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Vor dem Kölner Verwaltungsgericht klagen zwei Teilnehmerinnen einer Friedensdelegation nach Kurdistan gegen eine willkürlich verhängte Ausreisesperre

Als sich im Frühjahr 2021 der Angriffskrieg der Türkei gegen kurdische Gebiete im Nordirak zuspitzte, machte sich eine Friedensdelegation auf den Weg in die Autonome Region Kurdistan. Die Aktivist:innen setzten sich zum Ziel, an einer friedlichen Lösung des Jahrzehnte alten Konflikts mitzuwirken. Es beteiligten sich Parlamentarier:innen, Menschrechtsaktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen, Klimaaktivist:innen, Initiativen und Einzelpersonen aus 14 verschiedenen Ländern. „Die Friedensdelegation wurde in Südkurdistan von der Bevölkerung und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Oppositionsparteien als bedeutende Initiative für Öffentlichkeit zum Angriffs- und Besatzungskrieg der Türkei und für die Verhinderung eines innerkurdischen Geschwisterkrieges sehr begrüßt und dankbar aufgenommen – von fast allen, die wir getroffen haben“, berichtet Dr. Mechthild Exo, eine Teilnehmerin der Friedensdelegation.

Am 12. Juni 2021 wollte sich nun eine weitere Gruppe aus Deutschland auf den Weg in die Region machen. Nach der Gepäck- und Passkontrolle am Düsseldorfer Flughafen, wurden die Personen jedoch von Polizist:innen abgefangen und in einen „sehr heißen“ und „schlecht belüfteten“ Flur gebracht, berichtete eine der dort Festgesetzten, Ronja H. Über Stunden festgehalten, wurden alle einzeln angehört, in Räumen mit abgedunkelten Fenstern. 17 Personen bekamen eine befristete Ausreiseuntersagung für einen Monat in den Irak, welche mit einem Stempel in ihrem Pass, als auch einer inhaltsgleichen schriftlichen Erklärung untermauert wurde. Unter Anderem wird aus der angeführten Begründung deutlich, dass sich die deutschen Behörden um die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei sorgten, bzw. diese durch die geplante Reise „negativ belastet“ werden würden, heißt es in der Begründung. „Was die Beziehungen zur Türkei belasten sollte, ist dass das türkische Militär Menschenrechte verletzt, nicht selten mit dem Kampfgerät deutscher Rüstungskonzerne.“ so Klägerin Ronja H.

Zwei der dort Festgehaltenen, Theda Ohling und Ronja H. haben sich dazu entschieden, gegen das rechtswidrige Handeln der Bundespolizei mit einer sogenannten Fortsetzungsfeststellungsklage vorzugehen. Am 01.06.22 reichten sie die Klage beim Verwaltungsgericht Köln ein und verkündeten diese mit einer Pressekonferenz am darauffolgenden Tag. Auf dem Podium saßen, die Rechtsanwältin für Verwaltungsrecht Cornelia Ganten-Lange, die beiden Klägerinnen Theda Ohling und Ronja H., sowie die Friedensdelegationsteilnehmerin Dr. Mechthild Exo.

Auf rechtlicher Ebene wurde erklärt, dass die Verfügung, welche die Bundespolizei ausgestellt hatte, nur auf Behauptungen und Spekulationen beruhe und keine Tatsachen genannt wurden, welche diese rechtfertigen würden. Vielmehr sei festzustellen, dass die Delegationsreise gezielt verhindert und unmöglich gemacht wurde. Wie lange das Verfahren an Zeit in Anspruch nehmen wird, sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar.

Die Statements der Teilnehmer:innen der Pressekonferenz haben viele Fragen aufgeworfen, die bisher noch unbeantwortet sind. So auch die Frage wieso eine Friedensdelegation, welche sich gegen völkerrechtswidrige Angriffe stellt, eine Gefahr für politische Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei darstellen solle, und was dies über diese Beziehungen aussage. Die Kläger:innen hoffen im Zuge des Prozesses herauszufinden auf welcher Grundlage die Ausreise untersagt wurde. „Wir wurden wie Kriminelle behandelt. Auf die Toilette durften wir nur mit polizeilicher Begleitung. Die ganze Zeit über behielten die Polizeibeamten ihre Schutzwesten an“, berichtet Ronja H. Mechthild Exo stellte in diesem Zusammenhang fest: „Wir dürfen nicht zulassen, dass auf die türkischen Forderungen nach mehr Repression gegen kurdische politische und gesellschaftliche Strukturen, u.a. in Finnland und in Schweden, aber auch in Deutschland, eingegangen wird. Stattdessen müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf drängen, dass die Verbrechen des türkischen Staates angeklagt werden.“ Dies bezieht sich auch auf das seit den 1990er-Jahren in Deutschland geltende Verbot kurdischer Organisationen, durch welches Kurd:innen in Deutschland andauernd kriminalisiert werden.

Neben der Verkündung der Klage wurde auf der Pressekonferenz auf den wieder aufflammenden Angriffskrieg der Türkei seit April diesen Jahres, auf kurdische Gebiete im Irak und Syrien aufmerksam gemacht. Theda Ohling, eine der Klägerinnen, stellte fest: „Bei den Angriffen aktuell, wie auch 2021 auf Südkurdistan handelte und handelt es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Staates.“ Es dränge sich die Frage auf: „Wieso geht unsere Gesellschaft mit Kriegen so unterschiedlich um? Warum bleiben manche Kriege im Schatten? Wird den Menschen, die von den Angriffen des türkischen Militärs in Kurdistan betroffen sind, weniger Wert beigemessen?“ betonte Ronja H. Mechthild Exo fügte hinzu: „Der türkische Staat droht mit einer weiteren Invasion und Besatzung von Gebieten im Norden Syriens. Im Schatten des Ukrainekrieges lassen die NATO-Staaten, einschließlich Deutschland als der wichtigste Partner der Türkei, diese Verbrechen gegen internationales Recht und Menschenrechte ohne Widerspruch zu.“ Betont wurde, dass auch zum jetzigen Zeitpunkt eine Friedensdelegation um Öffentlichkeit zu schaffen notwendig wäre.

# Video Pressekonferenz: https://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDUhttps://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDU

# Für mehr Informationen: www.defend-kurdistan.com
# Für mehr Informationen: https://civaka-azad.org/

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Während die Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht der türkische Diktator Erdogan die Chance auf einen neuen Einmarsch in Syrien. Hier in den selbstverwalteten Gebieten Nordost-Syriens laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Und die Linke in Deutschland?

Mit einem Lappen wische ich das letzte Körnchen Staub von meinem Maschinengewehr. Blitzblank ist es nun, bereit, um die Menschen hier gegen einen erneuten Angriffskrieg Erdogans und seiner jihadistischen Banden zu verteidigen. Später sitze ich bei kurdischen Revolutionsliedern mit meinen Genossen von unserer internationalistischen Einheit am Feuer. Wir alle denken an die nächsten Tage. Ich weiß, dass er kommen wird, der Angriff. Erdogan braucht den Krieg. Er hat die Türkei in den letzten Jahren in eine tiefe ökonomische Krise getrieben und versucht nun mit seinem Krieg gegen Rojava davon abzulenken. Im Anschluss will er vorgezogene Wahlen abhalten und hofft durch den militärischen Sieg doch noch, an der Macht zu bleiben.

Vor knapp zehn Jahren entfaltete sich in Rojava eine Revolution auf Basis von Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie. Eine Region, in der heute Kurd*innen und Araber*innen mit allen anderen Völkern friedlich zusammenleben. Mit ihrem Modell der Selbstverwaltung durch Räte stellt die Revolution eine enorme Hoffnung für die Völker der Region, aber auch weltweit dar. Das war der Grund, warum ich mich vor mehren Jahren auf den Weg gemacht habe, mit den Menschen hier diese Errungenschaften zu verteidigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein System, in dem die vielen verschiedenen Völker gleichberechtigt zusammenleben und in dem Frauenbefreiung eine zentrale Säule darstellt, in dieser Region eine positive Veränderung bringen kann. Während die Kriegsrhetorik Erdogans jeden Tag lauter wird, treffen wir (YPG-Kämpfer*innen) alle nötigen Vorbereitungen für einen neuen Angriffskrieg durch die Türkei. Erdogan betreibt eine Art Kuhhandel: Für den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO, fordert er grünes Licht für seinen Angriffskrieg.

Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Die letzten Angriffskriege der Türkei gegen Nordost-Syrien 2016, 2018 und 2019 haben nicht nur viel Tod und Vertreibung gebracht, in den besetzten Gebieten wird bis heute täglich von Gräueltaten, durch die von der Türkei unterstützen Jihadisten berichtet. Viele von ihnen sind ehemalige IS oder Al-Nusra Kämpfer. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass die letzten beiden Anführer des IS sich dort versteckt hatten. Ich fühle auch die Verantwortung. Ich schätze mich glücklich, Teil dieser Revolution sein zu dürfen. Das heißt aber auch, dass ich für geselschaftlichen Wandel bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Eigene Schwächen zu überwinden. Und mit fester Überzeugung für die Werte Rojavas zu kämpfen. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, der Menschen weltweit Hoffnung gibt, dass ein anderes Leben möglich ist. Doch dieser Angriff, so die türkische Propaganda, soll über die gesamte Grenzlänge einen 30 km tiefe Zone besetzen. Das wäre das Ende Rojavas.

Ich frage mich, was die Linke in Deutschland machen wird? Während auf die letzten beiden Angriffskriege mit ein paar kleineren Demonstrationen und Aktionen reagiert wurde, konnte sie den Krieg nicht verhindern. Jetzt aber geht es um die Frage des Fortbestehens der Revolution. Um Sein oder Nicht-Sein. Eine internationalistische Revolution muss international verteidigt werden. Daher kann ich in diesem Moment, kurz vor dem Sturm, nur an alle appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Was werdet ihr im Falle einer Niederlage dieses einmaligen gesellschaftlichen Aufbruchs hier, der zukünftigen Generation erzählen?

Und wenn sich viele fragen, was sie eigentlich Rojava interessieren soll? Liegt doch in Syrien. Ist weit weg. Dann kann ich nur antworten: Rojava zeigt allen von uns, dass eine andere Welt möglich ist. Schon allein die Hoffnung, die von der Existenz dieser Revolution ausgeht, gibt Menschen weltweit enorme Kraft und Stärke.

Ich habe mir geschworen, dem Faschismus keinen Fußbreit kampflos zu überlassen. Weder dem deutschen, dem türkischen, noch dem des IS. Mir ist aber auch klar, dass wir ihn nur gemeinsam besiegen können. Ich schultere meine Waffe, um mich dann an den Ort zu begeben, an dem ich in den kommenden Tagen den Vormarsch des Feindes erwarten werde. Dabei frage ich mich, was wirst du machen, wenn der türkische Einmarsch gegen Rojava beginnt?

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Thomas, 29 ist Mechaniker aus Berlin und Mitglied des Vorbereitungskreises des
internationalistischen Jugendfestivals, das am 28.05. in Lützerath stattfindet. Im Gespräch erzählt er vom Festival, Klimaschutz und warum und wie das mit der Revolution in Rojava zusammenhängt.


Als Initiative habt ihr euch mit einem offenen Brief an die Klimabewegung in Deutschland
gewendet und wollt am 28. Mai ein internationalistisches Jugend- und Kulturfestival im nordrheinwestphälischen Lützerath veranstalten. Stellt euch und die Idee dahinter zu Beginn doch einmal kurz vor. Was wollt ihr in Lützerath machen und warum genau dort?


