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Betriebsratswahlen 2022. Warum sie gerade jetzt wichtig sind. (Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 5)

“Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.” Dieser Spruch war Ende der 1980er Jahre auf WG-Kühlschränken, Häuser- und Toilettenwänden zu lesen. Was heute als abgedroschene Phrase gelten darf und spätestens seit den erdrutschartigen Erfolgen der AfD selbst von eingefleischten Anarch@s überdacht werden musste, kommentierte vor allem den fabelhaften Aufstieg der Grünen seit 1980 bei gleichzeitigem Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit. Der Spruch bezog sich auch generell auf Parlamentswahlen in westlichen Industrienationen.

Betriebsräte hatte damals wie heute niemand als Faktor auf dem Schirm. Sie galten bestenfalls als langweilig, bürokratisch, verfilzt… Doch das sollten wir überdenken! Die nächsten Betriebsratswahlen stehen vom 1. März bis 31. Mai 2022 an. Betriebsratsgründungen können zwar jederzeit erfolgen, existierende Gremien wählen alle vier Jahre bundesweit in diesem Zeitfenster. Jetzt sollten Wahllisten vorbereitet werden.

Dysfunktionale Demokratien und Massenverblödung

Bleiben wir noch kurz bei Parlamentswahlen. Heute wissen wir dank der USA und Donald Trump, aber auch anhand jüngster Vorgänge in anderen dysfunktionalen “westlichen” Demokratien wie Brasilien, Bolivien, dass Wahlen nicht gleich verboten werden müssen, wenn sie etwas zu ändern drohen. Die Methoden, sie unschädlich zu machen, sind wesentlich vielfältiger und raffinierter: Wahlen können untergraben, manipuliert, gezielt delegitimiert, nicht anerkannt werden. Wahlen können durch Inhaftierung oder gerichtliche Absetzung der gegnerischen Spitzenkandidaten (Lula, Evo Morales) gewonnen werden. Wahlen werden beeinflusst durch manipulativen Zuschnitt der Stimmbezirke (englisches Fachwort: Gerrymandering), durch gezieltes Abhalten bestimmter Wählergruppen (Schwarze in den Südstaaten) oder durch deren systematische Demoralisierung, Desinformation und Verblödung.

Vielleicht ändern Parlamentswahlen damals wie heute tatsächlich nichts am Kern des Übels, also den Eigentums- und Besitzverhältnissen – wo doch selbst ein bescheidener Berliner Mietendeckel vom Verfassungsgericht kassiert wird.

In Bezug auf Betriebsratswahlen gilt der Umkehrschluss: Sie sind gefürchtet,
a) weil hier tatsächliche Macht in einer überschaubaren Einheit entsteht,
b) weil diese Macht von gewählten Personen aus dem Kreis der Ausgebeuteten ausgeübt wird.

Betriebsratswahlen werden zwar nicht verboten, aber vom Staat auch nicht durchgesetzt und konsequent verteidigt, sondern durch einen professionelle Dienstleistungssektor aus Jurist:innen, Berater*innen und PR-Profis mit Methoden sabotiert, die auf der betrieblichen Ebene den oben aufgezählten parlamentarischen Wahlmanipulationen ähneln.

Betriebsratswahlen werden keineswegs flächendeckend, regulär und selbstverständlich abgehalten – entgegen geltender Gesetze. Laut einer repräsentativen Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB, einer Tochter der Bundesagentur für Arbeit) gibt es in nur 9 Prozent der wahlberechtigten Betriebe (mit mindestens fünf Beschäftigten) einen Betriebsrat. Das ist an sich ein Skandal. In jeder Schulklasse werden ab der Grundschule Klassensprecher:innen gewählt, in jeder Kommune und gibt es Stadträte. Bei genauer Betrachtung stellen wir fest: Es gibt noch nicht einmal Zahlen! Niemand weiß, wie viele Betriebsräte überhaupt existieren. Aber wir dürfen vermuten, dass selbst 1978, in der Zeit der größten Machtentfaltung der westlichen Arbeiterklasse (laut der Zeitschrift Wildcat) Betriebsräte nie flächendeckend und in sämtlichen Industrien verbreitet waren.

Warum sind Betriebsräte so gefürchtet?

Ein Betriebsrat schränkt die unternehmerische Willkür bei Einstellung und Entlassungen ebenso ein wie bei Überstunden, Dienstplänen, Urlaubsvergabe, tariflicher Eingruppierung und willkürlicher Ungleichbehandlung. Der Betriebsrat schafft Transparenz über Auftragslage, Geldflüsse, geplante Manöver des Managements; er ist die einzige wirklich effektive Kontrollinstanz für geltende Gesetze, Vorschriften und Verordnungen etwa zu Arbeitsschutz, Arbeitszeiten etc. Der Betriebsrat ist der zentrale Brückenkopf für Gewerkschaften und sozialistische Organisationen. Der Betriebsrat ist nicht kündbar – theoretisch, denn um Kündigungen zu fabrizieren und Betriebsratsmitglieder zu zermürben, werden Union Buster angeheuert. Und nur wo ein Betriebsrat existiert, können Gewerkschafter:innen offen und ohne Angst vor Kündigung im Betrieb auftreten.

Genau deshalb ist die Betriebsratswahl seit der Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes am 13. Januar 1920 ein Stiefkind der Demokratie und ein blinder Fleck des Rechtsstaats geblieben. Die SPD ließ zur Verabschiedung das größte deutsche Massaker an Demonstrant:innen der deutschen Geschichte zu. 42 Personen starben im Kugelhagel, als die mit Rechtsextremen durchsetze paramilitärische “Sicherheitspolizei” (SIPO) angeblich zum Schutz des Reichstags mit Maschinengewehren in eine Menge von 100.000 Berliner Arbeiter:innen ballerte. Das Betriebsrätegesetz und das spätere Betriebsverfassungsgesetz sind Resultate eines unerklärten Bürgerkriegs. Wesentliche Teile des Unternehmerlagers haben Betriebsräte nie oder nur zähneknirschend und vorübergehend akzeptiert. Staatsanwaltschaften und Gesetzgeber behandeln die Straftat Betriebsratsbehinderung (§119 BetrVG) als Kavaliersdelikt. Tatsächlich ist sie mit dem selben Strafmaß bewehrt wie Beleidigung, Höchststrafe ist ein Jahr Gefängnis.

