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Stell dir vor, du sitzt an einer Supermarktkasse, verdienst 1.300 Euro Netto im Monat und hast jeden Tag bei der Arbeit Angst, dass dir jemand aus Frust das Gesicht zu Brei schlägt. Stell dir vor, du beerdigst deinen Sohn weil ein Mann, der keine Maske tragen wollte, ihn erschoss.

Das sind keine Symptome einer Pandemie, das sind Symptome eines Staatsversagens.

Korrupte Politiker:innen erstreiten vor Gericht, schmutziges Masken-Deal-Geld behalten zu dürfen, während Gesundheitsämter sowie das Pflegesystem kurz vor dem Kollaps stehen. Impfzentren werden in Zeiten höchster Inzidenz gegen Weihnachtsmärkte getauscht und das föderale Wirrwarr noch einmal bis auf die Spitze getrieben, bevor die Ampel-Koalition Lockdowns gesetzlich verbieten wird.

Während auf realpolitischer Ebene alles gegen die Wand gefahren wird, radikalisiert sich sich vor den Augen aller ein Teil der Gesellschaft immer mehr in eine Richtung, die Individuen zu tickenden Zeitbomben werden lässt.

Betrachte ich das Versagen des Staates allein rund um die Impfkampgane, kann ich nicht ausblenden, dass deutschsprachige Länder die höchste Nicht-Impf-Quote in Europa haben. Vom fehlenden Informationsfluss über falsche Balance in den Medien bis hin zum logistischen, infrastrukturellen Dilemma: Alles lief schief.

Fast verzweifelt wirkt nun die Impfpflicht-Debatte, staatliche Autorität soll also regeln was die Vernunft der Einzelnen nicht schafft.

Ich bin gespannt, wie das durchgesetzt werden wird. Ob die Knastzellen, die sonst mit Schwarzfahrenden gefüllt sind, nun von Impf-Verweigernden besetzt werden. Die Summe an Bußgeldern, die der Staat letztes Jahr wegen Versammlungsverboten oder Nichteinhaltung der Abstandsregelungen eingenommen hat, wird hoch sein. Aber was sonst hat der Staat an Maßnahmen angestrebt, damit Vorgaben im Alltag eingehalten werden? 

Zu wenig. Vielmehr hat er letztlich die Verantwortung der Durchsetzung jeglicher Maßnahmen an jene abgegeben, die ohnehin schon weitestgehend schutzlos dem Versagen des Staates ausgeliefert sind: Arbeiter:innen. Genauer: Prekär Beschäftigte.

Die Freizeit einer vollbeschäftigten Person ist rar, das Sozialleben wird aus pandemischen Gründen pausiert. Dieselbe Person muss aber mit überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zu dem Supermarkt fahren, in dem sie dann 8 Stunden an der Kasse sitzt. Das klingt belastend, aber belastender ist, dass eben diese Person einen weiteren Aspekt des Staatsversagens abfedern muss, bei dem sie alleine gelassen wird:

Die Gewalt von Masken Verweigernden, Impfgegner:innen, Querdenkenden, Verschwörungsgläubigen und Neurechten.

Im September wurde der Student Alex W. von einem fast 50-jährigen verschwörungsgläubigen Maskenverweigerer erschossen und natürlich wird das als Einzeltat eines Verwirrten abgetan.

Kaum beunruhigt sieht der Staat dabei zu, wie sich seit zwei Jahren ein Milieu neurechter Gewalttäter entwickelt und radikalisiert, deren Eskalationspotential bedrohlich ist.

Einer Kassiererin in Lüttjenburg wurde vor kurzem die Nase gebrochen weil sie die Maskenpflicht durchsetzen musste. Aggressive Pöbeleien oder gewaltvolle Auseinandersetzungen im Einzelhandel scheinen die Spitze des Vulkans.

Was im Untergrund vor sich hin schwelt macht Angst.

Während CDU-Kommunalwahlkandidaten 600 Sprengsätze horten und rassistische Manifeste schreiben, überlegen sich Kassierer:innen dreimal ob sie eine Person auf die fehlende Maske ansprechen, wenn die Konsequenz daraus Nasenbrüche, Kopfschüsse oder anderer stochastischer Terrorismus sein können.

Deutschland sei auf dem rechten Augen blind heißt es und ich Frage mich, ob das rechte Auge nicht das Einzige ist, durch das dieses Deutschland sieht. Rechte talking points hatten schon lange vor der Pandemie öffentliche Diskurse unterwandert sowie Rechte die Staatsorgane – aber die Dynamiken neurechter Bewegungen aller Couleur nehmen Ausmaße an, die schleunigst erkannt und benannt werden müssen. Benennen der rechten Materie und vor allem deren Bekämpfung ist keine deutsche Kernkompetenz. Aber es ist allerhöchste Zeit es zu einer werden zu lassen.