Wir sind eine seit mehreren Monaten bestehende Initiative aus Aktivist*innen der
ökologischen Kampagne „Make Rojava Green Again“ und „Lützerath lebt“. Unser Festival steht
unter der Idee unsere Kämpfe zu verbinden, denn nur so kann dem Kapitalismus und der
ökologischen Katastrophe etwas entgegengesetzt werden. Es geht auch darum, die Revolution in
Kurdistan mit dem hier in Deutschland und überall auf der Welt stattfindenden Kampf der
Klimabewegung zu verbinden, weil wir davon überzeugt sind, dass diese Kämpfe das gleiche Ziel
teilen. Das Festival soll ein Ort des Austausches, des gegenseitigen Kennenlernens und des
gemeinsamen Kampfes werden.
Lützerath ist ein Ort in Deutschland, in dem in den vergangenen Jahren der Kampf für das 1,5 Grad
Ziel besonders intensiv geführt wurde. Es ist ein kleines Dorf direkt an der Abrisskante eines
Braunkohletagebaus des Energiekonzerns RWE. Die Widersprüche der Ausbeutung und der
Zerstörung der Umwelt einerseits und das Verdrängen von Menschen aus ihren Lebensorten für die
Interessen eines Konzerns werden hier besonders deutlich. Überall auf der Welt sehen wir ähnliche
Mechanismen. Die Interessen von Menschen werden unter die von Konzernen untergeordnet, aber
in Deutschland treten diese Widersprüche nur im gewissen Maße zum Vorschein. Viel mehr sind es
nämlich die Länder des globalen Südens, in denen vornehmlich westliche Unternehmen Raubbau an
der Natur betreiben und die Lebensgrundlage der Menschen dort zerstören, um Profit zu generieren
und den schnelllebigen Konsuminteressen Futter zu liefern. Davon bekommen hier zu Lande viele
Menschen nichts mit, da die Lebensgrundlage von den sich verschärfenden Krisen größtenteils
unangetastet bleibt. Lüzerath ist dabei einer der Orte, an dem den Menschen auch in Deutschland
die Lebensgrundlage durch die Interessen großer Konzerne genommen wird und das für einen
Zweck, der in Zeiten der Klimakrise schlichtweg verantwortungslos ist.

Die Klimabewegung ist in den letzten Jahren wieder gewachsen, das Thema findet sich in
vielen Medien wieder, weltweit gibt es Widerstand gegen die mörderischen Folgen des Kapitalismus. Auch FridaysForFuture war ein großer Bezugspunkt. Welche Themenbereiche wollt ihr
konkret einbringen, welche Akzente wollt ihr innerhalb der Klimabewegung setzen?


In der Klimabewegung sehen wir eine der größten Bewegungen der jüngeren Vergangenheit, die vorrangig von Jugendlichen ausgeht. Darin liegt die wesentliche Stärke. Viele junge Menschen nehmen wahr, wie sich die Welt verändert und nehmen die kommenden Auswirkungen der Klimakrise ernst, da sie am stärksten davon betroffen sein werden.
In diesem Punkt ruht nun aber auch die Gefahr, sich durch vermeintliche Lösungen, welche der
Liberalismus predigt, vereinnahmen zu lassen. Und diese Muster sehen wir leider bei Teilen der
Klimabewegung, welche beispielsweise durch etablierte Parteien oder Stiftungen vereinnahmt
werden und von dort an Kompromiss statt Lösung predigen. Trotz dieser Tatsache ist es aber auch
kein Geheimnis, dass der staatliche Umgang mit der Klimakrise vielen Menschen die Augen
geöffnet und gezeigt hat, für welche Interessen der bürgerliche Staat in die Bresche springt.
Das sind dann eben nicht die Interessen von Menschen wie der in Lüzerath, sondern die der
Unternehmensvorstände und Großaktionäre von RWE und Co, die den Bagger lächelnd Richtung
Abgrund steuern.
Und eben darum, wie ihr es passend formuliert habt, beginnen viele Menschen die mörderischen
Folgen des Kapitalismus zu sehen und ihren Widerstand dahingehend zu organisieren. Um den
Diskurs aber weiter in die Richtung zu lenken, wie eine Alternative zu diesem System aussehen
kann, möchten wir auf die Errungenschaften der Revolution in Kurdistan verweisen. Denn eine
Kritik am Bestehenden kommt schlecht ohne die Entwicklung eigener Perspektiven auf die
Probleme aus. Insbesondere ein Blick auf den Nord-Osten Syriens, auch als Rojava bekannt, zeigt
dabei, wie eben jene Alternative aufgebaut sein könnte. In dieser Region jährt sich am 19. Juli
diesen Jahres das zehnjährige Bestehen der Revolution und damit der Kampf für ein
Gesellschaftssystems, das auf radikaler Demokratie, Geschlechterbefreiung und sozialer Ökologie
fußt. Eben in dem Vorschlag dieser Alternative und in der revolutionären Linie liegen die Aspekte,
die wir einbringen wollen.

Mit der neuen Ampelkoalition gibt es mit den Grünen erneut eine Partei innerhalb der
Regierung, die sich den Kampf gegen den Klimawandel als Hauptlosung auf die Fahnen
schreibt und die teilweise in der Klimabewegung viel Zuspruch und Hoffnung erfährt.

Wie seht ihr die Rolle dieser Partei?

Wenn wir uns die aktuelle Situation angucken, dann sehen wir, dass die Art der deutschen
Außenpolitik nicht davon abhängt, ob gelb, grün oder schwarz in den Ministerien sitzen. Trotz
zahlreicher Unterschiede zwischen den deutschen Parteien, eint sie die Außenpolitik im Bezug auf
die Türkei. Eine enge militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat
dient nämlich dem Interesse jeder Kapitalfraktion. So ist es nicht verwunderlich, dass die jetzige
Außenministerin Annalena Baerbock zwar sämtliche russische Kriegsverbrechen anprangert, wenn
es aber um die eigenen Nato-Bündnispartner geht, kein Wort über die Kriegsverbrechen der zweit
größten Nato-Armee verliert. Seit Jahren ist bekannt, dass der türkische Staat in Südkurdistan
Giftgas einsetzt, durch unbemannte Drohnen Menschen hinrichtet und mit dem Abschneiden der
Wasserzufuhr Wasser als Waffe einsetzt. All das toleriert aktuell die grüne Außenpolitik, wie es
zuvor die der SPD getan hat. Wer also im Programm der Grünen nach Klimagerechtigkeit sucht,
wird enttäuscht werden. Im Grunde genommen hat es die grüne Partei in den letzten Jahren am
besten geschafft die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung mit Versprechungen einer ökologischen
Wende zu absorbieren. Jetzt stellt sich aber heraus, dass wirtschaftliche und militärische Interessen
den absoluten Vorrang vor ökologischer Politik besitzen.
Im Gegensatz dazu begrüßen wir die seit einigen Jahren vermehrt im Sinne der Klimagerechtigkeit
aufgekommenen gesellschaftlichen Debatten, in denen globale Ausbeutungsverhältnisse
thematisiert werden. Die Frage nach Klimagerechtigkeit ist nämlich eine internationale Frage, da
die Hauptverursacher der Krise international agieren. Ebenso wie unsere Perspektive auf politische
Probleme der heutigen Zeit eine ist, die durch den Begriff Internationalismus gekennzeichnet ist, so
trifft das auch auf auf unsere Perspektive auf die sich verschärfende Klimakrise zu. Eine solche
Politik der Klimagerechtigkeit die es braucht widerspricht vollends dem heutigen Charakter der
grünen Partei.

Du bist schon auf die Bedeutung der Revolution in Kurdistan für die Kämpfe
in Deutschland eingegangen. Kannst du diese Ansicht noch einmal etwas detaillierter beschreiben? Was
hat der Kampf in Kurdistan mit uns hier, aber auch konkret mit unseren Kämpfen gegen den
Klimawandel zu tun?


Die Revolution in Kurdistan hat eine weltweite Bedeutung, da sie exemplarisch für den Kampf für
Klimagerechtigkeit und damit für den Kampf um Selbstbestimmung und gegen Kolonialismus
steht. Eben aus diesem Grund greifen verschiedenste Staaten die Revolution mit aller Härte an. In
der Revolution in Kurdistan liegt nämlich die Zuspitzung der Konflikte zwischen denjenigen, die
für eine lebenswerte Welt kämpfen und denen, deren Macht und Profit auf der Ausbeutung von
Mensch und Natur basiert. Um das Ruder herumzureißen und die verheerenden Folgen des
Klimawandels abwenden zu können, braucht es große Schritte und ein Umdenken und eben das
kann nur in revolutionären Prozessen verwirklicht werden. Die Frage nach ökologischer Politik ist
im großen und ganzen eine Systemfrage und im System des Kapitalismus kann diese nicht
gewährleistet werden. Wer innerhalb dieses Rahmens nach Lösungen sucht wird sich schnell den
Kopf stoßen oder landet eben bei den Grünen.

Als Initiative Make Rojava Green Again, seid ihr seit einigen Jahren in Deutschland präsent.
Was sind eure konkreten Ideen für die Klimabewegung in Deutschland und was ist in der aktuellen Situation zu tun?

Wir versuchen mit unsere Perspektive neue Denkanstöße zu geben. Bereits jetzt gibt es eine breite
Debatte in der Klimagerechtigkeitsbewegung, wie man weiter in die Zukunft gehen kann. Nach
Jahren des Protestes, der Aktionen und Kampagnen stellt sich in immer breiteren Kreisen die
Einsicht ein, dass nur eine grundlegende Veränderung des existierenden Systems eine Ausweg aus
der ökologischen Katastrophe aufzeigen kann. Die Revolution in Kurdistan und die Ideen Abdullah
Öcalans halten in dieser Frage sehr wichtige und aktuelle Vorschläge bereit. Wir möchten allen
nahe legen, sich mit diesem Kampf auseinanderzusetzen und zu sehen, was wir alles von diesem
Kampf lernen können. Am 17. April hat der türkische Staat auch einen erneuten Angriffskrieg gegen
die kurdischen Gebiete im Norden des Iraks begonnen. Im Schatten des Kriegs in der Ukraine
weitet die Türkei ihren Krieg auf immer weitere Gebiete aus. Ohne Rücksicht auf Verluste
bombardieren türkische Flugzeuge, Kampfdrohnen und Artillerie, zivile Wohngebiete und zum
Überleben notwendige Infrastruktur. Und aus den Bergen Südkurdistans erreichen uns Berichte,
dass die türkische Armee, wie schon im vergangenen Jahr, chemische Waffen und Giftgase gegen
die Guerilla einsetzt. Auch im Norden Syriens, in Westkurdistan, bombardieren türkische
Truppen jeden Tag Städte und Dörfer und terrorisieren die Zivilbevölkerung.
Die Klimagerechtigkeitsbewegung sollte klar Stellung beziehen und sich an die Seite der Menschen in
Kurdistan und an die der revolutionären Kräfte stellen. Demonstrationen können unterstützt,
Stellungnahmen verfasst und kleine Solidaritätsbotschaften vorbereitet werden. Manchmal
können auch schon symbolische Gesten großes auslösen. Wichtig ist nur, dass wir es schaffen die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, auf diesen verschwiegenen Krieg zu lenken.

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Uns wird das Geld aus der Tasche gezogen – Woche für Woche mehr. Und das wird auch so weitergehen, wenn sich nicht langsam eine Bewegung gegen den Preisanstieg formiert. Lasst uns dieser Entwicklung Kritik von links entgegensetzen und unsere Klasse unterstützen, ihre Stimme zu erheben.