Kritik von links und rechts

Auf rechtsextremer Seite ist hingegen eine ideologische Mutation passiert: Galten Betriebsräte früher als Schande für die deutsche Industrie und als Verstoß gegen das Führerprinzip, die nach der Machtübernahme der Faschisten 1933 sofort liquidiert wurden, so bereiten sich diverse Schattierungen von AfD und Pegida längst intensiv darauf vor, sich über Betriebsratsmandate dauerhaft in Belegschaften zu verankern. Dass diese Strategie durchaus erfolgreich sein könnte, zeigen Wahlerfolge des “Zentrum-Automobil” bei Daimler und BMW.

Die radikale Linke der 1970er Jahre hat Betriebsräte zu großen Teilen abgelehnt und oft aus guten Gründen und schlechten Erfahrungen regelrecht verabscheut. In einem Nachruf auf den jüngst verstorbenen Wortführer des Kölner Ford-Streiks 1973, Baha Targün,lesen wir, warum. Denn der Ford-Betriebsrat beteiligte sich federführend an der Niederschlagung des “Türken-Streiks”: “Mit Gebrüll stürmte die Polizei den Betrieb. Mit dabei: Werkschutz, angeheuerte rechtsradikale Schläger, Gewerkschaftsfunktionäre, Meister, Vorarbeiter. BahaTargün wurde schwer verletzt. Die Werksleitung bedankte sich nach dem Streik öffentlich für den ‘persönlichen Einsatz der Betriebsräte unter der Führung des Betriebsratsvorsitzenden’.”

Die Betriebsratsfürsten der Großkonzerne waren Teil eines fest verwobenen Filzes aus SPD-Apparastschiks, Gewerkschaftsbonzen, Seitenwechslern aus den Gewerkschaften ins Management, Aufsichtsratspöstchen, fetten Abfindungen, Vergünstigungen wie Dienstwagen und Lustreisen, vermutlich auch inklusive knallharter Bestechung und Korruption. Rund um Betriebsräte hat sich eine regelrechte Industrie aus Anwält:innen und Schulungsunternehmen gebildet. Betriebsräte lassen sich regelmäßig in 4-Sterne-Sporthotels schulen, all-inclusive versteht sich. Das alles war richtig und ist es zum Teil immer noch.

Zuletzt hat etwa der Prozess um massive Betriebsratsbegünstigung, Korruption und Veruntreuung bei VW, der leider mit Freisprüchen für das Management endete, für schlechte Presse von Betriebsräten gesorgt. Und dieser Prozess zeigt nur die Spitze eines Eisbergs, der immer noch ziemlich massiv ist.

Allerdings haben sich sich die Vorzeichen geändert. Der Eisberg schmilzt. Und wird vom Management in den vergangenen 40 Jahren gezielt abgeschmolzen. Auch wenn die Börsennachrichten im Ersten und das Handelsblatt einen anderen Anschein erwecken: Die deutsche Wirtschaft besteht nicht mehr aus DAX-Konzernen und Industrie-Giganten. Auslagerungen, gezielte Aufspaltungen der integrierten Großunternehmen nach Vorbild von Ford haben eine immer kleinteilige Produktionslandschaft entstehen lassen. Ein Betriebsrat bei H&M oder einem Bremsscheibenhersteller der Autoindustrie ist nicht zu vergleichen mit den Betriebsratsfürstentümern bei VW. Zudem sind ehemalige Giganten wie ThyssenKrupp, AEG oder General Electric längst Geschichte.

Wenn wir von direkter Demokratie sprechen, dann sind die bunten, alternativen Listen, die ab den 1970er Jahren zu Betriebsratswahlen antraten – und in denen sich jene Radikalinskis sammelten, die damals routinemäßig wegen “Unvereinbarkeit” aus DGB-Gewerkschaften ausgeschlossenen wurden – sogar Vorboten der Grün-Alternativen Listen auf kommunaler Ebene gewesen. Und sie enthalten Restbestände und deutliche Spurenelemente der gescheiterten sozialistischen deutschen Räterepublik von 1918.

Wenn diese Wahlen unwichtig wären, würden sie nicht so massiv behindert.

Für Betriebsräte gilt also der Umkehrschluss der alten Sponti-Weisheit. Daraus folgt der Appell sich jetzt ernsthaft Gedanken über eine Kandidatur und eine Wahlliste zu machen. Diese kann unabhängig, bunt und alternativ sein oder in enger Abstimmung mit einer Gewerkschaft und ihrem Vertrauensleute-Körper aufgestellt werden. Was besser ist, muss im konkreten Fall abgewogen und entschieden werden.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 2 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Beide beraten aktive Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen. Ihr erreicht sie unter kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Betriebsrat der Zeche Mansfeld 1951, wikimedia commons, CC BY-SA 3.0

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Das viele Richtige, das manche der Wagenknechtschen Kritiken enthalten, schlägt schon durch die Form in der es vorgetragen wird, ins Falsche um. Die Kritik folgt stets dem gleichen Muster: Ein ums andere Mal, wird ein Widerspruch durchaus analytisch präzise identifiziert, nur um diesen dann auf platteste Art und Weise zu einer Seite hin aufzulösen. Ein Gastbeitrag von Adrian Paukstat

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch beschrieb vor gut zwanzig Jahren die politischen Gesellschaften Mitteleuropas und Nordamerikas als „Postdemokratien“. Dieser Begriff beschrieb für ihn den demokratischen Verfall eines politischen Gemeinwesens, in dem Politik zur kulturindustriellen, über PR-Strategen und Massenmedien vermittelten Manipulation degeneriert, die nur noch Scheinalternativen bietet, die aber allesamt der gleichförmigen Verwaltung sogenannter „Sachzwänge“ entsprechen. Innerhalb dieser spezifisch neoliberalen Herrschaftsform spielt, so Crouch: „Die Mehrheit der Bürger […] eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“

