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Am 16. März jährte sich der Giftgasangriff irakischer Truppen auf die kurdisiche Stadt Halabdscha zum 34. Mal. Unsere Autor:innen Lea Steding und Wanja Musta waren zu den Gedenfeierlichkeiten in Halabdscha und schreiben über die Hintergründe des Massenmordes und die Rolle Deutschlands bei seiner Durchführung.

Es gibt eine Metapher in Kurdistan für das, was am 16. März 1988 in der Stadt Halabdscha passiert ist: „elmar kokosu“, der „Geruch von Äpfeln“. Nach einer Bombardierung, beim Verlassen der Schutzräume stieg den Überlebenden dieses Aroma in die Nase. Ein Zeitzeuge berichtet: „Anfangs roch es wie vergorener Müll, dann entfaltete sich ein Duft wie von süßen Äpfeln“. Innerhalb der nächsten Stunden starben über 5.000 Menschen an den Folgen des Giftgases. 10.000 weitere wurden durch schwerste Verbrennungen und Verätzungen dauerhaft geschädigt.

Der erste Journalist, der Halabdscha nach dem Angriff erreichte, war der türkische Fotograf Ramazan Öztürk. In einem Interview beschrieb er: „Wir kamen 24 Stunden nach dem Angriff in die Stadt. Es war geradezu lautlos. Keine Vögel, keine Tiere. Nichts Lebendiges war zu sehen. Die Straßen waren mit Leichen bedeckt. Ich sah Säuglinge, die in den Armen ihrer toten Mutter lagen. Ich sah Kinder, die im Todeskampf ihren Vater umarmt hatten. Während des Fotografierens habe ich die ganze Zeit geweint und zu Gott gebetet, dass es ein Traum sei und ich gleich aufwache. Ich erinnerte mich an Berichte aus dem jüdischen Holocaust, wie die Opfer in den deutschen Gaskammern übereinander nach oben geklettert wären, um voller Verzweiflung dem Gas zu entkommen. In Halabdscha sah ich viele, die in Gruppen gestorben waren und so wirkten, als hätten sie gemeinsam versucht das Gift nicht einzuatmen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Vor dem Giftgasangriff hatte am Morgen die irakische Luftwaffe unter Saddam Hussein die Stadt bombardiert. Halabdscha war unmittelbare Frontlinie und wenige Tage zuvor waren iranische Truppen in der Stadt gewesen. Die Kurd*innen selbst wurden von irakischer Seite als Verbündete von dem Kriegsgegner Iran bezeichnet. „Vernichtet sie“, lautete einer der Befehle des Regimes Saddam Husseins.

Die Zentralregierung Iraks hatte zu diesem Zeitpunkt ein besonderes Augenmerk auf Halabdscha. Die Autonomiebestrebung der Kurd*innen hatten sich bis ins Jahr 1987 zu Anti-Regierungsprotesten zugespitzt. Die Antwort durch das irakische Militär waren Hinrichtungen von Demonstrant*innen, zahlreiche Verhaftungen und das Einreißen der Häuser derer, die den Widerstand gegen die Regierung unterstützten.

Bereits zu der Zeit war bekannt, dass die irakische Luftwaffe Giftgasangriffe gegen dutzende kurdische Dörfer durchführte. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker berichtete in deutschsprachigen Medien darüber.

Ein Tag vor dem großen Giftgasangriff gegen Halabdscha war die Stadt von kurdischen Rebell*innen der PUK (Patriotic Union of Kurdistan) mit Hilfe der Iranischen Armee eingenommen worden. Die PUK ist auch heute noch hier die dominante politische Partei.Als Antwort darauf flogen ab 11 Uhr morgens Kampfflugzeuge der irakischen Luftwaffe über die Stadt und die Bombardierungen begannen.

Die deutsche Verstrickung

Auch deutsche Akteur*innen waren an diesem unfassbaren Verbrechen beteiligt. Doch auch diese Verwicklungen geraten zu leicht in Vergessenheit. Unkrautvernichtungsmittel sollen es gewesen sein, deren Zutaten deutsche Firmen in Unmengen an den Irak verkauften. Über zwei Drittel der irakischen Giftgasanlagen kamen, laut Berichten von Medico international, von deutschen Firmen. „Später wurde bekannt, dass in den Firmen zahlreiche Mitarbeiter des BND arbeiteten. Deutsche arbeiten an der Weiterentwicklung der SCUD-Raketen und am irakischen Atomprogramm.“, heißt es weiter in dem 2013 veröffentlichten Bericht „Halabdscha – In Erinnerung an den Giftgasangriff auf irakische KurdInnen“.

Der Menschenrechtsanwalt Gavriel Mairone vertritt die Überlebenden in einem Prozess gegen die Täter. Aufgrund der ihm vorliegenden Beweismittel hält er drei Firmen aus Deutschland für die wichtigsten Akteure im Bau der Giftgasalagen unter Saddam Hussein: Das ist zum einen die Preussag AG, die ihren Namen 2002 in TUI umgeändert hat und heute ihre Geschäfte als Tourismusunternehmen macht; zum zweiten die Firma Karl Kolb und das Subunternehmen Pilot Plant – sie haben die Chemiewaffenfabriken entworfen und geliefert. Mit dabei war auch die Konstruktionsfirma Heberger Bau, welche Bunker und Untergrund-Fabriken errichtet hat.

So lieferten diese Firmen doch nicht nur Unkrautvernichtungsmittel, sondern gleich die ganze Infrastruktur zur Massenvernichtung dazu. Auch Kühlhäuser und Gaskammern, um das Gift zu testen, gehörten dazu. Der US-amerikanische Anwalt Gavriel Mairone gibt an: „Zwei riesige Inhalationskabinen haben Karl Kolb und TUI bei der deutschen Firma Rhema Labortechnik bestellt. Diese waren drei mal drei Meter groß, was viel zu groß ist, um Tests an kleinen Insekten durchzuführen. Die waren entworfen worden, um zunächst Tests an Hunden durchzuführen und später an Eseln. Es gibt Berichte, dass auch iranische Kriegsgefangene benutzt wurden, um die Chemiewaffen an ihnen zu testen.“

Das alles ist den deutschen Behörden schon weit vor dem Anschlag bekannt gewesen. So berichtete der US-Geheimdienst bereits in den frühen 80er-Jahren dem Kölner Zollkriminalinstitut, mit hunderten Dokumenten, über die Unterstützung der Firmen des Saddam-Regimes. Trotz dieser Informationen und den gesammelten Beweisen blieb eine tiefgehende rechtliche Aufarbeitung von deutscher Seite aus.

In einer späteren Anfrage des SWR2 wiesen die Firmen die Vorwürfe zurück. Die TUI AG berief sich darauf, dass ihr Firmenname und der Zweck sich seit 2002 geändert habe und sie sich komplett aus der industriellen Sparte zurückgezogen habe. Dadurch kann, laut Gericht in Darmstadt, kein Zusammenhang mehr zu den Ereignissen im Irak 1988 hergestellt werden. Karl Kolb versucht, den Transport der Materialien nicht zu leugnen, sondern nur das Wissen um dessen Nutzung. Doch war die deutsche Botschaft in Bagdad wohl schon Anfang der 80er-Jahre von einem Mitarbeiter der Firmen darauf Aufmerksam gemacht worden, dass es sich bei den Geschäften nicht um Ungezieferbekämpfung handelt. Dieser Mitarbeiter wurde einen Monat später gekündigt. Als der deutsche Ingenieur Fritz-Willi Dörflein ein Jahr später die Anlage besuchte und einen der Arbeiter fragte, was sie dort machten, soll ihm dieser geantwortet haben: „Wir stellen Mittel gegen Ungeziefer her – gegen Wanzen, Flöhe, Heuschrecken, Perser, Israelis“.


Auch auf politischer Ebene ging die Übernahme von Verantwortung nicht weiter, ganz im Gegenteil. Die Frage ist, inwieweit die deutsche Regierung Reparationszahlungen an die Hinterbliebenen und die Stadt Halabdscha zahlen muss. Im Jahr 2021 lehnte hierzu der Menschenrechtsausschuss den dazu vorliegenden Antrag ab. Dabei stimmten vor allem CDU/CSU, SPD, FDP und AfD dagegen. Die Grünen enthielten sich. Von Seiten der Grünen-Fraktion bezog Kai Gehring Stellung. „Auch wenn wir grundsätzlich das Anliegen teilen, kritisieren wir die Art der Befassung mit derart schweren Verbrechen und die unzureichende Einordnung der ‚Anfal Operation‘ in den historischen Gesamtkontext“, heißt es in seiner schriftlichen Aussage dem SWR2 Wissen gegenüber.

Die Zurückhaltung der deutschen Regierung mit der Aufarbeitung des Giftgasangriffs auf Halabdscha muss auch im größeren Zusammenhang gesehen werden. Berlin zeigt hier nämlich vor allem seine Haltung gegenüber den Kurd*innen. Diese Haltung hat eine Kontinuität. So wurde nach dem Überfall auf Afrin 2018 durch das türkische AKP/MHP-Regime bekannt, dass hier auch deutsche Waffen eingesetzt wurden. Doch statt Waffenexporte zu stoppen, bzw. klare Sanktionen auszusprechen, wurde dem treuen Kunden der deutschen Waffenindustrie die Fortsetzung seines Angriffskriegs gewährt.

Die türkische Regierung bombardiert in Permanenz vermeintliche Stellungen „terroristischer“ Gruppen in kurdischen Gebieten. Gemeint ist damit die Guerilla der PKK. Eine historische Parallele zu Halabdscha ist dabei auch nicht weit entfernt. Erdogan behauptet, er würde „nur“ die PKK bombardieren, genauso wie Saddam Hussein behauptete, er würde „nur“ die iranische Armee bombardieren, aber tatsächlich werden Zivilist*innen und Geflüchteten Lager die Opfer dieser Angriffe. Doch die deutsche Regierung sieht keinen Grund einzugreifen. Dabei spielt die sogenannte deutsch-türkische Freundschaft eine große Rolle. Diese bekommt die Bevölkerung vor allem dadurch mit, dass deutsche Parlamentarier*innen an ihrer Ausreise in kurdische Gebiete gehindert werden, wie im Juni 2021 als Hamburgs Linken-Fraktionschefin Cansu Özdemir zu einer Friedensdelegation in die Autonome Region Kurdistan reisen wollte; oder dadurch, dass selbst Kurd*innen in Deutschland ständiger Gefahr einer Abschiebung durch die Bundesregierung in die Türkei ausgesetzt sind. Was sie dort erwartet ist eine Verurteilung wegen „Terrorpropaganda“ – gemeint sind damit kritische Social-Media-Beiträge für Grundrechte von Kurd*innen, wie es beispielsweise im Fall von Heybet Sener in München aktuell passiert.

Klar ist, dass Saddam Hussein bis zum 2. Golfkrieg durch unklar formulierte Außenwirtschaftsgesetze und durch verdrehte Freiheitsprinzipien seitens Deutschlands unterstützt wurde. So wurden durch die sogenannte Dual-use-Regel, also wenn Geräte sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, die Firmen durch die deutsche Gesetzgebung freigesprochen. Aber auch die deutsche Politik selbst versucht, sich der Verantwortung – damals wie heute – zu entziehen. Wie einst der Sprecher der Kolb-Pilot-Plant sagte: „Für die Leute in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache, Kunden im Ausland stört das nicht“.

Damals wie Heute

Heute, 34 Jahre später, sind die Spuren des Anschlags verdeckt. Die Häuser wurden platt gemacht, Keller versiegelt und neue Gebäude darauf errichtet. Nur wenige Ruinen, die Gedenkstätte und ein Park erinnern an das Verbrechen. Doch das Trauma steckt tief in der Gesellschaft und die Gespräche mit den Bewohner*innen führen immer wieder zu dem Ereignis am 16.März.

Auch die Gedenkstätte und die alljährliche Gedenkveranstaltung wird nicht gut von der Bevölkerung angenommen. Ganz im Gegenteil. Während bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung an der offiziellen Gedenkstätte sich für kaum mehr als eine halben Stunde Politiker*innen ablichten lassen, formiert sich am Basar eine spontane Gegendemonstration. Die Menschen sind voller Zorn. Ohne Transparente, Fahnen oder Schilder versammeln sie sich und schreien. Wen sie anschreien scheint dabei fast egal. Ob es nun das Militär ist, das die umliegenden Straßen absperrt, oder die Journalist*innen die heran geeilt kommen oder vorbei gehende Passant*innen. Ihnen wird so oder so das Gefühl gegeben, nicht gehört zu werden. Dabei sind die Inhalte ganz klar. Jeder Mensch, der hier wohnt, hat nahe Verwandte durch den Anschlag verloren und dazu oftmals die komplette eigene Existenz. Während schöne Worte jedes Jahr wiederholt werden, übernimmt niemand wirklich Verantwortung. Weder hier im Inland, noch im Ausland.

Dass das den Menschen nicht reicht macht auch Kak Narshirwan klar. Er ist Lehrer an einer staatlichen Schule in Halabdscha. Mit ausländischen Medien spricht er eigentlich nicht, außer er hat das Gefühl, dass sie nicht nur kurz einmal im Jahr über das Leid der Menschen aus seiner Stadt berichten wollen. Er möchte, dass die Perspektive der Leute nach außen kommen. Kak Narshirwan spricht von Verantwortungslosigkeit der Regierung, als er die wenigen verbliebenen zerbombten Teile des alten Basars anschaute. Eigentlich müssten diese in den letzten Jahrzehnten schon längst wieder aufgebaut worden sein, meinte er, aber weder dieser Teil noch die anderen Häuser, die zum Großteil durch die Bevölkerung selbst wieder aufgebaut worden sind, wurde durch die Regierung unterstützt. Der Konflikt zwischen der kurdischen Regierung und den Regierungen der Zentralstaaten, die Kurdistan besetzt halten, im speziellen der irakischen, seinen dabei in den letzten Jahren ein zentraler Punkt gewesen. Die kurdische Regionalregierung in der Autonomen Region Südkurdistan kann sich dabei nicht auf Zuständigkeiten mit dem Irak einigen. Dabei leiden nicht nur die Reparationszahlungen und der Umgang mit Halabdscha darunter, sondern auch alle staatlich organisierten Stellen. So sagt der Lehrer fast beiläufig, dass er seit fast zwei Monaten kein Gehalt bekommt und deswegen seit gut 2 Wochen mit seinen Kolleg*innen fast überall in der Autonomen Region in Streik getreten ist. Auch hier sind sich die zwei Regierungen nicht einig. Es herrscht Perspektivlosigkeit und Frust, erklärt er. Nicht nur Deutschland gegenüber, oder der irakischen Zentralregierung, sondern auch gegenüber den zwei größten Parteien der kurdischen Regierung, die sich immer wieder dem Westen und kapitalistischen Denkweisen anbiedern.

„Die Menschen in Halabja haben vor allem einen Wunsch. Sie wollen gesehen werden. Sie wollen, dass ihr ‚Schicksal‘ als solches anerkannt wird – und nicht als x-beliebiges Kriegsverbrechen in der Menschheitsgeschichte“, wie der Überlebende Omid Hama Ali Rashid sagt. Der „Geruch von Äpfeln“ erinnert noch heute viele Menschen aus der Region an dieses grauenhafte Verbrechen. Doch liegen die Missstände nicht ausschließlich in der Vergangenheit. Sowohl die Suche nach Verantwortlichen und Wiedergutmachung, als auch die Fortführung der Unterdrückung der Kurd*innen zieht sich bis heute fort. Deutschland hat dabei eine wichtige Rolle. Aktuell sieht diese Rolle so aus, dass wechselnde Regierungen die Unterdrückung unterstützen und die Aufarbeitung behindern. So liegt es gerade an der kurdischen Community und deren Unterstützer*innen in Deutschland weiter darum zu streiten, dass die deutsche Bundesregierung ihre Verantwortung anerkennt und ihre „Freundschaft“ mit dem türkischen AKP/MHP-Regime beendet.

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Zu dem aktuellen Krieg Russlands gegen den NATO-Verbündeten Ukraine liest und hört man überall, dass die „diplomatischen Bemühungen“ gescheitert seien, wobei die Kriegsparteien – und machen wir uns nichts vor, Deutschland ist in diesem Konflikt faktisch eine Kriegspartei – sich gegenseitig die Schuld dafür geben. Viele Menschen, die prinzipiell gegen Krieg sind, hoffen und appellieren an die Geschicke der Diplomat:innen. Sie wollen nicht glauben, dass es für die zwischenstaatlichen Probleme keine „diplomatische Lösung“ gab. Warum wurde nicht weiter verhandelt? Hätte man nicht irgendwelche Zugeständnisse machen können?

Auf dem diplomatischen Parkett treffen sich Vertreter:innen von Staaten, deren ökonomisches und militärisches Potential sehr unterschiedlich ist. Sie behandeln sich trotz dieser Machtunterschiede formell als gleichberechtigt, tauschen Höflichkeiten aus und versichern sich gegenseitig zu, ihre Souveränität anzuerkennen. Es sind trotzdem die stärkeren Verhandlungspartner, die am Ende ihren Willen durchsetzen– das können sie, weil sie über Druckmittel ökonomischer und militärischer Art verfügen.

Der Gegenstand des diplomatischen Konflikts zwischen Russland und der NATO, beziehungsweise der EU, war aber eben genau die Frage, wie weit die westlichen Mächte ihren Druck auf Russlands Nachbarn erhöhen und dadurch Russlands Position schwächen dürfen, sprich wer seinen Willen durchsetzen kann. Dadurch, dass die Regierungen vieler Länder östlich der NATO Russland als Gefahr und den Westen als Verbündeten sehen, stieg in der jüngeren Vergangenheit ihre Bereitschaft Reformen – mögen sie noch so schmerzhaft für die Bevölkerung sein – durchzuführen. Russland hingegen spekulierte auf die dadurch wachsende Unzufriedenheit und setzte auf eine zunehmende Destabilisierung. Damit gleicht die Strategie derjenigen des Westens, der das selbe mit jeder ihm nicht genehmen Regierung in der Region macht. Als unzulässige Einmischung angeprangert werden üblicherweise allerdings nur russische Einmischungen.

Russland wiederum eskaliert aktuell in der Ukraine die Situation auf militärischer Ebene, darauf spekulierend, dass sich niemand mit seinem Atompotential anlegen wird. Zumindest was einen direkten, zwischenstaatlichen Krieg angeht, trifft dies auch auf die NATO zu. Es zum einen genug ökonomische Hebel zur Schädigung der russischen Ökonomie und zum anderen die kampfbereiten ukrainischen Kräfte, die beide zusammen ein Eingreifen der NATO nicht nötig machen.

Währen der dem Krieg vorangegangenen Verhandlungen zielte Russland darauf ab, den von der NATO angestoßenen Prozess der Neutralisierung des russischen militärischen Potenzials nicht nur zu stoppen, sondern am besten rückgängig zu machen. Mit der schwächeren Ukraine direkt wollte Russland gar nicht erst verhandeln und verwies wiederum Kiew auf die Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen, mit den Vertreter:innen der „Volksrepubliken“ zu verhandeln. Die abtrünnigen Republiken als gleichberechtigten Verhandlungspartner auf dem diplomatischen Parkett anzuerkennen war wiederum für die Ukraine unmöglich, ohne damit den Souveränitätsanspruch auf das eigene Staatsgebiet aufzugeben.

In den vergangenen acht Jahren, war die Ukraine nach Russland der Staat mit den zweithöchsten Militärausgaben im ganzen postsowjetischen Raum. Die westliche Unterstützung für den Aufbau der ukrainische Streitkräfte führte dazu, dass die russische Verhandlungsposition mit der Zeit zunehmend schwächer wurde. Gleichzeitig sah der Westen natürlich auch keinen Grund, die eigenen Fortschritte beim Einhegen der russischen Ansprüche rückgängig zu machen – denn dies hätte ja gerade die eigene Verhandlungsposition geschwächt. Der Westen hat ja nicht jahrzehntelang an der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entmachtung Russlands gearbeitet, um dann nachzugeben.

Die Ansage westlicher Politiker, Russland sei eine „Regionalmacht“ hält die russische Führung für eine Fehleinschätzung und will qua Gebrauch des eigenen Militärpotenzials, sowie Drucks via Rohstofflieferungen zeigen, dass die Verhandlungspartner es mit einer Weltmacht zu tun haben. Diese grundlegenden gegensätzlichen Interessen trägt Russland nun in der Ukraine aus. Der Westen ist scheinbar bereit, die Kosten der ukrainischen Kriegsführung zu tragen, die Zerstörung von Streitkräften und Infrastruktur der Ukraine durch die russische Invasion treibt diese Kosten in der Höhe. Da aber die ukrainische Staatlichkeit scheinbar doch nicht so fragil ist, wie von Putin erhofft, geht der Westen das Risiko ein, finanziert und rüstet die Ukraine weiter auf, ohne direkt in die Kämpfe einzugreifen. Die Sanktionen, die die russische Wirtschaft ruinieren und das Land in die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit bringen und die Bevölkerung auf Dauer vor eine Versorgungskrise stellen, sind ja auch dazu da, Russland zu Nachgiebigkeit bei Verhandlungen zu bewegen. Hingegen kämen schon direkte Verhandlungen mit Selenskyj für Putin einem Nachgeben gleich und um ihn dazu zu zwingen scheuen westliche Politiker keine Zumutungen für die eigene Bevölkerung, die durch Sanktionen mit hohen Preisen konfrontiert wird.