# Titelbild: Collage LCM: Coronaleugnerdemo Anfang 2021, Ivan Radic, CC BY 2.0, Impfzentrum Ludwigsburg, Rudolf Simon, CC BY-SA 3.0

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Sollte noch irgend jemand daran gezweifelt haben, dann haben CDU und CSU vor einigen Tagen klar gestellt, für wen sie Politik machen. Sie sind die Parteien des Kapitals, die Handlanger der Konzerne, der Industrie, die Sachverwalter der Besitzenden. Das 140-seitige Bundestagswahlprogramm, das die Unionsparteien vor einigen Tagen präsentiert haben, hat das noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Für klar denkende Zeitgenossen ist die Stoßrichtung dieses Programms sicher keine Überraschung – überraschen konnte allein, wie dreist und deutlich es die Ignoranz von Laschet, Söder & Co. gegenüber den Problemen unserer Zeit und ihre Funktion als Anwalt des Kapitals zum Ausdruck bringt.

In den bürgerlichen Medien gab und gibt es durchaus eine Menge Kritik an dem Papier, sogar von der staatstragenden Zeit, was sicher etwas heißen soll. Dabei machen sich die journalistischen Kritiker zu Recht schon über den Titel des Programms „Für Stabilität und Erneuerung“ lustig, der tatsächlich so aufregend ist wie eine Rede von Armin Laschet. Aber zum Lachen ist das Ganze ansonsten eigentlich nicht, denn da zu befürchten ist, dass CDU und CSU auch die nächste Bundesregierung anführen werden, verheißt das Programm nichts Gutes für das untere Drittel der Gesellschaft, vor allem aber für die Marginalisierten in diesem Land.

Dieses Wahlprogramm ist vor allem eine Verbeugung vor all denen, die ihre Schäflein ohnehin im Trockenen haben – eine Zusicherung: „Keine Angst, wir nehmen Euch nichts! Wir erhöhen Eure Steuern nicht und Ihr dürft weiter über die Autobahnen rasen.“ Vermögenssteuer, Vermögensabgabe, Erhöhung der Hartz-4-Regelsätze und dergleichen, für die Union ist all das Teufelszeug, Forderungen sozialistischer Gleichmacher. Sie wollen nach der Bundestagswahl da weitermachen, wo sie in der Coronakrise angefangen haben: die Industrie und die Besitzenden pempern bis der Arzt kommt. Die Zeche der Krise bezahlen sollen die breite Masse und die Marginalisierten. Da auch die Schuldenbremse nach dem Willen von CDU und CSU wieder eingesetzt werden soll, läuft das auf einen Sozialabbau ungeahnten Ausmaßes hinaus.

Ebenso unfassbar wie diese sozialpolitische Ignoranz ist die Positionierung zur Klimapolitik im Programm, die schon einer Leugnung des Klimawandels gleichkommt. Dieser wird unter ferner liefen abgehandelt. Und natürlich müssen wir uns keine Sorgen machen: Der Markt regelt auch das, das scheinen diese durchgeknallten Unionspolitiker allen Ernstes zu glauben. Das berühmte Cover des Supertramp-Albums „Crisis? What Crisis?“ von 1975 mit dem Mann im Liegestuhl vor rauchenden Industrieschloten – dieses Bild gehört vorn auf das Wahlprogramm der Union. Keines illustriert besser, was drin steht.

#Titelbild: A. Laschet: Dirk Vorderstraße/CC BY 2.0; M. Söder Gemeinfrei, Supertramp Album Cover/ Foto Privat; Montage LCM

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Nach den Präsidentschaftwahlen in Moldawien spielt sich dort ein Machtkampf zwischen Maia Sandu von der Partei „Aktion und Solidarität“ (PAS) und Igor Dodon von der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (PSRM) ab. Beide gebaren sich als Korruptionsbekämpfer:innen und positionieren sich gegen den einflussreichen Oligarchen Vladimir „Vlad“ Plahotniuc.

Vor den Parlamentsgebäuden in der moldawischen Hauptstadt Chișinău demonstrieren hunderte von Menschen. Sie fordern die Auflösung des Parlaments und sofortige Neuwahlen. Bei der aufgebrachten Menschenmenge handelt es sich um die Anhänger:innen der am 16. November zur Präsidentin gewählten Politikerin Maia Sandu von der liberalen Partei „Aktion und Solidarität“ (Partidul Acțiune și Solidaritate,  PAS). Sandu gewann im zweiten Wahlgang mit 57,72, steht jedoch einer feindlichen Parlamentsmehrheit gegenüber. Die von den Demonstrant:innen verlangten Neuwahlen sollen die Situation ändern.

Vom antioligarchischen Allianz zur Neuauflage des Kampfes um die Wahl der Anlehnungsmacht

Die Harvard-Absolventin Sandu hatte bereits vom 8. Juni bis zum 14. November 2019 das laut Verfassung entscheidende Amt des Premierministers inne, doch ihr Koalitionspartner, die Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica MoldovaPSRM) des bisherigen Präsidenten Igor Dodon kündigte das Bündnis auf und entzog der Regierung die Mehrheit. Zur Regierungschefin wurde Sandu damals durch die Proteste im Sommer 2019. Damals einigten sich die als pro-russisch geltende PSRM und verschiedene prowestlich-liberale Kräfte gegen die Macht des Oligarchen Vladimir (Vlad) Plahotniuc.