Diesen Zuständen entspricht ein spezifisches Bewusstsein beim Personal der politischen Apparate. In der Wahrnehmung des postdemokratischen Berufspolitikers fällt Politik schlechthin mit dieser spezifischen Form der Massenmanipulation zusammen. Politisches Handeln – das Hannah Arendt einst emphatisch als das gemeinsame Schaffen des Neuen mit anderen im politischen Raum verstand – degeneriert zu einer Art soziographisch informierter Sozialtechnologie, die rational-mechanisch ermittelt, welche Werbephrasen, mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit welche Reaktionen hervorrufen, um dann die dergestalt ermittelten Sprechblasen auf Plakate zu drucken.

Sahra Wagenknechts neuester Einwurf in die innerlinke Strategiedebatte muss in erster Linie vor dem Hintergrund dieser Gegenwartsdiagnose gelesen werden. Denn bei allem Bohei um die privilegierten Akademikerkinder die ‚uns‘ mit ‚ihren‘ Sprachverregelungen traktieren, den Nationalstaat abschaffen und mit „bizarren“ homo-, bi-, trans- und weißderteufelwasfür-sexuellen Anerkennungsforderungen nerven, bleibt ein – durchaus privilegierter – Klassenstandpunkt nämlich eigentümlich unterreflektiert: der von Wagenknecht selbst.

Das Politikverständnis das ihrem Buch zugrunde liegt, ist das des prototypischen postdemokratischen Berufspolitikers. Aus nachgerade jedem Satz springt einem das Kalkül entgegen, mit den richtigen Phrasen die richtigen Ressentiments beim Wahlvolk zu triggern, um letzteres zur Stimmabgabe in seinem Sinne zu bewegen. Auffallend daher auch die ausufernd soziographische und wahl-statistische Natur der Argumentation in Wagenknechts Buch und der Debatten darüber in den sozialen Medien, in der das „Wähler gewinnen“, Wagenknechts „Beliebtheit“ und die diversen kulturindustriellen Manipulationsstrategien die dies impliziert, stets zum Todschlagargument gegenüber allem Inhaltlichen mutieren.

Selten in der Geschichte der Linken wurde politische Mobilisierung als dermaßen plumpe Aufforderung einer implizit als passiv vorgestellten Masse an sogenannten „einfachen Leuten“ nach dem Mund zu reden, verstanden, wie Wagenknecht es offensichtlich im Sinne hat. Schon der, gewiss aller ‚linksliberalen‘ Umtriebe gänzlich unverdächtige, Vladimir Lenin war der Meinung, dass das spontane Bewusstsein des Proletariats nur zum reformistischen Trade-Unionismus reiche und es ist schwerlich vorstellbar, dass historische Emanzipationsforderungen die heute zum klassischen Kanon linker Traditionspflege gehören, wie beispielswiese das Frauenrechtwahlrecht aus dem spontanen Bewusstsein der Kohlekumpels und Metallarbeiter gleichsam emergiert wären, hätten nicht ein paar privilegierte Intellektuelle ihnen diese bizarren Minderheitenforderungen als ihre ureigenen Interessen nahegelegt. Ganz im Gegenteil, die ersten Gewerkschaften und Arbeitervereine sprachen sich gegen das Frauenwahlrecht aus, erst unter dem Einfluss der Schriften Bebels und Engels änderte sich dies in den 1880er Jahren.

Der Punkt hierbei ist nicht, eine Art Philosophenkönigtum der Linksintellektuellen zu rechtfertigen oder neue Avantgardetheorien zu spinnen, sondern ganz einfach die Tatsache, dass sich revolutionäres (oder auch nur halbwegs progressives) Bewusstsein, wo auch immer es entstand, stets in einem dialektischen Prozess der wechselseitigen Durchdringung von Intellektuellen und subalternen Klassen gebildet hat. Das bedeutet vor allem: In Auseinandersetzung mit dem Anderen. Wagenknechts Argument zielt jedoch darauf ab, diese Auseinandersetzung gerade zu unterbinden, die linke Intelligenzija durchgehend als Feindbild aufzubauen, und sich stattdessen illusionären Unmittelbarkeitsvorstellungen über das was den „kleinen Mann wirklich bewegt“ hinzugeben. Was hier nach dem Muster kulturindustrieller Manipulation, die in gleicher Weise von sich selbst glaubt, den Massen doch nur zu geben was diese verlangten, produziert wird, ist nicht mehr als das kollektive Kochen im eigenen Saft. Die Rede vom „Die Leute da abholen wo sie stehen“ hat durchaus ihre Berechtigung, nur würde letzteres implizieren dann auch irgendwo mit Ihnen hinzugehen. Wagenknecht möchte sich nur dazustellen und stehenbleiben. Dementsprechend fehlt in ihrem Buch, das sich phasenweise liest, als hätte die Autorin einen Katalog plumper Ressentiments buchstäblich abgearbeitet, kein platter Allgemeinplatz, solange er nur niedrige Instinkte evoziert. Von den hysterischen Weibern, mit denen man jetzt nicht mehr flirten darf, bis zu den Studenten die erstmal arbeiten gehen sollen.