Das Kapital verschlechtert unsere Lage

Was das Statistische Bundesamt für April mit einer Inflationsrate von 7,4 Prozent beschreibt, trifft breite Teile der Bevölkerung noch weit härter. Denn die Energiepreise sind viel stärker gestiegen als um „nur“ 7,4 Prozent und genauso die Preise vieler Grundnahrungsmittel: Gurken, Tomaten und pflanzliche Öle sind in den letzten zwei Monaten beispielsweise um jeweils circa 30 Prozent teurer geworden. Und Lebensmittel sind eben das, was wir notwendig zum Leben brauchen und wofür wir schon vorher einen beträchtlichen Teil unseres Einkommens ausgegeben haben – zumindest von dem, was nach der Miete noch übrig bleibt. Die Lage ist ernst für uns und sie wird noch ernster: Die Supermarktkette Aldi hat angekündigt, ihre Lebensmittelpreise in der nächster Zeit um weitere 20 bis 50 Prozent zu erhöhen. Die anderen Supermärkte werden da selbstverständlich mitgehen. Und auch bei den Energiepreise ist keine Normalisierung in Sicht.

Wenn man die Berichte großer Medien verfolgt, kann man den Eindruck gewinnen, die Inflation falle vom Himmel oder folge irgendeinem Naturgesetz. Die BILD-Zeitung ist sich nicht zu blöd, sogar von einem „Inflationsmonster“ zu sprechen. Doch die Preise erhöhen sich nicht selbst – sie werden erhöht, und zwar von Lebensmittelkonzernen und Supermarkt-Ketten. Wir können hier eindeutig Verantwortliche und Profiteure benennen. Allein die Eigentümerfamilien von Aldi und Lidl besitzen ein Vermögen von zusammen über 100 Milliarden Euro und haben während, beziehungsweise „dank“ der Corona-Pandemie nochmal ordentlich weiteren Reichtum angehäuft. Der bürgerliche Mainstream würde solche Leute in Russland als „Oligarchen“ bezeichnen.

Auch der ständige Verweis allein auf den Krieg in der Ukraine verschleiert, wie Konzerne profitieren. Und er dient dazu, die Bevölkerung für die Interessen des Kapitals einzuspannen. Die Lebensmittelkonzerne und Supermarkt-Ketten haben die Preise schon vor Beginn des Krieges stark erhöht und haben jetzt eine bequeme Ausrede um damit weiterzumachen. Auch am Benzinpreis kann man sehen, wie der Krieg als Ausrede vorgeschoben wird: Von Anfang Februar bis Anfang März steig dieser um 28 Prozent. Die Ölkonzerne aber haben ihre Marge um 145 Prozent erhöht – das sind fast 30 Cent mehr pro Liter.

Kapitalistische Politiker:innen und Medien erzählen bereits seit Wochen, dass „uns“ wegen des Krieges schwere Zeiten bevorstehen – ja, dass wir uns sogar darauf einstellen sollen zu frieren. Das trifft allerdings nicht auf sie selbst zu und vor allem nicht auf die Großkapitalist:innen, sondern „nur“ auf die Arbeiter:innenklasse und kleine Selbstständige – die allerdings die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Indem die Herrschenden von „uns“ sprechen, wollen sie uns vermitteln, alle Einwohner:innen Deutschlands säßen im selben Boot, als gäbe es eine Einheit über Klassengrenzen hinweg. Sie erklären es für „uns“ zur patriotischen Pflicht, diese schweren Zeiten kritiklos zu ertragen – „für den Frieden“, wie sie sagen. Doch eigentlich geht es ihnen darum, dass der Imperialismus der führenden Staaten von NATO und EU sich gegen den russischen Imperialismus durchsetzt. Dafür wollen sie die Bevölkerung hinter sich vereinen. Und bisher sind sie damit recht erfolgreich. Aber um Frieden geht es ihnen nicht. Und wenn wir wirklich zum Frieden in der Ukraine beitragen wollen, können wir das nicht als brave Untertanen tun, sondern gerade umgekehrt nur durch den Einsatz für Deeskalation und damit in erster Linie mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus.

Natürlich hat der Preisanstieg auch mit dem Krieg und den Sanktionen der NATO und ihrer Verbündeten zu tun. Aber erstens dürfen wir dem Kapital hier keine Ausreden für die Preissteigerungen durchgehen lassen und zweitens zeigt das auch nur wieder, dass die internationale Arbeiter:innenklasse die Kosten der Kriege tragen muss, die die imperialistische Konkurrenz hervorbringt. Wir haben kein Interesse an ihren Kriegen.

Die Lage zusammenfassend kann man sagen: Die hohe Inflation bedeutet für breite Teile der Bevölkerung, dass der Lebensstandard sinkt. Wir können uns weniger leisten. Viele können die laufenden Kosten für Strom, Heizung und Treibstoff nur noch stemmen, wenn sie auf anderes verzichten. Für einige ergibt sich aktuell sogar eine Existenzkrise und eine gesundheitliche Gefahr. Um zumindest auf dem gleichen Niveau zu bleiben, müssten sich unsere Löhne, Gehälter und Sozialleistungen im gleichen Maß erhöhen, wie die Preise der Waren steigen, die wir täglich kaufen (müssen).

Wir können uns nur selber retten

Viele Menschen sind wegen des enormen Preisanstiegs besorgt, wütend oder verzweifelt. Das wird in den nächsten Monaten auch so weitergehen und sich verstärken, solange sich die Lage weiter verschärft. Trotzdem hat sich bisher in den Betrieben nur begrenzt etwas bewegt und auch auf den Straßen gab es bisher wenig Protest gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten – vom 1. Mai abgesehen. Doch ohne gewerkschaftlichen und politischen Kampf wird sich kaum etwas daran ändern, dass Lebensmittelkonzerne, Supermarkt-Ketten und Ölkonzerne uns immer höhere Preise abverlangen, dass wir die Kosten des Krieges und der Aufrüstung tragen sollen und dass sich unser Lebensstandard verschlechtert. Wir als Linke können dazu beitragen, dass sich Protest formiert

Vor allem sollten wir schauen, wie wir uns in den Betrieben gemeinsam für mehr Lohn beziehungsweise Gehalt einsetzen können – ob im Rahmen einer Tarifrunde oder auch nicht. Denn staatliche Preisbegrenzungen oder Unterstützungszahlungen für die Bevölkerung können die Lage nur kurzfristig abmildern. Dauerhaft verbessern sie unsere Lage nicht und vor allem stärken sie auch nicht wirklich die Macht unserer Klasse, die wir brauchen, um langfristig etwas zu bewegen. Wenn wir uns hingegen mit unseren Kolleg:innen im Betrieb zusammentun und für bessere Bezahlung einsetzen, haben wir nicht nur Aussicht auf mehr Geld, sondern stärken auch unsere Stellung dem Unternehmen gegenüber. Besonders aus antikapitalistischer Sicht ist der Fokus auf den Betrieb wichtig. Denn als Ort, an dem wir arbeiten, ist er die Keimzelle des Klassenkampfes. Dort haben wir als Arbeiter:innen strukturelle Macht – weil ohne unsere Arbeitskraft nichts läuft.

Auch wenn gewerkschaftliche Kämpfe nicht auf Tarifauseinandersetzungen beschränkt bleiben sollten, ist es sinnvoll, die diesjährigen Tarifrunden im Auge zu haben und dort kämpferische Perspektiven zu stärken. Für die chemische Industrie hat die IG BCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie) im April bereits einem übergangsweisen Abschluss zugestimmt, den die Kommunistische Organisation als „Burgfrieden für’s Kapital“ kritisiert. Die Kapitalseite hat den Ukraine-Krieg hier als Grund angeführt, weshalb Geld fehle und den Forderungen der Gewerkschaft nicht nachgekommen werden könne. Auch in der noch laufenden Tarifrunde für 330.000 Beschäftigte im Sozial- und Erziehungsdienst findet die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände Ausreden, während der Staat gleichzeitig über 100 Milliarden Euro für militärische Aufrüstung einplant. Und für die ab Oktober anstehende Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie kündigt die Kapitalseite bereits an, dass die Beschäftigten „Einschnitte in den gewohnten Wohlstand“ akzeptieren müssten.

Die Gewerkschaften sollten sich nicht auf diese Ausreden des Kapitals einlassen und damit zu Verwirrung und Unentschlossenheit innerhalb unserer Klasse beitragen. Stattdessen brauchen wir einen klaren Klassenstandpunkt und einen wirklichen Kampf für Tariferhöhungen oberhalb der Inflationsrate. Bei aller Kritik an der Führung der DGB-Gewerkschaften und sozialpartnerschaftlicher Verhandlungsführung sollte nicht vergessen werden, dass für die Abschlüsse in erster Linie das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit entscheidend ist.

Aber auch über die Betriebe hinaus können wir in der Öffentlichkeit aktiv sein. Am 1. Mai wurde der Preisanstieg an vielen Stellen mehr oder weniger kämpferisch aufgegriffen – mit Mottos wie „Preise runter – Löhne hoch!“. Das ist ein guter Beginn, aber eine einzelne Demonstration reicht bei Weitem nicht, um unsere Position zu stärken. Wir können noch weitere Demonstrationen organisieren oder auch andere Aktionsformen ausprobieren. Zum Beispiel Aktionen oder Infostände in der Nähe von Discountern oder Einkaufszentren organisieren, Flyer verteilen und mit den Leuten ins Gespräch kommen, um gemeinsam aktiv zu werden.

Dabei halte ich es für wichtig, dass wir Aktionen organisieren, die massentauglich sind. Wir sollten also den Anspruch haben, auch Menschen zu erreichen, die noch nicht links politisiert sind, denn das ist die Mehrheit unserer Klasse eben nicht. Wirklichen Druck aufbauen können wir nicht mit Demonstrationen, an denen nur Leute aus der linken Szene teilnehmen – wir brauchen breitere Teile unserer Klasse. Da der Preisanstieg viele betrifft und beschäftigt, bietet dieses Thema eine gute Möglichkeit, um mit neuen Leuten in Kontakt zu kommen.

Die Perspektive ist antikapitalistisch

Um zum Thema aktiv zu werden, brauchen wir als Linke zunächst eine schlüssig formulierte Kritik am Preisanstieg, den Ausreden von Konzernen und Politiker:innen und auch an dem imperialistischen Krieg in der Ukraine und der Beteiligung des NATO/EU-Blocks. Und wir brauchen Vorschläge, wie sich unsere Lage unmittelbar verbessern kann. Das sogenannte „Entlastungspaket“ der Bundesregierung hilft an dieser Stelle kaum. Außerdem benachteiligt es Menschen mit geringem Einkommen, die wie in jeder Krise auch jetzt am stärksten betroffen sind. Für weitere Maßnahmen wie eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel gibt es im Bundestag bisher Kritik – so unsinnig diese auch begründet sein mag.

Wie kann eine tatsächliche Entlastung für die Arbeiter:innenklasse also aussehen? Sollten wir staatlich angeordnete Preissenkungen, eine Mehrwertsteuersenkung oder finanzielle Unterstützung vom Staat fordern? Diese und weitere Fragen sollten wir als Linke diskutieren, um in der Öffentlichkeit mit klarer Kritik und konkreten Vorstellungen auftreten zu können.

Doch wir sollten auch über kurzfristige Entlastung hinausdenken und den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt werfen. Während wir uns nämlich Sorgen machen, wie wir über die Runden kommen, läuft es für das Kapital fantastisch: „Deutsche Konzerne zahlen 70 Milliarden Euro Dividende – so viel wie noch nie“ titelete der Spiegel anfang April. Dass wir zu wenig haben, liegt nicht daran, dass es zu wenig gäbe. Der Großteil ist bloß in den Händen einiger weniger Großkapitalist:innen. Für einige Branchen ermöglicht die aktuelle Krise sogar noch Extraprofite: Unter anderem Supermarkt-Ketten, Ölkonzerne, die Logistikbranche und Waffenhersteller machen aktuell Bombengeschäfte. Der Hunger der einen ist der Profit der anderen.