Obwohl seine Demokratischen Partei Moldaus (Partidul Democrat din Moldova, PDM) offiziell keine Mehrheit im Parlament besaß, kontrollierte Plahotniuc faktisch nicht nur das Parlament, sondern auch das Verfassungsgericht. In Moldawien kam Trennung von politischer Gewalt und ökonomischer Privatmacht nie zu Stande – was von den westlichen Betreuer:innen der „Transformation“ vom Realsozialismus zur Marktwirtschaft stets bemängelt wurde. Als Plahotniuc eine Wahlrechtsreform, die ihm Mehrheit sichern sollte in die Wege leitete und den Präsidenten Dodon faktisch entmachtete, kam eine Koalition von Sandus PAS und Dodons PSRM zustande. Plahotniuc musste aus dem Land fliehen, doch das im Februar 2019 gewählte Parlament blieb und dort entscheiden weniger die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen, sondern Plahotniucs Gelder.

Dodon und Sandu beschuldigten sich gegenseitig nicht nur der Korruption, sondern sprachen einander überhaupt ab, ernsthaft für die Unabhänigkeit des Landes einzustehen. Wie es in prowestlichen Kreisen Moldawiens üblich ist, bekennt sich Sandu zur rumänischen Identität und hält die „moldawische Sprache” für ein Konstrukt der sowjetischen Politik. Das ist aus der Sicht von Dodon und moldawischen „Linken” – die sich in vielen Fragen eher wertkonservativ gebähren – ein Verrat. Umgekehrt gilt das gleiche: Dodons Festhalten an sowjetischen Geschichtsnarrativen, seine Verteidigung des Moldawischen als eigenständiger Sprache, sein demonstratives Bekenntnis zur Freundschaft mit Russland gilt seinen Gegner:innen als ein sicherer Beweis dafür, dass er eine „Marionette des Kremls” ohne Sinn für Nationales sei.

Der ganze ideologische Konflikt um die richtige Auslegung des Nationalismus hat jedoch ganz materielle Demension. Denn seit der Unabhängigkeit der ehemahligen Sowjetrepublik müssen immer mehr ihre Bürger:innen ihren Lebensunterhalt im Ausland verdienen. Die chronische Abhängigkeit Moldawiens vom Visumsregime der EU und Russlands schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die in der EU arbeitenden Moldawier:innen stimmten geschlossen für Sandu ab. Da sie als Putz- und Servicekräfte, als Bauarbeiter:innen oder Sexworker:innen eben die Weltwährung Euro nach Hause überweisen, sind sie ein wichtiger Faktor des Politik- und Wirtschaftsleben im ärmsten Staat Europas. Dodon versuchte dagegen mit seinen Erfolgen in Verhandlungen um Kredite aus Russland zu punkten.

Die Koalition zwischen Sandu und Dodon zerfiel, als die PSRM ein Gesetz einbrachte, das vorsah, dass Supermärkte 50 % des Sortiments von den heimischen Produzent:innen beziehen müssen – ein Versuch die heimische Landwirtschaft zu retten. Denn diese leidet stark unter von Russland verhängten Einfuhrbeschränkungen. Sandu verweigerte jedoch die Zustimmung zum Gesetz mit dem Verweis auf Auflagen der EU – denn ihre Partei sieht Moldawiens Zukunft nur in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Daraufhin stimmten Dodons „Sozialisten“ zusammen mit Plahotniucs PDM ab und setzten eine Regierung der „unabhängigen Experten“ unter dem parteilosen Dodon-Berater Ion Chicu ein. Das konnte Sandu im Wahlkampf als Beweis für Dodons Verrat an den deklarierten „antioligarchischen“ Zielen ausschlachten.

Zudem war das pro-russischer Lager im Wahlkampf gespalten, Platz drei belegte mit 16, 90 % Renato Usatîi, der Bürgermeister der Stadt Bălți. Obwohl seine „Unsere Partei“ (Partidul Nostru, PN) es bei den letzten Wahlen gar nicht ins Parlament schaffte, punktete er unter der russischsprachigen Bevölkerung und unter Jugendlichen von Land mit seinen Hasstiraden auf den Westen und die Korruption. Mit Sandu eint ihn die Wut auf den „Verräter” Dodon. Sein Ruf als prorussischer Politiker wird allerdings dadurch relativiert, dass er von den russischen Behörden wegen illegalen Finanztransaktionen gesucht wird.

Sandus Vision und moldawische Realität

Die Bestandsaufnahme und das Programm der designierten Präsidentin lassen sich kurz zusammenfassen. Die Ursache aller Probleme in Moldawien sei die Korruption. Wenn man stattdessen richtig faire Konkurrenz etabliere, sich allen Anforderungen der EU und des IWF beuge, werde die Republik irgendwann das Lebensniveau der reichen europäischen Länder erreichen.

Im Interview mit dem ukrainischen Journalisten Dmitri Gordon am 12. November kündigte Sandu ihre Agenda als Präsidentin an: „das Gerichtssystem und die Staatsanwaltschaft zu säubern” und die Verteidigung der Interessen der „ehrlichen” Unternehmer:innen, die nicht länger vom oligarchenhörigen Staat drangalisiert werden sollten. „Ich werde die ernsthafte Anwältin des moldawichen Business sein!”. Nicht der eigenen Geschäftsinteressen, wie die „politische Klasse”, die sie säubern möchte, sondern eben Anwältin des Rechts auf kapitalistisches Wirtschaften an sich.

So viel guten Willen sollen die westlichen Demokratien nach ihrer Vorstellung belohnen, indem sie helfen die russischen „Friedenstruppen” aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien zum Abzug zu zwingen.