Auseinandersetzung hingegen würde zuvorderst bedeuten, zu reflektieren, dass Intellektuelle und subalternen Klassen in einer ähnlichen Beziehung zueinander stehen, wie Kant dies einst über Anschauung und Begriff formuliert hat: Die reine subalterne Repressions- und Herrschaftserfahrung ist ebenso blind, wie die reinen Begriffe der Intelligenzija leer sind. Da wo die Linke erfolgreiche Strategien sozialer Hegemonie entwickelt hat, tat sie dies stets in einer Form, in der sich diese Milieus (und damit Anschauung und Begriff) organisch durchdrungen. Die kommunistischen Bewegungen Italiens und Frankreichs entwickelten ihre Hegemonien, weil sich der Kollege am Band bei Peugeot oder Fiat und Jean-Paul Sartre oder Pier Paolo Pasolini gleichermaßen als Teil einer kämpfenden Bewegung verstanden. Überall wo diese Kämpfe zu Erfolgen führten, bestand einer ihrer unabdingbaren Teile im Beitrag der Träumer, Denker, Dichter, der wurzellosen Kosmopoliten und Handlungsreisenden der Weltrevolution. Es waren stets konservative Spaltungskampagnen die diese Bündnisse, im Rekurs auf wahlweise antiintellektuelle, katholische, oder nationalistische Ressentiments aufbrachen. Und zwar in nicht unähnlicher Weise wie auch Wagenknecht gegen die linken Akademiker giftet.

Großartigstes Beispiele für eine solche Synthese ist die von Wagenknecht selbst verhöhnte Revolte 1968, die in Frankreich immerhin dazu führte, dass ein Bündnis aus Studierenden und Arbeitern Charles de Gaulle aus dem Land gejagt und die herrschende Klasse dazu gebracht hatte, den Streikenden eine Erhöhung des Mindestlohns um 35% anzubieten. Ausgangspunkt des Pariser Mai war übrigens zunächst die – im besten Sinne „lifestyle-linke“ – Forderung der Studenten nach „ungehindertem Zugang zu den Mädchen-Wohnheimen“. Am Anfang standen also ganz und gar keinen ‚sozial-linken‘ Bedürfnisse und am Ende zwar nicht die erhoffte Revolution, aber dennoch präzedenzlose Errungenschaften französischer Arbeitskämpfe. List der Vernunft, hätte Hegel gesagt.

Nachgerade frech wird es, wenn Wagenknecht erfolgreiche Beispiele linker Sammlungsbewegungen als Kronzeugen für sich selbst aufruft. Hat schon die Strategie Labours unter Jeremy Corbyn rein Garnichts mit dem was Wagenknecht propagiert gemein, wird der Vergleich vollends absurd, wenn sie ausgerechnet Bernie Sanders als Stellvertreter des progressiven Flügels der Demokraten heranzitiert. Haben doch Sanders, Ocasio-Cortez und die anderen amerikanischen Sozialist*innen ihre seit den Tagen Roosevelts präzedenzlosen politischen Siege für die Linke – wie die zuletzt durchgesetzte Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Dollar – aus Basis einer Strategie eingefahren, die in nahezu allen Punkten das diametrale Gegenteil von dem ist, was Wagenknecht vorschlägt. „Defund the Police!“, statt mehr Polizei, „Abolish ICE!“ (das Exekutivorgan der Einwanderungsbehörde) statt nationale Wohlstandsverwahrung. In einem Satz: Solidarität von unten statt Entsolidarisierung. Trump selbst, für Wagenknecht lebender Beleg für die Konsequenzen laxer linker Migrationspolitik, hat den Demokraten krachende Niederlagen aufgrund dieser Forderungen prophezeit. Das Gegenteil war der Fall, Trump ist Geschichte und beide Kammern des Kongresses sind, auch und vor allem dank Wahlsiegen progressiver Demokrat*innen in demokratischer Hand. Breite, solidarische Bündnisse von unten sind möglich und wirksam. Vielleicht auch deswegen, weil eine ihrer Galionsfiguren, Alexandria Ocasio-Cortez, ihre „Beliebtheit“, nicht aus einem von PR-Spezialisten produzierten Personenkult bezieht, sondern der Tatsache, dass sie, eine ehemalige Kellnerin aus der Bronx, im besten Sinne „Tochter ihrer Klasse“ ist.

Auch die migrationspolitischen Punkte scheinen mehr Nebelkerze als ernstgemeintes Argument. Die plumpe Identifikation: Neoliberalismus = Grenzöffnung, provoziert die Frage warum dann Thatcher und Reagan eigentlich nicht den Nationalstaat abgeschafft haben? Historisch entspricht dem Kapitalismus auch und gerade in seiner neoliberalen Form nämlich weder kategorische Öffnung noch Schließung der Grenzen, sondern eher das was Michel Foucault eine Gouvernementalisierung der Migration nennen würde: Erratische und willkürlich-rassistische Regulationsmechanismen wurden schrittweise durch ein sich an den Verwertungsimperativen des Kapitals ausrichtendes flexibles „Management“ ersetzt. Kategorisches Grenzöffnen ist nicht, war noch nie und wird niemals im Interesse des Staats als ideellen Gesamtkapitalisten sein, bestenfalls zeitweise im Interesse sehr spezifischer Kapitalfraktionen.

Worauf Wagenknecht hier sehr viel eher abzuzielen scheint, ist, bei Wahrung des bürgerlichen Tonfalls, unter der Hand die Anschlussfähigkeit an Verschwörungsideologien a la „Großer Austausch“ zu sondieren. Zusammen mit den kategorischen verbalen Angriffen auf Geflüchteteninitiativen wird so die Scheinalternative zwischen realpolitisch-vernünftiger Migrationspolitik einerseits, und den Wolkenkuckucksheimen der linksliberalen Gutmenschen andererseits konstruiert. Gerade so als ginge es bei Moria und dem Massengrab Mittelmeer um irgendwelche Utopien universeller Bewegungsfreiheit, statt um das nackte zivilisatorische Minimum. Wagenknecht schafft es hierbei rhetorisch geschickt, tatsächliche Baustellen linker Migrationspolitik, mit Fragen akuter Nothilfe zu vermengen, was es ihr erlaubt das undifferenzierte Gesamturteil „Grenzen dicht!“ zu treffen. Denn weder die Notwendigkeit gezielterer Hilfe vor Ort, noch eine andere Entwicklungshilfepolitik, noch die Beendigung des gezielte Abwerbens von Fachkräften aus Osteuropa, könnten kurzfristig etwas an der unmittelbaren Notwendigkeit sicherer Fluchtwege ändern. Bezeichnenderweise wird das Grenzregime der EU (alles andere als ein Shangri-La der Bewegungsfreiheit) oder die schmutzigen Deals mit Erdogan und den libyschen Banden mit keiner Silbe erwähnt.