Dass dieses System nicht unseren Interessen dient, spüren viele. Ganze 31 Prozent der Bevölkerung in Deutschland halten das politische System der Bundesrepublik für eine Scheindemokratie. Und tatsächlich geht es im Kapitalismus nicht um die Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern in erster Linie um das Interesse des Kapitals. Dieses bestimmt sowohl die Politik im Land selbst als auch die Außenpolitik. Mitreden können die Bürger:innen nicht wirklich. Am Ende ist die kapitalistische parlamentarische Demokratie auch nur eine Herrschaftsform, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung aufrechterhalten soll.

Dass viele Menschen dem System gegenüber skeptisch sind, bedeutet aber nicht, dass sie das kapitalistische Gesellschaftssystem auch wirklich verstanden haben. Viele erklären sich die Scheindemokratie der BRD auf eine ganz andere, falsche Weise und folgen dabei teilweise rechten Verschwörungserzählungen, die sehr wenig mit der Realität zu tun haben und keine Perspektive für Veränderung und echte Demokratie bieten. Im Gegenteil: sie sind gefährlich. Auch den Preisanstieg können Rechte ideologisch besetzen und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Wir dürfen ihnen dafür nicht den Raum lassen und müssen das Thema endlich ernsthaft aufgreifen. Sowohl der Preisanstieg als auch das kapitalistische Gesellschaftssystem insgesamt müssen von links kritisiert und angegangen werden.

Die aktuelle Krise für breite Teile der Bevölkerung ist eine Folge des kapitalistischen Systems und der imperialistischen Konkurrenz. Ihr gingen eine ganze Reihe weiterer Krisen allein in den letzten Jahrzehnten voraus. Und es werden weitere folgen, solange der Kapitalismus herrscht. Diese zukünftigen Krisen drohen sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht noch dramatischer zu werden als die aktuelle. Das kapitalistische System bietet uns keine Zukunft, egal wo – auch in AlbanienGriechenlandSri Lanka und Indonesien gibt es aktuell Proteste gegen den Preisanstieg und die Krise.

Ausgehend von den Alltagsproblemen unserer Klasse müssen wir aus einer internationalistischen Perspektive dafür kämpfen unsere Lage zu verbessern, in den Klassenkämpfen zu lernen und uns letztendlich vom Kapitalismus zu befreien.

#Foto: 8. März, Karanfilli Adam

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Unter der Schlagzeile „Evakuierungen aus Mariupol – ‚Ich dachte, dass ich nicht überleben würde‘“ findet sich auf der Seite des Nachrichtenmagazins Spiegel nunmehr kein Video mehr. Lapidar steht dort: „Wir haben das Video, das sich an dieser Stelle befand, wegen nachträglich festgestellter inhaltlicher Unstimmigkeiten vorübergehend von der Seite genommen. Der SPIEGEL hatte das Videomaterial von der Nachrichtenagentur Reuters bezogen und klärt nun zunächst auch mit Reuters den betreffenden Sachverhalt. Neue Erkenntnisse werden wir dann an dieser Stelle veröffentlichen.“ Veröffentlicht wurde das Video am 2. Mai, bislang haben sich offenbar keine „neuen Erkenntnisse“ ergeben.

Was war passiert? Der Spiegel hatte eine zurechtgebastelte Version eines Videos, das eine evakuierte Überlebende aus dem Azovstal-Werk in Mariupol zeigt, veröffentlicht, in der eigentlich alles Wesentliche ihrer Aussage weggeschnitten war. In der Langfassung des Interviews ist zu sehen, dass sie behauptet, ukrainische Faschisten hätten die Zivilist:innen an der Evakuierung gehindert und sie schließt mit den Worten: „Die Ukraine als Staat – und ich bin Bürgerin der Ukraine – ist für mich gestorben.“

Ist das gelogen? Ist es wahr? Spricht sie unter Druck? Man kann es unmöglich mit Sicherheit sagen. Was man sagen kann, ist: Aus dem dreiminütigen Video einen Zusammenschnitt zu veröffentlichen, der das Gegenteil von dem impliziert, was sie sagt, ist eine Lüge. Aber warum soll man über so etwas eigentlich lügen? Würde es einer pro-ukrainischen Berichterstattung einen Zacken aus der Krone brechen, auch nur die Möglichkeit zuzugestehen, „unsere“ Nazis hätten sich daneben benommen?

Importierte Helden

Zu diesem Krieg gehört ein umfassender Geschichtsrevisionismus im Bezug auf den ukrainischen Faschismus und Nationalismus. Der Spiegel hätte das ganze Video zeigen können. Er hätte auch über die dutzenden auf pro-russischen Kanälen zirkulierenden Videos berichten können, die Bewohner:innen Mariupols zeigen, die von Gräueltaten der Azov-Miliz in der Stadt berichten. Dennoch würde niemand, der nicht vollends verblödet ist, der Redaktion eine Nähe zu Moskau unterstellen. Hat der Spiegel dennoch nicht. Aber warum?

Azov und die weniger bekannten anderen faschistischen Milizen wie Aidar oder der Rechte Sektor sind keine Anomalie des ukrainischen Nationalismus, sie sind seine Speerspitze. Als im Jahr 1997 Andrew Wilsons Monographie zu ukrainischem Nationalismus erschien, nannte dieser den Nationalismus in der Ukraine einen „Glauben einer Minderheit“. Das unbestreitbar geostrategisch wichtigste post-sowjetische Land außerhalb Russlands sei quasi ungeeignet für die Entwicklung einer starken nationalistischen Bewegung, denn: „Die moderne Ukraine ist eine zutiefst gespaltene Gesellschaft mit einem ausgeprägten Muster regionaler Unterschiedlichkeit“.

Davon allerdings ließ sich der Westen nicht beeindrucken. Man brauchte einen Nationalismus, der einerseits in die eigene Wertegemeinschaft eingliederbar und andererseits stark antirussisch sein musste. Die Anknüpfung an die faschistische OUN-Tradition lag da nahe und es ist nur konsequent, dass es stets die „prowestlichen“ Präsidenten wie Juschtschenko oder Poroschenko waren, die diesen beförderten. Sie ließen Lenin-Statuen entfernen und stellten solche der Faschisten Roman Schuchewytsch und Stepan Bandera auf. Sie benannten Straßen nach den einstigen Kollaborateuren der Wehrmacht und erklärten sie zu „Helden der Ukraine“. Sie gründeten Institute und Akademien zur Verbreitung dieses Glaubens.

Diese Wiederbelebung der OUN-Tradition – zu deren exilierten Vertretern westliche Geheimdienste ohnehin stets Kontakt hielten – bezeichnet der Historiker Per Anders Rudling als „importierten Heroismus“, der zudem durch die in ihm enthaltene Geschichtskitterung voller innerer Widersprüche ist: „Das Diaspora-Narrativ war widersprüchlich und kombinierte das Zelebrieren angeblicher Anti-Nazi-Widerstandsleistungen der OUN-UPA mit Feiern der Waffen-SS Galizien, einer ukrainischen Formation von Kollaborateuren, die von Heinrich Himmler 1943 gegründet worden war.“ Das führte zu Absurditäten wie der, dass Veteranen der Waffen-SS die UPA als „anti-Nazi Widerstandskämpfer“ würdigten und zugleich zum selben Verband von Kriegsveteranen gehörten. Sounds familiar? Es ist die gleiche Geschichte, die heute erzählt wird.

Die echten Ukrainer

Die ausgeprägte regionale Unterschiedlichkeit der Traditionslinien ist allerdings auch mit dem sogenannten Euromaidan – der Ersetzung des tendenziell pro-russischen korrupten Autokraten Janukowitsch durch eine Reihe pro-westlicher korrupter Autokraten – nicht verschwunden. Insbesondere im Osten der Ukraine kam es zu Aufständen, es bildeten sich die sogenannten „Volksrepubliken“ in Donezk und Lugansk – in Mariupol rückten zur Niederschlagung Panzer ein, in Odessa verbrannte man Oppositionelle bei lebendigem Leib. Noch bei den Wahlen 2019 kam der „pro-russische“ Oppositionsblock auf 13 Prozent, obwohl in zwei großen Regionen – den „Volksrepubliken“ nicht abgestimmt wurde. Auch Selenskys Erfolg dürfte, neben dem für „neue“ Kandidaten üblichen Anti-Korruptionsimage nicht unmaßgeblich an dem Versprechen, den Krieg im Osten zu beenden, gelegen haben. Vor und während der Kriegshandlungen kam es zu Massenverhaftungen von „pro-russischen“ Personen durch den Geheimdienst SBU und diversen rechten Milizen.

Das alles spielt im Westen keine Rolle und allein die Erwähnung dieser unbestreitbaren Fakten gilt als Verrat an Humanismus und Moral. Die im Rahmen der imperialistischen Debattenkultur einzig geduldete Position ist die des prowestlichen Nationalismus – und das ist eben der in der Tradition Banderas. Das wird zwar bestritten mit dem Hinweis darauf, dass Azov nur ein paar tausend Militante habe und der ihnen nahestehende politische Wahlblock bei den letzten Wahlen auf nur 2,4 Prozent kam. Doch das ist ein Scheinargument.

Die Bandera-Linie ist weit über das offen faschistische Spektrum hinaus die anerkannte Traditionslinie des prowestlichen ukrainischen Nationalismus, sie zu ehren war und ist auch für die ganz bürgerlichen Gestalten wie Timoschenko, Klitschko, Melnyk oder eben Selensky eine Selbstverständlichkeit. Das Grüßen mit „slava ukraini“, die schwarz-roten Fahnen, die Verklärung der OUN und die Leugnung ihrer Pogrome und Massenmorde ist kein Monopol der offen nazistischen Kräfte. Sie ist im prowestlichen Teil der Ukraine hegemonial und wo sie es vor dem Krieg nicht war, hat ihr Putin mit seinem als „Entnazifizierung“ verbrämten Angriffskrieg zum endgültigen Durchbruch verholfen.

Für die westliche Berichterstattung jedenfalls gilt: „Echte Ukrainer“ können nicht die sein, die den Dienst an der Waffe für Europa verweigern oder gar mit dem geopolitischen Feind fraternisieren. Echte Ukrainer sind nur die prowestlichen Nationalisten und weil dem so ist, muss die Geschichte eben so umgeschrieben werden, dass keinerlei Zweifel an deren Image bleibt.

Whitewashing Nazis

Da sich die Schlagseite des ukrainischen Nationalismus zum Faschismus aber nicht komplett verbergen lässt, weil die Wolfsangeln, Schwarzen Sonnen und Bandera-Bildnisse nunmal nicht alle aus dem Spiegel-Archiv löschen lassen, ist die Umdeutung ukrainischer Faschisten auch in deutschen Medien und Politikerreden gängiges Tagesgeschäft. Und die schreitet rasch voran. War noch zu Kriegsbeginn eine Homestory mit zwei der bekanntesten Neonazis der Ukraine ebenfalls im Spiegel kurz nach Veröffentlichung wieder gelöscht worden, ist es mittlerweile von Springer bis FAZ Usus, von in Mariupol eingeschlossenen Faschisten nur noch als „Widerstandskämpfern“ zu sprechen. Völlig ohne jede Einordnung werden Videos vom Twitter-Kanal der Faschisten wiedergegeben. Wahlweise wird die These vertreten, die Ideologie der Bandera-Anhänger sei völlig marginal oder aber sie seien so wichtig für den Kampf um die Freiheit Europas, das man sie nicht zu kritisieren habe. Im Trend ist auch die These, dass die mit Schwarzer Sonne und Wolfsangel in den Kampf ziehenden Kombattanten nur „früher mal“ Nazis waren, aber einen wundersamen Entradikalisierungsprozess durchgemacht hätten und jetzt keine mehr sind. Was den Sinneswandel begründet haben könnte, man kann nur rätseln. Sehr überzeugend ist das alles nicht, wie das Jacobin Magazin nachwies.