Weder die durchwachsene Erfolge dieser Strategie in anderen postsowjetischen Republiken, noch die Tatsache, dass sich die Geschäftswelt Moldawiens schlicht nicht in „böse Korrupte” und „ehrliche Unternehmer” sortieren lässt, da Kontakte zur Politik für erfolgreiches Kapitalistsein unverzichtbar sind und die Parteien häufig als Eigentum der Oligarchen fungieren, können Sandu ins Zweifeln bringen. Dass auch Plahotniuc sich zur Westintegration bekannte, während er den Staat zum Instrument seiner privatwirtschaftliche Interessen machte, erklärt Sandu schlicht damit, dass er und ihm nahestehende Politiker:innen „verlogen” seien. Wenn die erneuerten Gerichte endlich die alte politische Klasse kräftig durchsäuberten, würde im armen Moldawien auf einmal kräftig Kapital akkumuliert, so die Logik von Sandus Erneuerungsprogramm.

Ihre Gegner:innen mobilisieren gegen sie mit Ängsten vor „Lockdown-Politik” nach europäischen Vorblid, vor Verlust der Unabhängigkeit oder „westlichem Sittenverfall”. Die Abhängigkeit Moldawiens von Russland wird als Argument gegen Sandus EU-Pläne positiv gewendet.

Kampf um die Kompetenzen

Noch bevor Sandu ihr – laut der aktuellen Verfassung in Kompetenzen sowieso stark eingeschränktes – Amt als Präsidentin antreten konnte, beschloss das Parlament immer neue Gesetze, die die Macht beim Parlament selbst und der Regierung konzentriert. So soll unter anderem der Geheimdienst SIS nun nicht mehr der Staatschefin, sondern dem Parlament unterstellt werden. Zudem kann das Verfassungsgericht die Amtsführung des Präsidenten immer wieder unterbrechen. Da die Abgeordneten im moldawischen Parlament beständig die Fraktionen wechseln, war die Bedeutung der Wahlergebnisse in der Republik schon seit langem relativ klein. Sandu spricht dem Parlament, in dem nach wie vor eine Plahotniuc-hörige Mehrheit existiert, offen die Legitimität ab.

Ähnlich wie ihr ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj, der ebenfalls mit Antikorruptionsparolen an die Macht kam, stellt Sandu fest, dass die Legislative und die Judikative in ihrem Staat ein einziges Instrument der Oligarchie seien, die Abgeordente und Richter:innen fraktionsübergreifend mit Bestechung und Erperessung dazu bringt in ihrem Sinne abzustimmen. Als Mittel dagegen fällt den selbsterklärten Held:innen des Antikorruptionskampfes Sandu und Selenskyj vor allem die Stärkung der Präsidialmacht ein. Schon vor zwanzig Jahren hat der Lieblingsfeind der beiden, der russische Präsident Wladimir Putin im Bezug auf sein Land und das dortigen Parlament sehr ähnliche Schlüsse gezogen.

# Titelbild: Jennifer Jacquemart, Europäische Union, 2019, Maia Sandu

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„Bringen Sie Ihr Business voran – mit dem führenden Innovationstreiber.“ So steht es nach wie vor auf der Website der Wirecard AG, die anscheinend weitgehend unverändert online geblieben ist. Innovativ war dass Unternehmen, dessen Namen mittlerweile einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, tatsächlich, allerdings nicht im normalerweise mit dem Begriff verbundenen positiven Sinn. Neu und einmalig in der Nachkriegsgeschichte war vor allem das Ausmaß an Manipulation und Betrug in diesem Fall, die Methoden der Verschleierung und das völlige Versagen der Politik. So eifrig, wie Wirecard als „deutsche Technologiehoffnung“ hochgejubelt, so schnell wurde der Laden zur „heißen Kartoffel“, als die Unternehmensführung im Juni eingestehen musste, dass Aktiva über 1,9 Milliarden Euro in ihrer Bilanz nicht zu belegen seien.

Seit Wochen ist der Vorgang in den Schlagzeilen. Wobei die Darstellung als unterhaltsames Schurkenstück, als spannender Wirtschaftskrimi, wie sie in den Leitmedien von Spiegel bis Handesblatt gang und gäbe ist, als unzulässige und verschleiernde Romantisierung gesehen werden muss. Tatsächlich handelt es sich um einen schweren Fall von Wirtschaftskriminalität, der einen erheblichen Schaden für die Allgemeinheit und nicht zuletzt für viele der rund 5.800 Mitarbeiter*innen bedeutet. Vor allem aber ist der Fall in bestürzender Deutlichkeit exemplarisch für Verfallsprozesse und Krisenphänomene des real existierenden Spätkapitalismus’ und zeigt auf, wie wenig die als legal geltende Wirtschaft von der Organisierten Kriminalität trennt; wohin der Deregulierungwahn führt, wie sehr Verwaltung und Politik sich zum Knecht der Konzerne gemacht haben.