Eines ist richtig: Geflüchteten die Grenzen zu öffnen ist kein emanzipatorisches Ziel an sich, sondern prekärer Notbehelf in einer Weltgesellschaft die Geflüchtete hervorbringt. Brain-Drain ist ein reales Problem (gerade emanzipatorische Projekte wie Rojava können ein Lied davon singen) und das aggressive Abwerben von Fachkräften in Osteuropa, ein tatsächlich stiefmütterlich behandeltes Thema in der Linken. Daran muss auch so mancher erinnert werden, der zur Romantisierung von Migration neigt – wobei die große Mehrheit derjenigen die tatsächlich on the ground in diese Kämpfe involviert sind, diese Neigungen sicher deutlich weniger entwickeln.

So verhält es sich mit dieser Kritik, wie mit nahezu allen anderen Kritikpunkten an der eigenen politischen Bewegung. Das viele Richtige das manche der Wagenknechtschen Kritiken enthalten, schlägt schon durch die Form in der es vorgetragen wird, ins Falsche um. Die Kritik folgt stets dem gleichen Muster: Ein ums andere Mal, wird ein Widerspruch durchaus analytisch präzise identifiziert, nur um diesen dann auf platteste Art und Weise zu einer Seite hin aufzulösen. Feministische, postkoloniale oder rassismuskritische Diskurse können dazu beitragen, Klassenunterschiede zu verwischen und der herrschenden Klasse einen regenbogenfarbenen Anstrich zu verpassen? Ok, dann weg damit. Dieses Muster wird Kapitel für Kapitel, Bewegung für Bewegung stur durchdekliniert, bis man beim kleinsten gemeinsamen Nenner gelandet ist: Der kleine deutsche Mann, dessen Befindlichkeiten ähnlich absolut gesetzt werden, wie in anderen Kreisen das Sakrileg als Weiße*r Dreadlocks zu tragen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass jede der kritisierten Bewegungen ihre blinden Punkte hat: Migrantische Kämpfe sind nicht notwendigerweise Arbeitskämpfe, Anerkennungs- nicht notwendigerweise Umverteilungsforderungen. Schlechtesten falls kann eines gegen das andere ausgespielt werden. Und Wagenknecht macht genau das. Solidarische Kritik würde darauf reagieren, indem sie versucht die Widersprüche zwischen diesen zu vermitteln, statt im Schielen auf Wahlergebnisse forcierte Entsolidarisierung zu betreiben. Genau hier befindet sich die Achillessehne der Argumentation Wagenknechts. Die alles verbindende Grundthese, nämlich dass diese Kämpfe nicht widersprüchliche Bezüge aufeinander aufweisen, sondern schlechterdings unvereinbar wären, verstellt den Blick für progressive Potenziale. Ein Beispiel hierfür wäre das Thema politischer Islam. Antwort hierauf müsste die Stärkung von Strukturen progressiver migrantischer Selbstorganisation sein, die in Form vor allem der türkischen Linken und der kurdischen Bewegung eine lange Tradition in Deutschland haben und an vielen Orten buchstäblich die einzigen lebensweltlich fest verankerten Gegenkulturen zum islamistischen Milieu in migrantischen Gesellschaften darstellen. Nicht nur werden diese Strukturen nicht unterstützt, sie werden aktiv kriminalisiert. Für diese Potenziale muss allerdings blind bleiben, wer die Problematik ausschließlich in Kategorien von deutscher Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit betrachtet.

Hier schließt sich der Kreis am Ausgangspunkt des basalen Politikverständnisses. Denn die Vermittlungen dieser Widersprüche sind kein frommer Wunsch. Faktisch werden sie jeden Tag vollzogen, auf der Straße, in den Betrieben, an den Universitäten. Und zwar von denjenigen die tatsächlich an der Basis in diese Kämpfen involviert sind, anstatt durch Talkshows zu tingeln. Ob Verdi und Fridays for Future gemeinsame Streikaktionen organisieren, linke Thinktanks sich Konzepte für eine sozial-ökologische Wende überlegen, Black Lives Matter und Gewerkschaften die potenziale anti-rassistischer Sozialpolitik ausloten, oder sich im Zuge des Terroranschlags von Hanau überall in Deutschland Migrantifa-Strukturen bilden, die zu bemerkenswerten Sammlungsbewegungen für eine neue Generation türkischer, kurdischer, arabischer und jüdischer Genoss*innen wurden.

