigungen von ihrem Ehemann ausgesetzt. Die anderen Frauen hören aufmerksam zu und versuchen, sie zu beruhigen und sagen, dass sie ihre Wut und ihren Schmerz nachvollziehen können. Es wird schnell hinzugefügt: “Wir haben ein gesellschaftliches Problem!” Die Hijab wird ausgezogen, die Uniform der Asayiş angezogen – was dann passiert, lässt der Film im Dunkeln.

Im Gespräch mit Alex Berlin sagte Antonia Killian (Dokumentarfilmerin Antonia Kilian im Gespräch I Film-Drop), dass der Film “aus einer tiefen, aber dennoch kritischen Solidarität entstanden” sei. Das ist eine wichtige Anmerkung, wenn man den Film in einem richtigen Kontext verstehen will. Er ist kein Propagandastoff, sondern ein Lagebericht im historischen und gegenwärtigen Kontext – und das ist gut so! Eine Heroisierung, durch die viele Erzählungen zum Nahen Osten (insbesondere Kurdistan) geschädigt werden, ist in dieser Dokumentation nicht zu finden. Dennoch ist er ebenfalls kein Film mit fragwürdigen Objektivitätsansprüchen. Die Protagonist:innen will der Film nicht mit den im eigenen Kontext bezauberten Zuschreibungen der Öffentlichkeit “vorstellen”, sondern in ihrer Wahrheit zu Wort bringen.

In The Other Side of the River bekommen wir einen Teil des Alltags einer emanzipatorischen Revolution mit, in dem Kinder beim Spazierengehen statt Händchen den Griff einer Kalaschnikow halten oder Frauen in einem Bildungszentrum einander von ihren bedrückenden Gewalterfahrungen mit Männern erzählen und sich darauf einschwören, nie wieder mit Männern irgendwas anfangen zu wollen. Die Ausbilderin von Hala sagt im Unterricht, dass die sexuelle Begierde die Menschheit in den Abgrund führe, und sogar das kann man dank der Erzählung im eigenen Kontext und der Welt der Notwendigkeiten einordnen. Den Zuschauenden gibt der Film das Vertrauen, dass er versucht, die Ehrlichkeit zu bewahren – und zwar nicht trotz sondern anhand seiner Solidarität.

The Other Side of the River bringt uns die tatsächlichen Erschütterungen und Folgen eines Emanzipationsprozesses nahe – mit seinen Tiefen und Höhen. Denn: Es sollte gesehen werden, dass eine Revolution (leider!) keinem leidenschaftlichen Tanz ähnelt. Sie ist eine zwangsläufige Entscheidung durch bittere Tatsachen. Revolution bildet und befreit Menschen – in einem mit Licht gefluteten Gebäude voller Fenster und vor vielen Grabsteinen.

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Vor dem Kölner Verwaltungsgericht klagen zwei Teilnehmerinnen einer Friedensdelegation nach Kurdistan gegen eine willkürlich verhängte Ausreisesperre

Als sich im Frühjahr 2021 der Angriffskrieg der Türkei gegen kurdische Gebiete im Nordirak zuspitzte, machte sich eine Friedensdelegation auf den Weg in die Autonome Region Kurdistan. Die Aktivist:innen setzten sich zum Ziel, an einer friedlichen Lösung des Jahrzehnte alten Konflikts mitzuwirken. Es beteiligten sich Parlamentarier:innen, Menschrechtsaktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen, Klimaaktivist:innen, Initiativen und Einzelpersonen aus 14 verschiedenen Ländern. „Die Friedensdelegation wurde in Südkurdistan von der Bevölkerung und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Oppositionsparteien als bedeutende Initiative für Öffentlichkeit zum Angriffs- und Besatzungskrieg der Türkei und für die Verhinderung eines innerkurdischen Geschwisterkrieges sehr begrüßt und dankbar aufgenommen – von fast allen, die wir getroffen haben“, berichtet Dr. Mechthild Exo, eine Teilnehmerin der Friedensdelegation.

Am 12. Juni 2021 wollte sich nun eine weitere Gruppe aus Deutschland auf den Weg in die Region machen. Nach der Gepäck- und Passkontrolle am Düsseldorfer Flughafen, wurden die Personen jedoch von Polizist:innen abgefangen und in einen „sehr heißen“ und „schlecht belüfteten“ Flur gebracht, berichtete eine der dort Festgesetzten, Ronja H. Über Stunden festgehalten, wurden alle einzeln angehört, in Räumen mit abgedunkelten Fenstern. 17 Personen bekamen eine befristete Ausreiseuntersagung für einen Monat in den Irak, welche mit einem Stempel in ihrem Pass, als auch einer inhaltsgleichen schriftlichen Erklärung untermauert wurde. Unter Anderem wird aus der angeführten Begründung deutlich, dass sich die deutschen Behörden um die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei sorgten, bzw. diese durch die geplante Reise „negativ belastet“ werden würden, heißt es in der Begründung. „Was die Beziehungen zur Türkei belasten sollte, ist dass das türkische Militär Menschenrechte verletzt, nicht selten mit dem Kampfgerät deutscher Rüstungskonzerne.“ so Klägerin Ronja H.

Zwei der dort Festgehaltenen, Theda Ohling und Ronja H. haben sich dazu entschieden, gegen das rechtswidrige Handeln der Bundespolizei mit einer sogenannten Fortsetzungsfeststellungsklage vorzugehen. Am 01.06.22 reichten sie die Klage beim Verwaltungsgericht Köln ein und verkündeten diese mit einer Pressekonferenz am darauffolgenden Tag. Auf dem Podium saßen, die Rechtsanwältin für Verwaltungsrecht Cornelia Ganten-Lange, die beiden Klägerinnen Theda Ohling und Ronja H., sowie die Friedensdelegationsteilnehmerin Dr. Mechthild Exo.

Auf rechtlicher Ebene wurde erklärt, dass die Verfügung, welche die Bundespolizei ausgestellt hatte, nur auf Behauptungen und Spekulationen beruhe und keine Tatsachen genannt wurden, welche diese rechtfertigen würden. Vielmehr sei festzustellen, dass die Delegationsreise gezielt verhindert und unmöglich gemacht wurde. Wie lange das Verfahren an Zeit in Anspruch nehmen wird, sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar.

Die Statements der Teilnehmer:innen der Pressekonferenz haben viele Fragen aufgeworfen, die bisher noch unbeantwortet sind. So auch die Frage wieso eine Friedensdelegation, welche sich gegen völkerrechtswidrige Angriffe stellt, eine Gefahr für politische Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei darstellen solle, und was dies über diese Beziehungen aussage. Die Kläger:innen hoffen im Zuge des Prozesses herauszufinden auf welcher Grundlage die Ausreise untersagt wurde. „Wir wurden wie Kriminelle behandelt. Auf die Toilette durften wir nur mit polizeilicher Begleitung. Die ganze Zeit über behielten die Polizeibeamten ihre Schutzwesten an“, berichtet Ronja H. Mechthild Exo stellte in diesem Zusammenhang fest: „Wir dürfen nicht zulassen, dass auf die türkischen Forderungen nach mehr Repression gegen kurdische politische und gesellschaftliche Strukturen, u.a. in Finnland und in Schweden, aber auch in Deutschland, eingegangen wird. Stattdessen müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf drängen, dass die Verbrechen des türkischen Staates angeklagt werden.“ Dies bezieht sich auch auf das seit den 1990er-Jahren in Deutschland geltende Verbot kurdischer Organisationen, durch welches Kurd:innen in Deutschland andauernd kriminalisiert werden.

Neben der Verkündung der Klage wurde auf der Pressekonferenz auf den wieder aufflammenden Angriffskrieg der Türkei seit April diesen Jahres, auf kurdische Gebiete im Irak und Syrien aufmerksam gemacht. Theda Ohling, eine der Klägerinnen, stellte fest: „Bei den Angriffen aktuell, wie auch 2021 auf Südkurdistan handelte und handelt es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Staates.“ Es dränge sich die Frage auf: „Wieso geht unsere Gesellschaft mit Kriegen so unterschiedlich um? Warum bleiben manche Kriege im Schatten? Wird den Menschen, die von den Angriffen des türkischen Militärs in Kurdistan betroffen sind, weniger Wert beigemessen?“ betonte Ronja H. Mechthild Exo fügte hinzu: „Der türkische Staat droht mit einer weiteren Invasion und Besatzung von Gebieten im Norden Syriens. Im Schatten des Ukrainekrieges lassen die NATO-Staaten, einschließlich Deutschland als der wichtigste Partner der Türkei, diese Verbrechen gegen internationales Recht und Menschenrechte ohne Widerspruch zu.“ Betont wurde, dass auch zum jetzigen Zeitpunkt eine Friedensdelegation um Öffentlichkeit zu schaffen notwendig wäre.

# Video Pressekonferenz: https://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDUhttps://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDU

# Für mehr Informationen: www.defend-kurdistan.com
# Für mehr Informationen: https://civaka-azad.org/

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Während die Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht der türkische Diktator Erdogan die Chance auf einen neuen Einmarsch in Syrien. Hier in den selbstverwalteten Gebieten Nordost-Syriens laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Und die Linke in Deutschland?

Mit einem Lappen wische ich das letzte Körnchen Staub von meinem Maschinengewehr. Blitzblank ist es nun, bereit, um die Menschen hier gegen einen erneuten Angriffskrieg Erdogans und seiner jihadistischen Banden zu verteidigen. Später sitze ich bei kurdischen Revolutionsliedern mit meinen Genossen von unserer internationalistischen Einheit am Feuer. Wir alle denken an die nächsten Tage. Ich weiß, dass er kommen wird, der Angriff. Erdogan braucht den Krieg. Er hat die Türkei in den letzten Jahren in eine tiefe ökonomische Krise getrieben und versucht nun mit seinem Krieg gegen Rojava davon abzulenken. Im Anschluss will er vorgezogene Wahlen abhalten und hofft durch den militärischen Sieg doch noch, an der Macht zu bleiben.

Vor knapp zehn Jahren entfaltete sich in Rojava eine Revolution auf Basis von Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie. Eine Region, in der heute Kurd*innen und Araber*innen mit allen anderen Völkern friedlich zusammenleben. Mit ihrem Modell der Selbstverwaltung durch Räte stellt die Revolution eine enorme Hoffnung für die Völker der Region, aber auch weltweit dar. Das war der Grund, warum ich mich vor mehren Jahren auf den Weg gemacht habe, mit den Menschen hier diese Errungenschaften zu verteidigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein System, in dem die vielen verschiedenen Völker gleichberechtigt zusammenleben und in dem Frauenbefreiung eine zentrale Säule darstellt, in dieser Region eine positive Veränderung bringen kann. Während die Kriegsrhetorik Erdogans jeden Tag lauter wird, treffen wir (YPG-Kämpfer*innen) alle nötigen Vorbereitungen für einen neuen Angriffskrieg durch die Türkei. Erdogan betreibt eine Art Kuhhandel: Für den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO, fordert er grünes Licht für seinen Angriffskrieg.

Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Die letzten Angriffskriege der Türkei gegen Nordost-Syrien 2016, 2018 und 2019 haben nicht nur viel Tod und Vertreibung gebracht, in den besetzten Gebieten wird bis heute täglich von Gräueltaten, durch die von der Türkei unterstützen Jihadisten berichtet. Viele von ihnen sind ehemalige IS oder Al-Nusra Kämpfer. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass die letzten beiden Anführer des IS sich dort versteckt hatten. Ich fühle auch die Verantwortung. Ich schätze mich glücklich, Teil dieser Revolution sein zu dürfen. Das heißt aber auch, dass ich für geselschaftlichen Wandel bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Eigene Schwächen zu überwinden. Und mit fester Überzeugung für die Werte Rojavas zu kämpfen. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, der Menschen weltweit Hoffnung gibt, dass ein anderes Leben möglich ist. Doch dieser Angriff, so die türkische Propaganda, soll über die gesamte Grenzlänge einen 30 km tiefe Zone besetzen. Das wäre das Ende Rojavas.

Ich frage mich, was die Linke in Deutschland machen wird? Während auf die letzten beiden Angriffskriege mit ein paar kleineren Demonstrationen und Aktionen reagiert wurde, konnte sie den Krieg nicht verhindern. Jetzt aber geht es um die Frage des Fortbestehens der Revolution. Um Sein oder Nicht-Sein. Eine internationalistische Revolution muss international verteidigt werden. Daher kann ich in diesem Moment, kurz vor dem Sturm, nur an alle appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Was werdet ihr im Falle einer Niederlage dieses einmaligen gesellschaftlichen Aufbruchs hier, der zukünftigen Generation erzählen?