Zu den Fakten. Die Wirecard AG meldete am 25. Juni Insolvenz an. Inzwischen haben die Kündigungen von Mitarbeiter*innen begonnen. Das Unternehmen war 1999 in Aschheim bei München als so genanntes Start-up gegründet worden. In einer Zeit, in der der Onlinehandel noch in den Anfängen steckte, bestand die Geschäftsidee darin, den elektronischen Zahlungsverkehr auszugliedern und diesen für andere Firmen abzuwickeln. Die Firma schloss mit möglichst vielen Händler*innen Verträge über die Akzeptanz von Kredit- oder EC-Karten und anderen Bezahlverfahren, etwa via Smartphone, ab und stelle die technische Lösung dafür zur Verfügung. Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Spiegel wickelte Wirecard zuletzt Zahlungen für rund 313.000 Kunden ab, darunter Aldi und TUI.

Schon relativ früh tauchten Berichte über Unregelmäßigkeiten auf. Im Rückblick kann man sich fragen, warum bei denen, die das Unternehmen zu überwachen hatten, nicht früher die Alarmglocken schellten. Bereits im Mai 2008 veröffentlichte ein*e unter Pseudonym schreibender Benutzer*in in einem Internetforum eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie. Er vermutete „systematische Ausplünderung der Erlöse aus den Kapitalerhöhungen“. Später wurde bekannt, dass Mitglieder der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), animiert durch den Forenbeitrag, auf fallende Kurse vor Bekanntmachung der Bilanzdefizite spekulierten. In der Folge wurden zwei SdK-Vertreter zu Haftstrafen verurteilt. Wirecard machte weiter. Ähnliches wiederholte im Februar 2016 und im Februar 2017, als das Manager Magazin über intransparente Bilanzierungen bei dem Münchner Konzern berichtete.

Doch nicht mal als die Financial Times (FT) im Februar 2019 über Machenschaften bei Wirecard schrieb, platzte die Bombe. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), deren Aufgabe es gewesen wäre, Wirecard auf die Finger zu schauen, erstattete erst einmal Anzeige gegen den recherchierenden FT-Journalisten und setzte dann einen einzigen Angestellten der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung in Bewegung, um den Fall zu durchleuchten. Firmen vom Fach setzten für solche Aufträge aus gutem Grund für gewöhnlich 40 hochspezialisierte Expert*innen ein.

Es war immer derselbe Trick. Wirecard zeigte mit dem Finger auf böse Spekulant*innen, die das Unternehmen angeblich nur mit Schmutz bewarfen, um den Kurs zu manipulieren und Extraprofite einzustreichen. Da fragte dann kaum einer mehr danach, was an den Berichten dran sein könnte. Das änderte sich erst, so stellt es zumindest der Spiegel dar, als im Herbst 2019 mit dem japanischen Technologiegiganten Softbank ein neuer Investor einstieg. Diese drängten auf eine Sonderprüfung der Bilanzen. Anfang November nahm die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ihre Arbeit auf. Der Anfang vom Ende des Konzerns.

Wie immer in solchen Fällen, stürzte das Lügengebäude nach dem ersten Bröckeln mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit zusammen. Jetzt bewahrheitete sich, was jahrelang Gegenstand von Gerüchten gewesen war. Wirecard hatte ein undurchsichtiges Netz aus Scheinfirmen und gefälschten Geschäften gesponnen, viele Umsätze waren Fake, Luftbuchungen von fiktiven Einnahmen erfundener Partner*innen auf nicht existierenden Bankkonten. Tatsächlich hatte der Konzern mit der eigentlichen Zahlungsabwicklung offenbar seit Jahren Verluste erwirtschaftet. Die BaFin erstattete Anfang Juni 2020 aufgrund des Verdachts der Marktmanipulation Anzeige gegen den Vorstandvorsitzenden Markus Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder der Wirecard und ließ deren Geschäftsräume durchsuchen. Am 1. Juli rückten ein Dutzend Staatsanwält*innen und 33 Polizeibeamt*inneen sowie mehrere IT-Spezialist*innen in den Büros der Firmen ein. Ermittelt wird jetzt wegen Marktmanipulation, Bilanzfälschung, Betrug und Veruntreuung von Vermögen, auch dem Verdacht der Geldwäsche gehen die Ermittler nach.

Der Fokus der Medien richtet sich vor allem auf die beiden Wirecard-Anführer, die als die bösen Buben identifiziert wurden: Markus Braun, Vorstandsvorsitzender bis Mitte Juni, und Jan Marsalek, Vorstand für das operative Geschäft, beide aus Österreich. Braun wurde verhaftet, kam für sage und schreibe fünf Millionen Euro Kaution wieder auf freien Fuß und dann aufgrund eines erweiterten Haftbefehls erneut in Untersuchungshaft. Marsalek ist auf der Flucht, angeblich mit einigen Millionen Euro im Gepäck. Sogar in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen xy… ungelöst“ wurde nach ihm gefahndet.

Marsalek eignet sich prima als böser Bube und Sündenbock, dem man die Schuld an dem Desaster aufbürden kann. Der Spiegel praktizierte das in einem ellenlangen Beitrag, der sicher auch interessante Details zu Tage fördert, aber vor allem der Romantisierung, Psychologisierung und Individualisierung des Falls Vorschub leistete. Er wird als charismatischer Quereinsteiger präsentiert, der die Drecksarbeit für Braun erledigt habe. Das Nachrichtenmagazin harft: „Er führte das Leben eines offenbar vom Glück geküssten Parvenüs, der es ganz aus eigener Kraft zu Reichtum und Einfluss schaffte, samt Privatjets, Luxushotel, Partys in St. Tropez und Cognac Rémy Martin Louis XIII für 2500 Euro die Flasche.“ Da schwingt eine gewisse Bewunderung der Lohnschreiber*innen von der Brandstwiete mit. Der Spiegel machte sich sogar die Mühe, Nachbar*innen von Marsalek zu befragen und seine in der Nähe Wiens wohnende Mutter auszuhorchen.