Deutsche Zeitenwende

Ein erwünschtes Nebenprodukt des ukraine-bezogenen Geschichtsrevisionismus ist, dass Deutschland – wie einst im Jugoslawienkrieg wieder unter Vorherrschaft der „Grünen“ – den Schlussstrich unter die eigene Geschichte wieder ein kleines bisschen dicker ziehen kann. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über den Hitler-Faschismus veröffentlichte die Haus- und Hofzeitung der Joschka Fischers dieser Republik einen Text der russischen Rechten Julija Leonidowna Latynina, in dem nicht nur affirmativ ein Diplomat des rumänischen Holocaust-Kollabaroteurs und Faschisten-Diktators Ion Antonescu zitiert wird, sondern die vor nicht allzu langer Zeit außerhalb von nationalkonservativen Stammtischen sehr seltene These vertreten wird, die Sowjetunion habe den Zweiten Weltkrieg begonnen: „Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“ Verteidiger:innen dieses Textes auf Twitter führten an, es sei ja schließlich ein Reprint aus einer russischen Zeitung und da müsse man kulturelle Unterschiede einrechnen. Als solidarischer Deutscher darf man ihn dann durchaus teilen und wenn man schon nicht selbst gleich wieder die Hand heben darf, dann streitet man wenigstens für das Recht anderer, es zu tun.

Wer nicht gleich so weit gehen will, die Geschichte komplett umzuschreiben, widmet sich lieber der Verdrehung der Lehren, die man einst aus ihr zog. War es nach 1945 schlüssig, militärische Zurückhaltung von jenem Deutschland zu fordern, das die ganze Welt mit Leid überzogen hatte, arbeiten die hiesigen Eliten seit Jahrzehnten daran, die Sache umzudrehen: Gefordert sei vielmehr ein Mehr an militärischer Aktivität im Ausland, natürlich stets zum guten Zweck. Lag der beim ersten Waffengang von Rot-Grün noch in der Zähmung des „Balkan-Hitlers“ Milosevic, hat man den neuen Hitler jetzt in Moskau ausgemacht. Der „Prüfstein, wie ernst es uns mit dem deutschen ‚Nie wieder‘ ist“, erläutert eine vom Ex-Böll-Stiftungs-Scharfmacher Ralf Fücks angeführte Querfront aus Springer-Journalisten, Grünen und Neues-Deutschland-Kolumnisten, sei die Verteidigung der Freiheit der Ukraine mit Waffengewalt. „Die deutsche Geschichte gebietet alle Anstrengungen, erneute Vertreibungs- und Vernichtungskriege zu verhindern. Das gilt erst recht gegenüber einem Land, in dem Wehrmacht und SS mit aller Brutalität gewütet haben.“ Dass ukrainische Nationalisten an der Seite von Wehrmacht und SS gegen Rote Armee, Juden und Polen wüteten, interessiert hier schon nicht mehr. Dafür wird aber en passant der „Vernichtungskrieg“ entgermanisiert – so besonders war der Hitler-Faschismus dann auch wieder nicht.

Das Whitewashing des ukrainischen Nationalismus hat die Wiederbelebung des deutschen Nationalismus im Schlepptau. Und welch Überraschung, der betritt dieses Mal nicht in seiner hässlichen pockennarbigen AfD-Form die Weltbühne, sondern ganz humanistisch, transatlantisch, pro-europäisch, samt feminist foreign policy. Die Freund:innen des CO2-neutralen Panzers jubeln, die Wolfsangel weht neben NATO- und Regenbogenfahne auf den „Friedenskundgebungen“. Und ein weiteres Mal darf am deutschen Wesen die Welt genesen.

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Im Mai hat die Kiezkommune Berlin-Wedding die Veranstaltungsreihe „Nein zum Krieg“ gestartet. Wir haben mit zwei der Organisator:innen, Noemi und Ernesto, gesprochen, wieso sie diese Reihe machen und was das mit ihrer Basisarbeit zu tun hat.

Wir freuen uns, dass ihr Zeit für dieses Interview hattet. Wollt ihr kurz euch und eure Arbeit vorstellen?

N: Ich bin seit etwa zwei Jahren dabei, ursprünglich wollte ich mich feministisch organisieren und bin so zur „Gruppe Ella Trebe“ gekommen, darüber bin ich quasi auch an die Basisarbeit gekommen und hab mich auch vermehrt in die Kiezkommune eingebracht. Wir arbeiten ja in mehreren Kommissionen, zu verschiedenen nachbarschaftlichen Themen bzw. Lebensbereichen der Arbeiterklasse: Bildung, Gesundheit, Geschichte, Gewalt gegen Frauen,Wohnen usw. Da ich selber auch im Kiez wohne, hatte ich natürlich viele Berührungspunkte mit den Alltagsproblemen, die es hier gibt und habe mich auf die kulturellen und sozialen Aspekte fokussiert.

E: Also bei mir gab es erst einmal eine theoretische Annäherung, ich hab irgendwann angefangen mich mit marxistischer Literatur auseinander zu setzen und kam zu einem kommunistischen Selbstverständnis. Es lag natürlich dann auf der Hand, dass ich mich dann auch praktisch einbringen wollte. Irgendwann kam ich auf den Laden und fand in den nachbarschaftlichen Projekten einen guten Ansatz. Es gibt ja einiges bei uns, so Nachhilfe-Angebote, offene Essensausgaben, Kiezspaziergänge, ein offenes feministisches Cafe & Mieter:innen Stammtische und eben auch verschiedene inhaltliche Veranstaltungen. Z.B hatten wir auch in den letzten Monaten eine Filmreihe gemacht in der wir die verschiedenen Themenbereiche zu denen wir arbeiteten vorstellten.

Ihr habt ja schon eine Filmreihe gemacht, in eurer aktuellen Veranstaltungsreihe zeigt ihr ja auch zwei Klassiker, Tarkovskys „Ivans Kindheit“ und „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ . Wie kamt ihr auf diese Reihe?

N: Also es sind ja nicht nur Filme, es gibt auch eine Diskussionsveranstaltung und eine Lesung. Das Kriegsthema ist zurzeit sehr präsent, nicht nur medial sondern auch im Alltag der Menschen im Kiez. Wir kommen ja z.B bei der Essensausgabe oder bei unseren Kiezspaziergängen sehr direkt mit den Nachbar:innen ins Gespräch. Da wird uns viel über die Auswirkungen, die sich in den Preissteigerungen niederschlagen, gesprochen. Teilweise haben Menschen schon Probleme ihre Nahrungsmittel zu kaufen und viele kleine Läden, die eigentlich auch im Kiez verwurzelt sind, heben ihre Preise, weil es sonst einfach nicht klappt. Aber die Frage bleibt ja bestehen: Wie sollen es sich die Menschen noch leisten wenn es immer prekärer wird? Oft ist dann die Haltung wie bei der Bäckerin bei mir um die Ecke, die dann sagt: “NATO und Putin sind doch alle Scheiße.” Das können wir gut verstehen.

E: Ja vor allem auch seit den letzten Essensausgaben stellen wir uns auch auf Personen ein, die aus der Ukraine wegen dem Krieg fliehen mussten. Also es ist im Kiez schon präsent. Aber ich will auch auf einen anderen Aspekt eingehen. Wir haben die Reihe auch gemacht, weil wir eine Gegendarstellung wollen. Der gängige Diskurs in Deutschland und auch in einigen Teilen der Linken ist eine des Burgfriedens mit den eigenen Herrschenden. Nach dem Motto „Bist du nicht mit uns, dann bist du gegen uns“. Wir halten das für eine falsche Wahl und lassen uns da auch nicht reinzwängen. Trotzdem bestehen ja auch bei uns offene Fragen, wie eine antimilitaristische Praxis heute aussehen sollte. Klar haben wir einige Überlegungen dazu, aber wir denken, da muss aus einer linken und klassenbewussten Perspektive viel mehr gemacht werden. Die Reihe ist für uns ein Denkanstoß.

Ihr habt euch ja entschieden, auf vier verschiedene Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu schauen, wieso genau diese Auswahl?

N: Genau, wir zeigen ja den Film „Iwans Kindheit“, eine sowjetische Produktion zum Zweiten Weltkrieg, haben eine Diskussionsveranstaltung mit Genossen aus dem Iran, die zur Zeit des ersten Golfkriegs den Krieg boykottierten und Menschen zur Flucht verhalfen. Dann gibt es noch den Film „Dr.Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“, der sich mit dem Thema Atomkrieg auseinandersetzt. Als letzte Veranstaltung ist dann die Lesung aus „Im Westen nichts neues“, der ja der Antikriegsroman schlechthin ist.

E: Auf den ersten Blick scheint es etwas zusammenhangslos, aber wir haben uns bewusst für vier Aspekte entschieden, die uns in den letzten Wochen viel begegnet sind und wo wir denken, dass ein Blick in die Geschichte sehr fruchtbar sein kann. Natürlich ist das nicht ein umfassender Blick und es ist auch keine Analyse der aktuellen Lage. Aber wir denken, dass gerade der Blick in die Geschichte viele Anknüpfungspunkte für uns heute liefern kann.

Gerade die moralistische Argumentation, der wir in Deutschland begegnen, halten wir für gefährlich. Es wird dann Geschichtsrevisionismus betrieben und gesagt, dass es der erste Krieg seit 45 in Europa sei. Als ob es kein Jugoslawien gegeben hätte. Oder es werden gezielt Begriffe wie Vernichtungskrieg und Genozid kultiviert. Dass im Jemen seit 8 Jahren bombardiert wird oder aktuell wieder kurdische und ezidische Gebiete von der Türkei angegriffen werden, spielt dann aber keine Rolle. Vor allem wird sich gesellschaftlich zu selten gefragt, wieso es keine Rolle spielt.

N: Um wieder zu deiner Frage zurück zu kommen. Den ersten Film zeigen wir zum Anlass des Jahrestags der Befreiung. Es gab die letzten Wochen ja vermehrt Anschläge auf sowjetische Denkmäler. Wir denken es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn die Befreiung vom Faschismus mit russischem Nationalismus vermischt wird. Es sind genauso wenig „russische“ Denkmäler wie der Angriffskriegs Russlands „antifaschistisch“ ist. Das Gedenken an die 15 Völker der UdSSR und all jene Menschen, die ihr Leben für die Befreiung Europas vom Faschismus gaben, lässt sich für uns nicht nationalistisch vereinnahmen oder verklären.

Zu der Diskussionsveranstaltung in der zweiten Maiwoche: Es war uns wichtig, dass wir Fragen thematisieren können, die auch uns selbst beschäftigt haben. Sollte man sich auf die Seite einer Kriegspartei schlagen? Wie verhält es sich mit dem Recht auf Selbstverteidigung? Was heißt es, zu desertieren? Wir denken, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in Situationen waren, die Analogien aufweisen, kann uns da voran bringen. Es ist nicht der erste Krieg in der Geschichte und es gibt eben auch Erfahrungen, auf die wir als Linke zurückgreifen sollten, anstatt aus dem Bauchgefühl zu agieren. Vor allem sich dabei auf Ereignisse in Europa zu beschränken und andere historische Erfahrungen zu ignorieren ist kurzsichtig.

E: „Dr.Seltsam“ ist ja recht bekannt. Es geht um den Kalten Krieg,um die Atombombe, es ist eine Satire auf die Absurdität und zugleich das unmessbare Grauen, welches damit einhergeht. Wir sind auf das Thema gekommen, als wir darauf aufmerksam wurden, wie der Vorsitzende der Heinrich Böll Stiftung in Kiew von nuklearen Angriffen auf Russland sprach. Der ganze Diskurs ist absurd aber es werden ja auch konkrete Schritte unternommen. Russland will seine Atomwaffen an die Westgrenzen verlegen, Polen bittet die USA dort Waffen in Stellung zu bringen. Es wird zugleich vor Panikmache gewarnt, aber auch normalisiert, über die Möglichkeit eines Atomkriegs zu fabulieren.