Und wenn sich viele fragen, was sie eigentlich Rojava interessieren soll? Liegt doch in Syrien. Ist weit weg. Dann kann ich nur antworten: Rojava zeigt allen von uns, dass eine andere Welt möglich ist. Schon allein die Hoffnung, die von der Existenz dieser Revolution ausgeht, gibt Menschen weltweit enorme Kraft und Stärke.

Ich habe mir geschworen, dem Faschismus keinen Fußbreit kampflos zu überlassen. Weder dem deutschen, dem türkischen, noch dem des IS. Mir ist aber auch klar, dass wir ihn nur gemeinsam besiegen können. Ich schultere meine Waffe, um mich dann an den Ort zu begeben, an dem ich in den kommenden Tagen den Vormarsch des Feindes erwarten werde. Dabei frage ich mich, was wirst du machen, wenn der türkische Einmarsch gegen Rojava beginnt?

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Thomas, 29 ist Mechaniker aus Berlin und Mitglied des Vorbereitungskreises des
internationalistischen Jugendfestivals, das am 28.05. in Lützerath stattfindet. Im Gespräch erzählt er vom Festival, Klimaschutz und warum und wie das mit der Revolution in Rojava zusammenhängt.


Als Initiative habt ihr euch mit einem offenen Brief an die Klimabewegung in Deutschland
gewendet und wollt am 28. Mai ein internationalistisches Jugend- und Kulturfestival im nordrheinwestphälischen Lützerath veranstalten. Stellt euch und die Idee dahinter zu Beginn doch einmal kurz vor. Was wollt ihr in Lützerath machen und warum genau dort?


Wir sind eine seit mehreren Monaten bestehende Initiative aus Aktivist*innen der
ökologischen Kampagne „Make Rojava Green Again“ und „Lützerath lebt“. Unser Festival steht
unter der Idee unsere Kämpfe zu verbinden, denn nur so kann dem Kapitalismus und der
ökologischen Katastrophe etwas entgegengesetzt werden. Es geht auch darum, die Revolution in
Kurdistan mit dem hier in Deutschland und überall auf der Welt stattfindenden Kampf der
Klimabewegung zu verbinden, weil wir davon überzeugt sind, dass diese Kämpfe das gleiche Ziel
teilen. Das Festival soll ein Ort des Austausches, des gegenseitigen Kennenlernens und des
gemeinsamen Kampfes werden.
Lützerath ist ein Ort in Deutschland, in dem in den vergangenen Jahren der Kampf für das 1,5 Grad
Ziel besonders intensiv geführt wurde. Es ist ein kleines Dorf direkt an der Abrisskante eines
Braunkohletagebaus des Energiekonzerns RWE. Die Widersprüche der Ausbeutung und der
Zerstörung der Umwelt einerseits und das Verdrängen von Menschen aus ihren Lebensorten für die
Interessen eines Konzerns werden hier besonders deutlich. Überall auf der Welt sehen wir ähnliche
Mechanismen. Die Interessen von Menschen werden unter die von Konzernen untergeordnet, aber
in Deutschland treten diese Widersprüche nur im gewissen Maße zum Vorschein. Viel mehr sind es
nämlich die Länder des globalen Südens, in denen vornehmlich westliche Unternehmen Raubbau an
der Natur betreiben und die Lebensgrundlage der Menschen dort zerstören, um Profit zu generieren
und den schnelllebigen Konsuminteressen Futter zu liefern. Davon bekommen hier zu Lande viele
Menschen nichts mit, da die Lebensgrundlage von den sich verschärfenden Krisen größtenteils
unangetastet bleibt. Lüzerath ist dabei einer der Orte, an dem den Menschen auch in Deutschland
die Lebensgrundlage durch die Interessen großer Konzerne genommen wird und das für einen
Zweck, der in Zeiten der Klimakrise schlichtweg verantwortungslos ist.

Die Klimabewegung ist in den letzten Jahren wieder gewachsen, das Thema findet sich in
vielen Medien wieder, weltweit gibt es Widerstand gegen die mörderischen Folgen des Kapitalismus. Auch FridaysForFuture war ein großer Bezugspunkt. Welche Themenbereiche wollt ihr
konkret einbringen, welche Akzente wollt ihr innerhalb der Klimabewegung setzen?


In der Klimabewegung sehen wir eine der größten Bewegungen der jüngeren Vergangenheit, die vorrangig von Jugendlichen ausgeht. Darin liegt die wesentliche Stärke. Viele junge Menschen nehmen wahr, wie sich die Welt verändert und nehmen die kommenden Auswirkungen der Klimakrise ernst, da sie am stärksten davon betroffen sein werden.
In diesem Punkt ruht nun aber auch die Gefahr, sich durch vermeintliche Lösungen, welche der
Liberalismus predigt, vereinnahmen zu lassen. Und diese Muster sehen wir leider bei Teilen der
Klimabewegung, welche beispielsweise durch etablierte Parteien oder Stiftungen vereinnahmt
werden und von dort an Kompromiss statt Lösung predigen. Trotz dieser Tatsache ist es aber auch
kein Geheimnis, dass der staatliche Umgang mit der Klimakrise vielen Menschen die Augen
geöffnet und gezeigt hat, für welche Interessen der bürgerliche Staat in die Bresche springt.
Das sind dann eben nicht die Interessen von Menschen wie der in Lüzerath, sondern die der
Unternehmensvorstände und Großaktionäre von RWE und Co, die den Bagger lächelnd Richtung
Abgrund steuern.
Und eben darum, wie ihr es passend formuliert habt, beginnen viele Menschen die mörderischen
Folgen des Kapitalismus zu sehen und ihren Widerstand dahingehend zu organisieren. Um den
Diskurs aber weiter in die Richtung zu lenken, wie eine Alternative zu diesem System aussehen
kann, möchten wir auf die Errungenschaften der Revolution in Kurdistan verweisen. Denn eine
Kritik am Bestehenden kommt schlecht ohne die Entwicklung eigener Perspektiven auf die
Probleme aus. Insbesondere ein Blick auf den Nord-Osten Syriens, auch als Rojava bekannt, zeigt
dabei, wie eben jene Alternative aufgebaut sein könnte. In dieser Region jährt sich am 19. Juli
diesen Jahres das zehnjährige Bestehen der Revolution und damit der Kampf für ein
Gesellschaftssystems, das auf radikaler Demokratie, Geschlechterbefreiung und sozialer Ökologie
fußt. Eben in dem Vorschlag dieser Alternative und in der revolutionären Linie liegen die Aspekte,
die wir einbringen wollen.

Mit der neuen Ampelkoalition gibt es mit den Grünen erneut eine Partei innerhalb der
Regierung, die sich den Kampf gegen den Klimawandel als Hauptlosung auf die Fahnen
schreibt und die teilweise in der Klimabewegung viel Zuspruch und Hoffnung erfährt.

Wie seht ihr die Rolle dieser Partei?

Wenn wir uns die aktuelle Situation angucken, dann sehen wir, dass die Art der deutschen
Außenpolitik nicht davon abhängt, ob gelb, grün oder schwarz in den Ministerien sitzen. Trotz
zahlreicher Unterschiede zwischen den deutschen Parteien, eint sie die Außenpolitik im Bezug auf
die Türkei. Eine enge militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat
dient nämlich dem Interesse jeder Kapitalfraktion. So ist es nicht verwunderlich, dass die jetzige
Außenministerin Annalena Baerbock zwar sämtliche russische Kriegsverbrechen anprangert, wenn
es aber um die eigenen Nato-Bündnispartner geht, kein Wort über die Kriegsverbrechen der zweit
größten Nato-Armee verliert. Seit Jahren ist bekannt, dass der türkische Staat in Südkurdistan
Giftgas einsetzt, durch unbemannte Drohnen Menschen hinrichtet und mit dem Abschneiden der
Wasserzufuhr Wasser als Waffe einsetzt. All das toleriert aktuell die grüne Außenpolitik, wie es
zuvor die der SPD getan hat. Wer also im Programm der Grünen nach Klimagerechtigkeit sucht,
wird enttäuscht werden. Im Grunde genommen hat es die grüne Partei in den letzten Jahren am
besten geschafft die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung mit Versprechungen einer ökologischen
Wende zu absorbieren. Jetzt stellt sich aber heraus, dass wirtschaftliche und militärische Interessen
den absoluten Vorrang vor ökologischer Politik besitzen.
Im Gegensatz dazu begrüßen wir die seit einigen Jahren vermehrt im Sinne der Klimagerechtigkeit
aufgekommenen gesellschaftlichen Debatten, in denen globale Ausbeutungsverhältnisse
thematisiert werden. Die Frage nach Klimagerechtigkeit ist nämlich eine internationale Frage, da
die Hauptverursacher der Krise international agieren. Ebenso wie unsere Perspektive auf politische
Probleme der heutigen Zeit eine ist, die durch den Begriff Internationalismus gekennzeichnet ist, so
trifft das auch auf auf unsere Perspektive auf die sich verschärfende Klimakrise zu. Eine solche
Politik der Klimagerechtigkeit die es braucht widerspricht vollends dem heutigen Charakter der
grünen Partei.

Du bist schon auf die Bedeutung der Revolution in Kurdistan für die Kämpfe
in Deutschland eingegangen. Kannst du diese Ansicht noch einmal etwas detaillierter beschreiben? Was
hat der Kampf in Kurdistan mit uns hier, aber auch konkret mit unseren Kämpfen gegen den
Klimawandel zu tun?


Die Revolution in Kurdistan hat eine weltweite Bedeutung, da sie exemplarisch für den Kampf für
Klimagerechtigkeit und damit für den Kampf um Selbstbestimmung und gegen Kolonialismus
steht. Eben aus diesem Grund greifen verschiedenste Staaten die Revolution mit aller Härte an. In
der Revolution in Kurdistan liegt nämlich die Zuspitzung der Konflikte zwischen denjenigen, die
für eine lebenswerte Welt kämpfen und denen, deren Macht und Profit auf der Ausbeutung von
Mensch und Natur basiert. Um das Ruder herumzureißen und die verheerenden Folgen des
Klimawandels abwenden zu können, braucht es große Schritte und ein Umdenken und eben das
kann nur in revolutionären Prozessen verwirklicht werden. Die Frage nach ökologischer Politik ist
im großen und ganzen eine Systemfrage und im System des Kapitalismus kann diese nicht
gewährleistet werden. Wer innerhalb dieses Rahmens nach Lösungen sucht wird sich schnell den
Kopf stoßen oder landet eben bei den Grünen.

Als Initiative Make Rojava Green Again, seid ihr seit einigen Jahren in Deutschland präsent.
Was sind eure konkreten Ideen für die Klimabewegung in Deutschland und was ist in der aktuellen Situation zu tun?

Wir versuchen mit unsere Perspektive neue Denkanstöße zu geben. Bereits jetzt gibt es eine breite
Debatte in der Klimagerechtigkeitsbewegung, wie man weiter in die Zukunft gehen kann. Nach
Jahren des Protestes, der Aktionen und Kampagnen stellt sich in immer breiteren Kreisen die
Einsicht ein, dass nur eine grundlegende Veränderung des existierenden Systems eine Ausweg aus
der ökologischen Katastrophe aufzeigen kann. Die Revolution in Kurdistan und die Ideen Abdullah
Öcalans halten in dieser Frage sehr wichtige und aktuelle Vorschläge bereit. Wir möchten allen
nahe legen, sich mit diesem Kampf auseinanderzusetzen und zu sehen, was wir alles von diesem
Kampf lernen können. Am 17. April hat der türkische Staat auch einen erneuten Angriffskrieg gegen
die kurdischen Gebiete im Norden des Iraks begonnen. Im Schatten des Kriegs in der Ukraine
weitet die Türkei ihren Krieg auf immer weitere Gebiete aus. Ohne Rücksicht auf Verluste
bombardieren türkische Flugzeuge, Kampfdrohnen und Artillerie, zivile Wohngebiete und zum
Überleben notwendige Infrastruktur. Und aus den Bergen Südkurdistans erreichen uns Berichte,
dass die türkische Armee, wie schon im vergangenen Jahr, chemische Waffen und Giftgase gegen
die Guerilla einsetzt. Auch im Norden Syriens, in Westkurdistan, bombardieren türkische
Truppen jeden Tag Städte und Dörfer und terrorisieren die Zivilbevölkerung.
Die Klimagerechtigkeitsbewegung sollte klar Stellung beziehen und sich an die Seite der Menschen in
Kurdistan und an die der revolutionären Kräfte stellen. Demonstrationen können unterstützt,
Stellungnahmen verfasst und kleine Solidaritätsbotschaften vorbereitet werden. Manchmal
können auch schon symbolische Gesten großes auslösen. Wichtig ist nur, dass wir es schaffen die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, auf diesen verschwiegenen Krieg zu lenken.