Kriegerische Handlungen bilden also keinen Gegensatz zu diplomatischen Verhandlung. Die Diplomatie verhindert keineswegs, dass das Gebiet und die Bevölkerung der Ukraine als Material dient, im Konflikt zwischen den führenden kapitalistischen Staaten und den russischen Ambitionen einer dieser führenden Staaten zu werden. Illusionen über den friedlichen Charakter der Austausch von Drohungen sollte sich die Antikriegsbewegung nicht machen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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Mit der Auffassung, dass Töten und Sterben freiwillige Angelegenheiten sein sollten, steht man derzeit so alleine da wie seit Jahrzehnten nicht. Unter dem Eindruck von Putins Angriffskrieg, der zuletzt fast 10.000 Menschen getötet und zwei Millionen Menschen aus dem Land vertrieben hat, entdeckt die deutsche Öffentlichkeit ausgerechnet ihre Liebe zu den eigenen Streitkräften wieder. Die Rüstungsindustrie, mal in Gestalt der CDU, mal ganz unverhohlen als sie selbst, frohlockt naturgemäß über diese Entwicklung.

Bis zu 3000 neue Arbeitsplätze und zwei Milliarden Euro zusätzlichen Jahresumsatz verspricht sich beispielsweise Rheinmetall-Chef Armin Pappberger angesichts des neu beschlossenen Wehretats – und kann vor lauter Tatendrang kaum noch stillsitzen: „Wir könnten sofort anfangen, zu produzieren“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur dpa. Der parlamentarische Arm der Waffenhersteller stellt sogleich weitere spannende Ideen in den Raum. Warum nicht in ein Raketenabwehrsystem für Berlin investieren, fragt der verteidigungspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Florian Hahn, der nebenbei auf der Gehaltsliste der Interessengemeinschaft Deutsche Luftwaffe steht. Die Ende Februar durch die Decke geschossenen Aktienkurse deutscher Rüstungsunternehmen pendeln sich gerade auf einem Niveau ein, von dem sie davor nur träumen konnten. Alles in allem also goldene Zeiten für das Geschäft mit Menschenleben.

Rufe nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht sind die logische Konsequenz in solchen Zeiten. Längst sind es nicht mehr nur die Bundeswehr und ihr Rattenschwanz aus Rüstungslobby, konservativen Medien und Kriegsenthusiasten diverser Parteien, die die Deutschen wieder in Reih und Glied sehen wollen. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Business Insider von Anfang März ergab eine Befürwortungsquote von 75 Prozent für „ein soziales Pflichtjahr, zum Beispiel Wehr- oder Zivildienst“.

Die Umfrage zeigt exemplarisch das Problem, an dem die ganze Debatte krankt. Denn ihr Gegenstand wird nicht klar benannt. Ist es ein Wehrdienst mit Verweigerungsoption wie jener, der 2011 abgeschafft wurde, oder eine allgemeine Dienstpflicht, quasi ein Zivildienst mit Waffenoption? Wer denkt, das sei juristische Erbsenzählerei, hat zwar nicht ganz Unrecht, möge sich aber dennoch vor Augen führen, dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestags höchstselbst letzteres völlig zurecht als Zwangsarbeit und damit als Menschenrechtsverletzung einordnet. Der Dienst an der Waffe mit wahlweisem sozialen Ersatzdienst ist im Gegensatz dazu menschenrechtskonform, was wiederum die Absurdität dieses Regelwerks aufzeigt, uns aber nicht weiter beschäftigen soll.

Die Bundesrepublik debattiert also fleißig, ohne zu wissen, worüber. Einen Lichtblick mögen die Zyniker unter uns darin sehen, dass all das spätestens mit dem Eintritt des Spannungsfalls hinfällig wird, der automatisch alle deutschen Männer zwischen 18 und 60 Jahren zum Ausbaden desselben verpflichtet. Dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die die Ampelfraktionen zusammen mit der Union stellen könnten. Und weil bei offenen Grenzen ein militärischer Einberufungsbescheid nur so viel wert ist, wie das Papier, auf dem er steht, ist in einem solchen Fall mit einem Ausreiseverbot für Wehrpflichtige zu rechnen.

Die Ukraine setzt diese Regelung derzeit rigoros durch. Wehrfähige Ukrainer dürfen das Land nicht verlassen und werden an den Grenzen abgewiesen. Nur vereinzelt und zaghaft regt sich Kritik an Selenskyjs Praxis, ein Drittel der eigenen Bevölkerung zum Verbleib in einem Kriegsgebiet zu zwingen. Ein Verbleib, der angesichts der russischen Angriffe auf zivile Ziele in jedem Fall lebensgefährlich ist.

Ja, es geht um das Fortbestehen der Ukraine als autonomer Staat und ja, jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Selbstbestimmung und darauf, unter Einsatz des eigenen Lebens dafür zu kämpfen. Aber das Leben eines anderen ist unantastbar, egal mit welchem Ziel und aus welcher Position heraus. Das muss auch und gerade für den Staat gelten, auch und gerade für einen Staat im Überlebenskampf. Wo das Recht auf Leben ultimativ Gegenstand hoheitlicher Entscheidungsgewalt ist, verblassen alle Rechte, die die „freie Welt“ ihren Bürger:innen zugesteht. Wer jemanden verpflichtet, gegen seinen Willen seine eigene Autonomie mit dem Leben zu verteidigen, macht sich des unverzeihlichen Verbrechens an diesem Leben schuldig.

Die Rechnungsadresse dieses Verbrechens liegt, global betrachtet, natürlich in Moskau. Dort wird indes nicht nur mit Zwang, sondern auch mit einer perfiden Ausnutzung des militärischen Gehorsams gearbeitet. Wo das Propagandamärchen, die Ukraine zu entnazifizieren, nicht ausreicht, stellt man das menschliche Kriegsmaterial vor vollendete Tatsachen. Eigentlich dürften bei Militäroperationen laut russischen Gesetzen nur Berufssoldaten zum Einsatz kommen. Trotzdem landen Rekruten im Krieg. Die Bekundungen der russischen Regierung, diese Gesetzesverstöße zu ahnden, sind Makulatur: Berichten zufolge werden junge, in der verpflichtenden Grundausbildung befindliche Rekruten kurzerhand zur Vertragsunterzeichnung in eine Reihe gestellt und wenig später unwissend an die Front gekarrt. Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt werden abgeschnitten, die Familien völlig im Dunkeln über den Verbleib ihrer Söhne gelassen.

Man darf also in diesem Krieg nicht den Fehler machen, scharf zwischen zivilen und militärischen Todesopfern zu trennen. Zu Putins Verbrechen am ukrainischen Volk tritt zusätzlich das Verbrechen am eigenen. Die Bundesrepublik beweist mit kopflosen Wehrpflichtdebatten und Militärausgaben in schwindelerregenden Höhen, dass die Kriegslogik nicht nur in ihrer Verfassung, sondern auch in den Köpfen fest verankert ist. Es braucht nur einen Befehl, eine einzige Unterschrift eines mächtigen Mannes, und ein ganzer Kontinent frisst seine Kinder.

# Titelbild: Nationalfriedhof in Arlington, Virginia, USA

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten stärken, so zumindest steht es in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition im Bundestag. Dieses Statement ist die Fortsetzung eines Trends, denn seit einigen Jahren schreiben sich Staaten vermehrt Feminismus auf die Fahne. Spätestens 2014 hat ein neues Schlagwort den Weg in den Wortschatz der Herrschenden gefunden: Feministische Außenpolitik. Die damalige schwedische Außenministerin Margot Wallström stellte dieses Konzept vor, das vorgibt, Frauen und Mädchen zu stärken, sie besser in Politik und Friedensverhandlungen einzubinden, und patriarchale und sexualisierte Gewalt zu bekämpfen.

Diese Idee von „Feminist Foreign Policy“, die über die Jahre von immer mehr Staaten aufgegriffen wurde, ist nun auch Teil des Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus FDP, Grünen und SPD, in der mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau die Außenministerin stellt. Im selben Dokument steht neben der Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ von Asylbewerber*innen und der Zusicherung bewaffneter Drohnen an die Bundeswehr auch, was für ein wichtiger NATO-Partner die Türkei sei – trotz „besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen“. Eine interessante Wortwahl, um die zahlreichen Angriffe des türkischen Staates etwa gegen die Frauenrevolution in Rojava, gegen feministische Demos, gegen Zivilist*innen und Genozid-Überlebende in den letzten Jahren zu beschreiben. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Türkei seit Jahren den IS unterstützt, der 2014 in Shingal einen Genozid an Êzîd*innen begangen hat, der vor allem auch ein Feminizid war.

Warum wir das alles erwähnen? Weil Deutschland jährlich Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Türkei liefert. Und weil an diesem Beispiel klar werden sollte, dass Abschiebungen, Aufrüstung, Rüstungsexporte – oder aktuell die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – im Widerspruch zu Frieden und Befreiung stehen.

Wolf im Schafspelz

Eine „feministische“ Außenpolitik scheint dabei an der Oberfläche besser zu sein als eine Außenpolitik, die sich überhaupt nicht mit Themen wie Feminismus auseinandersetzt. Allerdings ist diese subtile Vereinnahmung einer der radikalsten Bewegungen der Welt durch den Staat irreführend und demobilisierend.

Kapitalismus, Ausbeutung, Rassismus, staatliche Gewalt, Repression, koloniale Kontinuitäten – das sind Begriffe, die in den „Feminist Foreign Policy“-Kontexten kaum oder gar nicht vorkommen. Denn der Ansatz ist nicht an der Überwindung dieses Systems interessiert, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und patriarchaler Gewalt basiert. Solche staatlichen Ansätze tragen vielmehr dazu bei, notwendige revolutionäre Forderungen zu verwässern und Kämpfe zu schwächen.

Gleichberechtigung wird in dieser Spielart des liberalen Feminismus im Rahmen von „Repräsentation“ gedacht; dass eine Frau die Außenministerin stellt, wird an sich als Gewinn betrachtet, während die tiefsitzende patriarchale Mentalität in der Gesellschaft und das System selbst kaum in Frage gestellt werden.

Diese oberflächliche Nutzung feministischer Begriffe findet sich auch in den vielen NGO-Strukturen, mit denen westliche Staaten für strategische Zwecke seit Jahrzehnten à la social engineering Zivilgesellschaften im globalen Süden aufbauen wollen. Feministische Aktivist*innen in Ländern wie Afghanistan, Kurdistan und im Irak kritisieren zurecht, dass die unzähligen vom Westen gesponserten „Women’s Empowerment“-Projekte schwach und unkritisch sind. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit Regierungen und staatlich unterstützten Institutionen sind sie nicht nur keine Gefahr für patriarchale Strukturen, sondern eine der vielen Methoden, mit denen radikalere feministische Bewegungen gegen Kolonialismus, Besatzung und Krieg marginalisiert werden.

Diese Entwicklungen hängen mit einem globalen Trend zusammen, nämlich der sogenannten „Feminisierung“ des Sicherheitssektors: Es werden reihenweise staatsnahe und oft von Geheimdiensten informierte wissenschaftliche Arbeiten unter dem Dach „Gender, Peace, Security“ veröffentlicht. Gleichzeitig setzen Staaten, Militärbündnisse wie die NATO und ausbeuterische Konzerne das Thema Gender auf ihre Agenda, ohne dass daraus irgendetwas anderes folgt, als dass Frauen dieselbe patriarchale Politik von eh und je umsetzen sollen. Während in der Geschichte eine Antikriegshaltung eine der wichtigsten Strategien feministischer Bewegungen war, wird es nun als feministisch betrachtet, mehr Frauen in Staatsarmeen zu rekrutieren und mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie über die Bomben entscheiden können, die auf Menschen in verschiedenen Teilen der Welt herabregnen.

Feministische Außenpolitik ist somit eine vom patriarchalen Staatensystem abhängende und im Grunde konservative Methode, mit der die Entpolitisierung Widerstand leistender Bewegungen (z.B. revolutionärer Frauenbewegungen) durch neue Formen der westlichen Hegemonie durch scheinbar progressive Ideale verwirklicht wird.

Diese Entpolitisierung zeigt sich auch in Debatten um die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine. Liberaler Feminismus spricht performativ von Putins „toxischer Männlichkeit“ und „phallisch“ anmutenden Kanonenrohren. Dabei sollte sich Feminist*innen eher die Frage aufdrängen, wie jetzt revolutionäre Bündnisse gegen Krieg, Vertreibung, Militarismus, Imperialismus, sowie sexualisierte und staatliche Gewalt geknüpft werden können. Und das geschieht nicht durch staatliche top-down-Ansätze innerhalb nationaler Grenzen, sondern internationalistisch und durch selbstorganisierte Massen.

Feminismus gegen den Staat

In den vergangenen Jahren haben sich viele feministische Kämpfe ausdrücklich gegen den Staat gerichtet, mit der Begründung, dass der Staat eine Institution ist, die patriarchale Gewalt reproduziert. Staaten behindern aktiv den Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung, indem sie revolutionäre Bewegungen und Aktivist*innen kriminalisieren. In vielen Ländern ist der Staat dabei, existierende Rechte zur körperlichen Selbstbestimmung abzubauen. Und in Lateinamerika und der Karibik etwa wird seitens feministischer Gruppen der Begriff „Feminizid“ als eine Form der patriarchalen Gewalt betrachtet, die explizit durch den Staat ermöglicht und normalisiert wird.

Immer mehr feministische Bewegungen wenden sich aus diesen Gründen von den legalistischen, bürokratischen, reformorientierten Staatsfeminismen ab und wenden sich radikalen, revolutionären, auf Selbstorganisierung basierenden Formen der Politik zu. Diese sind oft lokal und gleichzeitig internationalistisch. In einem kapitalistischen System stehen Profite über Menschenleben. Dabei ist es weitgehend egal, wie ökologisch, wohlwollend oder sogar feministisch sich Regierungen geben. Vergessen werden Frauen und Queers in Knästen und in Kriegsgebieten. Vergessen werden Flüchtende an den EU-Außengrenzen, die voller Gewalt zurückgedrängt und dem Tod überlassen werden. Vergessen werden ausgebeutete Frauen auf der ganzen Welt und insbesondere im globalen Süden. Und – Stichwort „Rückführungsoffensive“ – all jene, die in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und Folter drohen, so wie es bereits die rot-grünen Landesregierungen in den letzten Jahren fleißig gemacht haben.

Feministische Außenpolitik kann sich nicht vom Staat, dem Bruder des Patriarchats, scheiden. Ihre Loyalität gilt der Macht, nicht der Freiheit. Sie hat herzlich wenig mit den vielen feministischen Bewegungen auf den Straßen der Welt zu tun, in denen Menschen tagtäglich ihre Leben riskieren, um sich Patriarchat, Kapitalismus, Polizeigewalt und militärischen Angriffen zu widersetzen. Dies sind zwei unterschiedliche Welten. Feminist*innen sollten sich aktiv dagegen wehren, dass ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Kämpfe durch Begriffe wie feministische Außenpolitik ihrer Bedeutung beraubt und mit Systemen der Gewalt und Ausbeutung vereinbar gemacht werden. Wir verdienen mehr als die rückständigen Ideologien und Methoden, die uns nun durch Staaten als Feminismus angedreht werden.

# Titelbild: Soldatinnen beim feierlichen Gelöbnis 2021, ©Bundeswehr/Sebastian Wilke

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Es ist Krieg in Europa. Zwar nicht, wie man derzeit viel hört, der erste seit 1945, denn der war in Jugoslawien. Aber zumindest der erste, bei dem Deutschland nicht auf Seite der angreifenden Armee mitspielt. Dementsprechend aufgewühlt ist die öffentliche Stimmung und dementsprechend ungern gesehen sind Misstöne, die das Narrativ der deutschen Nation stören. „Wir“ sind endlich auf der richtigen Seite und das soll uns jetzt auch kein Nestbeschmutzer madig machen.

Was also sagen Linke zum Krieg?

„Die größten Verlierer des Krieges sind die Arbeiter, die Armen, die Frauen und die Jugend“, heißt es in einer Stellungnahme mehrerer sozialistischer Parteien aus der Türkei und Nordkurdistan. Die Völker müssen sich nicht zwischen der NATO auf der einen und Russland auf der anderen Seite entscheiden. Vielmehr stehe man auf der Seite der Menschen überall auf der Welt, die sich gegen den Krieg wehren. „Alle Nationalitäten, Arbeiter und Werktätigen unseres Landes müssen sich gegen Krieg, Militarismus und Chauvinismus vereinen.“

In eine ähnliche Kerbe schlägt die Stellungnahme der Kommunistischen Partei Griechenlands: „Die Antwort aus der Sicht der Interessen unseres Volkes liegt nicht darin, sich dem einen oder anderen imperialistischen Pol anzuschließen. Das Dilemma ist nicht USA – Russland oder NATO – Russland. Der Kampf der Arbeiterklasse und des Volkes muss sich einen eigenständigen Weg bahnen, fern von allen bürgerlichen und imperialistischen Plänen.“

Diese Position – so oder so ähnlich formuliert von sehr vielen anarchistischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppen weltweit – klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, vernünftig und massentauglich. Wer will schon sein Leben für die jeweilige herrschende Klasse in die Wagschale werfen? Wer, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde für die russischen, deutschen, US-amerikanischen oder ukrainischen Eliten andere einfache Leute anderer Nationalitäten umbringen und sich im Vollzug dieses Verbrechens töten lassen?

Nun braucht aber jeder Krieg das schlachtwillige Fußvolk und die richtige ideologische Vorbereitung der Bevölkerung, an deren Widerwillen er sonst scheitern könnte. „Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muss aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden“, schrieb Rosa Luxemburg. Jede Nation muss ihren Anhängern mitteilen, warum sie für sie im Zweifelsfall sterben sollen. Und so muss die einfache, vernünftige Position diffamiert werden als Verrat am Vaterland, an der Freiheit oder am Menschenleben. Und es muss ein Mythos hegemonial gemacht werden, der die Untertanen zu Heldentaten anspornt.

Der heilige Verteidigungskrieg

Eines der zentralen Elemente dieser Erzählung ist, dass von jeher der Gegner derjenige ist, der angreift. Die Barbarei des Krieges ist so augenfällig, dass sogar die reaktionärsten Regime ihn als letztes Mittel zur Verteidigung verklären müssen.

Als Deutschland in den ersten Weltkrieg zog, betonte Wilhelm der II., es sei Verdienst seiner Regierung gewesen, so lange den Frieden gewahrt zu haben. „Fast ein halbes Jahrhundert lang konnten wir auf dem Weg des Friedens verharren. Versuche, Deutschland kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen, haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt“, eröffnete er die berühmte Thronrede vom 4. August 1914. Man habe bis zu letzt das „Äußerste“ abwenden wollen, aber nun: „In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.“

Hitler hielt unmittelbar nach der Machtübergabe an die deutschen Faschisten eine viel beachtete Friedensrede und wenige Jahre später wurde „zurückgeschossen“. Lyndon B. Johnson erklärte zum Vietnamkrieg, dass die USA dort Krieg gegen eine „kraftvolle Aggression“ des „kommunistischen Expansionismus“ führten. Und Harry S. Truman führte die amerikanischen Truppen in den Koreakrieg, um die „Aggression“ der Kommunisten einzudämmen und „den internationalen Frieden und die Sicherheit“ zu bewahren.

Auch Putin muss seiner eigenen Bevölkerung den Einmarsch in der Ukraine als defensiven Akt verkaufen. In ausschweifenden Reden erklärt er den präventiven Charakter seines Einmarsches in der Ukraine. Das zentrale Motiv seiner Rechtfertigungen sind „diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden. Ich meine damit die Ausdehnung des Nato-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands“, so der russische Autokrat in seiner Kriegserklärung vom 24. Februar.

Putins Medien und seine Think-Tanks ergießen dieses Narrativ in die russische Öffentlichkeit, so wie die unserer Herren das ihre in unsere. Es sind keine schrägen AfD-Komiker, die in Russland diese Erzählung vorantreiben, es ist der dortige Mainstream. Die „konstruktive Destruktion“ sei die neue außenpolitische Doktrin Putins, schreibt ein mit vielen Titeln behangener Professor auf RT. Diese aber sei „nicht aggressiv“. Russland „wird niemanden angreifen oder in die Luft jagen“, doziert er an dem Tag, an dem Russland angreift und in die Luft jagt. Denn: „Mit einer großen Ausnahme. Die Expansion der NATO und der formale oder informelle Einschluss der Ukraine [in das System der NATO] stellt ein Risiko für die Sicherheit des Landes dar, das Moskau einfach nicht akzeptieren kann.“

Nun ist es keine allzu schwere kognitive Leistung aus der historischen Distanz die Propaganda Kaiser Wilhelms oder aus der geographischen Distanz die Wladimir Putins zu entlarven. Aber wie steht es mit der aktuellen „eigenen“?

Kriegsvorbereitung als Friedenssicherung

Die Stimmung in Teilen der deutschen Bevölkerung ist seit dem Einmarsch Russlands gekippt. Noch unmittelbar vor Putins Invasion sprach sich eine Mehrheit in Umfragen gegen Waffenlieferungen in die Ukraine aus – jetzt ist man dafür. Auch das gigantische 100-Milliarden-Paket für die Aufrüstung der Bundeswehr scheint, glaubt man den Umfragen, auf Zustimmung zu stoßen.

Die Ideologie hinter diesem Gesinnungswandel kommt aus den Schreibstuben der Bundesregierung und wird durch die stets heimattreuen Medien in unterschiedliche Nuancen verpackt in die letzten Winkel der Republik gedrückt. Man kann sich die Dosis westliche Selbstvergewisserung ungefiltert als Trommelwirbel bei Springer oder mit eher antipatriarchalen Nuancen bei der taz abholen, am Ende bleibt die selbe Story übrig.