Unsere letzte Veranstaltung soll uns nochmal an das Grauen des ersten Weltkriegs erinnern, daran, dass jeden Tag junge Menschen aus Zwang oder Nationalismus sterben und dass ein kapitalistischer „Krieg bis zum Sieg“ für die einfachen Menschen immer eine Niederlage bedeutet. Dass das „Heilige Vaterland“ gerade hierzulande mit einer heiligen „westlichen Demokratie“ oder „Freien Welt“ ersetzt wird, die Kriegstreiberei der Herrschenden aber die gleiche bleibt.

Ihr habt ja angerissen, dass euch persönlich auch viele Fragen aufgekommen sind, welche waren denn diese?

N: Einiges haben wir ja aufgegriffen, aber klar, es stellen sich auch noch unzählige Fragen z.B auch aus feministischer Perspektive: Es gab es ja auch Fortschritte für queere Menschen in der Ukraine und jetzt sind sie auch nochmal auf anderen Ebenen von den Konsequenzen des Kriegs betroffen, also dass z.B trans Personen das Land nicht verlassen können oder wie geflüchtete Familien von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Der Krieg ist komplex und dass suggeriert wird, es wäre ja ganz einfach, stimmt nicht. Die verschiedenen Faktoren von Wirtschaftsinteressen und Machtpolitik, der historischen Rolle vom Nationalismus bis zu z.b Rassismus an den Grenzen usw., spielen eben eine Rolle. Wir hoffen, mit unserer Reihe die Diskussion darum, wie antimilitaristische Politik in diesem Zusammenhang aussehen kann und vor allem wie sich eine solche Praxis im Kiez und mit der Nachbarschaft umsetzen lässt, anregen zu können.

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„Serê cîlo çarçella
Benda te me ey Zagros
Baranek hûr hûr barî
Mervanê’m şehîd ketî”

Wenn Genossen und Genossinnen fallen tut das weh. Tausende Emotionen, Erinnerungen, Versatzstücke kommen hoch, ziehen an den Augen vorbei. Und heute ist genau so ein Tag.

Heval Serfiraz Nîdal ist am 10. April 2022 in Rojava nach Kampf gegen eine Krebserkrankung von dieser Welt gegangen.

Wenn ich mich mit Genossen und Genosssinnen über Gefallene unterhalte kommt manchmal die Frage auf, ob man viel Zeit gemeinsam verbracht habe, sich besonders intensiv kennen würde. Denke ich an Heval Serfiraz müsste ich auf den ersten Blick wohl beide Fragen verneinen. Gerade einmal vier Wochen begegneten wir uns, kannten uns nicht aus unseren Kindheitstagen oder gemeinsamer politischer Organisierung.

Revolutionen sind mächtig. Sie bringen tausende Dinge hervor, das Gute, das Schlechte und das Unbestimmte. Und die Revolution in Kurdistan hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass sich die Wege von mir und Heval Serfiraz in Rojava kreuzten, für 28 Tage. Und 28 Tage gemeinsam in einer Revolution zu kämpfen, zu leben, zu lachen und zu weinen sind intensiv, lehrreich und unvergesslich.

Die Märtyrer sterben nicht. All diejenigen, die länger mit der kurdischen Freiheitsbewegung und revolutionären Organisationen weltweit zusammengearbeitet haben kennen diesen Satz. Er ist weit mehr als eine Floskel oder pathetisches Gerede, denn der Satz drückt eine grundlegende philosophische Annäherung an das Leben selbst aus. Denn Märtyrer sterben deshalb nicht, weil die Militanten sie weiterhin in ihren Herzen tragen und in ihren Handlungen, Werte und Prinzipien repräsentieren. Dabei geht es nicht um einen Todeskult. Denn wie es viele Revolutionär:innen bereits gelebt haben, lieben wir das Leben so sehr, dass wir bereit sind dafür das eigene Leben zu geben.

Heval Serfiraz war unser Kommandant für den Frontabschnitt an welchem wir im Februar 2021 eingesetzt waren. Wir waren drei Freunde, Internationalisten, welche im Februar noch etwas unsicher in dem Dorf eintrafen, in welchem Serfiraz uns in Empfang nahm und welches für die kommenden Wochen unser Zuhause wurde.

Was uns allen direkt auffiel war die Wärme und der unglaublich gute Humor unseres Verantwortlichen und das in einer Situation in der uns zuerst nicht zu Lachen zu Mute war. Die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldnertruppen hatten sich seit ein paar Wochen wortwörtlich auf das kleine Dorf festgeschossen, welches von kurdischen, assyrischen und arabischen Kämpfern verteidigt wurde.

Eines Abends war ich zur Nachtwachse gemeinsam mit Serfiraz eingeteilt. Meine erste an diesem Abschnitt und es lag ein Schleier dichten Nebels über dem Gebiet. Kein gutes Wetter, sofern man davon ausgeht ein Angriff könnte stattfinden. Meine Hände waren schwitzig, mein Körper angespannt und ich versuchte Krampfhaft die tausenden Geräusche zu unterscheiden. Serfiraz legte seine Hand an meine Schulter und sagte, dass Angst ein normales Gefühl sei, es ginge aber darum sie steuern zu können. Heval Serfiraz schaffte es mit nur wenigen Worten genau die Ruhe zu erzeugen die es an einem Ort wie der Front braucht, unterschätzte die Lage aber auch nicht. Er verstand es sehr gut eine militante Führung im Alltag und organisatorisch zu entwickeln. Das notwendige Gleichgewicht aus Zärtlichkeit, Zugewandtheit und notwendiger Härte. Allen und vor allem auch sich selbst gegenüber.

Es regnete viel in diesen Tagen, das Dorf glich einem Moor, so tief sanken wir teilweise in den Schlamm ein. Er ließ es sich dennoch nie nehmen, einen tägliche Rundgang zu machen, jede Position und jeden Freund einmal am Tag zu sehen und sich nach deren Befinden zu erkundigen. Serfiraz war zwar unser Kommandant, aber er delegierte nicht nur arbeiten, sondern packte selbst da an wo es notwendig war, für keine Arbeit war er sich zu schade.

Er hatte das große Talent militärische Disziplin mit menschlicher Art und Weise zu leben. Es gab kaum einen Abend, an welchem wir nicht zusammen saßen, Tawla spielten, dutzende Teegläser leerten, an manchen Tagen gemeinsam aßen an anderen gemeinsam nichts aßen oder in der feuchten Erde froren. Serfiraz sprach drei Sprachen, kurdisch, türkisch, arabisch. Denn auch für ihn war die Sprache ein Schlüssel zur Welt, zumal in unserer Einheit wirklich die gesamte Sprachbreite Rojavas repräsentiert war, und die Sprache des Gegenübers zu erlernen bzw. zu sprechen war für ihn eine wichtige Geste des gegenseitigen Respekts. Für mich legte er damit eine große Wertschätzung den eigenen Genossen gegenüber an den Tag, da er selbst bereit war neues zu lernen um sie zu verstehen, er ging nicht davon aus, dass alle ihn verstehen müssten.

Heval Serfiraz war ein sehr neugieriger Mensch, er wollte alles Wissen, über die Lage der revolutionären Kräfte in Europa, über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Vor allem aber begrenzte sich sein Interesse nicht lediglich auf die „harten“ politischen Fragen. Wir diskutierten über den Einfluss von Mode, Popkultur und Musik auf die jeweiligen Gesellschaften. Und Heval Serfiraz hatte eine Eigenschaft, die uns allen als Militante leitend sein sollte: Er schämte sich nicht zu fragen, wenn er etwas nicht wusste oder verstand. So saßen wir teilweise Abende zusammen und übersetzten gemeinsam die Bedienungsanleitungen notwendiger Gerätschaften vom englischen ins kurdische und anschließend ins arabische oder türkische. In all diesen Erinnerungen bleibt für mich immer besonders prägend, dass er bei weitem kein Dogmatiker war. Unsere Diskussionen reichten von Lenins Imperialismustheorie, der Rolle Stalins, Neuerungen in den Programmen der weltweiten kommunistischen Parteien, Diskussionen mit einem anarchistischen Genossen über die Ukraine und Machno, über unsere Lieblingsrezepte unserer jeweiligen Küchen bis hin zur zentralen Rolle der LGTBIQ-Bewegung bei den Gezi-Protesten in der Türkei.

Er war ein wandelnder Erzähler, konnte seine Werdung zu einem militanten der MLKP mit Leben füllen, erzählte auch von seinen eigenen Erfahrungen in der Türkei, Kurdistan oder den türkischen Gefängnissen. Er machte diese Entwicklung greifbar. Ein lebendes Vorbild.

Als wir nach mehreren Worten aufbrachen, erinnere ich mich noch an unseren Händedruck des Abschieds und unser Versprechen, uns wiederzusehen, die feste Umarmung und unser gemeinsames herzliches Lachen.

Lieber Freund, heute habe ich den Namen kennengelernt, den dir deine Mutter bei deiner Geburt gab. Welat. Dein Familienname Yildiz. Land der Sterne. Serfiraz yoldaş, ich werde dich vermissen, genau wie hunderte Andere dich vermissen und in ihren Herzen tragen werden. Und auch ich werde dich bei mir tragen, unabhängig davon wo ich mich befinde und in den Sternenhimmel schauen werde. In meinem oder in deinem Land. Welat.

#Deniz Nîdal

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Felix Anton sprach für das LCM mit Yurii, 29 Jahre alt, Anarchist und Internationalist aus Russland über den Krieg in der Ukraine, Widersprüche und Herausforderungen.

Seit dem 24. Februar 2022 greift die russische Armee die Ukraine in einer groß angelegten Invasion aus mehreren Richtungen an. In Deutschland hat das viele schockiert und überrascht. Dich auch?

Nein, wirklich überrascht war ich nicht. Die ersten Nachrichten waren für mich auch nicht schockierend. Stattdessen sah ich, wie recht ich und so viele andere um mich herum mit der Prognose dieser schrecklichen Ereignissen hatten. Viele Jahre lang haben wir versucht, der Welt laut zuzurufen, mit wem sie es zu tun hat. Aber der überwältigende Geldfluss hielt alle taub und stellte das russische Regime als legitim und handzahm dar. Keine Menschenrechtsverletzungen, keine Korruption, kein illegales schmutziges Geld oder irgendetwas anderes hat die Aufmerksamkeit auf uns und die Standpunkte der russischen Opposition gelenkt. Wir waren müde, enttäuscht und verloren unsere Moral. Im aktuellen Krieg ändert sich dies, leider zu einem sehr hohen Preis für alle.

Putin wird in den deutschen Medien pathologisiert. Ein kranker Mann, der nicht mehr vernünftig handelt. Was ist Putins Kalkül hinter dem Krieg und ist er wirklich allein dafür verantwortlich oder gibt es weitere Kräfte, die ein Interesse an diesem Krieg haben?