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Die deutsche Journalistin Marlene F. und der slowenische Journalist Matej K. wurden am 20. April im Şengal auf dem Rückweg vom êzîdischen Neujahrsfest Çarşema Sor vom irakischen Militär festgenommen. Seitdem sind sie vermutlich in einem Gefängnis in Bagdad und können keinen Kontakt zu Anwält:innen oder der Öffentlichkeit aufnehmen. Die Festnahme steht im Zusammenhang mit der militärischen Eskalation gegen die êzîdische Selbstverwaltung im Şengal, wo sowohl die irakische als auch die türkisch Regierung unabhängige Berichterstattung verhindern wollen.

Die beiden jüngst festgenommenen Journalist:innen Marlene F. und Matej K. sind seit mehreren Monaten zu Recherchezwecken im Norden des Iraks. Sie dokumentieren die aktuelle gesellschaftliche Situation von Ezid:innen im Şengal vor dem Hintergrund des Genozid-Feminizids, den der „IS“ seit 2014 an den Ezid:innen begeht. Aktuell ist nicht bekannt, wohin die beiden verschleppt wurden, auch das Auswärtige Amt hat nach eigenen Angaben keine Informationen über den Verbleib der beiden Journalist:innen.

Für ihre Recherche besuchten Marlene und Matej zivilgesellschaftliche Institutionen und Projekte. Sie erarbeiteten Dossiers über die aktuelle Lebenssituation in der êzîdischen Selbstverwaltung im Şengal, mit dem Ziel, Menschen in Deutschland darüber zu informieren. Gerade hier sollte die Situation im Şengal von besonderem Interesse sein, ist Deutschland doch das Land, in dem ein großer Teil der êzîdischen Diaspora lebt. Mit ihrer Berichterstattung darüber, wie sich die Bevölkerung nach dem traumatischen Krieg organisiert, um sich der immer noch drohenden Gefahr eines Genozids zu verteidigen leisten die beiden Medienschaffenden einen wesentlichen Beitrag für Menschenrechte und Frieden.

Dass Marlene und Matej gerade am Tage des Neujahrsfests Çarşema Sor, einer der wichtigsten kulturellen êzîdischen Feierlichkeiten, festgenommen wurden, und ihre journalistische Arbeit damit kriminalisiert wird, ist kein Zufall. Denn die êzîdische Bevölkerung ist aktuell bedroht.

Schon letzte Woche kam es immer wieder zu Provokationen des irakischen Militärs in der Autonomieregion im Şengal, vor allem gegen die êzîdischen Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ), die nach der Befreiung der Region vom „IS“ zum Schutz der Bevölkerung aufgebaut wurden.

Die YBŞ ordnen diese aktuellen Eskalationen der irakischen Armee gegenüber den autonomen Selbstverteidigungsstrukturen als Versuch ein, das sogenannte „Şengal – Abkommen“ Stück für Stück durchzusetzen. Dieser Vertrag wurde von der irakischen Zentralregierung und der südkurdischen Regionalregierung beschlossen und legt im Wesentlichen die Zuständigkeiten von Behörden und Verwaltung der Region Şengal fest. In der Fassung dieses Abkommens nahm die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) des Barzani-Clans, gestützt durch die Türkei, eine Führungsrolle ein. Die êzîdische Selbstverwaltung, die einen Großteil der Region verwaltet, wurde von diesen Verhandlungen komplett ausgeschlossen. Dabei ist die Selbstverwaltung in Şengal für Êzîd:innen vor Ort aber auch in einem globalen Kontext, wichtiger Bezugspunkt, um an ihre Geschichte zu erinnern, für Leben in Freiheit, ihre Kultur und ihre Widerstandsfähigkeit.

Dass der Vertrag über die Region ohne die Beteiligung der Selbstverwaltung abgeschlossen wurde, ist der Versuch der irakischen Zentralregierung, vor allem aber auch der PDK, Kontrolle über das Gebiet zu erlangen und die Autonomie der Êzîd:innen einzuschränken und zu entmachten. Denn vor dem Genozid-Feminizid 2014 – bei dem sich bewaffnete Einheiten der PDK vor den vorrückenden Kräften des „IS“ zurückzogen, statt die Êzîd:innen zu verteidigen–, hatte die PDK komplette Kontrolle über die Region.

Die êzîdische Autonomieregierung steht den Machtansprüchen der südkurdischen Regionalregierung im Wege.

Der Angriff auf die Slebstverwaltung ist dabei über die Frage von territorialer Kontrolle hinaus eine ernsthafte existenzielle Bedrohung für die Êzîd:innen. Es gibt noch immer noch viele „IS“-Anhänger*innen im Irak, Syrien und anderen Ländern, die eine Bedrohung für das Leben der êzîdischen Bevölkerung insgesamtsind. Gerade vor dem Hintergrund des schändlichen Verhaltens der PDK-Truppen 2014 wäre eine Eroberung des Şengal katastrophal. Eine Entwaffnung der Selbstverteidigungskräfte würde die vollständige Schutzlosigkeit der êzîdischen Bevölkerung bedeuten.

Der militärische Angriff ist aber nur eine von vielen Maßnahmen, die der irakische Staat gegen die Selbstverwaltung unternimmt. Neben der Umsetzung des Şengal-Abkommens, ist der irakische Staat zurzeit dabei, zwischen Şengal und Rojava eine Mauer zu bauen, wogegen die êzîdische Gemeinschaft Widerstand leistet. Die befreiten Gebiete in Rojava waren während des Angriffs des „IS“ 2014 der einzige Ort, an den sich die Bevölkerung in Sicherheit bringen konnte.

Gleichzeitig ist der Angriff auf Şengal nicht losgelöst von den Angriffen der türkischen Armee sowohl auf die Medya-Verteidigungsgebiete in den Bergen Südkurdistans als auch auf Rojava zu sehen, die zurzeit stattfinden. Denn Rojava und die Medya-Verteidigungsgebiete stehen in enger Verbindung mit der Autonomieverwaltung im Şengal: die kurdische Selbstverwaltung unterstützt den Aufbau eines freien Lebens und es waren ihre Einheiten, die jene Region vom „IS“ befreit haben. Der Versuch der türkischen Regierung, die eng mit der PDK zusammenarbeitet, durch Lufschläge und Chemiewaffeneinsatz auch die kurdische Selbstverwaltung zu zerstören, ist offensichtlich zusammen mit der Eskalation im Şengal koordiniert.

Es ist politisches Kalkül der irakischen Zentralregierung, genau zu diesem Zeitpunkt der Provokationen und Attacken, internationale Medienschaffende durch das irakische Militär festnehmen zu lassen und sie damit daran zu hindern, über genau diese Eskalationen zu berichten. Es geht darum, ein Signal zu senden und die Presse in ihrer Freiheit einzuschränken und damit die Stimmen, die sich für Gerechtigkeit für die êzîdische Bevölkerung einsetzen, zum Verstummen zu bringen. Bereits im Januar diesen Jahres hatte das irakische Militär drei Journalist*innen festgenommen, die in Şengal die zunehmenden Militärbewegungen beobachtet hatten. Ihre Ausrüstung wurde beschlagnahmt, ihr Aufenthalt war zunächst unbekannt.

Marlene F. und Matej K. gefangen zu nehmen und damit an ihrer wichtigen Arbeit für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte zu hindern, ist ein Skandal und sollte auch die gebührende politische Aufmerksamkeit bekommen. Auf der Straße, in den Medien aber auch von der Regierung. Außenministerin Annalena Baerbock hat bereits einen offenen Brief erhalten, indem sie und andere Politiker:innen der Regierung dazu aufgefordert werden, sich für die Freilassung von den beiden Journalist:innen einzusetzen. Sie sollte ihrem Versprechen, eine „feministische Außenpolitik“ zu betreiben, nachkommen und alles in Bewegung setzten, damit die beiden frei gelassen werden.

Es geht dabei auch um ein Zeichen für Pressefreiheit und darum, zu verdeutlichen, dass es von politischem Interesse ist, dass die êzîdische Bevölkerung selbstbestimmt und in Frieden leben kann – genau die Werte, für die sich Marlene und Matej einsetzten.

#Bilder: eigenes Archiv.

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Interview mit Uli, 24 Jahre alt, Student aus Berlin. Uli ist organisiert in verschiedenen Strukturen und Teil der Initiative „PKK Verbot aufheben“.

#Dieter Oggenbach

LCM: Hi Uli, grüß dich. Die deutschen Repressionsbehörden haben mal wieder zugeschlagen. Diesmal gegen dich, unter anderem wurden dein Personalausweis und dein Reisepass eingezogen. Kannst du uns den Vorgang etwas genauer schildern?

Ende Januar 2022 erhielt ich einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich innerhalb von vier Werktagen meine beiden Ausweisdokumente abzugeben habe. Hierfür wurde keine Widerspruchsfrist eingeräumt, das hieß konkret, dass es zu Beginn keine rechtlichen Mittel gab, diese Maßnahme zu verhindern. Begründet wurde diese Maßnahme, dass laut Informationen des Berliner Landeskriminalamts (LKA), bekannt gewurden sein sollte, dass ich in der vergangenen Zeit mehrmals Anmelder von Versammlungen und Demonstrationen war. Weitergehend dass einigem einer Auslandsaufenthalte, unter anderem Urlaubsreisen, dem Zweck des Besuchs eines „terroristischen Ausbildungscamps“ in Griechenland gedient haben sollen bzw. in Verbindung stehen könnten. Mit den Maßnahmen gegen mich soll jetzt verhindert werden, dass ich aus der BRD ausreise, da das LKA mir unterstellt an etwaigen Kampfhandlungen im Nordirak/Südkurdistan bzw. der Förderation in Nord-Ost-Syrien teilnehmen zu wollen. Bis zum heutigen Tage sei laut LKA nicht auszuschließen, dass ich in Griechenland ein Ausbildungslager besucht hätte, in welchem ich den Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff trainiert haben könnte.

In den letzten Jahren können wir ja in der BRD einen steigenden Druck auf verschiedene teile der revolutionären Bewegungen feststellen, häufig unter der Konstruktion von vermeintlichen kriminellen oder terroristischen Vereinigungen im Rahmen des § 129a oder § 129b. Wie würdest du das aktuelle Verfahrne gegen dich einordnen in die generelle politische Lage in der BRD bzw. Politik des Deutschen Staates?

Die aktuellen Maßnahmen gegen mich, schätze ich als politisches Kalkül ein. Der deutsche Staat hat einerseits eine langanhaltende Tradition, revolutionäre Bewegungen anzugreifen. Wir können sehen, dass vor allem auch wieder seit 2020 die Repressionsschläge sich häufen, auch gegen Menschen die mit der kurdischen Freiheitsbewegung zusammenarbeiten. Von der Internationalistin Maria und ihrer faktischen Ausweisung und einem Einreiseverbot für die kommenden 20 Jahre (LINK), einem Mitarbeiter des Rojava Information Centers, dem auf Initiative der BRD die zukünftige Einreise in den Schengen Raum verwehrt wurde. Natürlich bezieht sich diese Repression aber insgesamt auf alle Menschen die in revolutionären Bewegungen aktiv sind. Von der Antifaschistin Lina und den Angeklagten im Antifa-Ost-Verfahren, über die Verfahren gegen die Genossen und Genossinnen in Stuttgart oder Hamburg. Dieser steigende Verfolgungsdruck legt nahe, dass die Kapazitäten der Verfolgungsbehörden deutlich erhöht wurden. Unter der neuen Bundesregierung wird, trotz ihres liberalen Erscheinungsbildes, der Repressionsdruck gegen uns alle massiv steigen.

Du hast die Auslandsaufenthalte angesprochen. Unter anderem nehmen die Behörden Bezug auf eine Reise von dir nach Südkurdistan im Sommer 2021 im Rahmen einer internationalen Friedensdelegation gegen den Krieg in Südkurdistan, an welcher ja auch Mitglieder des Deutschen Bundestags teilnehmen wollten. Kannst du uns dazu nochmal etwas mehr sagen?

Diese Friedensdelegation fand wie du sagtest im vergangenen Sommer statt. Gemeinsam mit ungefähr 80 weiteren Genossen und Genossinnen, sind wir nach Südkurdistan gereist, um für eine friedliche Lösung des Kriegs in Südkurdistan zu werben. Für einen innerkurdischen Dialog zu werben, und diejenigen die vom Krieg profitieren zu demaskieren. Der Krieg in Südkurdistan ist ein Krieg in dem ideologische Widersprüche, der faschistische Charakter des türkischen Staates und ökonomische Interessen einzelner Staaten massiv wirken. In diesem Kontext wollten auch wir Internationalisten und Internationalistinnen unseren Platz einnehmen und zeigen, dass wir nicht wegschauen was dort passiert.