Das zugrunde liegende Geschichtsbild gibt Olaf Scholz vor: „Es gibt kein Zurück in die Zeit des 19. Jahrhunderts, als Großmächte über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg entschieden. Es gibt kein Zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als Supermächte die Welt unter sich aufteilten in Einflusszonen“, erklärte der Bundeskanzler zu Beginn des Krieges dem nach Orientierung dürstenden Publikum. Der Westen hat Werte – Solidarität, Demokratie, Freiheit -, der Feind will Einflusssphären.

Diese Geschichtsphilosophie besagt: Es gibt eine internationale Friedens- und Rechtsordnung, die durch den Westen garantiert wird und die auf Gleichheit, Unabhängigkeit, Souveränität fußt. Der russische Feind ist angetreten, um uns alle, die wir glücklich in diesem Schlaraffenland leben, zu drangsalieren und da wir keine andere Wahl haben, müssen nun auch wir reinen Gewissens zu den Waffen greifen, um uns zu verteidigen. Wobei wir zunächst einmal, denn der Feind hat Atomwaffen, nur zu den Waffen greifen, um sie an die wahren Verteidiger Europas zu verschicken, die Ukrainer. Was später kommt, wird die Zeit zeigen.

„Abschreckung“ ist das Gebot der Stunde. Und „Abschreckung“ bedeutet Aufrüstung. Wer diese nicht will, ist entweder Egoist oder gleich Vaterlandsverräter – vulgo: Putin-Troll. Die Vorbereitung auf die Verteidigung des Vaterlandes muss alle Bereiche der Gesellschaft einbeziehen. Die eben noch als unmittelbar zu vollziehende „Energiewende“ weicht der Notwendigkeit Anlande-Terminals für US-amerikanischen Fracking-Gas zu bauen, denn ohne das Freedom-Gas aus den USA hätte uns der Russe im Kriegsfall im Würgegriff. Die Rückwirkungen der Sanktionen auf die von Inflation und Lohnstagnation gebeutelte Durchschnittsbevölkerung muss euphorisch als „Preis der Freiheit“ in Kauf genommen werden. Noch die letzten Putin-Versteher müssen aus dem Kunst-, Kultur- und Medienbetrieb entfernt werden. Supermärkte listen russische Produkte aus, Restaurants erklären, keine Russen mehr beherbergen zu wollen.

Wer sich dagegen sperrt, wird aus der nationalen Gemeinschaft ausgestoßen. Denn schließlich dient all das der Friedenssicherung und wer gegen Friedenssicherung ist, ist logischer Weise für Krieg und in diesem Fall sogar für einen Krieg, der vom geopolitischen Feind angezettelt wurde. Aber ist dem so?

Imperialistische Konkurrenz

Nicht, wenn man die zwar mit viel Begeisterung vorgetragene, aber keiner auch nur oberflächlichen Betrachtung standhaltende Selbstverklärung des Westens in Frage stellt. Die Welt ist in keinem post-imperialistischen Zustand internationaler Freundschaft, der allein von Schurkenstaaten in Frage gestellt würde. Sie ist immer noch bestimmt durch Konflikte kapitalistischer Nationen, die bisweilen mit den Mitteln der Ökonomie und des Handels, bisweilen durch Verträge und Diplomatie, bisweilen durch Entwicklungshilfe und gelegentlich, aber immer häufiger eben militärisch ausgetragen wird.

Die USA, zusammen mit denjenigen, die in ihrer Führung die sicherste Art der Aufrechterhaltung des eigenen Geschäftsmodells sehen, sind dabei bemüht ihre ererbte Vormachtstellung auf dem globalen Parkett zu erhalten. Andere, allen voran China und Russland, sehen in der seit langem schwelenden Schwächung des US-Imperialismus die Gelegenheit zur eigenen Erweiterung der Einflusszonen. Im Zuge dieses Ringens hat der „Westen“ in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche „souveräne Nationen“ überfallen, Coups unterstützt, Wirtschaftssanktionen gegen sie eingesetzt, um sie gefügig zu machen. Alleine im Fall des Irak mit über einer Million Toten. In Afghanistan waren es über die Jahre ein paar hunderttausend, im Jemen über eine Viertel Million.

Und der russische – eher „lokal“ handlungsfähige – Gegenspieler versuchte sich an der Niederschlagung ihm gefährlicher „Demokratiebewegungen“ in der direkten Umgebung – zuletzt in Kasachstan – oder an der Erhaltung des ihm treu ergebenen Assad-Regimes in Syrien. Gerade in Syrien versuchte sich Russland zugleich an einer anderen Strategie, die mit dem jetzigen Krieg ihr vorläufiges Ende gefunden hat: Der Einbindung der die Süd-Flanke der NATO bildenden Türkei in die eigene imperiale Machtpolitik.

Für Erdogan wie für Putin galt – und das wurde in Syrien durchexerziert -, dass die Hegemonialmacht USA „Freiräume“ gelassen hatte für eigenständige Ambitionen. Die Player mit eher regionaler Strahlkraft versuchten, diese auszuschöpfen. Nicht nur in Syrien, auch an anderen Konfliktherden – Libyen, Armenienkrieg – wurde die eigenständige Gestaltungsmacht der Gegenspieler des US-Imperialismus graduell größer.

Anders allerdings in Osteuropa. Dort blieb der russische Versuch, sich beanspruchte Gebiete zumindest als Vasallenstaaten zu erhalten, in der Defensive. Die NATO-Osterweiterung ist selbstverständlich gegen Russland (und in the long run China) gerichtet, wer das jetzt aus irgendeiner Halluzination heraus bestreitet, muss nur die eigenen Strategiepapiere der NATO lesen. Wozu sonst sollte sie überhaupt existieren?

Die Ukraine hatte dabei von jeher eine besondere Bedeutung und das Ringen um ihre Ost- bzw. Westbindung begleitet sie seit dem Ersten Weltkrieg. Die Vorgeschichte des nun begonnenen Angriffskriegs liegt in der Maidan-Revolution, in deren Zuge die von Moskau abhängige korrupte Figur Janukowitsch durch eine Reihe von ihr Heil im Westen suchenden Machthabern abgelöst wurde.

Putin machte rasch klar, wie die Reaktion Russlands aussehen würde: Unterstützung des bewaffneten Aufstands im Osten der Ukraine, Annexion der Krim. Der Westen machte rasch klar, wie seine Antwort aussehen würde: Verstärkung der Westbindung, Beitrittsperspektive zu EU und NATO, Waffenlieferungen, Ausbildungsmissionen, Wirtschaftskooperationen, Handelsverträge, gemeinsame Militärübungen. Beide Blöcke zerrten an der Ukraine – das als „Selbstbestimmung“ zu verklären, egal von welcher Seite, verkennt alle machtpolitischen Dynamiken. Dann kam der russische Angriffskrieg.

Die meisten Beobachter hätten die Anerkennung der „Volksrepubliken“ noch als strategisch motivierten Schritt vorhergesagt, aber den jetzigen vollständigen Einmarsch in die Ukraine wohl, wie Left-Review-Redakteur Tony Woods in einem Interview attestiert, nicht. „Die russische Entscheidung zum Einmarsch hat mich überrascht und eine Menge an Russland-Analysten versuchen derzeit irgendwie, ihre Ansichten des Putin-Regimes zu reinterpretieren. Ich hatte in den vergangenen zwanzig Jahren viel Kritik an dem Putin-Regime, aber ich dachte nicht, dass es auf fundamentale Art und Weise irrational sei. Kriminell, ja. Aggressiv, ja. Alle Arten anderer Dinge, auf jeden Fall. Aber fundamental irrational, nein. Doch diese Invasion erscheint mir auf fundamentale Art und Weise irrational.“

Man kann daran einiges richtiges finden. Denn nicht aus einer externen Draufsicht, sondern selbst aus der Sicht der in Russland herrschenden Klasse dürfte dieser Einmarsch kaum die gewünschten Resultate zeitigen. Abgesehen von den Schäden an der russischen Ökonomie, hat er zu einem immensen Schulterschluss innerhalb der NATO geführt. Weit davon entfernt, irgendeine Perspektive auf die Installation eines nachhaltig bestehenden Vasallenregimes in der Ukraine zu haben, stärkt er zudem die Westbindung weiterer Nationen, etwa Finnlands. Eine Exitstrategie gibt es nicht.

Zu erwarten ist vielmehr, dass andere, „abgekühlte“ Konfliktherde neue Fahrt aufnehmen. In Syrien wird die zumindest die Türkei versuchen, das fragile Gleichgewicht zu revidieren und sich erhoffen können, von den USA für ihre Bündnistreue mit neuen Zugeständnissen gegenüber den Kurden bedacht zu werden. Andere Konflikte im Osten warten auf Belebung: Georgien, Armenien/Aserbaidschan, Taiwan.

Was wir zu erwarten haben, ist eine Zeit der Militarisierung der zwischenimperialistischen Konflikte – und damit eine Intensivierung jener Propaganda, die es braucht, um die Bevölkerung auf Linie zu bringen. Das wäre in Zeiten einer massenfähigen Arbeiterbewegung schwieriger gewesen, heute ist es eine Leichtigkeit. Aber was können wir unter solchen Voraussetzungen als Linke noch tun?

Eine Bewegung gegen den Krieg aufbauen

Es mag nach nichts klingen, aber die erste Aufgabe ist, sich von der Propaganda nicht irre machen zu lassen. Man steht mit einer konsequent antiimperialistischen Position zwischen dem – zwar marginalisierten, aber in der Linken noch vorhandenen – Block von Anhängern der russischen Invasion und dem mit großer Übermacht in die Debatte drückenden Block von pro-westlichen Imperialismusfans.

Die linke, antimilitaristische (nicht zu verwechseln mit einer pazifistischen) Position ist marginalisiert, aber sie bleibt nichtsdestoweniger die einzige, die Bestand haben kann: No war but class war. Dieser Krieg, genauso wie irgendeinanderer der imperialistischen Mächte, ist nicht unser Krieg, es ist kein Krieg für Befreiung und Sozialismus, sondern einer, in den Menschen für die jeweiligen Interessen kapitalistischer Nationen geschickt werden, um andere zu töten, die von der gegnerischen Nation geschickt werden.

Es sind die einfachen Forderungen, die wir in den Mittelpunkt der Öffentlichkeitsarbeit stellen müssen: Das nationale „Wir“ ist nicht unser „Wir“, sondern das der Herrschenden. „Wir“ haben kein Interesse an Krieg und wir haben an ihm nichts zu gewinnen, so wenig wie das russische oder ukrainische Proletariat. Keine Aufrüstung, keine Zustimmung zu den Maßnahmen der Kriegsvorbereitung – auch wenn sie noch so „defensiv“ daherkommen. Kein Einstimmen in die Kriegsgesänge, den Nationalismus und die Glorifizierung des „heiligen Verteidigungskriegs“. Zusammenschluss aller gegen den Krieg gerichteten progressiven Kräfte.

Die Losung, die eine Linke popularisieren muss, ist die der Revolution. Es gibt keine „Friedensordnung“ im Kapitalismus, die mehr wäre als ein temporäres Kräftegleichgewicht, das im Krieg untergeht, sobald einer der konkurrierenden Mächte die Zeit günstig erscheint.

Diese Losung steht zwar jederzeit in der Gefahr, von den „Pragmatikern“ des „kleineren Übels“ als Utopismus verlacht zu werden, die Wahrheit ist aber, dass wir in allen Belangen sehen, dass diese „Pragmatiker“ nicht in der Lage sind, irgendeine der Krisen zu bewältigen, vor denen die Menschheit steht: Nicht die der Zerstörung aller natürlichen Lebensgrundlagen und nicht die der drohenden Gefahr eines überregionalen Krieges mit im schlimmsten Fall Atomwaffen. Dass das so ist, ist nicht die Schuld der als „Utopisten“ verschrieenen Revolutionär:innen, sondern gerade der „Pragmatiker“, die stets ein System fortführen, das Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg braucht.

Nicht, wer den Umsturz der Verhältnisse organisieren will, verabschiedet sich von der realistischen Lösung der Probleme. Sondern wer in den Trippelschritten des Pragmatismus Mal um Mal mit den Elendsverwaltern des Kapitalismus im Gleichschritt der Alternativlosigkeit in den Abgrund mitläuft.

In dieser Situation können wir als Sozialist:innen und Kommunist:innen nichts anderes tun, als uns in die Tradition stellen, in der wir eben stehen. Als 1914 das deutsche Reich in den heiligen Verteilungsweltkrieg zog, jubelten die Sozialdemokraten mit, das ganze deutsche Volk war in einer hysterischen Kriegsbegeisterung. Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos. Die Losung „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ wurde, so schrieb Rosa Luxemburg, zur Losung: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege.“

Es waren international zunächst sehr wenige Sozialist:innen, die der antimilitaristischen Überzeugung der Arbeiterbewegung treu blieben. Sie hatten Kerker und Ächtung zu befürchten, doch sie blieben ihren Überzeugungen treu. In der Zimmerwalder Konferenz taten sie sich über alle nationalen Grenzen hinweg zusammen und sagten ihren Völkern: „Die Kapitalisten aller Länder, die aus dem vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsprofite münzen, behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen. In Tat und Wahrheit begraben sie auf den Stätten der Verwüstung die Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer Nationen.“

Und sie schlossen das Manifest mit dem Aufruf: „Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder vereinigt euch!“

Es dauerte Jahre, bis dieser Schlachtruf erhört wurde und es brauchte die mit Leichen gefüllten Gräberfelder Verduns, um den Hurrapatriotismus aus jenen Hirnen zu spülen, durch die noch keine Kugel geflogen war. Tun wir alles, dass es dieses Mal ohne diesen Erkenntnisprozess geht.

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Der bekannteste russische Oppositioneller, Alexei Nawalny meldet sich aus der Gefängnis zum Einmarsch in die Ukraine und wärmt dafür eine Theorie auf, die auch unter Linken beliebt ist. Der Krieg sei doch nur eine Ablenkung von den anderen, „wirklichen“ Problemen:

…Putin geht es um eine Sache: Die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen der Russen abzulenken: die Entwicklung der Wirtschaft, höhere Preise, regierende Rechtlosigkeit. Die Aufmerksamkeit wird stattdessen auf imperialistische Hysterie gelenkt.

Wann haben Sie das letzte Mal Nachrichten im staatlichen Fernsehen geschaut? Ich schaue derzeit nur das, und ich kann Ihnen versichern: Es gibt da keine Nachrichten aus Russland. Es geht nur um die Ukraine, die USA, Europa. Reine Propaganda reicht den senilen Gaunern nicht mehr. Sie wollen Blut. Sie wollen ihre Panzerfiguren über eine Landkarte der Feindseligkeiten fahren lassen.

Dass die russische Propaganda ständig das Bild des krisengeplagten Auslands als Kontrast zum von Erfolg zu Erfolg eilenden eigenen Land bemüht, mag zwar eine richtige Beobachtung sein, aber als Erklärung, warum Russland trotz aller bisherigen Bekundungen doch die Ukraine attackiert taugt es nicht. Dass der Krieg nicht nur Verluste, sondern auch eine ganze Reihe von neuen ökonomischen Problemen mit sich bringt, ist nicht nur der Regierung bewusst, sondern entgeht auch der Bevölkerung nicht. Es ist aber auch nicht so, dass Russland kurz vor Massenprotesten steht und nur noch ein „splendid little war“ den Kreml retten könnte.

Die stetige Osterweiterung der NATO und der EU, die die russische Führung immer wieder vorbringt, sind durchaus real. Russland ist seit über 30 Jahren ein kapitalistisches Land das in der ökonomischen Konkurrenz mit den Siegern des „Kalten Krieges“ nicht gut da steht. Die Teilnahme Russlands am Weltmarkt ist von den führenden westlichen Mächten erwünscht, russischer Erfolg dort jedoch nicht. Im ökonomischen Wettbewerb unterlegen, hat Russland aber noch ein gewaltiges Militärpotenzial, das es gerade dafür einsetzt, denjenigen Staaten, die die Rahmenbedingungen diktieren wollen, Grenzen zu setzen.

Putin teilte in seiner Rede auch unverhohlen mit, dass er nicht warten möchte, bis der Westen die Ukraine weiter als Frontstaat aufrüstet. Später wären die Kosten noch höher, so sein keineswegs geheimes Kalkül. Seine westliche Amtskollegen sagen der Bevölkerung der Ukraine auch klipp und klar, dass es so einiges kosten wird, der russischen Staatsraison Grenzen aufzuzeigen. Den Aufstieg einer Weltmacht zu verhindern, die ökonomisch gar keine ist, aber sich militärisch den Status nimmt , ist innerhalb imperialistischer Konkurrenz der einzig logische Schritt für die USA und ihre europäischen Noch-Verbündeten und zugleich Konkurrenten.

Die „imperialistische Hysterie“ die Nawalny anprangert ist nur eine Folge von dieser imperialistische Konkurrenz, gegen die er als Liberaler eigentlich nichts einzuwenden hat und die er meint mit rein ökonomischen Mitteln gewinnen zu können – so zumindest sein Programm aus der Zeit als er sich noch für‘s Präsidentenamt bewerben wollte, um selber das gleiche Spiel zu spielen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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„Putin ist verrückt“ oder „machthungrig“ sind gängige Erklärungen für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Alexander Amethystow darüber, warum der Krieg kein Betriebsunfall einer ansonsten normal funktionierenden Weltpolitik ist, sondern die Konsequenz imperialistischer Konkurrenz.

Unfassbar: kapitalistische Staatsinteressen führen tatsächlich zum Krieg, wer hätte es gedacht!

Die Welt ist entsetzt: Das größte Land der Welt zieht gegen das zweitgrößte Land Europas in den Krieg! Die Ukraine, die in den letzten Jahren stets beteuert hatte, williger Verbündeter des Westens zu sein, wird von Russland überfallen und erhält vom Westen keine Unterstützung mit Truppen. Einen vollwertiger Krieg mit der Atommacht Russland ist die Ukraine denjenigen, die sie zu einem Frontstaat aufbauten doch nicht wert.

Seit das postsowjetische Russland beschloss als kapitalistischer Staat in der weltweiten Konkurrenz seinen Erfolg zu suchen, pocht es darauf, als eine Weltmacht ernstgenommen zu werden. Doch die wirtschaftlichen „Erfolge“ reichen dafür offensichtlich nicht. Russland fungiert vor allem als Rohstofflieferant für den Westen. Konkurrenten und Geschäftspartner werden vor allem mit militärischem Potenzial zur Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen gezwungen und genau dieses Potenzial versucht die NATO systematisch auszuhebeln. Angesichts der dauerhaften Bemühungen der EU von den russischen Energielieferungen unabhängig zu werden, wird es verständlich, warum die Führung Russlands um den Status ihres Staates in der imperialistischen Konkurrenz so besorgt ist.

Es liegt also nicht daran, dass Putin „verrückt“, „machtbesessen“ oder „Macker“ oder „Gladiator“ ist. Nein, es ist kein Betriebsunfall der Weltpolitik. Und auch die Debatte, welche Interessen Russlands „legitim“ seien, führt nirgendwo hin. Russland möchte Weltmacht sein, die anderen Weltmächte sind der Meinung es braucht keine weitere. Die westlichen Weltmächte stellen Spielregeln auf, Russland möchte Souveränität beweisen, indem es sich nicht einhegen lässt. Einen „Regime change“ in eigenem Interesse durchzusetzen, ist für Moskau der ultimative Beweis dafür, eine souveräne Weltmacht zu sein. Souverän ist, wer über die Souveränität der anderen entscheidet. Dass ist die Lehre, die Putin und Co. aus Jugoslawien, dem Irak, Libyen usw. gezogen haben.

Wer eine Großmacht sein will, darf die Verletzung seiner Interessen nicht hinnehmen. Das wiederholt Putin ständig und verweist auf die Schicksale der Länder, die keine Großmächte sind. Die Russische Führung sieht sämtliche ihrer Ansprüche in Osteuropa übergangen und betrachtet die vollendeten Tatsachen, vor die sie von der EU und der NATO gestellt werden, als die Aberkennung der Bedeutung Russlands in der Staatenkonkurrenz. Daher nimmt Russland sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen.

Der Kreml inszeniert den Einmarsch ganz im Stil seiner westlichen Kontrahenten als eine humanitäre Aktion. Schon im Vorfeld wurde seitens Russland angekündigt: Wenn die ukrainische Regierung ihr Gewaltmonopol über die abtrünnigen Regionen wiederherstellen möchte, sei das ein Kriegsgrund! Entweder muss der ukrainische Staat faktisch zugeben, kein Souverän über sein eigenes Gebiet mehr zu sein, oder seitens Russlands das erleben, was Jugoslawien und Libyen seitens des freien Westens erlebt haben. Denn ein Kampf gegen bewaffnete Insurgenten auf eigenem Gebiet galt im Fall von Gaddafi als „ein Krieg gegen das eigene Volk“. Da kein Staat die Infragestellung des eigenen Gewaltmonopols in Kauf nehmen kann, käme es für die Ukraine dem Verlust der eigenen Souveränität gleich ein solches Diktat anzunehmen.

Russland weiß aus der Erfahrung zweier Tschetschenienkriege, dass in der nationalstaatlichen Logik abtrünnige Gebiete dann als feindliches Gebiet behandelt werden müssen, mit entsprechender Behandlung der Zivilbevölkerung. Bei den ukrainischen Versuchen, die eigenen Souveränität qua Ausnahmezustand durchzusetzen, werden – wie es in NATO-Jargon heißt – „Kollateralschäden“ entstehen, sprich Häuser und Infrastruktur zerstört, Zivilisten verletzt und getötet werden, was Russland „Genozid“ nennt. Das ist ein nicht zu überbietender Vorwurf und seit dem Jugoslawienkrieg ultimative Rechtfertigung für sofortiges Ein – und Angreifen.