Ein riesiger Kreis von Oligarchen, Politikern und Religionsführern ist daran beteiligt, zusammen mit Putin als Hauptverantwortlichem, der das ganze Land und die Welt mit der Androhung des Nutzens von Atomwaffen als Geisel hält. In den Augen dieser Kreise soll der russische Einfluss in allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion aufrechterhalten werden. Vor den Ereignissen von 2014 war die Ukraine ein guter Nachbar von Russland und dem Westen. Aber nach der Revolution hat die Ukraine einen Kurs eingeschlagen, um sich durch „Reformen“ der westlichen Welt anzunähern und sich von der Einflusslinie Russlands zu trennen. Das rief den Zorn der Eliten hervor, weil diese nicht nur ihr Einflussgebiet verloren, so wie es bspw. in Georgien geschah, sondern mit der Ukraine auch einen sehr wichtigen Wirtschaftskanal Russlands. Der größte Teil der Gas- und Öllieferungen an die EU läuft durch die Ukraine. Es steckt keine Ideologie oder etwas anderes hinter diesem Krieg. Es geht nur um Geld und Einfluss. Jede Person dieses Kreises um Putin und ihre Familien sind sehr daran interessiert, ihr eigenes Stück vom Kuchen zu bekommen und ihre Einflussgebiete und Reichtümer zu sichern. Alle anderen angeblichen Kriegsgründe sind Fälschungen und Lügen.

Wie schätzt du die Gefahr einer Eskalation zwischen Russland und der NATO ein?

Heute warnt Russland Finnland, Schweden und Bosnien-Herzegowina vor den Folgen eines Beitritts zur NATO. Ich denke, Russland hat keine Chance, weiter zu gehen. Es ist nicht mehr die UdSSR. Es gibt keine Moral, keine Macht, keine Ressourcen, die mehr oder weniger mit dem heutigen NATO-Niveau vergleichbar wären. Alles ging in der Ära von Boris Jelzin Anfang der 1990er Jahren verloren. Das, was übriggeblieben ist, ist der Versuch, mutig auszusehen, das ist alles. Jeder kleine Schlag wird Artikel 5 der NATO auslösen, der zu einem Blutbad im Westen Russlands führen wird. Wir sollten nicht vergessen, wie groß Russland ist. Nur wenige Kilometer trennen uns von Japan, dessen Beziehungen zu Russland nicht gerade die besten sind. Wenn etwas passiert, werden sie wahrscheinlich versuchen, diese Chance zu nutzen, um eine zweite Front aufzubauen, da bin ich mir mehr als sicher.

Die aktuellen Sanktionen gegen Russland sind die schärfsten Sanktionen aller Zeiten. Spürst du das im Alltag selbst? Wie wirken sie sich auf das Leben der Menschen aus, auf die Lohnabhängigen und Studierenden?

Die Sanktionen haben einen Schneeballeffekt. Im Moment spürt der oberste Kreis um Putin die Sanktionen stärker denn je. Für die Bevölkerung, Arbeiter_innen und Studenten_innen ist es noch zu früh, um das ganze Ausmaß der Sanktionen zu erkennen. Bereits jetzt sind die Preise für Lebensmittel um 20-40% gestiegen. Für Renter_innen ist es jedoch bereits jetzt schwer von 130-150$ pro Monat zu leben, wovon fast die Hälfte für die Miete und Nebenkosten wie Strom, Wasser und Gas aufgewendet werden muss. Den Arbeiter_innen geht es genauso, denn das Gehalt liegt in den meisten Städten bei 200-300$. Fabriken und Unternehmen sehen sich mit Kettenreaktionen konfrontiert, einem Währungssprung um das 1,5-2-fache pro Dollar und keiner Möglichkeit, Komponenten, Technologien und vor allem die fehlenden menschlichen Ressourcen durch Einheimische zu ersetzen. China könnte ein Partner für die russische Regierung sein, um diese Lücken zu ersetzen.

Werden die Sanktionen den Widerstand gegen Putin verstärken oder werden sie die Unterstützung der Bevölkerung für seine Linie erhöhen?

Putin lebt sicherlich seine letzten Jahre auf diesem Planeten und er möchte als “Sammler russischer Ländereien” in die Geschichte eingehen. Indem er dies tut, versucht er auch, seine Popularität innerhalb des Landes zu steigern. Es funktioniert aber nicht so gut, wie er es sich vorgestellt hat. Konflikte tauchen auf allen Ebenen der Gesellschaft auf und die Stimme der Opposition wird lauter werden. Leider ist das nicht genug, um radikale Schritte zu unternehmen, die die Situation verändern könnten. Russland braucht einen Mentalitätswandel.


Wir erhalten viele Bilder von großen Antikriegsdemonstrationen in Russland. Wer organisiert diese Proteste und wie sehen die Aussichten für die russische Opposition aus?

Die meisten Demonstrationen wurden von dezentralisierten Initiativgruppen oder großen Namen wie dem Team von Navalny mit Aufrufen auf den Plätzen „zur gleichen Zeit am gleichen Tag” organisiert. Im Moment sehe ich keinen Kern, der die russische Opposition in naher Zukunft anführen könnte und es würde mich überraschen, wenn sich daran in naher Zukunft etwas ändern würde.

Du hast Nawalny angesprochen als teil der russischen Opposition. Unumstritten ist er ja nicht…

Leute wie Nawalny sind Verräter. Sie haben Daten über diejenigen gesammelt, die für sie gearbeitet und sie unterstützt haben, und sie an die russischen Sicherheitsdienste weitergegeben. Die größte Hoffnung revolutionärer Kräfte wäre aktuell ein gemeinsamer ukrainisch-belarussisch-russischer Partisanenkampf. Aber Stand jetzt, können wir lediglich belarussische Oppositionsbrigaden in der Ukraine sehen, keine russischen.

Kannst du mehr über solch ein mögliches „Partisanen-Bündnis“ sagen?
Wir brauchen einen Partisanenkampf und wenn er beginnt, wird er uns den Schwung geben, sowohl die Faschisten zu bekämpfen als auch die Regime zu beenden und den Weg für unsere Zukunftsvision zu ebnen.

Ich kenne viele Linke, die in der Ukraine an der gleichen Front gegen Russland kämpfen, wie es die Neonazi-Bataillone tun. Natürlich sind sie nicht in der gleichen Position. Es muss aber darum gehen, wer in der Nachkriegszeit Vorrang haben wird. Dies sollten natürlich die Linken und nicht die Faschisten sein. Dafür ist es wichtig, dass sie sich am Kampf beteiligen.

Zwischen den russischen und den westlichen Großmachtsfantasien zu manövrieren scheint schwierig. Welche Möglichkeiten siehst du hier?

Wir sollten gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den postsowjetischen Ländern pflegen, ohne uns gegenseitig zu behindern. Unabhängig und stark gegenüber dem Westen und dem Osten. Angehörigen des Regimes, die in den 90er Jahren alles zerstört haben, was wir hatten, sollten gefasst werden, ihre Ableger enteignet und dem Volk übertragen werden. Alles wird hier gestohlen und verkauft. Der oft propagierte Umsturz des russischen Staates mit dem Ziel einer Angleichung an westliche Staaten ist nicht die beste Lösung für die Gesellschaft. Der westliche Block, der versucht zu lehren und zu diktieren, dass sein Weg und seine Vision der einzig richtige Weg seien, bringt nicht das süße freie Leben. Im Westen wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn man von Menschenrechten und privaten Rechten von Menschen in anderen Staaten spricht und sie gleichzeitig auf dem eigenen Territorium missbraucht und verneint. In der Vergangenheit gab es in Russland ein gewisses Maß an Volksdemokratie, die jedoch vom Regime abgeschafft wurde. Diese sollte in einer neuen, basisdemokratischen Form wiedereingeführt werden.

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Wie die deutschen Medien und Politiker beständig wiederholen, handelt es sich bei dem Ukraine-Konflikt um einen Kampf zwischen Demokratien auf der einen und Diktaturen auf der anderen Seite. Damit ist die Frage, ob Parteinahme nötig sei – und falls ja, für wen – für viele Menschen schon beantwortet. Die Ukraine, über deren korruptes politisches System ansonsten viel berichtet wurde, verteidigt jetzt die Werte der freien Welt gegen die „letzten Diktatoren“: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, die sich in der EU mit autoritären Demokratiegefährdern wie Viktor Orbán verbünden. Angesichts dieser Gefahr wird die Einheit aller Demokraten über die sonstigen politischen Lagergrenzen hinweg gefeiert.

Mittendrin kommt es, von der Öffentlichkeit nur am Rande bemerkt, zu einem diplomatischen Konflikt der EU mit dem NATO-Mitgliedsstaat Türkei über die Haltung zum Ukraine-Konflikt. Der EU-Botschafter in Ankara, Nikolaus Meyer-Landrut warnte die Türkei davor, einen „Balanceakt“ zu vollziehen. Gemeint ist der Spagat zwischen den Interessen des politisch-militärischen Bündnisses der Ukraine-Untersützter und den Interessen Russlands.

Die Türkei war in den letzten acht Jahren ein wichtiger Waffenliferant der Ukraine. Die Schwäche der ukrainischen Heeresflieger sollte durch Bayraktar TB2 Drohnen wettgemacht werden. Bis 2023 sollen in der Türkei vier von der Ukraine bestellte Korvettenschiffe mit Raketenaufrüstung fertiggebaut werden. Zwar hält die EU Erdogan weiterhin vor, kein „lupenreiner Demokrat“ – wie Gerhard Schröder Putin einmal nannte – zu sein, aber solches Engagement im Konflikt mit Russland sieht man doch gerne. 

Dass Erdogan sich jedoch rausnimmt, die Beziehungen zu Russland an den eigenformulierten Staatsinteressen der Türkei zu messen und sich deswegen immer wieder eigenständig mit Moskau über Syrien und Karabach verständigt, erscheint aus Sicht der EU als ebenso dreiste Zumutung, wie die aus US-amerikanischer Perspektive mangelnde Bereitschaft einiger EU-Länder, aus Solidarität mit der Ukraine auf lohnende Geschäfte mit Russland zu verzichten. Denn die Türkei verhandelt nicht nur mit Russland, sie unterhält auch intensive Wirtschaftsbeziehungen und bezieht ihrerseits sogar Waffen, wie die Flugabwehrraketensysteme S-400 des größten russischen Rüstungsunternehmens Almas-Antei, aus dem Land. Außerdem ist die Türkei weiterhin auf Gas-Lieferungen aus Russland angewiesen. Der Wille der Türkei, ihre eigenen Interessen in dem Konflikt hinten an zu stellen, ist daher begrenzt.

Die Entscheidung, die Meeresengen vom Bosporus und der Dardanellen für Kriegsschiffe „aller Kriegsparteien“ – also faktisch für die russische – zu schließen, traf die türkische Regierung nur zögerlich. Weiterhin läuft der zivile Luftverkehr zwischen EU und Russland über die Türkei, die sich den Sanktionen gegen die russischen Fluglinien nicht anschließt. Auch das Canceln der Auftritte russischer Künstler im Namen der Ukraine-Solidarität verurteilte Erdogan als „Hexenjagd“. Die Empörung darüber, dass ein Staat die bewaffneten Rebellen auf dem Gebiet seines Nachbarn erst unterstützt und schließlich eine Invasion zu ihren Gunsten durchführt, scheint in der Türkei nicht so groß zu sein, wie bei den NATO-Staaten – die solches Handeln der Türkei im Bezug auf Syrien zumindest tolerieren.

Dass die deutschen Medien heute gar nicht mehr so tun, als würden sie sich um Distanz zu den Kriegsparteien bemühen, sondern ohne wenn und aber die ukrainische Perspektive übernehmen, ist nun auch kein großes Geheimnis. Damit ist es für die Verbündeten der Ukraine noch nicht genug – auch in den dritten Staaten soll der Sumpf der „Putinverstehrerei“ trockengelegt werden.

Erst im März verlangte der EU-Botschafter in Ankara, dass die Türkei „russische Propagandasender“ einschränke. Das gelegentlich für seine Zensur angeprangerte Erdogan-Regime soll nun also noch mehr davon leisten. Zweifelsohne waren Sender wie Russia Today auch schon in den Vorkriegszeiten vor allem darauf ausgelegt, das Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Regierungen der sich mit Russland im Interessengegensatz befindenden Staaten zu stören. Ein wichtiges Mittel dafür sind als „unterdrückte Wahrheiten“ präsentierte Fake-News. In Kriegszeiten wird der Zirklulation von von solchen Meldungen besondere Bedeutung beigemessen.