Seit der Revolution in Rojava/Föderation Nord-Ost-Syrien, können wir vom Aufkommen einer neuen Phase des Internationalismus sprechen. Viele Genossen und Genossinnen weltweit sind dorthin gereist und haben sich in den verschiedensten Bereichen an der Revolution beteiligt, sich eingebracht, gelernt und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Damit stieg aber ja auch bereits der generelle Repressionsdruck gegen diese Menschen. Unser Redakteur Peter Schaber war ja, mit anderen gemeinsam, auch von einem § 129 Verfahren betroffen (LINK). Dieser Aufbau von Drohszenarien und der Versuch die Beziehungen zwischen deutscher revolutionärer Linker und kurdischer Freiheitsbewegung zu sabotieren ist hingegen ja nichts neues. Worin begründet sich diese Politik deiner Meinung nach?

Für mich ist das Verhältnis dieser Kräfte eine politisch-historisch gewachsene Verbindung. Schon in den 1990er Jahren begannen Internationalisten und Internationalistinnen sich auf den verschiedensten Ebenen am kurdischen Freiheitskampf zu beteiligen, eine sind in diesem auch gefallen. Wenn wir von der kurdischen Gesellschaft in der BRD sprechen, sprechen wir auch von einer esellschaft die in hohem Maße politisch ist, die in nahezu allen größeren Städten Vereinsstrukturen aufgebaut hat, politisch wirkt. Es gibt hier ein großes Potential, gegenseitig über den eigenen Tellerrand zu schauen. Deutschland spielt im Krieg in Kurdistan seit jeher eine zentrale Rolle. Deshalb ist die Zusammenarbeit der kurdischen Bewegung und den revolutionären Kräften in Deutschland auch eine politisch-ideologische logische Schlussfolgerung. Nur der gemeinsame Kampf kann unsere gemeinsamen Interessen verteidigen, öffentlich machen, durchsetzen und weiterentwickeln.

Jetzt gibt es ja zwei Ebenen in diesem Ganzen Vorgang. Die Verwaltungsrechtliche Ebene mit dem Passentzug und auch eine vermutlich strafrechtliche Ebene. Wie willst du mit dieser Herausforderung umgehen?

Wichtig ist zuallererst, diesen Fall, genau wie alle andere in die Öffentlichkeit zu stellen, zu skandalisieren und sich nicht isolieren zu lassen. Andernfalls bieten wir den Repressionsbehörden immer die Möglichkeit, Präzedenzfälle zu schaffen, die in Zukunft gegen andere Genossen und Gneossinnen verwendet werden können. Druck aufzubauen und Öffentlichkeit auf allen Ebenen ist aktuell das wichtigste. Es ist schon absurd, dass diesen Maßnahmen stattgegeben wurde, da der einzige Vorwurf der zutrifft der ist, dass ich Tatsache einige Demonstrationen angemeldet habe.

Wie gehst du persönlich nun mit dieser Situation um? Wie hat sich dein Alltag verändert? Welche Erfahrungen hast du gemacht mit Solidarität?

Zu Beginn fiel es mir schwer mit diesen Maßnahmen einen Umgang zu finden. Als dieser Brief eintrudelte, hatte ich mehrmals Besuch von Zivilpolizisten des LKA, die versucht haben über meine Mitbewohner und meine Angehörigen Druck auf mich auszuüben und Informationen zu erhalten. Das angeblich schützenswerte Grundrecht der freien Meinungsäußerung in der BRD führt diese Praxis natürlich offensichtlich ad absurdum, letztlich sind diese Aussagen immer eine große Heuchelei. Das Anmelden einer Demonstration und Reisen werden umgedeutet zu einer Art Terrorismus. Natürlich heißt das alles für mich, dass ich mir bewusst werden musste, dass ich nun im Fokus der Ermittlungsbehörden stehe. Unabhängig davon, welche Vorwürfe das LKA versucht zu konstruieren, unabhängig von falschen und wahren Tatsachen, ist es aktuell erst einmal so das gilt was auf dem Papier steht. Was mir vorgeworfen wird, und die vermeintliche Planung von Anschlägen, sind natürlich Dinge, die erstmal schwer wiegen. Auch im Rahmen privater Beziehungen. Dem eigenen Umfeld und auch der eigenen Familie das alles zu erklären, war stellenweise nicht so einfach, denn nicht alle haben den Kontext in dem das alles stattfand nicht direkt verstanden. Oft wird ja das Drohszenario aufgebaut, wenn einen solche Repression trifft, isoliert dazustehen. Ich habe allerdings eine unglaubliche Wärme gespürt. Meine Genossen und Genossinnen sind eine große Unterstützung für mich aktuell. Mir ist wichtig, aber auch heruaszustellen, dass auch wenn Repression natürlich ein Problem ist, sie uns nicht davon abhalten sollte, dass zu tun was notwendig ist, für das Einzustehen von dem wir überzeugt sind. Für uns, die deutsche Ausweispapiere haben, kann das auch sein zum Beispiel eine Demonstration auf unseren Namen anzumelden, da wir aufgrund unseres Passes andere Privilegien erhalten.

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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî“

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Obwohl ihm Inhaftierung, politische Verfolgung, Folter und im schlimmsten Fall sogar der Tod drohen, soll der 33-jährige Muhammed Tunç morgen, am 7. April, in die Türkei abgeschoben werden. Zwei Versuche der deutschen Behörden sind aufgrund seiner Wehrhaftigkeit, sowie des Engagements seines Anwalts und einer aktivistischen Öffentlichkeit bereits gescheitert. Doch nun scheint die Landesregierung Baden-Württemberg ernst zu machen: Laut Tunç wurde eigens ein Charter-Flug gemietet, welcher vom Stuttgarter Flughafen gen Diktatur abheben soll. 

Der Ausreisebescheid gegen Muhammed Tunç wurde schon im Jahr 2015 in Folge einer Verurteilung zu einer vierjährigen Jugendstrafe aus dem Jahr 2012 ausgestellt, welche er nach einer Auseinandersetzung mit türkischen Nationalisten absitzen musste. Doch Tunç, dessen Eltern schon aufgrund politischer Verfolgung nach Deutschland kamen, blieb. 2018 wurde er noch einmal verurteilt, diesmal wegen einer Auseinandersetzung mit der heute verbotenen türkisch-nationalistischen Rockergruppe Germanen-Osmania und sogar vorzeitig aus der Haft entlassen. Es ist also völlig unklar, warum ausgerechnet jetzt so vehement seine Abschiebung erzwungen werden soll.

Nicht nur, dass die Menschenrechtslage in der Türkei für linke politische Aktivist*innen und Kurd*innen weiterhin katastrophal ist – ihnen drohen in vielen Fällen aufgrund oppositioneller Äußerungen und Aktivitäten Inhaftierung und Folter. Muhammed Tunç wird zusätzlich von türkischen faschistischen Gruppierungen und Einzelpersonen mit dem Tode bedroht. So postete beispielsweise ein Instagram Account, von dem zuvor schon Drohungen gegen die Linke-Politiker*innen Cansu Özdemir, Gökay Akbulut sowie Civan Akbulut und den Referenten für Migration und Flucht bei medico international Kerem Schamberger abgesetzt wurden, dass er auf die Rückkehr des Fluges von Muhammed Tunç warte. Inklusive Flugnummer. Dahiner findet sich der Hashtag #jitemturkey. JİTEM bedeutet auf Deutsch soviel wie „Geheimdienst und Terrorabwehr der Gendarmerie“ – ein informeller Zusammenschluss von Sicherheitskräften, dessen Existenz zwar im Laufe türkischer Gerichtsverfahren in der Vergangenheit bestätigt wurde, die genaue Organisationsweise und der Zeitraum der Aktivitäten sind jedoch bis heute nicht bekannt. Sucht man im Internet und auf Social-Media-Plattformen nach dem Begriff, begegnen einem nicht nur Schilderungen von Einschüchterungsversuchen gegenüber Oppositionellen, sondern auch massenhaft Fotos und Videos von türkischen Nationalisten, in denen hauptsächlich Panzer, Gewehre und bewaffnete Männer in Uniform zu sehen sind, sowie Berichte über Morde an überwiegend kurdischstämmigen Aktivist*innen, die der JİTEM zugerechnet werden. 

Hinzu kommt, wie Muhammed Tunç im Gespräch mit dem LCM erzählt, dass in seinem Fall mittlerweile nicht mehr nur das Wort „Abschiebung“ sondern auch „Auslieferung“ fällt – denn als Mann in seinem Alter mit einer türkischen Staatsangehörigkeit wäre er dazu verpflichtet einen Wehrdienst in der Türkei abzuleisten. Seiner Schilderung nach, wurde ihm das bei einem Besuch im türkischen Konsulat am 23. März 2022, bei dem er einen Pass beantragte, nahegelegt. Das würde bedeuten, dass er neben einer absehbar schlechten Behandlung innerhalb des Militärs, auch in Gebiete geschickt werden könnte, in denen die türkische Armee aktuell einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt: beispielsweise in Nordsyrien gegen die Kurden. Die einzige Möglichkeit, den Dienst zu umgehen, ist eine Zahlung von mehreren tausend Euro. Muhammed Tunç soll also in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm schlimmste Verbrechen drohen. Und falls er das überlebt, soll er sich an ihnen beteiligen – eine perfide Logik.

Und die grüne Landesregierung in Baden-Württemberg? Im letzten Jahr wurden über 1.300 Personen aus dem Bundesland abgeschoben. Unter anderem in Türkei und vor dem Abschiebestop im August 2021 sogar nach Afghanistan. Und dann gibt es noch jene Fälle, in denen die Abschiebung vorerst verhindert werden konnte: Heybet Sener beispielsweise, ebenfalls ein kurdischer Aktivist, der erst vor vier Jahren nach Deutschland geflohen war, weil er in der Türkei verfolgt wurde. Oder Veli I. ein 66-Jähriger, der schon seit 30 Jahren in Deutschland lebt und krank ist. Es gibt viele solcher Fälle. Auch wenn das Ministerium für Justiz und Migration von der CDU geführt wird – die dominante Partei in der Landesregierung ist Bündnis90/die Grünen. Gleichzeitig bezeichnen diese sich selbst auf ihrer Webseite als „ökologisch, ökonomisch und sozial“ und werben für Feminismus und Ukraine-Solidarität. Blanker Hohn für die tausenden Betroffenen grüner Realpolitik.

Muhammed Tunç erzählte dem LCM von seinen Erfahrungen mit der Grünen Partei. Nachdem seine Abschiebung bereits im Februar zweimal verhindert werden konnte, meldete sich der Grüne Landtagsabgeordnete Daniel Lede Abal bei ihm. Er versprach seine Unterstützung und unterbreitete ihm sogar die Möglichkeit, freiwillig in ein Drittland auszureisen. Dem stimmte Herr Tunç zu – denn er weiß, was ihm in der Türkei droht – hatte jedoch immer mehr das Gefühl, dass die notwendigen Schritte für seine Ausreise wieder und wieder verschleppt werden. Bis das Angebot plötzlich am 02. April 2022 zurückgezogen wird. Warum ist unklar. Auf Anfrage äußerte der grüne Landtagsabgeordnete und Sprecher für Migration Lede Abal:

„Politische Verfolgung steht in der autoritär geführten Türkei auf der Tagesordnung. Es ist allgemeinhin bekannt, dass insbesondere politisch aktive Kurdinnen und Kurden in den Fokus des Erdogan-Regimes geraten. Wie andere Betroffene werden auch sie wegen fingierten Gründen willkürlich verhaftet, tyrannisiert, teilweise auch gefoltert. Der Fall Muhammed Tunç löst bei uns daher große Besorgnis aus. Wir halten die Abschiebung des in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Herrn Tunç für falsch. Dies teilten wir bereits vor mehreren Wochen dem Justizministerium mit. Wir haben uns heute erneut mit verschiedenen Fragen an das Justizministerium gewandt und um Stellungnahme gebeten.“

Auf die Frage nach der unterbreiteten Ausreise in einen alternativen Drittstaat, gab er jedoch keine Antwort. Auch das Ministerium für Justiz und der Migration Baden-Württemberg äußerte sich weder zu der Frage, warum Muhammed Tunçs Ausreise plötzlich forciert wird, noch dazu, ob der für morgen geplante Flug trotz seiner aktuellen Covid-19-Erkrankung wie geplant stattfinden soll. Es teilte lediglich mit, dass „Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse […] durch das dafür zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geprüft und verneint“ wurden. Und das, obwohl selbst das Auswärtige Amt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen zur Türkei vor „Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperren“ aufgrund von „regierungskritischen Stellungnahmen“ warnt und betont, dass dies in besonderem Maße Personen betreffe, die unter anderem eine türkische Staatsangehörigkeit besitzen, sowie dass „die türkischen Strafverfolgungsbehörden […] umfangreiche Listen mit Wohnsitz in Deutschland (führen), die […] zum Ziel von Strafverfolgungsmaßnahmen werden können.“ 

Und auch die Haftbedingungen in der Abschiebungshaft unterscheiden sich laut seiner Aussage nicht wirklich von denen, der ebenfalls in Pforzheim untergebrachten Strafgefangenen: „Hier ist alles gleich geblieben, nicht einmal die Farbe von den Türen hat sich verändert“ – Muhammed Tunç kennt das Gefängnis noch von früher. Schon 2019 stand die Haftanstalt in der Kritik, die Arbeitsgemeinschaft Abschiebehaft warf der Leitung damals fehlende Fürsorge und eine unnötige Reglementierungen der ehrenamtlichen Beratungsangebote in der Anstalt vor. Tunç berichtet in Folge seiner Öffentlichkeitsarbeit und des Anprangerns der Haftbedingungen auch von Schikane seitens der Justizvollzugsangestellten. So wurde ihm zum Beispiel im März sein eigenes, offiziell zugelassenes, Handy abgenommen worden – stattdessen bekam er eine Sim-Karte, bei der die Minute 0,33€ kostet und seine Telefonzeit wurde auf zehn Minuten pro Tag beschränkt. 