Russland hat bereits angekündigt, die „Schuldigen“, sprich ukrainische Politiker und (Para)Militärs zur „Verantwortung zu ziehen“. Natürlich im Namen der Menschenrechte, die Russland einfach durchzusetzen hilft. Mit dieser Argumentation ist Putin nicht etwa bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen – wie man gerade allerorten lesen kann – sondern bei den westlichen Führungsmächten in die Lehre gegangen.

# Titelbild: Nein zum Krieg, sowjetisches Antikriegsposter

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Die Reise Abdullah Öcalans in palästinensisches Gebiet war ein historisches Ereignis. Dieser Schritt hatte wichtige Konsequenzen für die kurdische Freiheitsbewegung. Die Ausbildung und Aufstellung einer zweihundert Personen starken Truppe glich unter den damaligen Bedingungen der Aufstellung einer Armee.

Das Interview ist ursprünglich in türkischer Sprache erschienen auf Yeni Özgür Politika: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-dersim-daglarindan-filistin-mevzilerine-154563. Für bessere Verständlichkeit wurde die deutsche Übersetzung an einigen Stellen leicht angepasst. (Teil 1 von 3)

Von EMRULLAH BOZTAŞ
Übersetzt von Tekoşin Şoreş & Kerem

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 begann in diesem Teil des Nahen Ostens das endlose Dilemma von Aggression und Widerstand (Anmerkung der Redaktion: Koloniale Aggression und Widerstand in Palästina begannen schon deutlich früher, spätestens seit der Balfour-Deklaration 1917, wurden der Weltöffentlichkeit aber erst ab Ende der 40er Jahre bekannt). Palästinensische Organisationen organisierten den Widerstand, indem sie politische Parteien entsprechend der sich entwickelnden politischen Lage in der Welt gründeten. In den 1970er Jahren hatte eine überwältigende Mehrheit der palästinensischen Organisationen eine linkssozialistische Rhetorik und Praxis. Diese Situation brachte eine große internationale Solidarität mit sich und gab dem palästinensischen Kampf den Charakter eines internationalistischen Widerstandes. Viele AraberInnen gingen nach Palästina und in den Libanon, um sich dem Befreiungskrieg anzuschließen.

Der palästinensische Widerstand war sowohl ein Existenzkampf eines Volkes, als auch ein Trainingsplatz für InternationalistInnen geworden. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ging als eine derjenigen sozialistischen Befreiungsbewegungen in die Geschichte ein, die in palästinensischen Lagern eine militärische Ausbildung erhielt. Die PKK ist so zu einer der Parteien geworden, die in den Kriegen und Konflikten im gerechten Kampf des palästinensischen Volkes an vorderster Front ihren Platz einnahmen.

Als das Kalenderblatt den 2. Juni 1982 anzeigte, begann der erwartete Krieg. Die israelischen Streitkräfte überquerten die libanesische Grenze und rückten an drei Fronten nach Norden vor. Neben den libanesischen und palästinensischen Aufständischen waren auch PKK-Guerillas vor Ort. Als der Krieg begann, räumten sie ihr Trainingslager und gingen an die Front. Viele PKK-KämpferInnen, die ihre Stellungen bewahrten, ohne an einen Rückzug zu denken, sind nach Ende der Kämpfe entweder gefallen oder in israelische Gefangenschaft geraten. Dieser Widerstand wurde zur Tradition und für Generationen zum Charakter der apoistischen Bewegung (Anm. d. Red.: Apo bedeutet „Onkel“ auf Kurdisch und ist ein Spitzname Öcalans).

Während des Libanonkrieges schlossen sich PKK-Mitglieder an vielen Orten dem Widerstand an, darunter bei der Burg Arnon, in Sayda, Nebatiye, Sur, Demorda und Beirut, auch bekannt als Burg Şaqif, die einst von Sultan Saladin wieder aufgebaut wurde. Neun PKK-Mitglieder starben allein auf Burg Arnon. Während des gesamten Krieges gab es zwölf Märtyrer. Aufgrund ihrer willensstarken Haltung im Krieg hielten die PalästinenserInnen die PKK-Mitglieder für würdig, die Titel „Löwen von Beirut“ und „Helden von Arnon“ zu tragen. Während dieses Widerstands wurden fünfzehn PKK-Guerillas gefangen genommen, die erst eineinhalb Jahre später freikamen. Xalid Çelik, der an der Verteidigung des Südlibanon beteiligt war und Zeuge der unmenschlichen Behandlung in israelischen Gefangenenlagern ist, erzählte unserer Zeitung über Palästina von damals.

Welche Art von Kampf hat die PKK vor dem Gang in den Nahen Osten in Kurdistan geführt? Wie hat Ihre Partei, die den Widerstand gegen den türkischen Staat begonnen hat, den Anfang gemacht?

Nach der Parteigründung 1978 realisierte der türkische Staat etwas: Eine Gruppe namens ApoistInnen war zu einer Partei geworden und begann, die ArbeiterInnen zu organisieren. Ihm war von Anfang an klar, dass diese organisierte Kraft große Entwicklungen herbeiführen würde. Deswegen griff er auch die junge Bewegung an. Die Freiheitsbewegung führte noch keinen bewaffneten Kampf. Sie erklärte ihre Ideen politisch und arbeitete daran, sich in Kurdistan zu organisieren, während der Staat einige Milieus in Kurdistan, v.a. reaktionäre feudale Großstämme, gegen die PKK mobilisierte.

Einer von ihnen war der Bucak-Stamm in Urfa. Ein anderer war der Süleyman-Stamm in Hilvan. In Batman gab es den Raman-Stamm. Das waren die Hände, Füße und Ohren des türkischen Staates in Kurdistan. Mehmet Bucak war Stammesführer und stand als Abgeordneter stellvertretend für Demirels Partei (Anm. d. Red.: Gemeint ist die Adalet Partisi (Deutsch: Gerechtigkeitspartei, Demirel war insgesamt sieben Mal Ministerpräsident der Türkei und stand für eine neoliberale, nationalistische Politik). Natürlich haben wir damals nicht ganz verstanden, warum sie uns angegriffen haben. Damals gab es, noch vor der Ermordung des Genossen Haki Karer, eine Anti-Guerilla-Organisation, die sich „Sterka Sor“ (Deutsch: Roter Stern) nannte. Es war eine vom türkischen Staat unterstütze, konterrevolutionäre Organisation. Auch sie griff uns an. Auch das Massaker von Maraş (1978) war eine Reaktion des Feindes gegen die PKK. Sein Ziel war es, die Bewegung so schnell wie möglich zu zerstören, indem er sie in einen Konflikt hineinzog.

Die ersten PKK-Kader wurden an verschiedenen Orten militärisch ausgebildet. Welche anderen Maßnahmen wurden angesichts dieser Gefahren ergriffen?

Unsere Partei geriet in einen gefährlichen Prozess. Nachdem die Parteiführung (Abdullah Öcalan) die Risiken gut vorhergesehen hatte, wollte sie einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Unvorbereitet, d.h. irregulär in den Krieg zu ziehen, ohne auch eine starke militärische Kraft zu bilden, bedeutete, sich der staatlichen Vernichtung zu stellen. In Hilvan, Siverek und Batman war bereits Krieg geführt worden, der uns schweren Schaden zugefügt hatte.

Vorsorglich wollte der Parteivorsitzende eine gewisse Ordnung schaffen, um die KaderInnen künftig besser auszubilden und zu organisieren, zu motivieren und zu stärken. Das geeigneteste Gebiet dafür war der Sitz der palästinensischen Bewegung. Es gab keinen besseren Ort. Vielleicht gab es auch in Südkurdistan manche Möglichkeiten, aber dort gab es das schwer einzuschätzende Regime von Saddam Hussein. Es war unklar, ob eine Verlagerung unserer Kräfte nach Südkurdistan von Vorteil gewesen wäre. Auch in Ostkurdistan gab es eine kurdische Bewegung; aber dort waren die iranische PDK und Komala Parteien untereinander in Konflikt geraten. In diesem Fall waren schlussendlich die Gebiete, in denen die PalästinenserInnen kämpften und der Libanon die richtige Wahl.

Der Parteivorsitzende Öcalan ging zuerst mit seinem Freund Etem Akçam, Codename Sait, in das palästinensische Gebiet. Wir waren zu dieser Zeit auch mit organisatorischen Arbeiten beschäftigt, aber um ehrlich zu sein, haben wir dem, was vor sich ging, nicht viel Bedeutung beigemessen. Der Grund war, dass wir alle jeweils in uns zugeteilten Gebieten eingesetzt waren. Wir waren mit den Arbeiten in diesen Gebieten beschäftigt. Die Aktivitäten der Bewegung als Ganzes waren uns nicht bekannt. Ich war damals in der nördlichen Zone. Wir befanden uns in Dersim und Umgebung. Wir hatten nicht so viel Erfahrung, was das Guerilla-Leben anging und versuchten lediglich, uns so gut wie möglich vorzubereiten. Unsere Einheiten wurden bewaffnete Propagandatruppen oder Fedai-Truppen genannt. Jeder gab sich einen Namen und handelte entsprechend. Wir waren AmateurInnen. Gegen die Angriffe des Staates leisteten wir natürlich Gegenwehr. In Hilvan und Siverek schlossen sich bestehende Kräfte unserer Organisation an. Das entwickelte den Widerstand und wurde zu einer Kultur. Es gab keine Macht in Kurdistan, die vor der PKK mit einer so politisierten Widerstandskultur durchdrungen wurde. Eine solche Kriegspraxis ist durch die Bewegung entstanden.

Wie war Ihr Übergang in die palästinensischen Gebiete?

Über den Vorsitzenden hatten wir dort Kontakte zur DFLP, PFLP und PLO. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten hatte der Vorsitzende dort die Anerkennung dieser Gruppen gewonnen, sodass er Stück für Stück die FreundInnen aus Nordkurdistan zu sich holen konnte. In den Jahren 1979/1980 haben wir mehrere Gruppen zusammengestellt, die dann in diese Gebiete entsandt wurden. Bereits vor der Militärjunta vom 12. September 1980 wurde in Nordkurdistan das Kriegsrecht verhängt und es herrschte ein Putschklima. Viele Orte in Kurdistan wurden auf diese Weise regiert. In den Regionen, in denen die Bewegung schon ein wenig organisiert war, wurde auch der Staat aktiver. Das Massaker von Maraş an alevitischen KurdInnen ist aus diesem Grund begangen worden. Der türkische Staat hatte die schlagkräftigsten Kräfte seiner Armee nach Kurdistan geschickt.

Obwohl wir keine richtige Streitmacht hatten, entwickelte der Staat eine Invasionsbewegung in Kurdistan. Schon damals begannen linke Organisationen in der Türkei sich aufzulösen. Auch in Kurdistan passierte das. Angesichts dieser Wiederbesetzungswelle verschwanden sie vom Bild, unter dem Vorwand, sie würden nun im Untergrund agieren. Also haben sich alle zurückgezogen. Nur die ApoistInnen blieben auf dem Feld; genauso, wie es der Staat wollte. Denn er wollte unsere Bewegung im Keim ersticken und zeigen, dass wir zu nichts imstande seien. Die Dinge liefen aber nicht wie geplant. Denn der Widerstand ist Teil der apoistischen Lebenskultur.

Aus diesem Grund trugen sie die Kriegsrechtspraktiken des Ausnahmezustandes, die sie für Kurdistan praktiziert hatten, auch in die türkischen Teile des Landes. Dann, mit dem Militärputsch vom 12. September, konzentrierten sie sich darauf, die Gesellschaft vollständig zu zerschlagen und zum Schweigen zu bringen. Die Massaker von Maraş und Çorum waren zwar der sichtbare Teil dieser Politik, es gab aber auch in Elazığ und Malatya schwere Verbrechen des Staates. Um es klar auszudrücken: Wo immer die PKK die Menschen wachrüttelte und organisierte, verübte der faschistische türkische Staat mit seinen lokalen KollaborateurInnen und seiner Armee Massaker. Diese Orte sind jene, in denen sich die PKK zum ersten Mal organisierte.

Aus diesem Grund ist die Reise Öcalans in die palästinensischen Gebiete ein historisches Ereignis. Es war ein Schachzug um sich zu sammeln und besser auf den Kampf zuhause vorzubereiten. Es war ein Schritt, der durch den Blick in die Zukunft motiviert war. Schon vor der offiziellen Durchführung des Putsches kam es zu Gefallenen unter wichtigen KaderInnen der PKK. Während Freunde wie Salih Kandal und Halil Çavgun fielen, wurden auch viele führende KaderInnen verhaftet, so wie Kemal Pir und Hayri Durmuş. Meiner Meinung nach hat Öcalan diese Entscheidung getroffen, um die eigenen Kräfte zu schützen und auszubilden und um so einen organisierten Guerillakrieg in Kurdistan beginnen zu können.

Der Schritt nach Palästina hatte sehr wichtige Konsequenzen für die Bewegung. Dieser Ort war der Sammelpunkt der verschiedenen Anschlüsse in die Bewegung; dort sammelte sich die Kraft der Bewegung. Die technische Ausrüstung war dort gewährleistet. Dort hatte Öcalan die Möglichkeit Parteitage, Versammlungen und Kongresse abzuhalten. Unter den damaligen Bedingungen war die Ausbildung und Aufstellung einer zweihundert Personen starken Truppe so viel wert, wie heute die Aufstellung einer gesamten Armee. Und tatsächlich wurde dort auch eine Armee aufgebaut.

Wann sind Sie in den Nahen Osten gewechselt? Mit welcher Situation waren Sie dort konfrontiert und mit wem hatten Sie Kontakt?

Ich ging spät in die Region. Wir waren in den Bergen. Öcalan rief die Gruppen vor allem entsprechend ihrer geographischen Nähe auf. Die FreundInnen in Mardin und Umgebung gingen zuerst. Wir waren zwangsläufig die Letzten. Das war dann ungefähr im Jahr 1981. Das war der Plan der Parteiführung und danach richteten wir uns. Der Weg dorthin war natürlich schwierig. Unsere Route ging über Rojava (Westkurdistan), Syrien und Libanon in die Bekaa-Ebene.

Jede Gruppe, die dort ankam, wurde von Öcalan persönlich empfangen. Diese ersten Treffen lagen ihm immer sehr am Herzen, weil sie allen Motivation gaben und auch eine gute Gelegenheit zum Kennenlernen boten. Auf diese persönlichen Empfänge war auch immer die gesamte Basis sehr gespannt. Dort wurde dann jedeR FreundIn seinem/ihrem Arbeitsbereich zugeordnet. Es gab eine Camp-Leitung, die die praktischen Arbeiten verwaltete. Heval Mehmet Karasungur war einer der Wichtigsten in dieser Leitung. Heval Sabri war auch dort, auch viele andere, an deren Namen ich mich jetzt nicht erinnern kann. Sie organisierten diese Dinge.

Diese Freundinnen teilten die KaderInnen in Dreier- oder Fünfergruppen auf und übergaben sie den palästinensischen Gruppen, an deren Ausbildung sie dann teilnahmen. Wir kamen mit einer großen Gruppe – mehr als 25 Menschen– aus dem Norden an und nahmen so an der Ausbildung teil. Dies war nur die Gruppe aus der Region Dersim-Bingöl. Als wir damals dort ankamen, hatten wir kurz zuvor Beziehungen mit der Fatah aufgenommen.

In allen diesen palästinensischen Organisationen hatten wir Gruppen von FreundInnen. Da wir dort blieben, wurde auch für jeden von uns in Beirut ein Ausweisdokument erstellt. Karasungur kümmerte sich um diese Arbeiten. Wir gingen zu ihm. Er sagte uns: „Jeder von euch soll sich einen Namen aussuchen, aber auf Arabisch.“ Ich habe mir damals überlegt, welchen Namen ich mir geben sollte. Er drehte sich zu mir um und sagte: „Mein Name ist Xalid und deiner ist Xalid.“ Unsere Bekanntschaft ging schon auf früher zurück, zu den TÖBDER-Zeiten (Tüm Öğretmenler Birleşme ve Dayanışma Derneği; deutsch: Verein der Vereinigung und Solidarität aller LehrerInnen) in Bingöl. So wurde mein Name Xalid. Ich habe meinen Namen nicht geändert, nachdem mein Freund Karasungur gefallen ist. Ich habe nie daran gedacht, ihn zu ändern. Mein Name ist mir als Erbstück von ihm geblieben. Und dann gingen wir zur Fatah.

ApoistInnen in Palästina

Du bist in das Lager der Fatah gegangen und hast dort deine Ausbildung bekommen. Wie näherten sich euch die PalästinenserInnen? Wie sahen palästinensische Organisationen die PKK?

Dies war für uns ein wichtiges Thema. Schließlich waren sie eine Kraft, die aus der arabischen Gesellschaft hervorgegangen ist, und die PKK aus dem Herzen des kurdischen Volkes. Sie kannten uns nicht sehr gut. Auch der Umgang der arabischen Bourgeoisie mit uns war anders, die wir natürlich von den RevolutionärInnen unterschieden. Der Großteil der palästinensischen Organisationen akzeptierte unseren Vorsitzenden nicht. Er hat dafür lange kämpfen müssen. Wenn sie wüssten, dass Israel kommen und ihre Orte besetzen würde, dann wäre ihre Annäherung an uns vielleicht wohlwollender gewesen. Sie sahen uns, wie auch alle anderen, wie Menschen, die sie arbeiten und kämpfen lassen können. Schließlich brauchten sie KämpferInnen. Auch KurdInnen hatten mehr oder weniger Kriegserfahrung. Allerdings waren die Bedingungen der neuen Welt des Krieges wie ein Flachland, das sie erst noch erkunden müssen. Die Sowjets, China, der gesamte Ostblock und die arabischen Staaten gaben den PalästinenserInnen alle möglichen Hilfestellungen. Ohne sich wirklich anzustrengen, bekamen sie aus großzügigen Händen alles, was sie brauchten. Deshalb nahmen sie niemanden ernst, nicht nur uns.

Sie sahen diese InternationalistInnen entweder als eine Belastung oder als einfache Arbeitsesel. Ein Beispiel: Einmal kamen welche aus Bangladesch. Sie ließen sie wie ArbeiterInnen in Höhlen und Tunneln arbeiten. Diese hatten aber auch nicht wirklich Interesse an einer Revolution und schauten vor allem darauf, was sie verdienten. Ein anderes Mal kamen SudanesInnen und Menschen aus vielen Teilen Afrikas. Sie standen am Rande der Fatah-Bewegung und arbeiteten für sie. Als wir sie ansprachen nannten sie sich „Maschinen“. Mit anderen Worten, sie arbeiteten physisch wie Maschinen. Deshalb sahen die PalästinenserInnen auch uns in dieser Kategorie. Ihre Herangehensweise an uns war schon am Anfang ein Problem. Da unsere Gruppe erst später dort ankam, kamen wir zur „besseren“ Zeit, da die FreundInnen vor uns sich schon, mit harter Arbeit und großen Mühen, Respekt und Akzeptanz verschafft hatten.

Manche wollten uns sogar mit materiellen Dingen für unsere Arbeit entlohnen. Einmal hatte der Freund Kemal Pir in einer solchen Situation zu Ihnen gesagt: „Wir sind Revolutionäre, ihr seid auch Revolutionäre. Wir können euer Geld nicht nehmen“. JedeR hatte dort für seine Arbeiten Geld bekommen: Einzelpersonen, Organisationen, etc. Später haben auch wir Geld akzeptiert, das wir ausschließlich zur Finanzierung der Arbeiten nutzten. Während wir neu waren, hatte die Fatah dort bereits eine große militärische Kraft, eine Guerilla aufgebaut. Sie war aber ungebildet und weit entfernt von Disziplin. Früher nutzten wir für solche Leute das Wort „Lumpenproletariat“. Die ApoistInnen waren aber ideologisch und politisch gebildete, disziplinierte RevolutionärInnen.

Intern bildeten wir uns ideologisch weiter, lasen und diskutierten die Parteianweisungen. Daneben kamen die Kommandeure der Fatah und gaben uns eine militärische Ausbildung. Auch die Freizeit vergeudeten wir nicht, sondern nutzten auch sie für Bildung, weshalb die PalästinenserInnen dachten, dass wir bewusst Sitzungen abhielten, um nicht arbeiten zu müssen. So etwas wie ideologische Bildung gab es bei ihnen ohnehin nicht. Gearbeitet haben die meisten auch nicht wirklich. Sie erwarteten von uns, dass wir ihre Arbeiten erledigen und für sie putzen. Wir sind jeden Tag im Morgengrauen aufgewacht, haben unser Lager geputzt und setzten uns dann zum Frühstück. Während wir dann schon frühstückten, wachten sie gerade auf und kamen einer nach dem anderen zum Frühstück.

Wir konnten dieses Verhalten damals nicht verstehen. Es gab Zeiten, in denen wir wütend wurden. Im Laufe der Zeit wurde uns klar, dass dies ihre Lebensweise war; sie lebten einfach auf diese Weise und ohne Hintergedanken. Diese Verhaltensweisen haben uns natürlich herausgefordert. Wir sagten uns: „Wenn die so sind, was sollen wir tun, wir sind gekommen, um Bildung zu bekommen. Wir müssen sie als solche akzeptieren“ und ließen uns das gefallen. Das ging so bis Juni 1982.

Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Bekaa

Wie war die militärische Ausstattung der Fatah? Wie profitierte die PKK davon? War eure Ausbildung ausreichend?