Wesentlich spannender als dieses Herumstochern in Marsaleks Biographie ist die Information, dass einer seiner offenbar engeren Gesprächspartner ausgerechnet ein Mann war, der im vergangenen Jahr für einen der größten Politskandale Österreichs mitverantwortlich war: Johann Gudenus, von 2017 an geschäftsführender Klubobmann der FPÖ im Nationalrat und ein enger Vertrauter des langjährigen FPÖ-Parteichefs und Vizekanzlers Österreichs, Heinz-Christian Strache. Gudenus und Strache waren bekanntlich die Hauptprotagonisten der Ibiza-Affäre, die zum Sturz der österreichischen Regierung führte.

Was das Ganze genau für eine Bewandtnis hat, wird nicht klar. Von diesem Geraune ist es aber nicht weit zu der Vermutung, die wohl der eigentlich Kern des Beitrags ist: Die Russen sollen mal wieder an allem schuld sein. Das Magazin fragt: „War der Wirecard-Vorstand nur ein Aufschneider, der mit seinen Kontakten zu Politik, Thinktanks, der Sicherheitsszene angab und offensichtlich eine große Leidenschaft für alles Militärische besaß? Oder arbeitete Marsalek tatsächlich eng mit Russland zusammen?“ Die Antwort liefert man gleich mit: „Man kann sich die Frage stellen, ob Marsalek mit den Russen oder für sie gearbeitet hat“, wird ein namentlich nicht bezeichneter Beamter aus dem österreichischen Sicherheitsapparat, zitiert. Dann ist da noch die Rede von irgendwelchen Zementfabriken in Libyen und Papieren, die Marsalek angeblich im Besitz hatte – mit geheimen Informationen über das Nervengift Nowitschok, dem Gift, mit dem der ehemalige russische Spion und Überläufer Sergej Wiktorowitsch Skripal und seine Tochter im März 2018 im englischen Salisbury vergiftet worden sein sollen und das aktuell mit dem Fall Nawalny wieder Schlagzeilen macht. Damit ist die Räuberpistole dann komplett.

Das Ziel dieses Manövers liegt auf der Hand: Marsalek als mafiösen Drahtzieher hinzustellen mit Kontakten zu Geheimdiensten, zur FPÖ und nach Russland. Das lenkt prima vom Versagen der deutschen Politik ab. Von der ist ganz zum Schluss des Beitrags und eher beiläufig die Rede. Das Lobbying für Wirecard sei erfolgreich gewesen, heißt es da lakonisch. Unter anderem habe der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Wolfgang Schmidt, das Unternehmen protegiert. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) habe bereits im Februar 2019 von Ermittlungen der BaFin gegen Wirecard gewusst. Mehr ist zur Rolle von Finanzministerium und Scholz in dem Fall nicht zu erfahren.

Exemplarisch führt der Spiegel vor, wie man einen Vorgang, der symptomatisch ist für den Kapitalismus im Spätstadium, in eine Art Gaunermoritat umdichtet. Die Geschichte sei „viel zu verrückt“, heißt es im Einstieg des Beitrags, die Charaktere „derart überzeichnet“, die Handlungsstränge „so bizarr“, dass man unweigerlich denke: So eine Story könne „nur in Hollywood spielen, niemals im echten Leben“. Das Gegenteil ist richtig! Der Vorgang ist nicht verrückt, sondern absolut normal angesichts des Amoklauf des Geldes. Überraschend ist eher, dass Derartiges nicht viel öfter geschieht. Kurz gesagt: Der Fall Wirecard ist systemisch.

# Titelbild: Gemeinfrei, Internet World Fair 2017 in Munich, Germany, Wirecard-Stand

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Gegenüber der fürchterlichen Explosion von Beirut am 5. August 2020 wirkt der Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009 beim U-Bahnbau beinahe wie eine Lappalie. (Damals starben zwei Menschen – eine weitere Person nahm sich später das Leben.) Immerhin verschwand dabei das bedeutendste historische Archiv Europas nördlich der Alpen in einem fast fünfzig Meter tiefen mit Schlamm und Grundwasser gefüllten Krater.

Ein Zitat des NDR-Korrespondenten Carsten Kühntopp vom 05. August zu den verheerenden Explosionen in Beirut dürfte geschichtsbewussten Kölner*innen in den Ohren klingeln. Wenn wir es leicht anpassen, ist es durchaus auf das Rheinland anwendbar.

“Deshalb ist die Mega-Explosion das jüngste und fürchterlichste Beispiel dafür, wie die Eliten des Libanon das Land über Jahrzehnte herunter gewirtschaftet haben. Die Libanesen sind mit einer völlig korrupten und unfähigen politischen Klasse geschlagen. Anstatt auch nur eines der strukturellen Probleme des Landes anzugehen, waren diese Räuberbarone stets nur damit beschäftigt, ihr eigenes Nest zu polstern. […] Nach einer Untersuchung der Explosionskatastrophe dürfte man einige untergeordnete Beamte als Schuldige präsentieren. In Wirklichkeit ist es die politische Klasse selbst, die kollektiv für das Unglück verantwortlich ist.”