Betrachtet man die Abschiebepraxis der grün-schwarz geführten Landesregierung im Allgemeinen und den Fall Muhammed Tunç im Besonderen, stellt man wieder einmal fest, dass die Grüne Partei so gar nicht das umsetzt, wofür sie angeblich wirbt. Einen Charterflug in die Türkei zu mieten, um eine Person abzuschieben, die dort mit ziemlicher Sicherheit politischer Verfolgung von staatlichen und staatsnahen Gruppen ausgesetzt sein wird, ist weder ökonomisch noch ökologisch, geschweige denn sozial. 

#Foto: pixabay

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Am 16. März jährte sich der Giftgasangriff irakischer Truppen auf die kurdisiche Stadt Halabdscha zum 34. Mal. Unsere Autor:innen Lea Steding und Wanja Musta waren zu den Gedenfeierlichkeiten in Halabdscha und schreiben über die Hintergründe des Massenmordes und die Rolle Deutschlands bei seiner Durchführung.

Es gibt eine Metapher in Kurdistan für das, was am 16. März 1988 in der Stadt Halabdscha passiert ist: „elmar kokosu“, der „Geruch von Äpfeln“. Nach einer Bombardierung, beim Verlassen der Schutzräume stieg den Überlebenden dieses Aroma in die Nase. Ein Zeitzeuge berichtet: „Anfangs roch es wie vergorener Müll, dann entfaltete sich ein Duft wie von süßen Äpfeln“. Innerhalb der nächsten Stunden starben über 5.000 Menschen an den Folgen des Giftgases. 10.000 weitere wurden durch schwerste Verbrennungen und Verätzungen dauerhaft geschädigt.

Der erste Journalist, der Halabdscha nach dem Angriff erreichte, war der türkische Fotograf Ramazan Öztürk. In einem Interview beschrieb er: „Wir kamen 24 Stunden nach dem Angriff in die Stadt. Es war geradezu lautlos. Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten. Während des Fotografierens habe ich die ganze Zeit geweint und zu Gott gebetet, dass es ein Traum sei und ich gleich aufwache. Ich erinnerte mich an Berichte aus dem jüdischen Holocaust, wie die Opfer in den deutschen Gaskammern übereinander nach oben geklettert wären, um voller Verzweiflung dem Gas zu entkommen. In Halabdscha sah ich viele, die in Gruppen gestorben waren und so wirkten, als hätten sie gemeinsam versucht das Gift nicht einzuatmen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Vor dem Giftgasangriff hatte am Morgen die irakische Luftwaffe unter Saddam Hussein die Stadt bombardiert. Halabdscha war unmittelbare Frontlinie und wenige Tage zuvor waren iranische Truppen in der Stadt gewesen. Die Kurd*innen selbst wurden von irakischer Seite als Verbündete von dem Kriegsgegner Iran bezeichnet. „Vernichtet sie“, lautete einer der Befehle des Regimes Saddam Husseins.

Die Zentralregierung Iraks hatte zu diesem Zeitpunkt ein besonderes Augenmerk auf Halabdscha. Die Autonomiebestrebung der Kurd*innen hatten sich bis ins Jahr 1987 zu Anti-Regierungsprotesten zugespitzt. Die Antwort durch das irakische Militär waren Hinrichtungen von Demonstrant*innen, zahlreiche Verhaftungen und das Einreißen der Häuser derer, die den Widerstand gegen die Regierung unterstützten.

Bereits zu der Zeit war bekannt, dass die irakische Luftwaffe Giftgasangriffe gegen dutzende kurdische Dörfer durchführte. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker berichtete in deutschsprachigen Medien darüber.

Ein Tag vor dem großen Giftgasangriff gegen Halabdscha war die Stadt von kurdischen Rebell*innen der PUK (Patriotic Union of Kurdistan) mit Hilfe der Iranischen Armee eingenommen worden. Die PUK ist auch heute noch hier die dominante politische Partei.Als Antwort darauf flogen ab 11 Uhr morgens Kampfflugzeuge der irakischen Luftwaffe über die Stadt und die Bombardierungen begannen.

Die deutsche Verstrickung

Auch deutsche Akteur*innen waren an diesem unfassbaren Verbrechen beteiligt. Doch auch diese Verwicklungen geraten zu leicht in Vergessenheit. Unkrautvernichtungsmittel sollen es gewesen sein, deren Zutaten deutsche Firmen in Unmengen an den Irak verkauften. Über zwei Drittel der irakischen Giftgasanlagen kamen, laut Berichten von Medico international, von deutschen Firmen. „Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten. Deutsche arbeiten an der Weiterentwicklung der SCUD-Raketen und am irakischen Atomprogramm.“, heißt es weiter in dem 2013 veröffentlichten Bericht „Halabdscha – In Erinnerung an den Giftgasangriff auf irakische KurdInnen“.

Der Menschenrechtsanwalt Gavriel Mairone vertritt die Überlebenden in einem Prozess gegen die Täter. Aufgrund der ihm vorliegenden Beweismittel hält er drei Firmen aus Deutschland für die wichtigsten Akteure im Bau der Giftgasalagen unter Saddam Hussein: Das ist zum einen die Preussag AG, die ihren Namen 2002 in TUI umgeändert hat und heute ihre Geschäfte als Tourismusunternehmen macht; zum zweiten die Firma Karl Kolb und das Subunternehmen Pilot Plant – sie haben die Chemiewaffenfabriken entworfen und geliefert. Mit dabei war auch die Konstruktionsfirma Heberger Bau, welche Bunker und Untergrund-Fabriken errichtet hat.

So lieferten diese Firmen doch nicht nur Unkrautvernichtungsmittel, sondern gleich die ganze Infrastruktur zur Massenvernichtung dazu. Auch Kühlhäuser und Gaskammern, um das Gift zu testen, gehörten dazu. Der US-amerikanische Anwalt Gavriel Mairone gibt an: „Zwei riesige Inhalationskabinen haben Karl Kolb und TUI bei der deutschen Firma Rhema Labortechnik bestellt. Diese waren drei mal drei Meter groß, was viel zu groß ist, um Tests an kleinen Insekten durchzuführen. Die waren entworfen worden, um zunächst Tests an Hunden durchzuführen und später an Eseln. Es gibt Berichte, dass auch iranische Kriegsgefangene benutzt wurden, um die Chemiewaffen an ihnen zu testen.“

Das alles ist den deutschen Behörden schon weit vor dem Anschlag bekannt gewesen. So berichtete der US-Geheimdienst bereits in den frühen 80er-Jahren dem Kölner Zollkriminalinstitut, mit hunderten Dokumenten, über die Unterstützung der Firmen des Saddam-Regimes. Trotz dieser Informationen und den gesammelten Beweisen blieb eine tiefgehende rechtliche Aufarbeitung von deutscher Seite aus.

In einer späteren Anfrage des SWR2 wiesen die Firmen die Vorwürfe zurück. Die TUI AG berief sich darauf, dass ihr Firmenname und der Zweck sich seit 2002 geändert habe und sie sich komplett aus der industriellen Sparte zurückgezogen habe. Dadurch kann, laut Gericht in Darmstadt, kein Zusammenhang mehr zu den Ereignissen im Irak 1988 hergestellt werden. Karl Kolb versucht, den Transport der Materialien nicht zu leugnen, sondern nur das Wissen um dessen Nutzung. Doch war die deutsche Botschaft in Bagdad wohl schon Anfang der 80er-Jahre von einem Mitarbeiter der Firmen darauf Aufmerksam gemacht worden, dass es sich bei den Geschäften nicht um Ungezieferbekämpfung handelt. Dieser Mitarbeiter wurde einen Monat später gekündigt. Als der deutsche Ingenieur Fritz-Willi Dörflein ein Jahr später die Anlage besuchte und einen der Arbeiter fragte, was sie dort machten, soll ihm dieser geantwortet haben: „Wir stellen Mittel gegen Ungeziefer her – gegen Wanzen, Flöhe, Heuschrecken, Perser, Israelis“.


Auch auf politischer Ebene ging die Übernahme von Verantwortung nicht weiter, ganz im Gegenteil. Die Frage ist, inwieweit die deutsche Regierung Reparationszahlungen an die Hinterbliebenen und die Stadt Halabdscha zahlen muss. Im Jahr 2021 lehnte hierzu der Menschenrechtsausschuss den dazu vorliegenden Antrag ab. Dabei stimmten vor allem CDU/CSU, SPD, FDP und AfD dagegen. Die Grünen enthielten sich. Von Seiten der Grünen-Fraktion bezog Kai Gehring Stellung. „Auch wenn wir grundsätzlich das Anliegen teilen, kritisieren wir die Art der Befassung mit derart schweren Verbrechen und die unzureichende Einordnung der ‚Anfal Operation‘ in den historischen Gesamtkontext“, heißt es in seiner schriftlichen Aussage dem SWR2 Wissen gegenüber.

Die Zurückhaltung der deutschen Regierung mit der Aufarbeitung des Giftgasangriffs auf Halabdscha muss auch im größeren Zusammenhang gesehen werden. Berlin zeigt hier nämlich vor allem seine Haltung gegenüber den Kurd*innen. Diese Haltung hat eine Kontinuität. So wurde nach dem Überfall auf Afrin 2018 durch das türkische AKP/MHP-Regime bekannt, dass hier auch deutsche Waffen eingesetzt wurden. Doch statt Waffenexporte zu stoppen, bzw. klare Sanktionen auszusprechen, wurde dem treuen Kunden der deutschen Waffenindustrie die Fortsetzung seines Angriffskriegs gewährt.

Die türkische Regierung bombardiert in Permanenz vermeintliche Stellungen „terroristischer“ Gruppen in kurdischen Gebieten. Gemeint ist damit die Guerilla der PKK. Eine historische Parallele zu Halabdscha ist dabei auch nicht weit entfernt. Erdogan behauptet, er würde „nur“ die PKK bombardieren, genauso wie Saddam Hussein behauptete, er würde „nur“ die iranische Armee bombardieren, aber tatsächlich werden Zivilist*innen und Geflüchteten Lager die Opfer dieser Angriffe. Doch die deutsche Regierung sieht keinen Grund einzugreifen. Dabei spielt die sogenannte deutsch-türkische Freundschaft eine große Rolle. Diese bekommt die Bevölkerung vor allem dadurch mit, dass deutsche Parlamentarier*innen an ihrer Ausreise in kurdische Gebiete gehindert werden, wie im Juni 2021 als Hamburgs Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir zu einer Friedensdelegation in die Autonome Region Kurdistan reisen wollte; oder dadurch, dass selbst Kurd*innen in Deutschland ständiger Gefahr einer Abschiebung durch die Bundesregierung in die Türkei ausgesetzt sind. Was sie dort erwartet ist eine Verurteilung wegen „Terrorpropaganda“ – gemeint sind damit kritische Social-Media-Beiträge für Grundrechte von Kurd*innen, wie es beispielsweise im Fall von Heybet Sener in München aktuell passiert.