Angesichts unserer damaligen Situation haben wir sehr davon profitiert. An Individualwaffen bis zu schweren Waffen haben wir alle möglichen Bildungen bekommen. Das beinhaltete das Auseinandernehmen und die Reparatur dieser Waffen. Sie gaben uns die Standardausbildung. Es waren vor allem unsere FreundInnen, die die nötige Willenskraft zum Lernen zeigten. Sie gaben uns zum Beispiel zum Trainieren Handgranaten. Während die Ausbilder uns sagten „schmeißt die Bomben einfach nur weit weg“, stellten unsere FreundInnen Zielscheiben, wie Blechbüchsen und ähnliches auf, um die Würfe zu üben und somit die Ausbildung zu perfektionieren. Wir näherten uns mit einer viel größeren Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit an die Fragen der Zukunft unserer Armee und unseres Volkes. Sie zeigten uns auch, wie Mörser auf Paletten oder Raketen mit 40 Laufrohren genutzt werden. Sie nutzten uns viel für das Schleppen der Munition und der Waffen, aber sie haben uns auch viel beigebracht…

#Fotos: via Yeni Özgür Politika

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„Dass man den Krieg auf eine Nation beschränken könnte, das zu denken wäre naiv“, zitiert die BBC einen namentlich nicht genannten hochrangigen „westlichen Geheimdienstfunktionär“. Und weiter: „Lasst uns nicht die Augen verschließen. Wenn Russland ein Szenario irgendeiner Art beginnt, wird es auch Aktionen gegen NATO-Staaten einschließen.“ Spekulationen über einen offenen Krieg zwischen Russland und der vom Westen unterstützten ukrainischen Regierung samt Spekulationen über die Ausdehnung dieses Konflikts bis „weiter nach Europa“ haben in den vergangenen Wochen zugenommen.

Russland soll an die 100 000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine und auf die 2014 an Russland angeschlossene Krim verlegt haben. Russland habe bereits große Truppenkontigente aufgefahren und mit „psychologischen Operationen“ begonnen, erzählt der ukrainische General Kyrylo Budanov dem rechtskonservativen US-Magazin Military Times. Man erwarte einen eventuellen Angriff im Januar nächsten Jahres.

Die Verlautbarungen aus dem westlichen Politbetrieb sind einhellig: Es gehe jetzt darum, die „ukrainische Demokratie“ und die „westlichen Werte“ geschlossen hochzuhalten. Sowohl im neuen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung wie auch in den ersten Reden der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock spielt das Thema eine zentrale Rolle. In Richtung Moskau drohte sie bei ihrem Antrittsbesuch in Paris: „Die territoriale Integrität und die Souveränität der Ukraine sind für uns nicht verhandelbar. Russland würde hohen politischen und wirtschaftlichen Preis für erneute Verletzung der ukrainischen Staatlichkeit zahlen.“ Wenig später erklärte Liz Truss, die Gastgeberin des G7-Außenminister-Treffens: „An diesem Wochenende werden die einflussreichsten Demokratien der Welt Stellung beziehen gegen Aggressoren, welche die Freiheit unterwandern wollen.“ Man wolle klar machen, „dass wir eine einheitliche Front sind“.

Die Darstellung des Konflikts im bei weitem überwiegenden Teil der reichweitenstarken westlichen Presse schlägt in die gleiche Kerbe: Ein machtgieriger Autokrat, Wladimir Putin, will unprovoziert und aus reiner irrationaler Böswilligkeit einen Flächenbrand anzünden. Der uneigennützige Westen eilt der bedrohten jungen Demokratie in Kiev zur Hilfe und stemmt sich dem blutrünstigen Russen entgegen.

Doch die Geschichte geht nicht auf, wenn man auch nur ein klein wenig über den Tellerrand der „eigenen“ Kriegspropaganda blickt. Denn Russland ist zwar eine kapitalistische Autokratie, die ihre geopolitischen Ambitionen durchaus mit militärischer Gewalt behauptet. Aber Russland ist keineswegs der einzige Aggressor in dieser Auseinandersetzung.

Die permanente Erweiterung der NATO gen Osten stellt nicht nur einen Bruch von beim Zerfall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands gegebenen Zusagen an Russland dar. In Kombination mit immer wieder stattfindenden – und stets als „defensiv“ deklarierten Militärübungen im Osten, drängt sie Russland an die Wand. Dazu kommt die Einflussnahme auf diverse „Farbenrevolutionen“ im Osten, die stets zwar wenig mit „Demokratie“, aber dafür umso mehr mit Westbindung zu tun haben. Die Ukraine ist dafür ein gutes Beispiel: Immer noch ist sie fest in der Hand von „Geschäftsmännern“ – auch der aktuelle Präsident, Wladimir Alexandrowitsch Selenski, verlor im Zusammenhang mit den panama papers sein Image als vermeintlicher „Saubermann“. Militärisch bestimmt wird das Geschehen unter anderem von starken faschistischen Formationen, etwa dem offen neonazistischen Regiment Azov, das dem Innenministerium unterstellt ist. Finanziert wurde sowohl das Nazi-Regiment wie auch der derzeitige Präsident unter anderem von dem dubiosen Oligarchen Igor Kolomoisky.

Die Ukraine wurde von den USA und ihren Partnern hochgerüstet: Panzer, Panzerabwehrwaffen und türkische Kampfdrohnen. Noch im Oktober fanden im Westen der Ukraine Militärübungen mit NATO-Beteiligung statt.

Was der Westen betrieb, war also keineswegs irgendeine Demokratisierung. Man ersetzte einfach einen an Russland angebundenen Statthalter durch diverse an den Westen angebundene Marionetten.

Und Russland reagiert äußerst „westlich“, nämlich so, wie es die USA seit je her nicht nur in ihrem deklarierten „Hinterhof“ Südamerika, sondern weltweit tut. Mit der organisierten Destabilisierung der Ukraine bis hin zur militärischen Intervention. Die berühmt-berüchtigte Wagner-Group und die bewaffneten Männer ohne Hoheitsabzeichen unterscheiden sich in ihrer Praxis nicht von den US-amerikanischen Kontras in Lateinamerika oder der Söldnerfirma Blackwater.

Was Putin erzwingen will, ist ein Rückzug der NATO-Front – also eine Zusage, dass es keine Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis geben wird. Und was der Westen will, ist genau diese Beitrittsperspektive auf Biegen und Brechen aufrecht zu erhalten, um die Ukraine vollends in den eigenen Einflussbereich zu integrieren. In den Worten von NATO-Generalsekretär Stoltenberg: „Wir können nicht hinnehmen, dass Russland versucht, ein System wiederherzustellen, in dem Großmächte wie Russland Einflusssphären haben, in denen sie kontrollieren oder entscheiden können, was andere Mitglieder tun können.“

Das Festhalten an der Ausdehnung des eigenen Machtbereichs auch gegen russische Drohungen wird zwar derzeit als ein „game of chess“ geframed, in dem man nur hart bleiben müsse, dann werde Putin schon klein beigeben. Aber diese Strategie birgt eine große Kriegsgefahr, die billigend in Kauf genommen wird. Denn an irgendeinem Punkt – wenn nicht bei diesem, dann beim nächsten Truppenaufmarsch – wird die Rechnung nicht mehr aufgehen. US-Amerikanische Think Tanks wie etwa das Atlantic Council haben diese Option längst in ihre Überlegungen eingeschlossen: „Sollte es nun tatsächlich zu einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland kommen, wäre es für uns sogar von Vorteil, wenn die Ukraine dem Bündnis [der NATO] angehört. Die Ukraine könnte einen ähnlichen Zweck erfüllen wie Westdeutschland während des Kalten Krieges. Das ukrainische Militär verfügt dank des Konflikts im Donbass bereits über umfangreiche Erfahrungen im Kampf gegen das russische Militär, und die NATO-Integration des Landes würde sich als nützlich erweisen.“

Deutschland wäre, sollten diese wahnsinnigen Planspiele Realität werden, auf die eine oder andere Art unmittelbar in einen militärischen Konflikt mit Russland involviert. Und die neue Ampel-Regierung stellt mit grüner Beteiligung genau das richtige Personal für einen solchen Amoklauf. Nicht allein die Reminiszenzen an Joseph Fischer, den Grünen-Außenminister, der die BRD in den ersten Angriffskrieg nach dem Faschismus führte, qualifizieren die ehemalige Partei der Friedensbewegung für den Job. Aktuell legt sie ihren Schwerpunkt auf antirussische (und antichinesische) Rhetorik, verbunden mit dem beschwören der westlichen Wertegemeinschaft. Baerbock stellt dabei noch Sanktionsandrohungen in den Mittelpunkt der Durchsetzung des deutschen Interesses. Die Hardliner der Partei dürfen indessen den Diskurs schon etwas in Richtung Krieg verschieben: Der NATO-Beitritt der Ukraine sei nicht verhandelbar, so Omid Nouripour, ein Transatlantiker, der sich zuvor auch für den rechten Militärputsch des mittlerweile geschassten Anez-Regimes in Bolivien in die Bresche geworden hatte. „Wir dürfen Russlands aggressives Verhalten nicht auch noch dadurch belohnen, dass wir der Ukraine die Nato-Perspektive wieder entziehen“. Nouripour befürworte die Verlegung von NATO-Truppen in den Osten. Und für den Fall eines Einmarsches Russlands seien „alle Mittel auf dem Tisch“.

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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oder: Was macht(e) die Bundeswehr in Afghanistan

Gastbeitrag von Antimilitaristischen Gruppen aus Berlin

Dies ist kein Beitrag über die Bundeswehr im Auslandseinsatz generell. Die Bundeswehr sammelt seit spätestens 1993 in Somalia erste Kriegserfahrungen, mit dem Einsatz in Jugoslawien wurde 1999 erstmals wieder Krieg – wenn auch noch nicht so bezeichnet – von deutschem Boden aus geführt. Dies ist ein Text über den bislang längsten und umfangreichsten Bundeswehreinsatz, der 2001 begann und erst vor wenigen Wochen mit viel Ach und Krach beendet wurde.

Nach den Anschlägen 2001 in New York und Washington wurde als erste Vergeltungsmaßnahme der Nato-Bündnisfall ausgerufen. Die Anschläge wurden als Angriff auf ein Mitglied der Kriegsallianz gewertet und damit als Angriff auf alle verstanden. Dies stellte für die westliche Militärbündnisgeschichte eine Zäsur dar. Kurz darauf machten sich die westlichen Bündnismächte auf, Afghanistan – das als Hort des Terrorismus auserkoren wurde – mit Krieg und Besatzung zu überziehen. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2003 im Irak. Nur diesmal nicht vom Nato-Bündnisfall gedeckt, sondern von einer „Koalition der Willigen“ vollzogen und ohne direkte deutsche Beteiligung.

Dass die Bundesrepublik als Nato-Mitglied ihre Bündnispflichten erfüllen musste, war nicht der Grund für die Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Es war vielmehr eine willkommene Gelegenheit, die Bühne der global player auch im Tarnfleckoutfit zu betreten, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Deshalb schickte sich die Propagandamaschine an, die noch nicht vollends an Kriegseinsätze gewöhnte bundesdeutsche Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass Krieg führen ein gängiges Mittel deutscher Außenpolitik ist. Und wie schon 1999 begann der Kriegseinsatz der Bundeswehr 2001 mit einer Lüge. Anders als damals wurden aber nicht Hufeisenpläne und konzentrationslagerähnliche Zustände erfunden, sondern von einem humanitären Einsatz zum Schutz der Frauen und zum Bohren von Brunnen schwadroniert. Zehn Jahre nach Kriegsbeginn wurde zu diesem Zweck sogar die bundesdeutsche Entwicklungshilfe militarisiert. Ehemals zivilen Entwicklungshilfeeinrichtungen wurden zur GIZ GmbH – der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit – fusioniert. Sie soll sicherstellen, dass bundesdeutsche Mittel nur dann vergeben werden, wenn damit eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundeswehr im Einsatz einhergeht. Dies alles nur, um die eigentlichen Kriegsgründe zu verschleiern: Die Freude darüber, die erste größere Nebenrolle mit Aussicht auf weitere Engagements im Theater der kriegsführenden Nationen zu spielen.  Gleichzeitig auch Bereitschaft dafür zu zeigen, zur Sicherung der eigenen Interessen auch militärisch einzustehen.

Wer anderes behauptet, dem konnte diese Behauptung Kopf und Kragen kosten – mustergültig durchexerziert am am Beispiel des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Dieser hatte sich im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio erdreistet, eine Wahrheit gelassen auszusprechen. „[… E]in Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“ Kurz gesagt: Krieg führen, damit es der deutschen Wirtschaft gut geht. Für diese einfache Wahrheit schien die bundesdeutsche Öffentlichkeit noch nicht bereit, dafür die Suche nach einem neuen Bundespräsidenten.

Doch bereits im März 2010 hatte der ehemalige Gebirgsjäger und damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg davon gesprochen, dass Mensch bei dem, was die Bundeswehr in Afghanistan mache, durchaus „umgangsprachlich“ von Krieg reden könne. Und das nachdem sein Amtsvorgänger Franz Josef Jung zurückgetreten war. Grund für den Rücktritt war die Bombardierung zweier Tanklastzüge nahe Kunduz. Auf Befehl von Oberst Klein wurden bei diesem ersten Kriegsverbrechen seit dem 2. Weltkrieg 142 Zivilisten ermordet.

Vielleicht läuteten nach diesem Tabubruch von zu Guttenberg bei Köhler die Glocken. Vielleicht dachte er sich, wenn jetzt schon in der Bundeswehr-Einsatz ein Stückchen weiter ins rechte Licht gerückt werden kann, wieso dann nicht auch gleich den eigentlichen Grund klar und deutlich benennen. Wir werden es nie erfahren. Wessen wir uns aber sicher sein können, ist, dass bei ähnlichen Fauxpas weiterhin Politiker*innen-Köpfe unter das Schafott der öffentlichen Meinung gelegt werden würden. Das Gegenteil kann gerne bewiesen werden: Als Anlässe schlagen wir z. B. die Entsendung der Fregatte Bayern ins Südchinesische Meer oder die seit zwei Jahren stattfindenden Defender-Europe-Manöver vor.

Dass aber auch der Kriegsminister zu Guttenberg bald ins Straucheln kam und letztendlich gefallen ist, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Das lag aber nicht an dem feinen Näschen des ehemaligen Elitesoldaten für kriegerische Angelegenheiten. Immerhin kam seine Äußerung nur wenige Tage vor dem sog. Karfreitagsgefecht 2010. Diese erste länger anhaltenden Kampfhandlung unter deutscher Beteiligung brachte der bundesdeutschen Öffentlichkeit bei, dass Bundeswehrsoldaten nicht nur in der Lage sind, andere zu töten, sondern auch, getötet zu werden. Zu Guttenberg ist darüber gestolpert, weil rauskam, dass er bei seiner Doktorarbeit beschissen hatte. Und ein Kriegsminister, der sich bei Lügen erwischen lässt, ist für den Job nicht zu gebrauchen. Es sei denn, er lügt im Sinne der politischen Propaganda

Aber lange Rede, kurzer Sinn: Aus bundesdeutscher Perspektive ging es in Afghanistan nie darum, Freiheit and democracy nach Afghanistan zu bringen. Spätestens nach der Halbzeit des Einsatzes war klar, dass sog. Entwicklungshilfe, Brunnenbohren und Schulen bauen und all die anderen Elemente dieser Aufstansbekämpungsstrategie in Afghanistan nicht fruchten würde. Deshalb wurde ab 2014 auch der ISAF-Einsatz beendet und von der Mission Resolute Support, die den Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte zum Ziel hatte, gestartet. Im April 2021 wurde bekannt, dass auch dieser Einsatz beendet wird und alle westlichen Truppen bis September abgezogen werden und das Land seinem Schicksal überlassen wird.

Dass durch den Abzug der Truppen kurz- bis mittelfristig die Taliban wieder an die Macht kommen würden, war allen klar. Denn niemand hat ernsthaft damit gerechnet, dass es gelungen wäre, eine Demokratie nach westlichem Vorbild in Afghanistan zu etablieren. Dies zeigen schon die verschiedensten Beispiele aus der Kolonialgeschichte, die bis heute auch die verschiedenen Geschichten von wirtschaftlicher Unsicherheit, kriegerischen Auseinandersetzungen, von Flucht und Vertreibung prägen. Ein Vorhaben wie in Afghanistan konnte nicht klappen. Und wir unterstellen den verantwortlichen Planer*innen, dass ihnen das auch sehr schnell bewusst gewesen sein muss. Deshalb offenbaren die Bilder der verzweifelten Menschen am Flughafen in Kabul, die in die Besatzer ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben gesetzt haben, die grausame Perfidie des Krieges aufs Neue. Es ging nie um die Interessen der Menschen in Afghanistan, sondern immer nur um die Interessen der verschiedenen Akteure im Theater dieses Krieges. Dass die Grausamkeit der westlichen Akteure nun tatsächlich soweit reicht, dass nur unter großem Murren und Bohei dazu bereit sind, Menschen, die während der Besatzungszeit mit ihnen kollaboriert haben, Asyl zu gewähren, ist dennoch erschreckend. Statt dessen droht die derzeitige Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer offen damit, künftige Einsätze in Afghanistan, sollte es sie jemals geben, nur noch aufs Brunnenbauen zu beschränken. Gleichzeitig wird aus dem Entwicklungshilfeministerium versprochen ihre Unterstützungsleistungen einzustellen. Wer jetzt denkt, wieder an den Anfang des Textes gerutscht zu sein, irrt sich. Wie die Geschichte weiterginge, sollte es tatsächlich soweit kommen wie angedroht, dürfte sich aber dennoch dort nachlesen lassen.

Aus dem Schock der Bilder vom Kabuler Flughafen heraus, ist es nur allzu verständlich, die sofortige Evakuierung aller Menschen zu fordern. Es ist der Ausdruck eines mitmenschlichen Gefühls, nach Möglichkeit andere Menschen aus lebensgefährlichen Situationen zu helfen. Es ist ein Appell an die Vernunft, die das Menschenrecht auf Asyl einräumt. Es ist aber auch ein Ausdruck der Verzweiflung, Forderungen an diejenigen zu richten, die die Misere maßgeblich verursacht haben.

Einzelne Stimmen aus Afghanistan – die der RAWA (Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans), der Solidaritätspartei und von Malalai Joya – haben immer gefordert, diese Besatzung sofort wieder zu beenden. Denn eine „Befreiung“ von Taliban und Warlords durch Krieg und Besatzung kann keine Befreiung sein, die ihren Namen verdient. Diese Einschätzung hat sich bewahrheitet. Gleichzeitig haben sie an uns gerichtet appelliert, den Krieg in Afghanistan dort zu beenden, wo er begann: vor unserer Haustür. Dieser Forderung sind wir bis dato nicht nachgekommen, sollten sie aber auch angesichts der Bilder aus Afghanistan nicht vergessen.

Die Grausamkeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung lassen sich mittel- und langfristig nicht durch Evakuierungsmaßnahmen lösen. Schon gar nicht, wenn sich die Appelle an diejenigen richten, die die Lage verursacht haben. Einigen wenigen mag dadurch geholfen werden, das Problem als solches wird aber nicht gelöst. Die Kunst besteht darin, nicht so zynisch zu werden wie diejenigen, die für die Misere verantwortlich sind. Wir sollten aber aber auch nicht vergessen, dass es Dinge gibt, die wir tun können, die über kurzfristige Forderungskataloge hinausreichen.

Denn die Zeit wird kommen, in der Afghanistan nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Vielleicht ist es dann an der Zeit, die Evakuierung der Menschen aus Mali zu fordern. Oder aus Somalia. Oder aus dem Libanon. Oder von irgendwo sonst, wo die Bundeswehr prominent ihren Kriegseinsatz beendet.

Oder wir fassen uns ein Herz und packen das Übel an der Wurzel. Eine bessere Welt für Alle ist nur möglich ohne Bundeswehr. Sollte der verschobene Große Zapfenstreich zum Ende des Afghanistaneinsatzes noch nachgeholt werden, sind wir gefordert, dieses widerliche Militärspektakel nicht unkommentiert geschehen zu lassen. Aber auch darüber hinaus, sollten wir jede Angriffsfläche nutzen, die sich uns bietet, um der Bundeswehr ein für alle Mal den Gar aus zu machen. Vom Werbeplakat an an der Bahnhaltestelle über Niederlassungen von Kriegsgewinnlern wie Rüstungsunternehmen, Crossmedia und Castenow bis zu öffentlichen Bundeswehrauftritten in Jobcentern, Schulen und Gelöbnissen.

Beteiligt euch an den Antimilitaristischen Protesten:

23.09. 21| 18:00 Uhr  Kohlfurter Str.  41 | Kiez-Demo gegen „Crossmedia“
14.10. 21 | Ort: tba |  Antimilitaristische Demo gegen den großen Zapfenstreich der Bundeswehr

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Es ist ein Phänomen der kapitalistisch geprägten Medienwelt, dass der Scheinwerfer oft nur auf einen bestimmten Punkt und ein bestimmtes Thema gerichtet wird. Wenn irgendwo etwas Aufsehenerregendes geschieht, wird das Ereignis tage- und wochenlang durchgehechelt – allerdings meist ohne jedes Verständnis für historische Hintergründe, gesellschaftliche Prozesse und Ursachen. So geschieht es aktuell mit dem Thema Afghanistan. In der Aufregung um die verpatzten Evakuierungen gehen tiefer gehende Fragen verloren. Um die geht es im Interview mit Luca Heyer. Er ist Politikwissenschaftler und aktiv bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen

Nach 9/11 hat der Westen 20 Jahre unter US-amerikanischer Führung in Afghanistan vorgeblich den Terror bekämpft, was jetzt mit einem ebenso überraschenden wie schmählichen Finale seinen Abschluss fand. Wie fällt Deine Bilanz dieses Krieges aus?