In ihrer Sorge um die Demokratie fordert die EU also von einem souveränen Staat, er solle seine Bürger und die sich im Land aufhaltenden Touristen vor den Medien eines anderen souveränen Staates abschotten. 

Dass Erdogan Phosphorbomben einsetzt, darüber könnten seine westliche Partner noch hinwegsehen. Aber bei den russischen Nachrichtensendern ist die rote Linie endültig überschritten. 

#Foto: Wikimedia Commons

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„Maskierte Männer und Grenzbeamte treten auf Geflüchtete ein, setzen Schlagstöcke und Elektroschocks ein.“ Vor gut drei Monaten hat die freie, auf der griechischen Insel Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier in einem Beitrag für das medico-Rundschreiben, Zeitschrift der Organisation medico international, mit diesen Worten beschrieben, wie die rechtswidrigen „Pushbacks“ an der bosnischen-kroatischen Grenze meist verlaufen. Es lohnt sich, ihren Text heute noch mal gründlich zu lesen, denn es hat sich nichts geändert.

Bei der Lektüre wird vor allem ein grotesker Kontrast deutlich: Hier eine EU, die ihre Abschottung immer mehr perfektioniert, Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder afrikanischen Ländern im Mittelmeer verrecken lässt oder an Außengrenzen in Polen, Kroatien oder Griechenland zurückprügelt — dort eine EU, deren Mitgliedsstaaten plötzlich, angesichts von mehr als 3,5 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine, eine „Willkommenskultur“ ausrufen und sich als Leuchttürme von Freiheit, Demokratie und Humanismus aufspielen.

Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Jede Solidarität gegenüber Geflüchteten ist zu begrüßen, und das gilt natürlich auch für die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. Aber die Reaktionen auf die Flucht von Millionen von Ukrainer*innen haben die widerliche Doppelmoral und Verlogenheit der EU deutlich gemacht. Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten, sind in dieser Union nur dann willkommen, wenn sie in die geostrategischen und propagandistischen Absichten der Mitgliedsstaaten passen. Für den großen Rest der Geflüchteten heißt es wie bisher: „Wir müssen draußen bleiben!“

Besonders deutlich wird die Verlogenheit der EU in Polen. In ihrem Beitrag für das medico-Rundschreiben schilderte Franziska Grillmeier ihre Eindrücke von einer Fahrt an die polnisch-belarussische Grenze Ende 2021. Sie berichtete, dass auf einem über 400 Kilometer langen Grenzstreifen, in den sumpfigen Wäldern des Bialowieza-Nationalparks, seit Monaten hunderte Geflüchtete ohne medizinische Versorgung, ausreichend Wasser oder Essen festsitzen, eingekesselt zwischen belarussischen und polnischen Grenzschützer*innen. Die Journalistin zitierte den polnischen Innenminister Mariusz Kaminski, der Anfang September erklärt hatte: „Wir werden nicht zulassen, dass Polen zu einer weiteren Route für den Massenschmuggel von illegalen Migranten in die Europäische Union wird.“

Grillmeiers Bericht entspricht den Schilderungen anderer deutscher Aktivist*innen und Politiker*innen, die an der polnisch-belarussischen Grenze gewesen sind. So Henriette Quade, Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke in Sachsen-Anhalt, die Mitte Januar mit einer Delegation in die dortige Sperrzone gereist war. Im Februar berichtete sie gegenüber junge Welt: „Es gibt dort für die Geflüchteten zwei wesentliche Bedrohungen. Das sind einmal aufgrund der Witterungslage die Kälte, die Nässe und der Hunger. Und es sind Grenzschützer, Polizisten und rechte paramilitärische Gruppen, die, mit Maschinenpistolen und Knüppeln bewaffnet, Jagd auf Menschen machen.“

Wie anders sind die Bilder und Berichte, die nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine aus Polen zu sehen sind. „Ukrainer werden in Polen mit offenen Armen empfangen“, titelte die Deutsche Welle am 19. März auf ihrer Homepage. Polens Regierung habe allen Kriegsflüchtlingen aus dem Nachbarland den Aufenthalt bis zu 180 Tagen und den Zugang zu Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem und Sozialleistungen versprochen, heißt es da. Natürlich kann man solche Maßnahmen, soweit sie nicht nur heiße Luft sind, nur begrüßen, ebenso wie das große Engagement der Zivilgesellschaft in Polen. Aber die Haltung des polnischen Staates ist heuchlerisch.

Denn an der polnisch-belarussischen Grenze hat sich gar nichts geändert. Weiterhin werden die Geflüchteten, die dort in den sumpfigen Wäldern vegetieren, am Grenzübertritt gehindert. Kerem Schamberger, seit kurzem Referent für Migration und Flucht in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international, war Mitte März mit einer Kollegin in Polen und berichtete ebenfalls in der jungen Welt von seinen Eindrücken. An der polnisch-belarussischen Grenze werde die Lage immer schwieriger, vor allem weil auch auf der belarussischen Seite kaum noch Lebensmittel zur Verfügung gestellt würden. Zudem gebe es nach wie vor Berichte über Gewalt von Seiten des Grenzschutzes auf beiden Seiten.

Schamberger wies auf das „Paradoxe der Situation“ hin, das man begreife, wenn man sich den Twitter-Account des polnischen Grenzschutzes ansehe. „Die veröffentlichen täglich, wie viele Menschen sie aus der Ukraine reingelassen haben, verbreiten Fotos von Soldaten, die das Gepäck der Flüchtlinge tragen“, sagte der Aktivist. „Im nächsten Tweet heißt es dann: Wir haben wieder 50 illegale Einwanderer daran gehindert, über die polnisch-belarussische Grenze vorzudringen.“

„Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“

Schamberger lieferte auch eine Interpretation des geschilderten Paradoxons. Man könne „von einer Repolitisierung und Nutzbarmachung des Flüchtlingsbegriffs“ sprechen. Diejenigen, die momentan aus der Ukraine kämen, seien die „Flüchtlinge des Westens“ und würden willkommen geheißen, „weil sie ins geostrategische Konzept passen“. Schutzsuchende etwa aus Kurdistan oder afrikanischen Ländern gehörten allerdings nicht dazu und würden nach wie vor nicht in die EU gelassen.

Wie nicht anders zu erwarten war, meldeten sich in den Medien recht schnell Journalist*innen zu Wort, die die Unterschiede bei der Behandlung von Geflüchteten rechtfertigten. Der Grundtenor dieser Erklärungen war mal mehr, mal weniger rassistisch. Der Medienunternehmer und frühere Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingard äußerte im ARD-Talk Hart aber fair, Ukrainer*innen gehörten zu unserem Kulturkreis, sie seien Christ*innen – das sei schon etwas anderes als die Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder Somalia.

Noch deutlicher wurde Anfang März Marc Felix Serrao von der reaktionären Neuen Zürcher Zeitung. In seinem Newsletter erklärte er zuerst, es gebe Zeiten, in denen Willkommenskultur „das einzig Richtige“ sei und das sei jetzt der Fall. Das „ukrainische Volk“ habe „jede Hilfe verdient“. Europas Regierungen müssten ihm „alles an Unterstützung zukommen lassen, was unterhalb der Schwelle einer direkten Kriegsbeteiligung möglich ist“. Vor allem gelte dies „für die Frauen, Kinder und Alten, die ihr Land als Flüchtlinge verlassen“. Dann hebt Serrao zu einer Suada an, die in ihrer Widerlichkeit kaum zu übertreffen ist.

Die Ukraine sei „nicht irgendein Land“, vielmehr „ein europäisches Land“, schreibt der Journalist und betont: „Es sind dieses Mal echte Flüchtlinge.“ Niemand könne „die Gefahr leugnen, in der sie stecken“. Das sei bei vielen Migranten, „die in der Vergangenheit als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa gekommen sind“, aber anders. Serrao: „Während die Männer in Charkiw und Kiew für ihre Heimat kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Frauen und Kinder in Sicherheit kommen, waren es in früheren Jahren auffallend oft junge Männer, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen. Ihre Familien ließen sie zurück.“ Menschenverachtender geht es kaum noch. Es ist aber zu befürchten, dass solche Positionen bis weit ins Bürgertum hinein Konsens sind.

Die Doppelmoral der EU fällt vielen hierzulande daher wohl auch kaum auf, entspricht diese doch der Lebenshaltung, die ihnen selbst nur allzu vertraut ist. Darum wird dieses Thema in den bürgerlichen Medien auch nur wenig thematisiert. Immerhin sind immer wieder mal kritische Töne zu vernehmen, so in einem Gastkommentar, den das Portal t-online kürzlich veröffentlichte. Darin ging es um das Verhalten der dänischen Regierung in der Flüchtlingsfrage, die in puncto Verlogenheit das Vorgehen der polnischen Regierung sogar noch toppte.

Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht.

Noch Anfang 2021 hatte die rechts-sozialdemokratische Premierministerin Mette Frederiksen als Ziel ‚null Asylsuchende im Land‘ ausgegeben. Jetzt legte die Regierung eine „beispiellose Kehrtwende“ hin, wie die Politikwissenschaftlerin Carolin Hjort Rapp von der Universität Kopenhagen am 19. März bei t-online schrieb. Seit kurzem erhalten Ukrainer*innen in Dänemark ohne Visum oder Asylantrag eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis: Damit dürfen sie arbeiten gehen, ihre Kinder können Schulen und Kindergärten besuchen. Das regelt ein Sondergesetz, das vom Parlament im Eilverfahren mit breiter Mehrheit beschlossen wurde.

Eine breite Mehrheit im dänischen Parlament hatte im Februar 2016 auch ein Gesetz ermöglicht, das allgemein „Schmuckgesetz“ genannt wird. Flüchtlingen kann seitdem Bargeld und Wertsachen ab einem Wert von 10.000 Kronen, umgerechnet 1340 Euro, abgenommen werden, um ihre Unterbringung mitzufinanzieren. Der Familiennachzug wird erschwert und die Dauer von Aufenthaltsgenehmigungen verkürzt. Mit diesem Gesetz sollten Flüchtlinge explizit abgeschreckt werden. Als die ersten ukrainischen Geflüchteten in Dänemark auftauchten, brachte die Regelung die Behörden in die Bredouille. Blonden, blauäugigen Menschen, die gerade einem Krieg entronnen waren, wollte die Regierung dann doch Schmuck und Geld nicht abnehmen. Sie sollen von dem Gesetz ausgenommen werden.

Zum Schluss sei erneut der Beitrag von Franziska Grillmeier zitiert, die im medico-Rundschreiben Ende 2021 schrieb:

„Für diejenigen, die es noch durch die Grenzkontrollen schaffen, bleibt in den Hochsicherheitslagern auf den griechischen Inseln, in den Haftanstalten in Polen oder in den isolierten Fluchtheimen in Kroatien meist nur das Warten ohne Ziel. In Griechenland allein sitzen im Moment 2400 Menschen in Abschiebeanstalten fest, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen soll. Auch hier hat die Presse keinen Zugang. Aus einer humanitären Krise, die Tausende Menschen 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung Europa fliehen ließ, wurde eine europäische Wertekrise. An den Grenzen ist eine rechtliche Parallelwelt entstanden, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit existiert und durch die gezielte Verunsicherung der lokalen Bevölkerung und Kriminalisierung humanitärer Hilfe möglich gemacht wird.“

Daran hat sich nichts geändert und das wird es auch nicht. Für die Geflüchteten aus der Ukraine wird eine Ausnahme gemacht, mehr nicht. Für sie öffnet sich eine Tür in der Mauer, die hinter ihnen sofort wieder zugeschlagen wird.

#Titelbild: Sandor Csudai

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