Die neoliberale Gesellschaft parzelliert, vereinzelt, vereinsamt die politischen Subjekte. Und ja, auch manch populäre Schwundform Foucaultscher Theoreme mag daran ihren Anteil haben. Wagenknecht stellt allerdings diesen „Identitätspolitiken“, lediglich ihre eigene an die Seite. Die Bedeutung von Solidarität wäre es, diese zu überwinden. Diese kann nur von unten geschaffen werden. Demokratie braucht in der Tat einen Demos, ein „Wir“, wie es sich im „We, the people“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung artikuliert. Nicht zufällig beginnt wohl auch der Gesellschaftsvertrag von Rojava, ebenso wie die Unabhängigkeitserklärung Vietnams mit diesen Worten. Von oben zusammengehalten werden aber kann dieser Demos nur durch Manipulation und Appell ans Ressentiment. Von unten entsteht er in den emanzipatorischen Bezügen der Bewegungen und politische Subjekte aufeinander, die niemals konfliktfrei sein können, eben weil ihre Beziehungen aus den Kämpfen selbst erwachsen. Eine solche, nennen wir sie – auch der augenzwinkernden Provokation halber – in Anlehnung an Derrida, „kommende“ Gemeinschaft, entsteht nicht in Anrufung essentialistischer Identitäten, sondern in den politischen Handlungen, buchstäblich in den Kämpfen selbst. Ihr Inhalt ist nicht passive Identifikation mit dem Gegebenen und als gemeinsam Vorgestellten, sondern Wette auf die Zukunft im Medium des politischen Kampfes. So könnte Gerhard, der bei Opel am Band steht und die genderqueere TransaktivistX vielleicht feststellen, dass ihre jeweiligen Forderungen und Bedürfnisse nur sehr, sehr wenig mit der Lebenswelt des jeweils anderen zu tun haben, aber, dass sie das auch nicht müssen. Es genügt das Versprechen für den jeweils anderen zu kämpfen, wenn er für einen selbst kämpft. Diese Gemeinschaft ist nicht im präsentischen Sinne einfach vorhanden, sie wird aber präfiguriert in den sie begründenden Kämpfen. Sie wird autonom geschaffen, nicht heteronom verordnet. Darin bestünde im emanzipatorisch-politischen Sinne der eigentliche Gehalt der berühmten Worte eines großen Philosophen, über den Wagenknecht vor sehr langer Zeit einmal ihre Magisterarbeit schrieb und an den man sie vielleicht erinnern sollte: „Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.“

# Titelbild: public domain

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Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region, sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Von der peruanischen Küstenstadt Trujillo, den Anden von La Libertad und der Regenwaldregion Perus hat sie bereits berichtet. Weiter geht es in der Hauptstadt Lima.

Lima ist keine besonders schöne Stadt. Über 10,5 Millionen Menschen leben und arbeiten in der gesamten Metropolenregion, welche die direkt angrenzende Hafenstadt Callao – wo sich auch der Flughafen befindet – mit einschließt. 1535 von spanischen Kolonisatoren gegründet, war die Region um den Rímac Fluss bereits vor der Kolonisierung ein dicht besiedeltes Gebiet. Lima wurde Hauptstadt des 1542 gründeten Vizekönigreichs Peru, welches zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung 1650 fast das ganze von den Spaniern beherrschte Südamerika umfasste. Im seit 1821 offiziell von Spanien unabhängigen Land ist die Hauptstadt bis heute der zentrale Dreh- und Angelpunkt von Politik und Wirtschaft.

In Lima sind die Unterschiede zwischen arm und reich brutal sichtbar: neben Luxus-Einkaufzentren mit europäischen und u.s.-amerikanischen Marken erstrecken sich an den Berghängen über Kilometer asentamientos humanos, Slums aus Holz, Blech und Pappe. An Abwasserkanälen oder fließendem Trinkwasser fehlt es genauso wie an grundlegender Infrastruktur, etwa Schulen und Krankenhäusern.

In den letzten Jahren hat sich die Lebensqualität nochmals drastisch für alle Bewohner*innen der Stadt verschlechtert: der Verkehr hat Ausmaße erreicht, dass Strecken, die vor 8 Jahren in noch 20 Minuten mit dem Auto zu bewältigen waren, nun bis zu zweieinhalb Stunden dauern können. Micros, Combis, unzählige Taxiunternehmen, private Taxifahrer und Moto-Taxen säumen neben den vielen privaten Autos die Straßen. Dazu kommen die von der Stadt eingesetzten corredores und der metropolitano, Linienbusse mit teilweise eigens eingerichteten Fahrstreifen. Die Metro in Lima ist überirdisch und besteht aktuell nur aus einer Linie. Städtische Busse und die Metro sind jedoch regelmäßig überfüllt, so dass man bis zu einer Stunde warten muss, um überhaupt einsteigen zu können.

Neben dem Verkehr ist das zentrale Thema in der Hauptstadt die Korruption. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein neuer Fall bekannt wird. Die letzten vier peruanischen Präsidenten sind wegen Menschenrechtsverletzungen und/oder Korruption in Haft (Alberto Fujimori, Ollanta Humala), auf der Flucht (Alejandro Tolendo) oder stehen unter Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (Pedro Pablo Kucynski). Mitte April nahm sich ein weiterer Expräsident, Alan García, welcher zuletzt 2006 bis 2011 das Land verscherbelte, das Leben, als Polizisten mit einem Haftbefehl sein Haus betraten. Ein vorheriger Asylantrag in Kolumbien, um der peruanischen Justiz zu entfliehen, war abgelehnt worden.

Viele Menschen glauben jedoch nicht, dass García tot ist. „Der Alte ist nicht tot. Der hat sich abgesetzt. Oder weswegen wurde seine Leiche nicht der Öffentlichkeit gezeigt? Der ist doch nicht dumm!“ kommentiert ein Taxifahrer das Ganze an einem Nachmittag in Lima. Immerhin wird hier auch hohen Politiker*innen – wie der ehemaligen sozialdemokratischen Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán – überhaupt ein Prozess gemacht. Die relative Unabhängigkeit der peruanischen Gerichte von der politischen Klasse spiegelt sich jedoch kaum in sozialen oder wirtschaftlichen Veränderungen wieder: trotz Einbuchtungsgefahr blüht die Korruption auf allen Ebenen der Verwaltung des Staates; von den Verkehrspolizist*innen auf der Straße bis zu den höchsten Politiker*innen des Landes sind einfach alle bestechbar.

Hausarbeit: Ausbeutung und sexualisierte Gewalt

„In Peru ist es nicht leicht, gewerkschaftlich aktiv zu werden“, weiß Leddy Mozombite, Vorsitzende der Federación Nacional de Trabajadoras y Trabajadores del Hogar Perú (FENTTRAHOP), des Nationalen Verbandes der Hausangestellten Perus. Ich treffe sie im Zwei-Raum-Büro der Gewerkschaft im Zentrum der Stadt. „Unsere Organisation besteht aus 11 regionalen Gewerkschaften. Zwei weitere regionale Gewerkschaften sind dabei, sich uns anzugliedern. Unsere Arbeit ist besonders prekär, da nur sehr wenige Hausangestellte sich selber als richtige Arbeiterinnen mit Rechten und Freiheiten zur gewerkschaftlichen Organisierung verstehen. In unserem Sektor herrscht viel Informalität und Kinderarbeit. Dem versuchen wir durch die Organisierung von Hausangestellten, sowie durch Lobbyarbeit in der Politik entgegenzutreten“.