Dieser Krieg zeigt, was auch bereits andere Kriege zuvor zeigten: Frieden lässt sich nicht durch Krieg erzwingen, Menschenrechte und Demokratie ebenso wenig. Keines der Ziele wurde nachhaltig erfüllt. Der Preis dieses Krieges ist jedoch enorm hoch: Mehr als 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Eine noch viel höhere Zahl von Menschen ist auf der Flucht. Insgesamt ist die Bilanz erschütternd.

Die Debatte über die Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung bei den Evakuierungen der sogenannten Ortskräfte haben verhindert, dass der Einsatz als Ganzes kritisch beleuchtet wurde. Siehst Du das auch so?

Ja. Die dramatischen Ereignisse im August gehen ja unmittelbar zurück auf politische Fehlentscheidungen, die zum Teil vor 20 Jahren, zum Teil während der letzten Monate getroffen wurden. Das betrifft zum einen die Entscheidung, überhaupt im Afghanistan-Krieg mitmischen zu wollen: Entgegen zahlreicher Warnungen und Proteste aus der Friedensbewegung gab man sich der Illusion hin, Menschenrechte und Demokratie könnten militärisch von außen quasi erzwungen werden. Im Laufe der Jahre trugen alle Parteien, die an der Regierung beteiligt waren, also SPD, Grüne, CDU/CSU und die FDP, diesen Einsatz mit – ein Fehler, wie man eigentlich spätestens jetzt einsehen müsste.

Andere Fehler, die zu der dramatischen Lage im August führten, lassen sich direkt der aktuellen Bundesregierung zuschreiben: Bereits vor einem halben Jahr gab es außerparlamentarische Appelle und parlamentarische Anträge der Linken und der Grünen, man müsse die afghanischen Ortskräfte schnell und unbürokratisch aufnehmen. Das wäre damals noch einfacher und ohne einen weiteren Militäreinsatz möglich gewesen. Seitens der Bundesregierung fehlte einfach der politische Wille. Stattdessen wurden sogar noch – wie im übrigen seit Jahren – Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Da wirkt der Militäreinsatz im August gleich doppelt heuchlerisch.

Wegen ihrer aktiven Rolle bei den Evakuierungen steht die Bundeswehr momentan in der bundesdeutschen Öffentlichkeit fast als Freund und Helfer dar, konnte das Ganze offensichtlich für die Aufbesserung ihres Images nutzen. Ist das nicht paradox?

Definitiv. Dabei wäre der Einsatz gar nicht nötig gewesen, wenn man rechtzeitig für sichere Fluchtwege gesorgt hätte. Außerdem ist die Bundeswehr keineswegs Freund und Helfer. Sie hat nicht nur eine Menge Menschen, die mit ihr in den letzten 20 Jahren zusammengearbeitet haben, fallen gelassen, sondern ja selbst auch Unschuldige getötet in diesem Krieg. Exemplarisch wäre da der Luftangriff bei Kunduz zu nennen: 2009 starben dort nach einem Bombenabwurf, den der Bundeswehroberst Klein zu verantworten hat, mehr als 100 Menschen, darunter auch Zivilisten und Kinder. Das scheint aktuell leider in Vergessenheit zu geraten.

In Presse, Funk und Fernsehen sowie den sozialen Medien waren eine Menge Bilder von Soldaten zu sehen, vor allem von der US Army, die Kinder auf dem Arm haben. Die Fotos wirken natürlich durch den Kontrast. Ist hier nicht offenbar die Gelegenheit genutzt worden, die am Afghanistan-Desaster beteiligten Truppen von jeder Schuld reinzuwaschen?

Ja, dieser Eindruck entsteht zumindest. Medial wurde das auch so transportiert. Durch diese Bilder wurde auch eine vermeintliche Handlungsfähigkeit in diesem sinnlosen Krieg suggeriert, die so aber nie bestand. Die Nato-Präsenz am Flughafen diente daneben letztlich der Priorisierung der Flüchtenden. Während ehemalige Ortskräfte von Spezialkräften in den Flughafen geschleust wurden, hielten gleichzeitig andere Nato-Kräfte mit Schusswaffen und Tränengas in Kooperation mit den Taliban andere Flüchtende vom Betreten des Flughafens ab, wobei auch Menschen umkamen. Eigentlich eine weniger rühmliche Geschichte…

Die Bild-Zeitung nannte die bei den Evakuierungen eingesetzten Bundeswehr-Soldaten in den vergangenen Tagen nur noch „Helden“. Auch eine Aktion der umstrittenen Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr in Kabul wurde bejubelt. War der Einsatz eine willkommene Gelegenheit für das KSK, die Vorwürfe der letzten Monate vergessen zu machen?

Ja, das war auch schon im Juni zu beobachten. Damals wurde das KSK zum ersten mal wieder in den Einsatz geschickt und zwar nach Afghanistan, während die Aufarbeitung des gewaltigen Munitionsdiebstahls und die Verstrickung in rechte Netzwerke am laufenden Band neue Skandale zutage förderten, beispielsweise die Möglichkeit gestohlene Munition anonym und straffrei zurückzugeben oder Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben. All das ist bis heute nicht vollumfänglich aufgeklärt – insbesondere der Verbleib von zehntausenden Schuss Munition oder die Rolle des Sicherheitsunternehmens Ferox. Dennoch entschied die Bundesregierung, das KSK wieder in Einsätze zu schicken, vermutlich auch in der Hoffnung, den Ruf der Einheit durch Aktionen wie im August reinzuwaschen.

Dient die ganze Debatte um die Evakuierungen und die Ortskräfte am Ende nicht auch dazu, die Ursachen des Scheiterns in Afghanistan zu verdecken? Also etwa, dass der Einsatz auf das Militärische verengt worden ist und Militärs nicht dazu befähigt sind, wirklich irgendetwas aufzubauen.

Demokratie und gesellschaftlicher Fortschritt können nicht mit Kriegen von außen aufgezwungen werden. Das muss die Lehre aus diesem sinnlosen Krieg sein. Der Einsatz war nicht zu sehr auf das Militärische verengt. Ich würde da weiter gehen: Es war ein Fehler, die Probleme in Afghanistan überhaupt militärisch lösen zu wollen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und andere sehen den Einsatz nicht als gescheitert an und meinen, die Konsequenz müsse sein, die militärische Selbstständigkeit der EU zu stärken. Was meinst Du dazu?

Das ist gefährlicher Blödsinn, der früher oder später wieder zu einem ähnlichen Scheitern wie in Afghanistan führen wird. In Mali steuern wir zum Beispiel unter EU-Federführung – also ohne die USA – auf ein ähnliches militärisches Desaster zu. Die Ziele wurden bislang verfehlt, die Sicherheitslage verschlechtert sich zunehmend und die von EU-Militärs ausgebildete malische Armee hat seit 2020 zwei mal geputscht. Man sollte einfach einsehen, dass die militärischen, vermeintlich humanitären Auslandseinsätze, die seitens der EU und der Nato die letzten 25 Jahre verstärkt durchgeführt werden, an sich nicht für Stabilität, Demokratie und Menschenrechte sorgen – im Gegenteil. Sie verschlingen Unsummen und führen zu Flucht, Instabilität, wirtschaftlicher Armut und vielen Toten. Wir müssen diese Einsätze nicht ohne die USA durchführen oder um mehr zivile Komponenten ergänzen, sondern wir müssen solche Einsätze umgehend beenden.

# Titelbild: Artillerieeinsatz der US-Armee am 20. Dezember 2018, US-Department of Defense

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“Bosnia grave of the doomed.” Der Spruch, einer der wenigen auf Englisch, steht an der Wand eines Gebäudes in der Stadt Bihac im nördlichen Kanton Una-Sana, nur 10 km von der kroatischen Grenze entfernt.
Er macht deutlich, dass die Balkanroute nicht nur hier durchführt, sondern hier auch endet. Europa liegt dort drüben, jenseits der Berge, die den Blick nach Westen versperren und ein klaustrophobisches Gefühl vermitteln. Mit knapp über 60.000 Einwohner*innen ist Bihac zu einem Grenzaußenposten geworden.

Die Grenze davor ist eine der am meisten kontrollierten auf der Route. Anders als Ungarn, das eine unpopuläre Mauer errichten ließ, schützt sich Kroatien mit einer Hightech-Ausrüstung aus Drohnen, Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras. Trotz moderner Technik sind die Methoden immer noch die alten: Es ist überall bekannt, dass die kroatische Grenzpolizei geflüchtete Menschen verprügelt und ihres Geldes, Handys, Schuhe und Kleidung beraubt, bevor sie sie zurück nach Bosnien abschiebt. All das mit Zustimmung der europäischen Institutionen, subventioniert aus Gledern der EU (108 Millionen für die Jahren 2014-2020, Ende 2018 noch um 6,8 Millionen aufgestockt) und unter Missachtung des internationalen Rechts, das eine Überprüfung der Asylanträge vorschreibt. Für Menschen, die illegal nach Europa einreisen müssen wird Bosnien immer mehr zu einer Sackgasse, in der sie Monate und Jahre ihres Lebens verlieren.
Gewissheit, wieder herauszukommen, haben sie nicht.

Viele kommen aus dem Iran, Irak und aus afrikanischen Ländern, die meisten jedoch aus Pakistan und Afghanistan. Wie Sakine, eine 36-jährige Afghanin, die der schiitischen Minderheit der Hazara angehört. Sie durchquerte den Iran, die Türkei, Griechenland, Albanien und Montenegro, aber seit Monaten sitzt sie an der kroatischen Grenze fest. „Wir versuchen es seit fast einem Jahr, wir sehen kein Ende”, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann Jawad und ihren 4- und 8-jährigen Töchtern haben sie mehr als 30 Mal versucht, Europa zu erreichen. Dort möchten sie den Mädchen eine Ausbildung ermöglichen. Das letzte Mal nahm die kroatische Polizei ihnen alles weg und drängte sie dann mit Schlagstöcken, Tasern und Hunden zurück über die Grenze.
“Gegenüber Kroatien verlieren wir gerade unsere Hoffnung“, gesteht die Frau.

Sakine und Jawad leben mit anderen afghanischen Familien in einem verlassenen Haus in der Nähe von Velika Kladusa, der anderen Stadt des Kantons, die nahe der Grenze liegt. In Bosnien sind solche Häuser mit freiliegenden roten Ziegeln überall zu sehen. Sie werden verlassen, bevor sie überhaupt fertig sind. Die Besitzer haben entweder kein Geld mehr oder wandern einfach aus, vielleicht nach Deutschland oder Österreich. Sie wollen einem Land ohne Perspektive entkommen, in dem Durchschnittslöhne knapp 400 Euro betragen und Jugendarbeitslosigkeit bei 60 % liegt. Dass in vielen dieser Häuser auf dem Weg zwischen Bihac und Velika Kladusa nun Menschen, die Europa erreichen wollen, Zuflucht gefunden haben, gibt einem zu denken. Es scheint so, als wären die Häuser eine Art Erbe – hinterlassen von diejenigen, die vor Jahren auf der Suche nach Hoffnungen und Träumen ausgewanderten, dieser neuen Generation von „Verdammten“, die Bosnien nicht verlassen können.

Gleichermaßen erinnern die Namen der alten und neuen besetzten Gebäude in Bihac, in denen Geflüchtete in absoluter Not und ohne staatliche Unterstützung leben, an wilde Privatisierungen und Bankrotte, die nach Ende des jugoslawischen Sozialismus stattfanden: Kombitex, wo noch etwa 100 Menschen leben, war ein Textilunternehmen; Dom Penzionera, wo 300 Menschen lebten, war ein Altenheim, das aufgrund eines Korruptionsskandals nie eröffnet wurde; Krajina Metal, wo kürzlich 200 Menschen Unterkunft fanden, war eine ehemalige Fabrik für Metallteile; selbst im ehemaligen Lager von Bira, das letztes Jahr infolge von Bürgerprotesten geschlossen wurde, wurden einst Kühlschränke hergestellt. Das frühere Scheitern der produktiven Infrastruktur, die ausverkauft und zum Zusammenbruch geführt wurde, überschneidet sich nun mit dem Scheitern des Empfangssystems – wenn man es überhaupt als Empfang bezeichnen kann.

Ein Junge aus Afghanistan in der Nähe der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien

Denn während die EU darauf beharrt, geflüchtete Menschen außerhalb ihrer Grenzen zu halten, tut die bosnische Regierung ihrerseits alles, um die Lage im Kanton Una-Sana unerträglich zu machen. Der Plan ist, Regierungslager als einzige Alternative vorzuschreiben. Ins Lager von Lipa wollen aber viele Menschen nicht. Es liegt total isoliert auf einer Hochebene 28 km von Bihac entfernt, zu weit von der Grenze entfernt, die sie überqueren wollen und zu Fuß erreichen müssen. Der Lager untersteht der SFA (Service for Foreigner’s Affairs) und wird nach einem Brand im vergangenen Dezember weiter ausgebaut. Untergebracht sind in ihm derzeit 600 Personen, bei einer Kapazität von 900 Personen hat die Regierung 30 Militärzelte, eine gleiche Anzahl von chemischen Toiletten und einige medizinische Container aufgestellt, in denen hauptsächlich Schmerzmittel verteilt werden. Als Mitte Juli die Touristensaison begann und die Räumung einiger großer von Geflüchteten besetzen Gebäude – darunter auch Krajina Metal – stattfand, machten sich Menschen, die in das Lager deportiert worden waren, auf den Weg nach Bihac zurück. Sie gingen wieder in informelle Unterkünfte: Gebäude und Zeltlager ohne Strom und Wasser und mit kritischen hygienischen Bedingungen. Verschärft wird diese Lage durch das Verbot von Hilfeleistungen (einschließlich medizinischer Versorgung) und der Verteilung grundlegender Güter außerhalb der Regierungslager, so dass internationale NGOs und Gruppen gezwungen sind, im Verborgenen zu arbeiten.

Der Versuch, die Grenze zu überqueren, scheint so als einzige Möglichkeit. Selbst für diejenigen, die erschöpft einen Asylantrag in Bosnien stellen möchten, sind die Fristen so lang, dass sie davon abgeschreckt werden: 300 Tage für die Formalisierung des Antrags, 400 Tage für die erste Anhörung, die einen aus der Illegalität holen könnte. Es gibt nur “the game”, wie Geflüchtete die Grenzüberquerung nennen: Gewinnt man, ist man in Europa; verliert man, verliert man alles, manchmal sogar sein Leben – wie der fünfjährige afghanische Junge, der am 30. Juli im Fluss Una ertrank, als er mit seiner Familie versuchte, Kroatien zu erreichen. Der Anteil von denen, die es schaffen, ist sehr gering, die Verzweiflung und Zähigkeit aber so groß, dass sie als letzte Form des Widerstands erscheint. An dieser Grenze kämpfen Menschen nur mit ihrem eigenen Körper, gegen Müdigkeit, Schläge, Wunden. Eine Chance haben hier, wie anderswo auch, nur diejenigen mit Geld: 3.500 Euro kostet ein “taxi game”, damit kann man mit dem Auto Italien erreichen. Allen anderen bleibt nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zu machen, nachts, manchmal über Felder, die noch vom Krieg vermint sind. Von hier bis Triest sind es zwölf Tage Fußmarsch und drei Grenzen, an denen man geschlagen, abgeschoben und zum Ausgangspunkt zurückgebracht werden kann, zurück nach Bosnien, dem Grab der Verdammten.

#Text und Bilder: Elisa Scorzelli und Fabio Angelelli

Ursprünglich erschienen auf italienisch in il manifesto unter dem Titel „Benvenuti in Bosnia, la tomba dei dannati“

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Die Massenproteste gegen die Zwangsräumungen von Palästinenser:innen in Sheikh Jarrah und die weltweiten Solidaritätsdemonstrationen haben auch im internationalen Diskurs eine Verschiebung eingeleitet – nur Deutschland und Österreich hinken hinterher, meint unser Gastautor Marik Ratoun.

Viel läuft schief in der hiesigen Diskussion über die aktuellen Entwicklungen in Palästina-Israel: In den letzten Wochen hat das hochgerüstete israelische Militär in Gaza gezielt dichtbevölkerte Wohnviertel bombardiert, kritische Infrastruktur zerstört (darunter das einzige Corona Testzentrum in Gaza, Mediengebäude, Schulen, Straßen, die zu Krankenhäusern führten etc.) und 219 Menschen, darunter 63 Kinder, ermordet. In deutschen Medien – zwischen linken und bürgerlichen Medien waren hier oft kaum Unterschiede zu verzeichnen – standen allerdings nicht diese Kriegsverbrechen im Vordergrund, sondern der Raketenbeschuss des bewaffneten Arms der Hamas auf israelische Städte, bei dem 28 Menschen ums Leben gekommen sind. Daneben waren antisemitische Geschehnisse vor Synagogen Thema sowie die vielen Demonstrationen gegen die koloniale Gewalt in Palästina am Tag der Nakba (15.05). Gezielt wurden die fortschrittlichen Demonstrationen, deren Organisator*innen sich zuvor eindeutig von Antisemitismus und Faschismus distanziert hatten, unter die antisemitischen Geschehnisse subsumiert.

Was wir in der deutschen Berichterstattung und den apologetischen Reflexen der meisten bürgerlichen Politiker*innen beobachten können, ist eine Weigerung die Realität der Apartheid und der siedlerkolonialen Gewalt in Palästina-Israel anzuerkennen. Die bedingungslose „Solidarität mit Israel“ scheint ein verzweifeltes Aufbäumen zu sein gegen diese Realität und gegen den fortschreitenden Wandel im weltweiten Blick auf die Situation, der sich verschiebt. Überall hat es große Demonstrationen in Solidarität mit den Palästinenser*innen gegeben. In Berlin waren mehr als 15.000 auf der Straße, in London waren es gar 180.000 Menschen. Und sogar in den US-amerikanischen Leitmedien kamen Aktivist*innen zu Wort, die vor laufender Kamera sagen können, was ist. So erklärte der palästinensische Aktivist Mohammed El-Kurd bei einem Interview beim MSNBC am 11. Mai über die Entwicklungen im Jerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah: „Das ist ethnische Säuberung“. Ein MSNBC Kolumnist analysierte: „Wir müssen in der Lage sein zu sagen, dass Israels Behandlung der Palästinenser Apartheid ist. Punkt.“ Dies war bei den früheren Gewaltausbrüchen unvorstellbar. Auch einige Politiker*innen der demokratischen Partei verurteilten die israelischen Angriffe weit schärfer, als es bisher toleriert wurde. Diese Sag- und Hörbarkeit palästinensischer antikolonaler Perspektiven ist eine Folge der jahrelangen Organisierung palästinensischer und solidarischer jüdischer Aktivist*innen in den USA.

In Deutschland sind wir scheinbar noch weit entfernt, einen derartigen Wandel in der allgemeinen und linken Berichterstattung zu spüren. Der Verlust der Überzeugungskraft des israelischen Regierungsnarrativs, wonach Israel sich stets angemessen gegen Angriffe von außen selbst verteidige und „beide Seiten an der Eskalation schuld seien“ ist nach wie vor dominant.

Deshalb sollten wir daran arbeiten, dass sich das ändert. Gerade aus linksradikaler Sicht ist es unsere Aufgabe, die Analyse der Palästinenser*innen populär zu machen und nach außen zu tragen. Denn sie haben vor allem in Deutschland keine großen Lobbyorganisationen oder kraftvollen politischen Kanäle, die ihre Sicht auf die Dinge hörbar machen könnten. Aber sie haben die Bewegung, sie haben uns. Umso wichtiger ist es, dass wir ihre Stimmen verstärken und unterstützen: Es ist Zeit, dass wir beginnen, das anhaltende Schweigen der deutschen Linken im Angesicht der mehr als 70 Jahre andauernden Unterdrückung der Palästinenser*innen zu beenden. Es ist Zeit, dass wir uns eine kritische und sachkundige Analyse und Beschreibung von den Entwicklungen in Palästina-Israel aneignen, statt untätig im Paradigma der „beiden Streithähne aus Nahost“ und der „Selbstverteidigung Israels“ zu verharren. Die Wörter, die wir benutzen, um die Entwicklungen zu beschreiben, haben in diesem Befreiungskampf eine herausgehobene Stellung: Weil die Palästinenser*innen sich angesichts der israelischen Gegenmacht nicht selbst befreien können, appellieren sie an die Welt, sie nicht im Stich zu lassen. Und hierzu gehört auch, sich vehement gegen die fabrizierte Verteidigung der andauernden Kolonisierung palästinensischen Lands zu stellen.

Nicht erst der Bericht von Human-Rights-Watch vom 27. April 2021 hat gezeigt, dass es in Palästina-Israel nicht einfach um ein bisschen Diskriminierung, sondern glasklare Apartheid, d.h. strukturelle ethnische Separation, geht. Seit Jahrzehnten sprechen palästinensische Aktivist*innen im Angesicht von Mauern, Checkpoints, ethnischer Säuberung und Vertreibung, rassistischen Gesetzesregimes (für Palästinenser*innen in Israel gilt israelisches Zivilrecht, für Palästinenser*innen unter Besatzung Militärrecht) und der Einkreisung der arabischen Städte in der Westbank von Apartheid, ohne jedoch Gehör zu finden. Genauso ist inzwischen den meisten progressiven Kreisen (außerhalb von Deutschland und Österreich) klar, dass die Natur des Konflikts keine religiöse, sondern eine siedlerkoloniale ist. Die Pogrome gegen Palästinenser*innen innerhalb von Israel durch zionistische Siedler*innen, mit Rückendeckung der Polizei, die regelmäßigen Angriffskriege auf Gaza, die Militärgewalt in der Westbank, all das ist Teil der siedlerkolonialen Gewalt. Diese Gewalt hat die Funktion, den Zugriff auf Land und Territorium für die Siedlergesellschaft zu ermöglichen, indem das Land von der indigenen Bevölkerung zur Siedlergesellschaft übergeht („ethnische Säuberung“).