Klar ist, dass Saddam Hussein bis zum 2. Golfkrieg durch unklar formulierte Außenwirtschaftsgesetze und durch verdrehte Freiheitsprinzipien seitens Deutschlands unterstützt wurde. So wurden durch die sogenannte Dual-use-Regel, also wenn Geräte sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, die Firmen durch die deutsche Gesetzgebung freigesprochen. Aber auch die deutsche Politik selbst versucht, sich der Verantwortung – damals wie heute – zu entziehen. Wie einst der Sprecher der Kolb-Pilot-Plant sagte: „Für die Leute in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache, Kunden im Ausland stört das nicht“.

Damals wie Heute

Heute, 34 Jahre später, sind die Spuren des Anschlags verdeckt. Die Häuser wurden platt gemacht, Keller versiegelt und neue Gebäude darauf errichtet. Nur wenige Ruinen, die Gedenkstätte und ein Park erinnern an das Verbrechen. Doch das Trauma steckt tief in der Gesellschaft und die Gespräche mit den Bewohner*innen führen immer wieder zu dem Ereignis am 16.März.

Auch die Gedenkstätte und die alljährliche Gedenkveranstaltung wird nicht gut von der Bevölkerung angenommen. Ganz im Gegenteil. Während bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung an der offiziellen Gedenkstätte sich für kaum mehr als eine halben Stunde Politiker*innen ablichten lassen, formiert sich am Basar eine spontane Gegendemonstration. Die Menschen sind voller Zorn. Ohne Transparente, Fahnen oder Schilder versammeln sie sich und schreien. Wen sie anschreien scheint dabei fast egal. Ob es nun das Militär ist, das die umliegenden Straßen absperrt, oder die Journalist*innen die heran geeilt kommen oder vorbei gehende Passant*innen. Ihnen wird so oder so das Gefühl gegeben, nicht gehört zu werden. Dabei sind die Inhalte ganz klar. Jeder Mensch, der hier wohnt, hat nahe Verwandte durch den Anschlag verloren und dazu oftmals die komplette eigene Existenz. Während schöne Worte jedes Jahr wiederholt werden, übernimmt niemand wirklich Verantwortung. Weder hier im Inland, noch im Ausland.

Dass das den Menschen nicht reicht macht auch Kak Narshirwan klar. Er ist Lehrer an einer staatlichen Schule in Halabdscha. Mit ausländischen Medien spricht er eigentlich nicht, außer er hat das Gefühl, dass sie nicht nur kurz einmal im Jahr über das Leid der Menschen aus seiner Stadt berichten wollen. Er möchte, dass die Perspektive der Leute nach außen kommen. Kak Narshirwan spricht von Verantwortungslosigkeit der Regierung, als er die wenigen verbliebenen zerbombten Teile des alten Basars anschaute. Eigentlich müssten diese in den letzten Jahrzehnten schon längst wieder aufgebaut worden sein, meinte er, aber weder dieser Teil noch die anderen Häuser, die zum Großteil durch die Bevölkerung selbst wieder aufgebaut worden sind, wurde durch die Regierung unterstützt. Der Konflikt zwischen der kurdischen Regierung und den Regierungen der Zentralstaaten, die Kurdistan besetzt halten, im speziellen der irakischen, seinen dabei in den letzten Jahren ein zentraler Punkt gewesen. Die kurdische Regionalregierung in der Autonomen Region Südkurdistan kann sich dabei nicht auf Zuständigkeiten mit dem Irak einigen. Dabei leiden nicht nur die Reparationszahlungen und der Umgang mit Halabdscha darunter, sondern auch alle staatlich organisierten Stellen. So sagt der Lehrer fast beiläufig, dass er seit fast zwei Monaten kein Gehalt bekommt und deswegen seit gut 2 Wochen mit seinen Kolleg*innen fast überall in der Autonomen Region in Streik getreten ist. Auch hier sind sich die zwei Regierungen nicht einig. Es herrscht Perspektivlosigkeit und Frust, erklärt er. Nicht nur Deutschland gegenüber, oder der irakischen Zentralregierung, sondern auch gegenüber den zwei größten Parteien der kurdischen Regierung, die sich immer wieder dem Westen und kapitalistischen Denkweisen anbiedern.

„Die Menschen in Halabja haben vor allem einen Wunsch. Sie wollen gesehen werden. Sie wollen, dass ihr ‚Schicksal‘ als solches anerkannt wird – und nicht als x-beliebiges Kriegsverbrechen in der Menschheitsgeschichte“, wie der Überlebende Omid Hama Ali Rashid sagt. Der „Geruch von Äpfeln“ erinnert noch heute viele Menschen aus der Region an dieses grauenhafte Verbrechen. Doch liegen die Missstände nicht ausschließlich in der Vergangenheit. Sowohl die Suche nach Verantwortlichen und Wiedergutmachung, als auch die Fortführung der Unterdrückung der Kurd*innen zieht sich bis heute fort. Deutschland hat dabei eine wichtige Rolle. Aktuell sieht diese Rolle so aus, dass wechselnde Regierungen die Unterdrückung unterstützen und die Aufarbeitung behindern. So liegt es gerade an der kurdischen Community und deren Unterstützer*innen in Deutschland weiter darum zu streiten, dass die deutsche Bundesregierung ihre Verantwortung anerkennt und ihre „Freundschaft“ mit dem türkischen AKP/MHP-Regime beendet.

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Eine Gruppe an den Ideen des kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan orientierter Aktivst:innen hat ein Akademie-Projekt begonnen. Wir haben mit ihnen über ihre Ziele gesprochen.

Vor kurzem habt ihr die Akademie der Demokratischen Moderne ins Leben gerufen. Was können wir uns darunter vorstellen? Wer seid ihr und was sind eure Ziele?

Wir sind eine Gruppe von AktivistInnen, die aus unterschiedlichen Kontexten und sozialen Kämpfen zusammengekommen sind. Wir sehen unsere Aufgabe im Aufbau der Demokratischen Moderne, in der Bildungsarbeit zur Schaffung eines neuen Verständnisses von demokratischer Politik, gesellschaftlicher Aufklärung und für ein neues politisch-moralisches Bewusstseins, welche die Grundlagen einer freien Gesellschaft bilden. Gleichzeitig betrachten wir das Schaffen von neuen Netzwerken und Verbindungen zwischen demokratischen Kräften als grundlegende Voraussetzung für den Aufbau der Demokratischen Moderne. Über die Schaffung von Foren und Plattformen wollen wir zur Stärkung des internationalen Erfahrungsaustausches beitragen und bestehende Kämpfe verbinden.

Wenn ihr von „Demokratischer Moderne“ sprecht, was meint ihr damit?

Die Demokratische Moderne, basierend auf einer demokratischen Gesellschaft, einer ökologischen Industrie und dem politischen Systems des Demokratischen Konföderalismus, begreifen wir als Gegensystem zur existierenden Weltordnung, der Kapitalistischen Moderne. Dabei stützen wir uns auf die Theorie und das politische Denken Abdullah Öcalans, welcher den meisten wohl eher als Repräsentant und Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung bekannt ist.

Abdullah Öcalan analysiert in seinen Schriften die Geschichte der Zivilisation, als Kampf zwischen zwei Linien welche immer parallel zueinander aber im ständigen Widerstreit miteinander existiert haben. Auf der einen Seite der Geschichte stehen dabei die Widerstände der Gesellschaft, der Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Frauen und der Jugend sowie alle Versuche eines selbstbestimmten und freien Lebens. Diese Geschichte reicht von den antiken Sklavenaufständen bis zu den Klassenkämpfen, Revolutionen und nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite finden wir die Geschichte der Herrschenden, der Staaten und Imperien, der Könige und Despoten.

Wir gehen davon aus, dass auch heute zwei „Modernen“ nebeneinander existierenden und der Kapitalismus gar nicht so fest im Sattel sitzt, wie das manchmal scheinen mag. Die Intensität der Krise der Kapitalistischen Moderne nimmt für die Menschen weltweit spürbar zu und die Ablehnung wächst. Die Frage nach Alternativen wird mittlerweile in breiten Kreisen gestellt und diskutiert. In den Massenprotesten und Aufständen der vergangenen Jahre, dem Neuerwachen einer globalen Frauenbewegung, der jungen Klimagerechtigkeitsbewegung, den Protestbewegungen gegen Rassismus und weiße Vorherrschaft, aber auch den Massenstreiks in Industrie und Landwirtschaft vor allem im globalen Süden, wird die Demokratische Moderne fassbar und nimmt Gestalt an.

Die alte und die neue Welt, also die Kapitalistische Moderne und die Demokratische Moderne existieren heute schon nebeneinander und ineinander verschränkt. Doch während die Kapitalistische Moderne ein hochorganisiertes und weltumspannendes System darstellt, ist die Alternative bis heute unorganisiert, zersplittert und ohne einen strategischen und vereinigenden Vorschlag der gemeinsamen Organisation. Unter der Demokratischen Moderne verstehen wir auch den Vorschlag, die voneinander isolierten Kämpfe unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen.

Wir nehmen mal an es ist kein Zufall, dass ihr eure Seite am 18. März, dem Jahrestag der Ausrufung der Pariser Kommune 1871, vorstellt, oder?

Das ist richtig. Das ist natürlich kein Zufall. Wir finden es wichtig, an die Geschichte demokratischer und revolutionärer Bewegungen anzuknüpfen und von den Kämpfen, Erfolgen und auch Niederlagen der Vergangenheit zu lernen. Daher hat das Datum natürlich eine besondere Bedeutung für uns. Die Pariser Kommune hat in der Epoche der Kapitalistischen Moderne als einer der ersten und der konkretesten Versuche eine andere Welt aufzubauen, Symbolcharakter gewonnen. Die Kommune mit ihrer basisdemokratische Organisationsform, durch welche sich die Menschen selbst ermächtigen ihr Leben in die eignen Hände zu nehmen, ist für uns das konkrete Modell wie eine Gesellschaft sich selbst verwalten kann. Im Demokratische Konföderalismus, welchen wir als politisches System gesellschaftlicher Verwaltung und Alternative zum Nationalstaat liberaler oder autoritärer Prägung, vorschlagen, ist die Kommune die kleinste Zelle gesellschaftlicher Selbstorganisation. Ganz praktisch findet dieses Modell heute seine Anwendung in der autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und anderen Teilen Kurdistans.

In eurem Selbstverständnis, sprecht ihr von einer Krise revolutionärer und demokratischer Bewegungen, aber auch von einer globalen Suche nach Alternativen. Wie seht ihr eure Rolle in der Suche nach neuen Ansätzen?

Wir konzentrieren uns vor allem auf Bildungsarbeit und wollen eine Plattform bieten, um Lösungsansätze für lokale Probleme als auch die grundlegenden Widersprüche des herrschenden Systems zu diskutieren. Wir sind davon überzeugt, dass eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung nicht ohne den Aufbau der nötigen Organisation denkbar ist. Und dass eine Organisation nichts ist, ohne eine kohärente und solide theoretische Grundlage. Gleichzeitig betrachten wir es als unsere strategische Aufgabe, die bestehenden Kämpfe zu verbinden und globale Netzwerke des Austausches und der Solidarität zu schaffen.

Durch Erfahrungsaustausch und Dialog kann gegenseitiges Verständnis und kollektives Bewusstsein geschaffen werden. Dabei geht es uns darum, ideologische Gräben zu überwinden und unsere geteilten Werte und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Wir wollen ein Bewusstsein für die historische und globale Verbundenheit aller Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung schaffen, um so unseren Kämpfen weltweit zu neuer Stärke zu verhelfen. Die Lösung der dringendsten Menschheitsprobleme verlangt heute mehr denn je zuvor die Schaffung globaler Plattformen und Strukturen. Allein die ökologische Katastrophe macht deutlich, dass einzelne isolierte Lösungsansätze zum Scheitern verurteilt sind. Erst die Verbindung der lokalen Arbeit mit einer globalen Perspektive, kann einen Ausweg aus der Krise eröffnen.