Ich erfahre, dass der peruanische Staat das 2013 durch die Internationale Arbeitsorganisation ILO formulierte Abkommen Nr. 189 zum minimalen Schutz der Arbeitsrechte von Hausangestellten erst letztes Jahr ratifiziert hat. Laut der Schweizer Informationsplattform Human Rights arbeiten weltweit über 50 Millionen Menschen als Hausangestellte in privaten Haushalten, wovon 83 Prozent Frauen sind. In Peru ist die Zahl schwer zu schätzen. Jeder untere Mittelschichtshaushalt leistet sich mindestens ein bis zwei Mal die Woche eine Haushaltshilfe. Wohnungen und Häuser in kleinbürgerlichen und bürgerlichen Stadtteilen haben immer auch ein „Dienstmädchenzimmer“, meist an der Küche angedockt. „Sehr viele junge Mädchen werden sechs- oder siebenjährig in Haushalten aufgenommen. Dies geschieht oft, um der Armut der Eltern zu entfliehen. Einige Eltern hoffen, dass ihre Töchter so zumindest ordentlich essen und vielleicht die Familie ökonomisch unterstützen können“, so Leddy. Die Aufgaben von Arbeiter*innen in Haushalten ist vielfältig: von Putzarbeiten über Aufräumen, Wäsche waschen, Kochen oder die Beaufsichtigung und Erziehung von Kindern und der Pflege von Großeltern und Familienmitgliedern mit Behinderungen wird ein breites Reproduktionsfeld bedient.

Dabei sind private Haushalte für Übergriffe und Missbrauch prädestiniert, so Leddy: „Diese jungen Mädchen werden oft aus Provinzen nach Lima geholt zum Beispiel und kennen hier außer der Familie, wo sie arbeiten, niemanden. Oft sind sie wie gefangen in den Häusern und kennen weder ihre Rechte, noch wissen sie, an wen sie sich im Fall eines Rechtsbruchs wenden könnten. Alle meine Schwestern und Genossinnen haben eine Reihe schrecklicher Geschichten zu erzählen. Als ich selber 12 Jahre alt war, habe ich bei der Familie eines Militärs in der Regenwaldregion gearbeitet. Dort hatte ich eine Freundin, die genauso alt war und mit mir dort arbeitete. Die Ehefrau des Militärs war schwanger und wir wurden zur Unterstützung der Ehefrau eingestellt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon jahrelang gearbeitet. Hochschwanger rief uns eines Tages die Ehefrau zu sich und erklärte uns, dass ihr Mann mit einer von uns schlafen wollte, und dass er sich eine aussuchen würde. Wir waren wie versteinert und trauten unseren Ohren nicht. Der Militär kam rein und schnappte sich meine Freundin. Sie schrie und trat. Vor Angst sprang ich aus dem Fenster und schnitt mir dabei die Füße auf. Mit offenen Wunden lief ich bis nach hause. Von diesem Mädchen habe ich nie wieder etwas erfahren“, erzählt mir Leddy.

Und diese Geschichten sind keine Einzelfälle. Von jahrelangem sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen bis zu Sklavenarbeit, 16-Stunden Schichten und Zurückhaltung von mehrmonatigen Lohnzahlungen passiert im Sektor der bezahlten Reproduktionsarbeit in privaten Haushalten alles. „Deswegen haben wir uns angefangen vor vielen Jahren zu organisieren und fordern weiterhin für alle Arbeiterinnen und Arbeiter in privaten Haushalten volle Urlaubsrechte, Rentenversicherungen, ein 8-Stunden-Arbeitstag, Vereinigungsfreiheit, Schutz von Minderjährigen, Zugang zur Justiz, Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz sowie schriftliche Verträge“. Bis dato haben jedoch nur eine kleine Minderheit von Hausangestellten in Peru Zugang zu diesen Rechten.

Kunst und Kampf

An einem anderen Tag treffen wir Karla in einem feministischem Kunstatelier im Bezirk Lince. Sie ist 16 Jahre alt und hat die Gruppe Secundaria Combativa vor einem Jahr mitgegründet: „Ich bin an einer reinen Mädchenschule. Viele meiner Mitschülerinnen sind Töchter von Straßenveräuferinnen; einige arbeiten selber nach der Schule und helfen ihren Eltern. Wir haben uns als Antwort auf die Entlassungsandrohungen der öffentlichen Reinigungsarbeiterinnen der Gewerkschaft SITOBUR gegründet. Damals ist ein Bild, das ich gezeichnet und auf Facebook hochgeladen habe, sehr populär geworden. Dort war eine Schülerin in Uniform Hand in Hand mit einer Reinigungsarbeiterin abgebildet“.

Der Kampf der Öffentlichen Reinigungsarbeiter*innen von Lima wurde über viele Wochen Mitte bis Ende letzten Jahres hart geführt. Die Entlassung von hunderten, meist weiblichen, Arbeiter*innen konnte jedoch nicht verhindert werden. Was blieb war die Kampferfahrung der Frauen und Mädchen. „Viele von uns machten ihre ersten Erfahrungen auf den Demos gegen die Begnadigung von Fujimori und später auch bei der Verteidigung der Arbeitsplätze der Reinigungsarbeiterinnen“, erzählt mir Karla. Als dann vor wenigen Monaten neue Maßnahmen zur sogenannten Regulierung des Straßenverkaufs von der Stadtverwaltung ergriffen wurden, organisierten sich die Schülerinnen gezielter. „In den letzten Monaten haben wir selbstorganisierte Workshops am Nachmittag an unserer Schule angeboten. Vor allem Zeichnen und Malen waren da auf dem Programm. Über diese Kunstworkshops konnten wir mehr Zugang zu auch jüngeren Mädchen erhalten und haben angefangen, über ihre Lebenssituation und ihre Probleme zu sprechen. Die Kunst war da ein wichtiger und niedrigschwelliger Einstieg, um erst mal in einem Raum ohne Lehrkräfte zusammen zu kommen“.