Und schließlich wird es Zeit, dass wir die Tragweite der letzten Wochen für die palästinensische Befreiungsbewegung anerkennen. Sowohl die palästinensischen Fraktionen als auch die Israelis und internationale Beobachter*innen waren vor allem überrascht von einem Aspekt: der Einheit der Palästinenser*innen. Auch nach mehr als 100 Jahren „teile und herrsche“ und nach jahrelanger politischer Separation demonstrierten Menschen in Gaza für Sheikh Jarrah (Jerusalem) und Menschen in Haifa für Gaza. Die Palästinenser*innen organisierten Demonstrationen unabhängig von den korrupten politischen Eliten und riefen zu einem massiven Generalstreik im ganzen historischen Palästina am 18.05 auf.

Diese Proteste, die vereinzelt und womöglich verfrüht als „Intifada der Einheit“ beschrieben werden, sind eine historische Zäsur. Die neue Generation der Palästinenser*innen, die nur die Stagnation seit Oslo und die brutale Zerschlagung der palästinensischen Gesellschaft während der zweiten Intifada kennt, diese Generation, die nur das regelmäßige vernichtende Bombardement von Gaza und die zerstörten Flüchtlingslager kennt, beginnt sich vom Jordan bis zum Mittelmeer zu erheben gegen ihre koloniale Unterdrückung und für die Dekolonisierung in Palästina-Israel zu kämpfen. Und wir sollten uns endlich konsequent an ihre Seite stellen. Denn wie der berühmte palästinensische Schriftsteller und Revolutionär Ghassan Kanafani einmal gesagt hat: “Die palästinensische Sache ist nicht nur eine Sache für Palästinenser, sondern eine Sache für jeden Revolutionär, wo immer er sich befindet, als Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in unserer Zeit.”

#Bildquelle: Pixabay

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Kristian Stemmler

Es war ein heißer Sommertag in den späten 80ern, ich kann mich noch gut erinnern. Die Heidefläche vor dem Haus meiner Oma in der Lüneburger Heide war knochentrocken. Wie es genau zu dem Feuer kam, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine, mein Bruder und ich wollten die trockenen Pflanzen kontrolliert abfackeln, was natürlich extrem leichtsinnig war. Jedenfalls stand eine Ecke der Fläche plötzlich in Flammen und ein Feuerring breitete sich in rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Wir, mein Bruder, ein herbeigeeilter Freund und ich, versuchten das Feuer auszutreten oder mit Decken auszuschlagen – doch wenn es an einer Stelle eingedämmt war, flammte es an einer anderen Stelle wieder auf.

Warum ich das erzähle? Weil mir diese Episode aus jungen Jahren in den Sinn kam, als ich zum Jahreswechsel – bekanntlich die Zeit, in der man gern Bilanz zieht und leicht ins Philosophieren kommt – über die Lage der Linken nachdachte. Wenn ich mir das Fortschreiten der unterschiedlichen Kämpfe im abgelaufenen Jahr 2020 ansehe, dann erscheinen mir unsere verzweifelten Versuche von damals, das Feuer einzufangen, als eine passende Analogie. Wo man heutzutage auch hinschaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen schlagen Flammen hoch oder sind zumindest Glutnester auszumachen. Wenn man meint, man habe das Feuer an einer Stelle eingedämmt, flammt es anderer Stelle wieder auf. Es ist ein Flächenbrand.

Kaum verwunderlich ist daher, dass viele radikale Linke an einer gewissen Überforderung leiden. Schon die Beurteilung der Frage, wo es am meisten brennt, wirft Probleme auf. Und von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, worauf man seinen Blick richtet und für welches Engagement man die begrenzte Zeit und Kraft einsetzt.

Unterstütze ich zum Beispiel Seebrücke, weil ich was gegen die katastrophale Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln tun will und gegen das Ertrinken auf dem Mittelmeer? Oder blockiere ich mit einer Friedensgruppe die Zufahrt zu einem Werk von Rheinmetall? Oder solidarisiere ich mich mit Baumbesetzern? Oder schließe ich mich doch einer Antifa-Gruppe an, um Nazistrukturen aufzudecken und Nazis zu bekämpfen?

Natürlich ist das jetzt etwas konstruiert, da eine solche rationale Abwägung auch im Leben von Linken eher selten vorkommt. Man kommt doch oft eher durch Freunde oder Bekannte zu einer politischen Gruppe und damit auch zu einem Thema oder auch durch ein bestimmtes Ereignis, das einen umtreibt. Nichtsdestotrotz interessiert man sich als politischer Mensch ja auch für andere Themenbereiche und versucht sich ein Bild von der Gesamtlage zu machen. Dabei kommt man leicht zu der Frage, wo die Probleme und Gefahren die größten sind, wo es „am meisten brennt“.

Das ist, kaum überraschend, nicht endgültig zu beantworten. Jede Bewegung, jeder Kampf beansprucht für sich wichtig zu sein – und das durchaus zu recht. Die Friedensbewegung kann darauf verweisen, dass von der Zivilisation nicht viel übrig bleiben wird, wenn der Frieden nicht bewahrt wird. Die Klimabewegung kann wiederum konstatieren, dass wir vom Frieden nicht viel haben, wenn die Natur zum Teufel geht. Die Antifa kann argumentieren, dass der Frieden und eine gerettete Umwelt wenig bringen, wenn die Faschisten wieder ans Ruder kommen. Und wer sich gegen Repression engagiert, kann allen drei Bewegungen entgegenhalten, dass sie eines Tages nicht mehr effektiv gegen Krieg, den Klimawandel und Nazis protestieren und kämpfen können, wenn das Versammlungsrecht weiter eingeschränkt wird und immer mehr radikale Linke im Knast sitzen.

Mit anderen Worten: Jeder Kampf hat seine Berechtigung und jeder ist wichtig. Das gilt auch für die Kämpfe, die hier noch gar nicht erwähnt wurden, also etwa in den Betrieben, gegen Rassismus, gegen den Mietenwahnsinn und die Gentrifizierung, für Hartz-IV-Empfänger*innen, Drogensüchtige, Obdachlose. Für radikale Linke gibt es alle Hände voll zu tun, es wird nicht weniger und es ist letztlich egal, an welcher Stelle sie versuchen, Flammen auszutreten, um an die Analogie vom Anfang anzuschließen. Es gibt aber folglich auch keinen Grund, die eigene Bewegung, den eigenen Kampf für bedeutsamer zu halten als andere.

Vielleicht kann man das als Wunsch fürs neue Jahr formulieren: dass sich diese Einsicht noch mehr durchsetzt. Denn noch zu oft sind die Kämpfe der Linken zu unverbunden, geradezu isoliert voneinander. Es kann und muss hier noch viel mehr zusammengeführt werden.

Eine gelingende Verbindung von Kämpfen kann aber nur da stattfinden, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es in dieser Gesellschaft zwar viele Brandnester gibt, aber nur einen Brandherd, nur eine Brandursache: den Kapitalismus. Alle in diesem Beitrag geschilderten Krisenphänomene sind auf dieses System zurückzuführen und ein gemeinsamer Kampf setzt voraus, dass man sich zuerst auf eine Agenda einig:
Der Kapitalismus muss weg, mit Stumpf und Stiel!

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium. Im vorliegenden dritten Teil geht es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Die Toleranz der Polit-Elite gegenüber NS-Verbrechen hat in Deutschland eine eigene Ökonomie. Wenn ein paar hundert Glatzköpfe sich mit Fahnen und Lautsprecherwagen die Springerstiefel in den Bauch stehen und unter der Losung „Opa war ein Held“ ein gebührendes Andenken an die Kriegsverbrechergeneration fordern, kommt so gut wie niemand auf die Idee, eine Straße nach den jeweiligen Großvätern zu benennen.

Nun ist aber Michael Stoschek kein Hängengebliebener ohne Haupthaar, sondern einer der reichsten Deutschen. Und auch der Milliardär Stoschek hat einen deutschen Opa. Der hieß Max Brose. Und auch den wollte der Coburger Stadtrat zunächst nicht ehren, weil der Herr Großpapa typisch für seine soziale Schicht am großen deutschen Konjunkturprogramm von 1933 bis 1945 ganz reichlich teilgenommen hatte. Aber das wiederum beleidigte den Michael Stoschek. Nur weil der Opa an Zwangsarbeit verdiente, Rüstung für Hitlers Weltmachtstreben produzierte, NSDAP-Mitglied und „Wehrwirtschaftsführer“ war, konnte ihm doch keiner die Straße verwehren. Wo kämen wir da hin?

Der Herr Stoschek entschloss sich also, nunmehr weniger von dem Geld, das er aus dem Betrieb des Nazi-Opas geschlagen hatte, an die Stadt Coburg weiterzugeben. Und nach einiger Zeit sah man dann auch im Stadtrat ein: Non olet. Und wenn das Geld nicht stinkt, wie kann dann der stinken, der einst begann, es zu akkumulieren? Also kam 2015 doch die Ehrung und so hat die Stadt Coburg – gebührend für die „erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“, wie sie sich ab 1939 stolz nannte – nun eine Max-Brose-Straße.

Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Woher kommt so viel Patte, dass man in der Lage ist, eine Stadt zu erpressen, eine Straße nach dem eigenen Nazi-Opa zu benennen? Die Antwort ist: Letztinstanzlich von eben jenem Nazi-Opa. Denn Max Brose begründete eine Unternehmensdynastie und der gehört eben auch noch sein Enkel Michael Stoschek sowie dessen Schwester Christine Volkmann an.

Die ersten Anfänge sind nicht genau rekonstruiert, aber insgesamt geht der Reichtum des Clans auf die Gründung eines Unternehmens für Automobilausrüstung zurück, das der da 24-jährige Max Brose 1908 in Berlin eintragen ließ. 1919 tut sich Brose mit seinem langjährigen Geschäftspartner Ernst Jühling zusammen, und beide schlängeln sich mal erfolgreicher, mal weniger erfolgreich durch die entstehende Auto-Industrie der Weimarer Republik. Sie werden reich, aber natürlich gibt es auch Krisen.

Aber es ging immer wieder bergauf. So etwa, als 1932 ein richtig mieses Jahr war, dann aber zum Glück der deutschen Bourgeoisie Hitler kam und ab 1933 ordentlich das Business ankurbelte. Selbst der den von ihm porträtierten Unternehmerfamilien stets sehr wohlwollend gesonnene Historiker Gregor Schöllgen schreibt in seiner Unternehmensgeschichte „Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008“: „Es ist erstaunlich, wie schnell die deutsche Automobilindustrie aus dem Tief des Jahres 1932 herausfindet. […] Hinter diesem Erfolg steckt ein Name: Am 11. Februar 1933 hat erstmals ein Reichskanzler die Internationale Automobil- und Motorradausstellung in Berlin eröffnet. Es ist zugleich die erste öffentliche Amtshandlung Adolf Hitlers in seiner neuen Funktion.“

Im Juni 1933 stellt Max Brose seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wird auch noch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, im Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps“, im „NS-Reichsbund für Leibesübungen“, in der Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ sowie in der „Deutschen Arbeitsfront“. Er ist hochrangiger Funktionär der Industrie- und Handelskammer Coburg und „Wehrwirtschaftsführer“. Vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wird Brose als „national, ohne weitere Bindungen“ eingestuft. 1935 attestierte ihm Obersturmbannführer Linke in der Führerbeurteilung des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps: „Weltanschauliche Festigung: Guter Nationalsozialist“.

Kurz: ein klassischer unbelasteter und nur durch äußeren Druck sich anpassender deutscher Unternehmer, wie wir sie nur allzu gut kennen.

Brose leidet immens unter dem Nationalsozialismus: 1935 macht er sich an einen Neubau einer standesgemäßen Villa. Zuvor im Eigentum des von Nazis gefolterten und vertriebenen Juden Abraham Friedmann, wird man nach dem Krieg aber gottseidank feststellen, dass der Kauf seitens Broses voll und ganz ordnungsgemäß war. Welcher Ordnung er gemäß war, diese Frage verbot sich schon unmittelbar nach Kriegsende.

Broses Umsatz – so Schöllgen – erreicht bis 1944 „ungebremst nicht gekannte Dimensionen“. Ab 1939 beginnt Brose mit der Fertigung von Rüstungsgütern, der Krieg steht ja vor der Tür. Die Firma Brose blüht in dem Maße auf, in dem faschistische Aggressionsarmee voranschreitet. Das Repertoire: Der Klassiker, der Brose 20-Liter-Kanister; Aufschlagzünder; Panzergeschosse; Sprenggranaten. Alles mögliche, bis hin zur Luftfahrtausrüstung.

Wer produziert nun? Viele Frauen, denn Arbeiter wurden massenhaft eingezogen. Und Zwangsarbeiter:innen. Für 1942 nennt Schöllgen 200 sowjetische Kriegsgefangene, 60 Kroaten und etwa 20 Franzosen. In Broses Werk gab es von der Wehrmacht vereidigte „Hilfswachleute“ und Geschäftspartner Jühling forderte die Gestapo auf, flüchtige kroatische Fremdarbeiter:innen wieder einzufangen. In der Firma hängt nun aus: „Allen Nichtbefugten ist jeglicher Verkehr mit den kriegsgefangenen Sowjetrussen verboten!“ Und in einem namentlich von Brose gezeichneten Schreiben heisst es zum Umgang mit den Gefangenen: „Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Broses Umsatz explodiert bis 1944. Dann geht‘s mit dem Hitler-Faschismus zu Ende. Aber glücklicherweise hatte Max Brose ja mit dem Faschismus gar nichts zu tun, also hört die Unternehmensgeschichte der Broses hier nicht auf.

Alles nur Mitläufer

Der stets wohlgesonnene Auftragshistoriker Schöllgen trifft ungewollt den Punkt: Nach der Niederlage des Hitler-Faschismus war klar, dass Coburg „nicht unter sowjetische, sondern unter westliche, unter amerikanische Herrschaft gerät, und das wiederum erklärt, dass Max Brose, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist, der kommenden Entwicklung gelassen entgegensieht.“

Brose hat, das sollte die weitere Geschichte zeigen, allen Grund dazu, denn in der heraufziehenden Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus machte sich der Westen prompt an die Wiederverwendung noch nahezu jedes Nazi-Verbrechers. Es folgte zwar eine Episode, in der Brose und seinem Kumpan Jühling von den US-Behörden die Firmenleitung entzogen worden war. Die endete aber rasch. Jühling wird als „Mitläufer“ eingestuft, Brose zunächst als „Minderbelasteter“, dann ebenfalls als „Mitläufer“. Wohl bekomm‘s und weiter gehts.

1948 kehrt Brose zurück an die Firmenspitze und es geht ab ins Wirtschaftswunder, denn das – ja von wem eigentlich? – in Ruinen zurückgelassene Land will wieder aufgebaut werden. Dazu kommt, dass nach dem Krieg ja bekanntlich vor dem Krieg ist – in diesem Fall des Koreakriegs, bei dem die USA rund 5 Millionen Menschen umbrachten und der in der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Boom-Phase auslöste.

Brose positioniert sich voll und ganz auf dem Markt für Automobil-Zulieferer und kann bald expandieren. Arbeitskraft ist genügend vorhanden, Absatz auch. Und so wird die Firma Brose das, was sie heute ist, eines der Aushängeschilder der deutschen Automobilindustrie.

Billige Lohnkosten im Ausland

1968 stirbt Max Brose. Seine Tochter Gisela führt das Unternehmen einige Jahre, dann übernimmt Michael Stoschek, der heute amtierende Erbe der Familiendynastie. Damals nimmt das Unternehmen rund 1000 Arbeiter:innen aus und erwirtschaftet 50 Millionen D-Mark. Heute sind es nach Unternehmensangaben 25 000 bei einem Umsatz von 6,2 Milliarden Euro (Stand 2019).

Einen Einblick in den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten zu gewinnen, ist nicht einfach – gibt es doch gerade für die Produktionsanlagen im Ausland kaum Quellen. Wer subjektive Eindrücke aus deutschen Werken lesen will, kann das auf der Plattform kununu, auf der anonym Erfahrungen mit Unternehmen eingestellt werden können – allerdings selten von Produktionsarbeiter:innen genutzt. Wiederkehrende Themen sind: Eine auf extremem Druck basierende Arbeitskultur, miese Kommunikation, Arbeitsplatzunsicherheit durch Stellenstreichungen und Leiharbeitsverhältnisse, die den „untersten“ Teil der Arbeiterklasse bei Brose in Deutschland bilden.

Die Löhne – ist man nicht gerade Leiharbeiter – sind, wie bei allen deutschen Unternehmen von Welt, so ausgerichtet, dass es im Mutterland keinen Aufstand gibt, dafür aber eine Reihe von Fabriken in Niedriglohnländern existieren. Auch Brose hat die seit den 1970er-Jahren andauernde allgemeine Tendenz zur Verlagerung von Produktionstätigkeiten und Wertschöpfung ins Ausland mitgemacht.

1988 beginnt Brose in Großbritannien und Spanien zu produzieren. Schon damals hat die Internationalisierung klare Gründe: In Großbritannien werden „im Jahresdurchschnitt fast 110 Stunden mehr gearbeitet als in der Bundesrepublik, und das bei deutlich günstigeren Lohnkosten und einer Nutzung der Maschinen im Dreischichtbetrieb“, schreibt Schöllgen.

Und wenn das schon in Großbritannien so viel günstiger ist, wie wird es erst in Slowenien, Brasilien, Indien, China sein? Von den späten 1980ern an baut Brose sich insgesamt 64 Standorte in 24 Ländern auf. Die Mehrheit der Beschäftigten des „deutschen“ Unternehmens arbeitet heute nicht in Deutschland und nicht zu den mit der IG Metall ausgehandelten Bedingungen (auch wenn Brose selbst im Inland gelegentlich versucht, den Tarif zu untergraben).

Und was bekommt man im Ausland so? Ein Inserat für Produktionsarbeiter:innen im slowakischen Prievidza verspricht „742 bis 1000 Euro“ Brutto fürs Malochen im Dreischichtbetrieb. In Mexiko, dem Eldorado für Billigproduktion und Union-Busting, verdienen die Brose-Arbeiter:innen so wenig, dass es für den Konzern günstiger war, auf eine weitergehende Automatisierung der Produktion zu verzichten. Für einen ganzen Tag Arbeit gibt es um die 30 US-Dollar, schreibt die Wirtschaftswoche. Kein Wunder, dass dann gilt: Die Arbeiter:innen sind „durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter“ – der ist natürlich Deutscher.

Dieser Prozess der Verlagerung ins Ausland ist keineswegs abgeschlossen. Die Standorte in Niedriglohnländern, die zudem oft keine oder kaum gewerkschaftliche Organisation kennen, wird durch die sogenannte Corona-Krise beschleunigt. Während das Unternehmen bereits vor Covid-19 ankündigte, etwa 2000 Stellen in der Bundesrepublik abzubauen, meldete es in den vergangenen Jahren den Ausbau der Produktionskapazitäten etwa in China oder Mexiko.

Hilflose Gewerkschaften

Die Antwort der zuständigen IG Metall ist dürftig. Als Brose in Coburg kurzfristig Stellen abbauen will, heisst es nur: Die Gewerkschaft „beobachtet“ die Situation sorgfältig, aber man habe ja eine Betriebsvereinbarung, die bis 2024 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Und dann? Bei anderer Gelegenheit kritisierten IG-Metall-Gewerkschafter zwar die „Steinzeitmethoden“ von Brose und ähnlichen Betrieben in der Corona-Krise, aber mehr als ein Appell an einen anderen „Unternehmergeist“ war dann auch nicht drin. Im Oktober 2020 wurde kurz symbolisch gestreikt – aber auch das bleibt völlig wirkungslos.

Am Ende geht es der IG Metall um die Aushandlung von „sozial verträglichem“ Arbeitsplatzabbau, Abfindungen und langsamen Kündigungen. Brose bezahlt die für die Abwicklung nötigen Summen aus der Porto-Kasse. Und wer erwirtschaftet die? Na die Arbeiter:innen in Produktionsstandorten irgendwo anders, die fortan für deutlich niedrigere Lohnkosten produzieren.

Michael Stoschek kann den Gewerkschafts“widerstand“ jedenfalls gelassen sehen. Während die IG Metall Pressemitteilungen ohne erkennbare Wirkung schreibt, sammelt der Brose-Erbe Sportwagen und lässt sich auf Ferrari-Modellen basierende Unikate anfertigen. Seine Tochter Julia verwirklicht sich als Kunstsammlerin, Sohn Maximilian gönnt sich neben dem Brose-Anteil eine Helikopter-Charter-Firma.

#Bildquelle: pixabay

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Die Grünen veranstalten derzeit ihren Parteitag. Auf dem geht es um ein „Grundsatzprogramm“. Man könnte nun die Allerweltsphrasen dieses Programms analysieren, aber es lohnt nicht. Mehr über diese Partei und wie sie mit ihren eigenen Grundsätzen umzugehen pflegt, sagt die Rückschau auf vergangene Programme. Was schrieben die Grünen – und was taten sie dann wirklich?

Im Jahr 1999 gültig war das programmatische Dokument „Politische Grundsätze“, verabschiedet 1993. In dem geduldigen Papier heisst es, man strebe eine Welt an, „in der jeder Militarismus geächtet wird und in der die erforderlichen Grundlagen für zivile, nichtmilitärische Formen der Konfliktbewältigung, der Rechtswahrung und Friedenssicherung gegeben sind.“

Auf dieser Grundlage führte der grüne Außenminister Joseph Fischer die Grünen in den ersten von deutschem Boden ausgehenden Angriffskrieg seit 1945. Er tat dies ganz „emanzipatorisch“, indem er den Holocaust instrumentalisierte, um zu rechtfertigen, dass deutsche Soldaten sich am Zerbomben Jugoslawiens beteiligten.