Also geht es euch um mehr als Theorieproduktion …

Ja, unsere Ideen bringen schließlich nichts, solange sie nur schöne Worte bleiben. Zur Überwindung der Kapitalistischen Moderne braucht es auch konkreter lokaler und globaler Strukturen. In diesem Sinne betrachten wir unsere Arbeit als einen Beitrag zum Aufbau des Demokratischen Weltkonföderalismus. Mit der Verbreitung von Ideen, der Erarbeitung einer theoretischen Basis und der Mobilisierung und Vernetzung des bestehenden organisatorischen Potentials wollen wir den Weg dafür bereiten, die Demokratische Moderne aufzubauen. Wenn es gelingt, demokratische Politik im Alltag auszuweiten – durch Bündnisse, Räte, Kommunen, Kooperativen, Akademien –, wird sich die Kraft der Gesellschaft entfalten und für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zum Einsatz kommen. Letztendlich geht es darum im Weltmaßstab die nötigen, Plattformen, Netzwerke und Organisationen zu schaffen, die es braucht, um im 21. Jahrhundert das kapitalistische System tatsächlich herauszufordern. Wir denken, dass wenn die Herrschenden über unzählige Gremien, Plattformen und Orte der Koordination verfügen, dann muss auch unsere Seite der Geschichte sich global organisieren und Orte der gemeinsamen Planung und Aktion schaffen. Auch wenn in den letzten Jahren viele vielversprechende Versuche unternommen worden sind, so spüren wir doch, ganz besonders in Zeiten in denen der imperialistische Krieg weite Teile der Welt heimsucht, die dringende Notwendigkeit internationale Strukturen und Organisationen revolutionär-demokratischer Kräfte zu schaffen.

Klingt ambitioniert. Aber was wollt ihr kurzfristig machen um dem Ganzen näher zu kommen?

Wir fangen im Kleinen an. Ein erster ist Schritt die Website mit der wir in Zukunft eine Plattform für den Diskurs über die Demokratische Moderne bieten wollen. Gleichzeitig wollen wir dort ideologische Schriften, Übersetzungen und eigene Perspektiven veröffentlichen. Es geht zuallererst auch darum, in bestehende Diskurse zu intervenieren und neue Horizonte aufzuzeigen. Über gesellschaftliche Bildungsarbeit, Konferenzen und Publikationen können Inhalte vermittelt und die theoretische Grundlage für eine erfolgreiche Praxis gelegt werden. Durch diese Arbeit erhoffen wir uns Möglichkeiten mit möglichst vielen revolutionär-demokratischen Kräften in Austausch zu kommen und gemeinsam die Diskussion über das was zu tun ist, vertiefen.

#Foto: ANF

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Die PalästinenserInnen schrieben sich zur Kommunikation gegenseitig Notizen, die sie an Steine banden und zwischen den Baracken hin und her warfen. Dort wo sie auf den Boden fielen, wurden sie gelesen, wenn sie an jemanden aus dieser Baracke adressiert war, wurde die Notiz übergeben, wenn sie aber an andere adressiert war, wurde sie einfach weiter geworfen. Diese Methode haben auch wir ausprobiert.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-israil-esir-kampindan-kurdistan-a-154645. Für leichtere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 3 von 3, Teil 2 findet ihr hier)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Während des Gesprächs erzählte uns Xalid Çelik, dass es vom ersten bis zum 26. Tag der Gefangenschaft intensive Folter gegeben hat. Jene, die besonders zur Vernehmung ausgesucht wurden, kamen nie wieder zurück. Sie waren komplett verschollen. Er berichtet uns über die zwei Jahre, die er in Gefängnissen in Israel und Syrien verbracht hat und wie er schließlich in die Berge Kurdistans und in Freiheit gelangt ist.

Hatten die israelischen SoldatInnen erfahren, wer ihr wart?

Die Israelis wussten nicht, dass wir von der PKK waren. Am ersten Tag hatten sie uns gefragt, wer wir waren. Wir hatten diese Ausweise. Die haben wir ihnen dann gezeigt. Später haben wir erfahren, dass es auch andere solcher Camps gab und dass auch dort GenossInnen waren. Wir wussten bis dato nichts über die anderen FreundInnen. Dass die Freunde auf der Burg Arnon gefallen waren, haben wir erst dort erfahren und dann auch ein Gedenken organisiert. Unter den Gefallenen war auch mein Bruder Kemal. Die Freunde Abdullah Kumral, Irfan Ay und Mustafa Marangoz waren auch darunter. Sie waren aktive Militante der PKK. Ich kann mich an die Gesichter von allen erinnern.

Irgendwann begannen die Vernehmungen unter Folter. Zahlreiche PalästinenserInnen überlebten diese nicht. Viele waren danach behindert. Von denen, die „speziell ausgesucht“ wurden, mal ganz zu schweigen. Diese waren danach komplett verschollen.

Wir hatten unter uns einen Beschluss gefasst, den uns ein junger Mann aus Qamishlo, der auch bei uns war, vorgeschlagen hatte. Er lebt noch und er möge hoffentlich noch lange leben. Er meinte, dass wir nicht sagen sollten, dass wir Fedais sind (Menschen, die ihr ganzes Leben dieser Sache gewidmet haben und bis zum Tod kämpfen), sondern arme Menschen aus Qamishlo, die hier zum Arbeiten wären. Wir sollten sagen, dass es in unserem Land Arbeitslosigkeit gebe, wir keine Schulen besucht hätten und deshalb auch die arabische Sprache nicht sprechen. Außerdem sollten wir ihnen vorwerfen, dass wir ihretwegen nicht mehr arbeiten könnten, weil sie uns gefangen hielten. Dieser junge Mann aus Qamishlo war selbst syrischer Soldat und geriet so in Gefangenschaft. Auf diese Aussage hatten wir uns geeinigt. Ein, zwei von uns haben dann bei der Vernehmung gesagt, dass wir aus Syrien sind. Einer von diesen war Mehmet Teşk, der später dann in Mazgirt (Anm. d. Red.: Kreisstadt in Dêrsim in Nordkurdistan) gefallen ist. Wir sagten “Wir sind Syrer, aus dem Dorf X, ihr könnt die anderen fragen“. Wir sagten das zwar, aber jedes Mal schickten sie uns mit schlimmer Folter, Schlägen und Beleidigungen wieder zurück in unsere Baracken. So vergingen 26 Tage.

Wir blieben bei der Vernehmung konsequent und änderten nichts an unseren Aussagen. Drei weitere Freunde sagten, dass sie irakische Kurden seien, weil sie sich nicht sicher waren, ob sie „syrische Kurden“ sagen sollten, da Syrien und Israel im Krieg waren. Deshalb behaupteten sie, sie seien irakische Kurden. Ein paar andere erzählten, dass sie iranische Kurden seien und dass sie in ihrer Heimat Unterdrückung erfahren hatten. Von dem verletzten Freund wussten wir zu dem Zeitpunkt nichts, erst später haben wir von ihm erfahren.

Die Zeit verging, der Herbst kam. Währenddessen wurden die Plätze der Palästinenser ständig gewechselt. Sie haben dort Schlimmes durchgemacht. Derweil hatten auch wir ein wenig Arabisch gelernt. Einmal brachten sie einen neuen ins Camp, den wir fragten, ob es in seinem früheren Lager irgendwelche Kurden gegeben hatte. Als er sagte, dass er auf PKKlerInnen getroffen war, fühlte es sich so an, als hätte er uns die Welt geschenkt. Es reichte uns, dass wir „Hizb al Umaal al Kurdistan“ (Anm. d. Red.: Arabisch für Arbeiterpartei Kurdistans) aus seinem Mund verstanden. Wir waren in dieser Sache also nicht allein. Es waren jeweils fünf, vier und drei Freunde. Nach gründlicher Recherche fanden wir heraus, dass sogar der Freund Seyfettin Zoğurlu, einer der bekanntesten FreundInnen, unter ihnen war.

Wir fragten uns durch und brachten in Erfahrung, wer sich in welchem Camp befand. Unsere PalästinenserInnen nutzten ihre bekannte Steinwurfmethode. Wir probierten das auch. Der Freund Seyfettin hieß Selim. Wir hatten einen Brief geschrieben und ihn von unserer Situation informiert. Nach kurzer Zeit kam schon eine Antwort. Er informierte uns über Gefallene und Gefangene. So bekamen wir einen besseren Überblick über die Situation. Später besuchte das Rote Kreuz die Gefangenenlager. Ab Winterbeginn konnten wir auch über das Rote Kreuz Briefe an andere Lager schicken. Diese Briefe waren ausführlicher. Die Israelis hatten nichts dagegen und erlaubten das. Vereinzelt ließen sie manche von uns frei. Zum Beispiel, wenn sie erfuhren, dass jemand irgendein libanesischer Händler war. Ihr Ziel war, alle Fedais zu versammeln, um mehr Klarheit zu schaffen. Ähnlich wie in türkischen Kerkern, wurden auch dort täglich die Gefangenen gezählt. Wir erfuhren, dass bei diesen Zählungen auch der türkische MIT-Geheimdienst immer dabei war. Wenn sie bekannte Gesichter sahen, nahmen sie die Leute mit. Deshalb verhielten wir uns nach Erlangung dieser Information besonders vorsichtig. Aufgrund seiner Position und auch seines Alters schickten wir unsere Berichte immer an den Freund Seyfettin. Wir berichteten ihm, was passiert und wie die Situation und unsere Haltung im Gefangenenlager war. Für uns war das wie eine Rückkehr. Er bewertete unsere Haltung positiv, was uns ein wenig erleichterte. An Newroz kam von ihm eine Notiz mit der Info, dass er eine Newroz-Erklärung auf Arabisch vorbereitet hätte und dass wir in unseren Camps die PalästinenserInnen versammeln und ihnen diese Erklärung vorlesen sollten. Darin ging er auf die Bedeutung von Newroz, dem Wert, den die PKK dem Fest beimisst und was es für das arabische Volk bedeutet, ein. In manchen Camps waren bis zu vierhundert Personen. Wir versammelten alle und lasen ihnen die Erklärung vor.

Es gab im Lager einen Kurden aus Kobanê, der wirklich zum Arbeiten gekommen war. Er sprach gut Arabisch. Im Lager waren zwar viele Kurden, aber keiner von ihnen sprach wirklich gut Arabisch. Diesem Jungen sagte ich, dass er diese Erklärung lesen  und den Leuten sagen solle „Ey Şebab (Anm. d. Red.: Junge Menschen auf Arabisch), heute ist der Newroz-Feiertag der Völker im Mittleren Osten, allen voran des kurdischen Volkes“. Es wurde auch vom Schmied Kawa erzählt (diese Geschichte ist Teil der Newroz-Legende). Die Erklärung wurde verlesen und gab den PalästinenserInnen Motivation, sodass alle gemeinsam klatschten. Wir hatten gemeinsam mit den PalästinenserInnen ein Theaterstück vorbereitet, das die Geschichte von Newroz erzählte. Fünfzehn Tage lang bereiteten wir uns vor. Junge AraberInnen hatten dieses Theaterstück gespielt. Als die Szene kam, an der Kawa den Hammer auf den Kopf von Dehak schlägt, entbrannten Applaus und Jubel. Die israelischen SoldatInnen beobachteten uns von weitem. Als die Szene des Hammers begann, dachten sie, dass drinnen jemand hingerichtet würde und stürmten zu uns. Am Anfang gab es Gerangel, bis einer von den inhaftierten KommandantInnen der DFLP ihnen erklärte, was Sache war und warum diese Szene inszeniert wurde. Danach gingen sie und wir waren erleichtert, unsere Aufgabe erfüllt zu haben.

Wie sind Sie aus dem Gefangenenlager freigekommen? Können Sie uns über ihre Gefühlslage berichten, als Sie freikamen?

Wir sind nicht alle gleichzeitig freigekommen. Bei mir ging es ein wenig schneller und es kam unerwartet. Eines Tages wurde an der Tür mein Name ausgerufen. Ich fragte mich, was nun wohl geschehen würde. Dann sah ich, dass vor der Tür ein paar MitarbeiterInnen vom Roten Kreuz standen. Als ich sie sah, sagte ich zu mir selbst: „Keine Vernehmung“. Sie öffneten die Tür und bedeuteten mir, ich solle rauskommen. Alles was ich besaß, hatte ich bei mir. Was hatte ich denn schon? Eine Uhr, ein wenig Geld, mehr nicht. Das Geld war nicht meins, sondern gehörte der Gruppe, das mir anvertraut worden war. Im Lager war auch ein anderer Kurde aus Kobanê, der Muhammed Avareş hieß. Er war von der Baracke nebenan. Ein paar Mal hatten wir laut hin und her gerufen und gesprochen. Ich wusste noch nicht was los war, da sagte er schon auf Kurdisch: „Bruder, Gratulation, du kommst jetzt auch frei“. Da hatte ich verstanden, dass ich nun aus dem Camp entlassen werden würde. Doch dann kam das nächste Problem. Weil wir gesagt hatten, dass wir aus Syrien wären, wollten sie uns an Syrien übergeben. Wir stiegen in einen Jeep und wurden weggefahren. Ich warf ein Blick zurück, sah das Camp und die Freunde und wurde emotional.