Karla ist sehr klar in ihrer politischen Perspektive. Sie selber hat sich vor zwei Jahren während der Proteste der Auszubildenden gegen das von den Protestierenden als „Sklavengesetz für die Jugend“ gebrandmarkte Gesetz politisiert, welches jahrelange Umsonstarbeit in Betrieben für Auszubildende vorsah, um Peru auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu machen. Sie ist zuerst alleine zu den Demos gegangen und später dann auch mit anderen Mitschülerinnen. Oft in Schuluniform. „Das war eine gute Politisierungserfahrung. Und darüber haben wir auch andere Themen kennengelernt“ so Karla. Nun kämpft die Secundaria Combativa gegen die Repression gegen die Straßenverkäufer*innen in der Hauptstadt, bei welcher das Ordnungsamt und die Polizei brutal vorgeht. Die politisch Verantwortliche für die Durchführung dieser Maßnahmen ist Susel Paredes. Die offen lesbische Rechtsanwältin und Politikerin des sozialdemokratisch-liberalen Partido Descentralista Fuerza Social, der Dezentralen Partei Soziale Stärke war 2010 Teil der Villarán, Ex-Bürgermeisterin von Lima, unterstzützenden politischen Kräfte. Bis 2014 war sie Leiterin des Prüf- und Kontrollamtes in der Metropolregion Lima und seit 2019 ist sie für die serenazgos, das Ordnungsamt für den Bezirk La Victoria im Zentrum der Stadt zuständig. Karla erzählt von den enormen Problemen, denen nun viele Eltern ihrer Mitschülerinnen, sowie ihre Mitschülerinnen selber ausgesetzt sind: „Ihnen werden nicht nur ihre Waren weggenommen, oft werden sie auch noch eingebuchtet und bekommen Strafgebühren. Bei diesen Razzien gibt es regelmäßig Verletzte. Viele davon sind noch Kinder“.

Die Liberalen stehen nicht auf unserer Seite

Paredes gilt als Musterbeispiel der LGBTQI-Gemeinschaft in Lima. Als queer-feministische Aktivistin bekannt geworden, werden die Gräben zwischen einem liberal-feministsichem und einem klassenkämpferisch-feministischen Lager immer deutlicher. „Wenn Feministinnen uns mit ‚Schwesternschaft‘ ankommen und meinen, wir sollten Paredes unterstützen, weil sie eine Frau ist, fragen wir: Für welche Frauen macht sie Politik? Interessieren sie arme Frauen? Interessieren sie unsere Mütter? Interessieren sie meine lesbischen Mitschülerinnen, die nach der Schule Kaugummis verkaufen? Dies ist keine Frage des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung! Hier geht es um Klasse. Und Paredes und die ganzen anderen Liberalen stehen nicht auf unserer Seite“.

Das politische Panorama in Lima ist sehr breit. Von bürokratischen Gewerkschaftsführungen und liberal-feministischen Nichtregierungsorganisationen erstreckt es sich über kleinere maoistische Gruppierungen und Parteien, die meisten von ihnen, wie Patria Roja, seit Jahrzehnten in reformistische und kapitalaffiermierenden Politiken involviert, bis hin zu radikalen Feministinnen, die sich oft als Abolitionistinnen, also Sexarbeit-Gegenerinnen profilieren.

Eine große feministische Bewegung wie die marea verde, die grüne Welle, wie sie etwa in Chile und Argentinien tausende Frauen verschiedenster Generationen für ein Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung 2017 und 2018 auf die Straße mobilisierte, existiert so in Peru nicht. Einige klassenkämpferische Feministinnen haben sich vor wenigen Monaten zur Coordinadora Popular 8M zusammengeschlossen. Das als Plattform gedachte Plenum versucht aktuell verschiedene anarchistische und kommunistische Perspektiven eines klassenkämpferischen Feminismus koordiniert zusammen zu bringen, um gemeinsame Kampagnen gegen liberale Feministinnen zu planen und im Spektrum eines anti-patriarchalen Kampfes geschlossener aufzutreten. „Wir sind noch ganz am Anfang unserer Organsierung“, erklärt mir eine Genossin aus der coordinadora, welche Frauen verschiedener Gruppierungen umfasst. „Aktuell stellen wir eine Leseliste zusammen. Wir wollen uns mit den Grundlagen patriarchaler Strukturen im Kapitalismus auseinandersetzen. Hierzu werden wir Engels und Kollontai lesen“. Ich treffe die Genossinnen im Flur eines Gewerkschaftshauses im Stadtzentrum, wo sie sich in einem kleinem Stuhlkreis zusammen gefunden haben. Verschiedene Referentinnen sollen Texte vorbereiten und vorstellen. Gleichzeitig wird über aktuelle Fragen und gewerkschaftliche Mobilisierungen in Lima, und möglichen Interventionen, diskutiert. „Die liberalen Feministinnen beschimpfen uns als Verräterinnen. Sie sagen wir werden von Männern vorgeschickt und arbeiten gegen den Frauenzusammenhalt. Klar tun wir das! Denn eine Kapitalistin und eine Frau, die das Kapital schützt und verteidigt, hat nichts mit uns und unseren Kampf für die Befreiung der Menschheit zu tun“.

Wir wollen ins Museum, um uns, neben den aktuellen Kämpfen, auch mit der Geschichtspolitik des Landes auseinanderzusetzen.

# Eleonora Roldán Mendívil

# Titelbild: Banner der Escuelas Libres, einer klassenkämpferischen Jugendgruppierung, am 1. Mai 2019 in Lima, Eleonora Roldán Mendívil

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