Leider finden deutsche Journalist*innen so klare Worte meist nur, wenn es sich um das Ausland handelt – und auch nur dann, wenn es nicht um nützliche Diktaturen geht wie Saudi-Arabien oder interessante Einflussgebiete wie die Ukraine, sondern um geostrategische Rivalen und ihre potentiellen Verbündeten, sozialistische Regime, Abtrünnige der neuen Weltordnung, korrupte “Bananenrepubliken” oder Wackelkandidaten wie den Libanon, welcher demnächst vom Internationalen Währungsfond (IWF) einer Rosskur unterzogen wird.

Strukturelle Ursachen? Versandet, vergessen, übertüncht

Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln beim U-Bahnbau (Bauabschnitt: Bilfinger Berger) am 3. März 2009, Bild: Frank Domahs, Lizenz: GNU free

Der Kölner Krater ist elf Jahre nach dem Einsturz längst nicht verschwunden. Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung sind versandet, das zu Grunde liegende Strukturproblem vergessen und übertüncht: eine dysfunktionale Sub-Unternehmer-Kaskade, die nach allen Regeln der neoliberalen Wirtschaftsberatung das Gemeinwesen ausplündert und Projekte in Desaster führt. Ausgehend von gleich mehreren Generalunternehmern wie Bilfinger Berger (in deren Abschnitt der Einsturz passierte), breiteten sich durch Sparzwang, Kostendumping und Profitgier kaskadenformig Lohndumping, Schlamperei, Pfusch und Kriminalität in der “optimierten Wertschöpfungskette” aus. Ohne behördliche Kontrollen konnte das kriminogene Sub-Unternehmermilieu prächtig gedeihen.

Wie in Beirut gab es auch in Köln mehr als deutliche Warnungen, die komplett ignoriert wurden: Bis zu vier Zentimenter große Risse im Fundament des Stadtarchivs, die Ende 2008 festgestellt worden waren, aber von unfähigen oder korrupten Gutachtern nicht auf ihre Ursachen untersucht wurden. Der Kirchturm von St. Johann Baptist, 300 Meter weiter an der U-Bahn-Strecke gelegen, war bereits im September 2004 abgesackt wie der schiefe Turm von Pisa und musste mit viel Aufwand stabilisiert werden.

Fast wirkt es wie ein Wunder, dass im Kölner Krater nicht mehr Leute starben. Die Bauarbeiter gingen gerade in die Mittagspause, einige von ihnen warnten noch die Archivmitarbeiter*innen, weil sie ein fürchterliches Knirschen und Knarzen im Untergrund hörten. Diese konnten das Gebäude gerade noch rechzeitig verlassen. Das nahe gelegene Friedrich-Wilhelm-Gymnasium blieb verschont. Im Strafprozess um den Einsturz des Kölner Stadtarchivs sprach das Landgericht im Oktober 2018 drei von vier Angeklagten frei. Lediglich ein Bauüberwacher der Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) erhielt eine Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung.

Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Einsturzes des Kölner Stadtarchivs, 3. März 2019, Foto: Elke Wetzig, Lizenz: CC BY-SA 4.0

„Katastrophen“ und „Unfälle“, wie in Beirut oder Köln kündigen sich vorher an. Wie schlimm die Konsequenzen aussehen, hängt maßgeblich davon ab, ob die jeweilige Verwaltung willens und/oder fähig ist, den Schutz der Bevölkerung vor Kapitalinteressen zu stellen. In Köln ist das nicht passiert, in Beirut genausowenig. Beispiele wie diese lassen sich noch und nöcher finden: Die Betreibergesellschaft der 2018 eingestürzten Autobahnbrücke in Genua ignorierten über Jahre Warnungen über deren Einsturzgefahr, 43 Menschen kamen um‘s Leben. Die zu Grunde gesparte Infrastruktur in New Orleans etwa führte dazu, dass in Folge des Hurrikans Kathrina 2005 1836 Menschen starben, zehntausende ihr Wohnungen verloren. Und der profitable „Wiederaufbau“ führte zu einer weiteren sozialen Katastrophe. Die plattgemachten Viertel wurden zum Gentrifizierungshotspot. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich das bevor stehende Szenario für Beirut auszumalen. Die Hafengegen dürfte nach dem Vorbild von New Orleans neu gestaltet, privatisiert und verhökert werden.

Man könnte das eingangs genannte Zitat deswegen beliebig auf New Orleans, die eingestürzte Autobahnbrücke von Genua, wie eben auch auf Köln anwenden:

Deshalb ist der [Einsturz des historischen Archivs der Stadt Köln] das jüngste und fürchterlichste Beispiel dafür, wie die Eliten [Kölns die Stadt] über Jahrzehnte herunter gewirtschaftet haben. [Die Rheinländer] sind mit einer völlig korrupten und unfähigen politischen Klasse geschlagen. Anstatt auch nur eines der strukturellen Probleme der Stadt anzugehen, waren diese Räuberbarone stets nur damit beschäftigt, ihr eigenes Nest zu polstern. Nach einer Untersuchung der [Einsturzkatastrophe beim U-Bahn-Bau] dürfte man einige untergeordnete Beamte als Schuldige präsentieren. In Wirklichkeit ist es die politische Klasse selbst, die kollektiv für das Unglück verantwortlich ist.