„Bei der Vernehmung erklärte ich, dass ich Mitglied einer revolutionären Organisation aus Nordkurdistan sei. Der Begriff Kurdistan erzürnte diese Männer sehr.“

Da ich wieder mit einer Vernehmung gerechnet hatte, hatte ich mich nicht mal von den FreundInnen verabschiedet. Wir konnten uns nicht jedes Mal, wenn wir zur Vernehmung gingen, verabschieden. Jedes Mal verpassten uns die Israelis ordentliche Schläge, beleidigten uns und schickten uns wieder zurück. Letztendlich hatten wir verstanden, dass wir freikamen. Sie brachten uns an eine Grenze, wahrscheinlich irgendwo in der Gegend von den Golanhöhen an der israelisch-syrischen Grenze. Mit dem Kurden habe ich während der Fahrt ein paar Sachen besprochen, wobei wir auch dabei nicht in Ruhe gelassen wurden und ständig irgendwelche Tritte abbekamen, damit wir schwiegen.

Der Geheimdienst des syrischen Militärs holte uns ab und fuhr uns direkt nach Damaskus in ein Gefängnis. Dort wurden wir wieder vernommen. Sie steckten uns beide in einen kleinen Raum und verhörten uns anschließend separat. Zuerst kam der Alte dran. Er sagte, dass er alt und krank sei und deswegen das Roten Kreuz seine Freilassung erreicht hat, sein Sohn sei dort aber immer noch in Gefangenschaft. Sein Sohn war wirklich noch dort. Nach der ersten Vernehmung ließ der Geheimdienst ihn frei. Er kam, packte seine Sachen und ging. Mir sagten sie, dass ich noch warten solle. Eine Nacht verbrachte ich in dieser Zelle. Am nächsten Tag fragten sie, wer ich sei. Ich sagte ihnen, dass ich kein Arabisch könne, woraufhin sie mich fragten, warum ich kein Arabisch gelernt hatte. Ich antwortete: „Wenn ihr mir einen Dolmetscher bringt, dann erkläre ich euch das.“ Sie brachten einen jungen Mann aus Efrîn. Der Arme, er zitterte regelrecht vor Angst. Ich versuchte ihn ein bisschen zu beruhigen und sagte ihm, dass er nur zu übersetzen habe. Egal was geschehen würde, es werde nur mir etwas geschehen. Bei der Vernehmung erklärte ich den Mukhabarat (Anm. d. Red.: Bezeichnung für den syrischen Geheimdienst), dass ich kein Syrer, sondern Mitglied einer revolutionären Organisation aus Nordkurdistan sei. Der Begriff Kurdistan erzürnte diese Männer sehr. Um es klarer zu machen, nutzte ich dann die Worte „Hizb El Ummal El Kurdistan“ Das schockierte sie und sie fragten mich, wie das möglich sei und was ich hier zu suchen hätte. Worauf ich versuchte ihnen zu erklären, dass ich bei der Vernehmung in Israel gesagt hatte, ich sei Syrer. Der eine war für eine Sekunde still und fragte mich dann: „Komisch, und was sollen wir nun machen?“. Ich erwiderte: „Wallah, ich bin in eurer Hand, ihr könnt mich weiterhin hier festhalten, ihr könnt mich auch in den Irak schicken, oder mich den Türken oder Israelis übergeben. Das liegt in eurer Hand. Aber ich weiß, dass meine Freunde sich in Damaskus aufhalten, und dass es meine Partei sowohl im Libanon als auch im Bekaa-Tal gibt. Besser wäre es also, wenn ihr mich meiner Partei übergibt. Der Mann widersprach und akzeptierte nicht, dass es im Bekaa-Tal eine „Hizb El Ummal El Kurdistan“ oder sonst eine andere solche Partei gäbe und er hätte auch nie von einer solchen Partei gehört. Daraufhin sagte ich verwundert, wie es sein könne, dass er als Geheimdienstler nie von meiner Partei gehört habe. Ich bestand darauf, dass er meine Partei kennen müsste, worauf er mir mitteilte, dass wir uns später nochmal sehen würden. Dann schickte er mich wieder weg.

Sie brachten mich in einen engen Raum, in dem sich dreißig Personen aufhielten. Das war der Raum der Muslimbrüder. Sie waren bei den Konflikten in Hama und Homs 1981 verhaftet worden. Der, der mich in den Raum brachte, deutete auf mich und sagte zu ihnen, ich sei ein Gast und nicht wie sie. Dann zeigte er mir einen Platz, wo ich mich hinsetzen sollte. „Er wird hier bei euch bleiben, gebt ihm ein Kissen und drei Decken, sein Platz muss gemütlich sein“. Ich glaube, dass ich für Palästina gekämpft hatte, verschaffte mir Respekt bei ihm, aber da ich Kurde war, blieb ich weiterhin eingesperrt. Seiner Meinung nach tat er mir etwas Gutes, indem er mir in einem kleinen Raum, der allein durch den Atem von dreißig Personen erhitzt war, drei Decken und ein Kissen gab. Wer braucht da schon drei Decken, um sich zuzudecken? Sie brachten mich dann noch einmal zu einer Vernehmung, wo sie mir vorwarfen, dass ich ein israelischer Agent sei. Das regte mich natürlich sehr auf, weil wir gegen den Zionismus gekämpft hatten. Deshalb sagte ich, dass sie einen Dolmetscher holen sollten. Wieder kam der Junge aus Efrîn, den ich fragte, was der da zu mir sagte und dass ich Worte wie „Agent“ verstanden hatte. Dasselbe übersetzte mir dann auch der Junge ins Kurdische. Ich könnte von den Israelis geschickt worden sein.

Daraufhin habe ich dem Geheimdienstler alles ausführlich erklärt: „Ich bin ein Kämpfer, ein Guerilla der PKK. Ich befand mich in palästinensischen Lagern, um dort ausgebildet zu werden. Ich habe auch gegen den Zionismus gekämpft und bin dann in Gefangenschaft geraten. Vielleicht sagst du jetzt, dass die Israelis mich in Gefangenschaft zu einem Agenten gemacht haben. Ich kenne weder ihre Sprache, noch etwas anderes. Was könnte ich denn in deinem Land überhaupt anrichten?“ Er zeigte mit der Hand auf seine Schulter und sagte sehr erbost: „Hier sind 3-4 Sterne!“ (die seinen Rang im Geheimdienst deutlich machten). Er nahm einen Schlagstock und verpasste mir einen ordentlichen Schlag auf den Rücken, natürlich zusammen mit zahlreichen Beleidigungen. Wie könne ich bloß so sprechen. Daraufhin erwiderte ich: „Und du hast mich einen Agenten genannt“. Der Junge aus Efrîn zitterte vor Angst. Ich hatte ihm gesagt, dass er weiter übersetzen solle. Er sollte ihm sagen, dass ich diese Vorwürfe nicht akzeptieren würde. Danach brachten sie mich wieder zu den Muslimbrüdern.

„Nach ein paar Tagen kam wieder derselbe Hochrangige und sagte mir: „Schau, für dich ist die Entscheidung getroffen worden, dich den Türken zu übergeben.“

Nach circa einem Monat setzten sie mich in einen Minibus. Sechs oder sieben bewaffnete Personen überwachten mich während der ganzen nächtlichen Fahrt. In der Früh bemerkte ich auf einmal, dass wir in Qamishlo waren. Während der Fahrt in die Stadt sagte einer von den Wachen, dass sie mich an der Grenze der Türkei übergeben werden. Ich wusste bis dahin nicht, dass sie entschieden hatten, mich den TürkInnen zu übergeben. Dann brachten sie mich ins Gefängnis von Qamishlo, wo es nur Einzelzellen gab. Sie warfen mich in eine Zelle. Ich hörte die Stimmen von Leuten, auch von manchen, die Türkisch sprachen. Ein paar Tage später kam ein hochrangiger Militär und brachte mich in sein Zimmer. Er bat mich, Platz zu nehmen und ich setzte mich hin. Nachdem er mich fragte, ob ich Kurde sei oder einer kurdischen Organisation angehörte, sagte ich, dass ich von der „Hizb El Ummal El Kurdistan“ sei. Auch dieser Offizier sagte, dass es bei ihnen keine Organisation mit diesem Namen gebe. Jedes Mal, wenn er das beteuerte, wurde ich angespannter. Als er sagte, dass es hier die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und die YNK (Patriotische Union Kurdistans) gäbe, denen man mich übergeben könne, wollte ich nicht gleich drauf eingehen. Ich erwiderte: „Ich habe eine Partei, warum übergebt ihr mich einer anderen Partei?“. Wir konnten uns nicht einigen und deshalb kam ich erneut in die Zelle. In der Zelle nebenan war einer von der türkischen Linken. Während seines Wehrdienstes war er mit seiner Waffe über die Grenze nach Syrien geflohen. Sie hatten ihn gefasst und eingesperrt. Irgendwie schaffte er es, in die Wand ein kleines Loch zu machen. Als ich Geräusche von nebenan hörte, rief ich rüber und fragte auf Kurdisch, wer da sei. Er antwortete auf Türkisch und sagte „Sprech Türkisch, sprech Türkisch“. Ich war von der PKK und er von Dev-Genc (Föderation der Revolutionären Jugend in der Türkei).

Nach ein paar Tagen kam wieder derselbe Hochrangige und sagte mir, „Schau, für dich ist die Entscheidung getroffen worden, dich den Türken zu übergeben. Ich will das aber nicht machen und ich habe dem Gouverneur auch noch nicht mitgeteilt, dass du da bist.“ Er fragte mich, ob ich irgendjemanden von der PKK vor Ort kennen würde. Diese Frage beunruhigte mich. Er war ein Mitglied des Baath-Regimes und die Baath-Partei war sehr gefährlich. Ich weiß nicht, ob er unsere Freunde enttarnen wollte oder andere Ziele hatte, aber er hat mir zwischen den Zeilen immer irgendwelche Zeichen geben wollen.

Ich sagte ihm, dass ich nicht genau wüsste, wo PKKlerInnen seien, da sie nicht an einem festen Ort blieben. Ich glaube, dass das eine gewisse Vertrauensbasis aufgebaut hat, denn dann fragte er mich plötzlich, ob ich Heci Zinar kannte. Heci Zinar war ein Freund aus Mardin, der zusammen mit seiner Familie nach Syrien gekommen war und auch an unseren Aktionen teilnahm. Er wollte, dass ich ihn ihm beschriebe. Als ich sagte, dass Heci hellhäutig sei und einen blonden Schnurrbart habe, lachte er. Dann fragte er mich, ob ich Heci Ömer kennen würde. Auch ihn kannte ich. Das war Mehmet Emin Sezgin. Ich stimmte zu und beschrieb ihn. „Femi, femi“ (Anm. d. Red.: Arabisch für „ich verstehe, ich verstehe.“) sagte er und lachte. Das beruhigte mich. Er schloss die Tür und ging.

Dieser Offizier hatte sich mit den FreundInnen getroffen und mich ihnen beschrieben. Diese bestanden darauf, mich zurückzubekommen. Sie einigten sich. Ich kannte den Offizier zwar nicht, aber er sei solidarisch mit den KurdInnen und hätte schon früher auch an der Grenze unseren FreundInnen geholfen. Einmal kam er und sagte, dass ich sietreffen würde. Das freute mich. Eines Abends stand er wieder vor der Tür: „Raus und lass nichts zurück!“ Er brachte mich in sein eigenes Haus. Es war sehr viel los und es wurde Arabisch gesprochen. Er gab mir neue Kleidung und zeigte mir das Bad. Ich weiß nicht, ob er die Kleidung selbst gekauft hatte oder die FreundInnn mir diese geschickt hatten.

Voller Aufregung wusch ich mich und zog mich an. Meine Sachen, also meine Uhr und mein Geld, waren bei ihm. Die gab er mir auch., Es wurde ein hastig vorbereitetes Essen serviert, das ich ebenso hastig aß. Da saßen wir und warteten. Ich wusste nicht, was jetzt passieren würde, aber ich war erleichtert. Neue Kleider und die Tatsache, dass er mich in sein eigenes Haus gebracht hatte, all das waren gute Zeichen. Bis spät am Abend saßen wir da und tranken Tee. Irgendwann, ganz spät, kam Heci Zinar durch die Tür. Nach Jahren sah ich zum ersten Mal wieder FreundInnen. Diese erste Begegnung hat mich gerührt. Mir flossen Tränen über die Wangen. Heci Zinar kam und umarmte mich. Er sagte „Komm, es ist nun vorbei“. An dieser Stelle möchte ich ihm hochachtungsvoll gedenken. Danach kam auch Heci Ömer und es hieß: „Auf geht’s, lasst uns nach Hause gehen!“ Wir standen auf, ich trat aus der Tür heraus und ging.

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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