2002 trat ein neues Papier mit dem Titel „Die Zukunft ist grün“ in Kraft. Dort steht geschrieben:„Die gerechte Verteilung der wichtigen gesellschaftlichen Güter ist Kernbestandteil bündnisgrüner Politik. Unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität gehen weiter als die klassische Umverteilungspolitik. Vorrangiges Ziel unserer Politik ist es, Armut und soziale Ausgrenzung zu vermeiden und die soziale Lage der am schlechtesten Gestellten zu verbessern.“

Kaum hatten die Mittelschichtsschlurfis diese Sätze abgenickt, setzten die Grünen zusammen mit der SPD im Gruselkabinett Schröder II die sogenannten Hartz-Reformen durch, bauten den Niedriglohnsektor in bislang ungeahnte Dimensionen aus, „liberalisierten“ die Arbeitsverhältnisse und warfen Millionen Menschen in jenes Zwangssystem aus Armut und Sanktionen, von dem sie heute vollmundig versprechen, es wieder abschaffen zu wollen.

Auch in dem Müllpapier von 2002 steht der Schenkelklopfer: „Staaten, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind, dürfen keine Rüstungsexporte und keine Militär- und Ausstattungshilfe erhalten.“ Die Tinte war noch nicht trocken, da erhielt die Türkei schon Leopard-Panzer zum Kurdenmorden aus deutsch-grünen Händen.

Grüne Grundsatzprogramme haben eine Halbwertszeit, die genau so lange hält, wie man nirgendwo mitzureden hat. In dem Moment, wo Grüne regieren, lösen sich die Programme magisch in nichts auf. Man schreibt von Frieden und zieht an den Hindukusch. Man schreibt von demokratischer Kontrolle und stärkt den intransparenten, mörderischen Verfassungsschutz. Man schreibt von Aufklärung und verhindert Untersuchungsausschüsse zum NSU-Rechtsterror oder dem Mord an Oury Jalloh. Man schreibt von sozialer Gerechtigkeit und spuckt Arbeiter:innen und Erwerbslosen ins Gesicht. Man schreibt refugees welcome und verschärft Asylgesetzgebungen. Man schreibt von offenen Grenzen und schiebt ab. Man schreibt von Umweltschutz und meint damit die Ansiedlung von Elon Musks Lithium-Autos. Man schreibt von Artenvielfalt und lässt den Hambi roden.

Die Bastschuh-CDU ist heute eine der wichtigsten Herrschaftsoptionen des Kapitals. Der technologische Umbau wichtiger Schlüsselindustrien ist notwendig – nicht für die Natur, die kann der Kapitalismus nur zugrunde richten. Aber um im internationalen Konkurrenzkampf nicht zu weit zurückzufallen und die Stellung des deutschen Monopolkapitals abzusichern. Die Grünen sind jene Partei, die den bunten Anstrich für diesen Prozess liefern. Und sie sind flexibel genug, um jederzeit mitregieren zu können. Sie biegen sich bis zur Unkenntlichkeit, ohne zu brechen. Denn den meisten ihrer „kritischen“ Mitglieder reichen Worte zur Befriedigung. Schön reden muss man, der Rest ist dann Sachzwang, was kann man schon machen.

Die aktuelle Programmdebatte hat zwei Funktionen: Sie muss diese Mitglieder zufriedenstellen, die vielleicht aus irgendwelchen humanistischen Illusionen in diese Partei eingetreten sind. Man schenkt ihnen die eine oder andere Formulierung im Parteiprogramm, auf dass sie beim Chai Latte im Prenzlberg den anderen Eltern aus der Krabbelgruppe die eigene moralische Überlegenheit vermitteln können.

Und sie muss dem deutschen Kapital und seinen Parteien „Regierungsfähigkeit“ signalisieren, also den unbedingten Willen, alles zu verkaufen, was man irgendjemandem versprochen hat, um dem heiligen Standort Deutschland die Opfer darzubringen, die er verlangt.

Das ist gelungen und insofern ist der Grünen-Parteitag ein voller Erfolg gewesen. Nicht für die Arbeiter:innen in In- und Ausland. Nicht für die Erwerbslosen. Nicht für die am Überleben des Planeten, der Aufhebung des Patriarchats oder der Überwindung von Rassismus und Polizeigewalt Interessierten. Auch nicht für die Geflüchteten oder die Menschen in von Kriegen heimgesuchten Nationen. Aber für die Grünen und ihre Funktionärsriege.

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In den frühen Morgenstunden des 27. Septembers hat die aserbaidschanische Armee die armenisch kontrollierte Region Karabach mit Artillerie und Bomben angegriffen. Armenien hat den Kriegszustand ausgerufen und eine Generalmobilmachung angekündigt. Ein nicht unwesentlicher Grund für das Aufflammen dieses Jahrzehnte andauernden Konflikts ist die neo-osmanische Großmachtpolitik der Türkei.

In den frühen Morgenstunden des 27. September griff die aserbaidschanische Armee mit schwerer Artillerie und Bombenangriffen die armenisch kontrollierte Region Karabach an. Armenien rief infolge dessen den Kriegszustand ausund kündigte eine Generalmobilmachung an. Die Erinnerung an den Krieg zwischen 1988-1994, in dem 30.000 bis 50.000 Menschen starben und Armenien nicht nur Karabach selbst, sondern auch einige umliegende Provinzen unter seine Kontrolle brachte, ist frisch

Armenien und Aserbaidschan wurden Anfang der 1920er Teil der neu geschaffenen Sowjetunion und es war kein geringerer als Josef Stalin, der 1921 das Gebiet Karabach der Aserbaidschanischen Unionsrepublik zuteilte, obwohl zu dem Zeitpunkt über 90 Prozent der Bewohner*innen Armenier*innen waren. Infolge des Zerfalls der UdSSR ab dem Ende der 1980er Jahre kam es auch in Karabach zu einer Unabhängigkeitsbewegung. Bei einem Volksentscheid 1991 sprach sich eine Mehrheit für eine Unabhängigkeit von Aserbaidschan aus.. Da Baku diesen Entscheid ignorierte, intensivierte sich der Krieg um das Gebiet, das die Armenier*innen Arzach nennen, ehe am 12. Mai 1994 ein brüchiges Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde.

Seitdem gibt es immer wieder Scharmützel an der Grenze, wobei im April 2016 Aserbaidschan einen größeren Anlauf tätigte, das Gebiet zurückzuerobern. Der Angriff wurde seitens Armeniens zurückgeschlagen, aber innerhalb von nur vier Tagen gab es über 200 Tote. Armenien und Aserbaidschan pflegen bis heute keine diplomatischen Beziehungen, die Grenzen untereinander sind geschlossen.

Die Türkei stilisiert sich dabei als Schutzmacht Aserbaidschans und hält die Grenze zu Armenien ebenfalls geschlossen. Armenien selbst zählt Russland zu seinen engsten Verbündeten. Moskau hat in Armenien sogar einen eigenen Militärstützpunkt und großen Einfluss auf die armenische Wirtschaft, besonders im Energiesektor mit dem teilstaatlichen Konzern Gazprom. In gewisser Weise ist der Konflikt auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und Ankara. Der russische Außenminister Sergej Lawrow führt mit beiden Seiten intensive Gespräche und forderte zur Einhaltung des Waffenstillstands auf, während die türkische Regierung einmal mehr versicherte, fest an der Seite Aserbaidschans zu stehen.

Kriegstreiberin Türkei

Eine der Ursachen für das Wiederaufflammen des Krieges sind der innenpolitischen Schwäche des Erdogan-Regimes geschuldet. Geschwächt von dem Niedergang der heimischen Wirtschaft, reagiert die türkische Regierung nach außen hin immer aggressiver und heizt seit Wochen den Konflikt immer weiter an. Als es im Juli dieses Jahres zu militärischen Auseinandersetzungen in der nordarmenischen Provinz Tavush kam, gab es besonders schrille bellizistische Töne seitens des türkischen Verteidigungsministers, Hulusi Akar: “Armenien wird unter seiner eigenen Verschwörung begraben werden, darin ertrinken und für seine Taten auf jeden Fall bezahlen”.

Diese Intervention der Türkei im Nachbarland ist nichts Neues. Schon die Regierung unter Turgut Özal (1989 -1993) spekulierte öffentlich, an der Seite Aserbaidschans zu intervenieren und Armenien zu bombardieren. Mitten im Krieg 1993 drohte er offen damit,“für den Fall, dass Armenien die Lektion von 1915 nicht verstanden” hätte – eine unmißverständliche Anspielung auf den von der damaligen jungtürkischen Regierung verübten Genozid, dem Schätzungen zufolge mehr als 1,5 Millionen Menschen zu Tode kamen, hauptsächlich Armenier*innen, aber auch Assyrer*innen und Mitglieder anderer christlicher Minderheiten. Heute ist es Reçep Tayyip Erdogan, der bei der jüngsten kurzzeitigen militärischen Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im Juli 2020 offen mit weiteren Massenmorden drohte: “Wir werden die Mission fortführen, die unsere Großväter seit Jahrhunderten im Kaukasus angeführt haben.”

Wie Erdogan sich die“Fortführung der Mission” vorstellt, kann mensch darin sehen, dass er am 25. September rund 1000 dschihadistische Kämpfer nach Baku schickte, die fortan gegen Armenien kämpfen.. Dass die Türkei islamistische Söldner einsetzt ist dabei weder neu, noch überraschend:Der kurdische YPG-Kämpfer Azad Cudibeschreibt beispielsweise in senem Buch wie er in Kobanê die Herkunft der verstorbenen IS-Kämpfer recherchierte. Er stellte fest, dass nicht wenige der dschihadistischen Mörder gar keine Syrer oder Iraker waren, sondern ausländische Söldner aus Tschetschenien oder Turkmenistan. Die gleiche Erfahrung machte 20 Jahre vorher schon Monte Melkonian, als er im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan die Pässe der getöteten Kämpfer aufseiten Bakus untersuchte: Viele kamen aus der Türkei, aus Tschetschenien oder Turkmenistan. Sie waren bezahlte Söldner, unter anderem Graue Wölfe, deren Kämpfer von der türkischen Regierung nach Karabach geschickt wurden, um Armenier*innen zu ermorden und ihrerseits den Genozid von 1915 fortzusetzen.

Azerbaidschan intensiviert die Angriffe

Während der aserbaidschanische Angriff auf Tavush im Juli dieses Jahres eher unkoordiniert und schlecht vorbereitet war, gab es seitdem gemeinsame Militärübungen mit der Türkei in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan, die an Armenien, die Türkei und den Iran grenzt, aber nicht an Aserbaidschan. In dieser Autonomen Republik Nachitschewan hat die Türkei einen Militärstützpunkt aufgebaut. Es gibt keine Zweifel daran, dass der jetzige Angriff besser vorbereitet ist und großflächiger ausgeführt wird. Über Wochen hinweg wurde Aserbaidschan von der türkischen, aber auch der israelischen Regierung massiv hochgerüstet, sodass es nur eine Frage der Zeit war, wann es zu diesem Angriff kommen würde.. Die Türkei versucht mit Aserbaidschan eine panturkistische Allianz aufzubauen und es ist kein Zufall, dass Erdogan auf diese Karte setzt. Da die muslimische Bevölkerung Aserbaidschans zu 85 Prozent schiitisch ist, passt das eigentlichnicht in das Bild des sunnitischen Islamisten Erdogan. Aber es passt ins Bild der nationalistisch-kemalistischen CHP, deren Vorsitzender Muharrem Ince sagte: “Mein Herz, meine Seele, meine Gebete sind bei Aserbaidschan und verurteilen die Aggression Armeniens, die die Stabilität der Region bedroht.” Das sind fast die gleichen Worte, die auch Erdogan benutzte. Es zeigt sich, dass die bürgerlichen Parteien in der Türkei felsenfest zu jeglicher Kriegshandlung Erdogans stehen — in den Fällen der Angriffe auf Rojava war das schließlich nicht anders.

Die Reaktion Armeniens mit der Generalmobilmachung, sowie der Ausrufung des Kriegsrechts deutet darauf hin, dass ein langanhaltender Krieg zumindest nicht ausgeschlossen werden kann. Die aufkommende patriotische Stimmung soll sicherlich auch innenpolitischen Zwecken dienen. Der Krieg um Arzach ist ein Teil der nationalen armenischen Identität und gehört zum Gründungsmythos der jungen Republik. Auf der anderen Seite leben in Aserbaidschan mehr als 700.000 Vertriebene des Krieges, die seit Jahren vom Präsidenten Ilham Aliyev nichts anderes hören, als dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann Karabach “befreit” werden würde. Aliyevs Erklärungen waren dementsprechend auch wenig überraschend oder neu: “Die aserbaidschanische Armee führt gegenwärtig Schläge gegen die militärischen Stellungen des Gegners aus.“ In mehreren Städten wurde zudem eine Ausgangssperre verhängt.

Es ist eher eine Tat der Verzweiflung, dass der eigentlich säkular eingestellte aserbaidschanische Diktator nun islamistische Söldner braucht, um seinen Krieg zu führen und von den innenpolitischen Probleme abzulenken: Ilham Aliyev, der 2003 das Amt von seinem Vater Heydar Aliyev übernommen hatte, ist alles andere als beliebt im Land und geht schonungslos gegen jegliche Opposition vor. Das Land, das enorm vom Ölexport abhängig ist, macht eine tiefe wirtschaftliche Krise durch, weswegen dieser Angriff wie das Ausspielen der letzten Karte eines in die Ecke gedrängten Diktators erscheint. Mit Erdogan hat er dabei einen fähigen und willigen Unterstützer.

# Titelbild: Armenian Ministry of Defence, Beschuss von Azerbaidschanischem Kriegsgerät

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Traditionell wird auch in Rojava der 1. Mai mit Demonstrationen und Kundgebungen begangen. Das Thema der Arbeiter*innenrechte ist seit Beginn der kurdischen Befreiungsbewegung ein Kernthema. Dieses Jahr ist jedoch vieles anders. Nachdem im März schon Newroz – das kurdische Neujahrs- und Frühlingsfest – wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde, sind nun auch die Feierlichkeiten zum 1. Mai verboten. Es herrscht Quarantäne, es wird Mundschutz getragen, die Straßen sind leer, die meisten Geschäfte haben geschlossen, ebenso die Universitäten und Schulen; Fahrzeuge werden überprüft ob die Insassen eine Genehmigung haben.

Doch die Kämpfe für Freiheit und Gerechtigkeit gehen weiter – die Revolution kennt keine Quarantäne. Die Pandemie ist nur eins der allgegenwärtigen Themen: die ökonomische Krise, die Folgen der türkischen Invasion, die anhaltenden militärischen Angriffe und last but not least: der Ramadan bilden den Kontext des täglichen Lebens.

Corona-Krise im Kontext des andauernden Krieges

Bisher ist der große COVID-19-Ausbruch ausgeblieben, in dieser Woche allerdings gab es die ersten beiden bestätigten Fälle und die Stimmung ist angespannt. Ein Ausbruch kann hier katastrophale Folgen für die gesamte Gesellschaft haben: das Gesundheitssystem ist nach neun Jahren Krieg erschüttert und nicht tragfähig. Der Aufbau neuer Gesundheitsstrukturen läuft, wird aber immer wieder durch militärische Angriffe der Türkei aufgehalten. Es mangelt an Geld für Equipment und Medikamente, vor allem aber an qualifiziertem ärztlichen Personal und solider medizinischer Ausbildung.

Dazu kommt, dass an Orten wie Al Hol, einem Flüchtlingscamp mit knap 70.000 Bewohner*innen – viele von ihnen IS-Anhängerinnen –, die Menschen dicht beieinander leben, es keine Möglichkeiten für Isolierung und nur wenige medizinsiche Einrichtungen gibt. Käme es hier zu einem Ausbruch, wäre eine Versorgung der Kranken nicht möglich sein. Aber nicht nur die Situation in den Flüchtlingscamps ist besorgniserregend. Auch die durch Krieg vertriebenen Menschen, die nicht in einem der Camps leben, sind stark von der Krise betroht. Momentan befinden sich ca. 80 000 Menschen im Nordosten Syriens auf der Flucht, sie alle haben kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung und leben dicht gedrängt und ohne Isolierungsmöglichkeiten.

Aber bereits vor dem drohenden Ausbruch ist die Bevölkerung durch die Corona-Krise unmittelbar betroffen: die Quarantäne-Maßnahmen führen dazu, dass Menschen nicht arbeiten können und kein Einkomen mehr haben, dazu kommen Preissteigerung von Lebensmitteln und durch die Schließung der Grenzen kommt es zu Lieferengpässe für Lebensmittel, Hygieneartikel, Medikamente, medizinische Materialien.

Offiziell gilt eine Waffenruhe, doch die Türkei und ihre verbündeten Milizen führen weiterhin Angriffe in Afrin, Kobane und Sehba durch und besetzen zentrale Landesstraßen, sodass Lieferungen nicht mehr in den Westen des Landes gebracht werden können. Internationale Aufrufe verurteilen die Türkei und verbündete Milizen für die Unterbrechung der Waffenruhe. Diese Aufrufe bleiben aber ohne spürbare Konsequenzen.

Die Revolution der Frauen

Soweit die aktuelle Lage hier. Nun ein Blick auf die Situation der Frauen. Wir können auf 40 Jahre kurdische Frauenbewegung, acht Jahre Selbstverwaltung in Rojava und beeindruckende Schritte von der ambitionierten Theorie in Richtung Praxis zurückblicken. Die kurdische Frauenbewegung hat viele Erfolge in ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu feiern: Frauen sind mittlerweile in allen Bereichen der Gesellschaft und des Berufslebens präsent: sie sind Juristinnen, Journalistinnen, Ärztinnen, Studentinnen, und sie stellen einen wichtiger Teil der Selbstverdeitigungskräfte Rojavas, mit ihrer eigenen Armee YPJ (Yekîneyên Parastina Jin, Frauenverteidigungseinheiten). Durch die Frauengesetze von 2014 wurden Gesetze zur Gleichberechtigung und Abschaffung von Unrecht erlassen. Die wichtigsten darunter sind die Abschaffung der Kinderehe und der Polygamie, ein Verbot von Sexismus und Gewalt gegen Frauen sowie das Recht auf gleiche Chancen und gleichen Lohn in der Lohnarbeit. Die Einführung des Co-Vorsitzeslegt fest, dass in allen wichtigen Ämtern eine Frau und ein Mann gemeinsam entscheiden, sowohl in militärischen wie in zivilen Strukturen. Doch alle diese Änderungen brauchen Zeit, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen und ihren Weg von der Theorie in die Praxis zu finden. Vor allem in der arabischen Bevölkerung führen viele Frauen noch immer ein Leben in Unterdrückung und Ungerechtigkeit.

In Zeiten der Corona-Pandemie macht sich dies zum Beispiel in den Zahlen für häusliche Gewalt bemerkbar. Frauen, die ihr Haus nicht verlassen können und deren frustrierter, gestresster Ehemann nun rund um die Uhr zu Hause ist, werden noch mehr als sonst geschlagen und misshandelt – psychisch und physisch. Für den Monat März wurde ein deutlicher Anstieg häuslicher Gewalt gegenüber dem Vorjahr erfasst – ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. Und das gilt nicht nur für Nordostsyrien. Weitere Pobleme, mit denen Frauen konfrontiert sind, sind die Versorgung der Kinder, die den ganzen Tag zu Hause sind, und die durch die Krise entstandenen finanziellen Einbußen.

Widersprüche überwinden, eine andere Gesellschaft aufbauen

Angesichts dieser schwierigen Gesamtsituation und des Lebens in Widersprüchen beeindruckt und inspiriert die Entschlossenheit der kurdischen Revolutionsbewegung, sich nicht von der Realität, vom temporären Scheitern oder von Angriffen von außen aufhalten zu lassen, sondern weiterzumachen. An vielen Fronten gleichzeitig für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen: der realen militärischen Front, aber auch in den Familien, Schulen, Frauenhäusern, Rehablitationshäusern der Kriegsverletzten, den Gerichten und vielen anderen Orten. Ich wünsche mir, dass wir davon etwas lernen können. Nämlich das Ganze zu sehen, nicht aufzugeben, sich der Realität anzupassen aber nicht von ihr erdrücken zu lassen, kreativ zu sein und vor allem: sich zusammenzutun und gemeinsam zu kämpfen!

Wenn wir nicht anfangen, Gemeinsamkeiten statt Unterschiede zu finden, unsere Kämpfe als verschiedene Ausdrücke des gleichen Problems zu sehen und unsere persönlichen Differenzen zu überbrücken, dann werden wir nicht zu einer Bewegung, die stark genug ist, die Gesellschaft und irgendwann auch „das System“ zu verändern. Und wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten der Krise und des Ausnahmezustands, wann dann?

Und wer, wenn nicht wir als Frauen, wir als arbeitende Frauen – und dazu zählt jede Mutter, jede Frau, die eine Familie versorgt, ebenso wie jede Frau, die einem Beruf nachgeht – kann hierbei vorangehen und Vorbild sein? Frauen, Arbeiterinnen dieser Welt: bildet Banden, steht auf für eine bessere Welt und lasst euch nicht aufhalten!

JIN JIYAN AZADI

# Text: Evin Azad, Aktivistin und Ärztin aus Berlin. Seit Anfang des Jahres zum zweiten Mal als Internationalistin in Rojava . Schwerpunkte: medizinischer Support, Aufbau des Gesundheitssystems und medizinischer Bildung, Frauenrevolution, Frauenrechte, Feminismus, Jineoloji, Widerstand, Berichterstattung.

# Titelbild: Corona-Ausgangssperre: Leerer Markt von Souk, Evin Azad

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