# Titelbild: ANF english, Löscharbeiten nach der Explosion

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Österreich hat einen neuen TV-Star. In einem fulminanten Big-Brother-Revival reüssierte der ehemalige Neonazi-Wehrsportler und heutige Vizekanzler Heinz-Christian Strache mit einer grandiosen Performance als Provinz-Escobar mit Hitler-Faible, genial begleitet von seinem Adlatus, Johann Gudenus, Klubobmann der rechten FPÖ.

Das Filmchen zeigt die beiden Berufspolitiker, wie sie in einer Villa auf Ibiza versuchen, eine (vermeintliche) russische Oligarchin zu überreden, am Rechnungshof vorbei an die Freiheitliche Partei Österreichs zu spenden. Sollte die Oligarchin zudem die (auch ganz ohne Einflussnahme stramm rechte) Kronen-Zeitung kaufen und noch weiter auf Linie trimmen, stellen ihr die beiden Faschisten Staatsaufträge in Aussicht.

Das Video ist lustig. Und man kann es kaum ohne Schadenfreude ansehen. Dennoch liegt das Wesentliche nicht darin, dass Strache ein „Prahler“ (Süddeutsche Zeitung) ist. Um das zu wissen, hätte es keiner Enthüllung bedurft. Die Betonung, dass er Österreich an eine „Russin (!!!)“ verkauft hätte, geht auch am entscheidenden Punkt vorbei. Und ebenfalls nicht besonders überraschend ist, dass Strache und Gudenus sich gerne mal Vodka-Redbull mit Koka-Dip gönnen.

Die Pointe des Ibiza-Auftritts liegt darin, dass Strache der von ihm umworbenen Darstellerin einige Großspender seiner „Partei des kleinen Mannes“ nennt – und auch erwähnt, warum die (allegedly, vorläufig) an ihn und die Seinen zahlen. Sie seien „Idealisten“, in Straches Worten: sie wollen „Steuererleichterungen“.

Zu den Genannten gehören einige der reichsten Österreicher: Gaston Glock, ein Waffenhändler, dem seit langem ein Faible für die rechte FPÖ nachgesagt wird; Heidi Horten, Erbin eines aus Arisierungen zusammengeraubten Milliardenvermögens; René Benko, ein bereits wegen eines Korruptionsfalles verurteilter Immobilienspekulant; und Novomatic, ein Glückspielkonzern mit dubioser Reputation.

Nun haben wir zwar kaum einen Grund anzunehmen, dass die anderen bürgerlichen Parteien farben- und spektrenübergreifend nicht genau dieselben Ibiza-Gespräche führen (wenngleich sicher deutlich professioneller als die zu rasch aufgestiegenen Wirtshausrassisten). Was sich aber doch zeigt, ist, dass die diversen faschistischen Parteien für einen besonders reaktionären Teil des Großkapitals immer mehr zum attraktiven Personal zur Durchsetzung ihrer Interessen werden.

Das hat mehrere Gründe: Den Grölglatzen von NPD&Co. traute man diese Funktion nicht zu, abgesehen davon hätten sie keine Wahlen gewonnen. Der neue Faschismus – von der deutschen AfD über den Front National bis eben zur FPÖ – tritt deutlich professioneller auf, und wichtiger noch für die besitzende Klasse: er hat ein klar neoliberales Wirtschaftsprogramm. Das kombiniert er mit der zu jeder Zeit beim Kapital beliebten Funktion der Ableitung der Wut nach unten. Schuld an der Misere sind dann nicht die Heidi Hortens oder René Benkos, sondern wahlweise Geflüchtete, emanzipierte Frauen* oder Erwerbslose.

Das alles ist nicht neu. Das Gute an diesem Video ist aber, dass es diese Funktion des Faschismus dem geneigten Publikum noch einmal unzweifelhaft vor Augen führt. Faschisten sind keine Gegenbewegung zur „Elite“, sie sind deren Reserve für den Fall, dass etwas ruppiger administriert werden muss.

Deshalb ist – bei aller nachvollziehbaren Freude über den bevorstehenden Absturz des Hetzers Strache – auch Vorsicht vor zu rascher Erleichterung geboten. Die Tendenz zur Faschisierung der kapitalistischen Nationen ist eine globale. Und von Brasilien über die USA bis nach Ungarn sind es einflussreiche Fraktionen des Kapitals, die die Rechten aufgepäppelt haben. Das hört nicht deshalb auf, weil einer von den Ziehsöhnen so dumm ist, einer Schauspielerin auf Peppen und Schnaps seine Lebensgeschichte zu erzählen.

Ohne das neofaschistische Personal zu verharmlosen, braucht es eine gesellschaftliche Debatte über die Heidi Hortens, Gaston Glocks und René Benkos dieser Welt. Denn wer die Grundlagen von deren Macht und Reichtum nicht zerschlägt, den werden auch fünfzehn Staffeln von Faschos in komprimittierenden Posen nicht vor dem Rechtsruck retten.

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