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Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

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Die traditionelle Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin stellt sich dieses Jahr neu auf. Ein breites migrantisches Bündnis will die Demo revitalisieren. Peter Schaber sprach mit Aicha Jamal, Pressesprecherin des Revolutionären 1. Mai Bündnisses und Mitglied von Migrantifa Berlin, über den Kampftag der Weltarbeiterklasse und wie man ihn dieses Jahr in Berlin begehen möchte.

Migrantifa ist aus einer Massenmoblisierung gegen rechten Terror, racial Profiling, Rassismus entstanden. Jetzt werdet ihr dieses Jahr zu einer der Hauptorganisatorinnen des Revolutionären 1. Mai. Warum? Was sind die inhaltlichen Gründe dafür, sich diese schwer handhabbare Demo aufzubürden?

Es ist uns vor allem wichtig, dass der Klassenkampf migrantischer wird – und dass überhaupt Klassenkampf in diesem Land stattfindet. Es geht uns auch darum, aufzuzeigen, dass liberaler Antirassismus nichts bringt. Die Idee, dass mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse Verbesserungen für den Großteil der migrantischen Bevölkerung oder den Globalen Süden hervorbringen wird, ist eine Illusion. Die Produktionsweise muss geändert werden. Der Kapitalismus trägt den Rassismus in sich wie die Wolke den Regen, könnte man in Abwandlung eines Zitats von Jean Jaures sagen. Das einzige wirksame Mittel gegen Rassismus ist Klassenkampf.

Andererseits nehmen wir auch wahr, dass die radikale Linke in Deutschland sich in den vergangenen Jahren sehr isoliert war von der Bevölkerung. Wir glauben aber, dass radikale Politik nicht in Szenen oder Blasen gemacht werden kann, sondern dass man eine breite Massenbewegung aufbauen muss, die weit über das Szene- und Akademikermilieu hinausgeht. Man muss die Arbeitenden, Erwerbslosen, die Menschen ohne Papiere, Frauen und die Jugend abholen.

Die Demo führt dieses Jahr durch Berlin-Neukölln. Was war ausschlaggebend für die Wahl der Route?

Neukölln ist einerseits der Ort, in dem wir als Migrantifa schon viele Verbindungen zu Nachbar:innen haben. Wir sind sehr präsent hier. Und es ist ein Ort, an dem sich viele politische Entwicklungen aufzeigen lassen: Der rechte Terror, die massive Polizeipräsenz, die Kriminalisierung der Communities durch die rassistische Clan-Debatte, die Gewerbekontrollen und Razzien. Diese Faschisierungstendenzen sind vom kapitalistischen System nicht zu trennen und deshalb ist es wichtig, sie auch am Tag der Weltarbeiterklasse zum Thema zu machen.

Neukölln ist auch ein migrantischer und Arbeiterbezirk. Weil unser Ziel ist, am 1. Mai unsere Klassengeschwister einzuladen, mit uns auf die Straße zu gehen, fanden wir, dass das der richtige Kiez ist.

Wir wollen die historische Bedeutung von Kreuzberg für den 1. Mai zwar mitaufnehmen – deshalb laufen wir am Ende auch rein-, aber gleichzeitig ist in Kreuzberg schon sehr viel von der früheren Kultur und dem früheren Kiezleben durch die Gentrifizierung zerstört worden.

Jenseits der neuköllnspezifischen Themen, welche bundesweiten oder globalen Anliegen stehen dieses Jahr im Mittelpunkt?

Es geht vor allem um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse, die Erwerbslosen und Armen. Die herrschende Klasse zeigt auf die Bevölkerung und tut so, als ob diese an der Pandemie Schuld wäre. Aber in Wahrheit steht in der offiziellen Corona-Politik ja nicht irgendein Gemeinwohl im Zentrum, sondern Kapitalinteressen. Diese Krise hat Profiteure, die sich immens an ihr bereichern, während es für uns stetig bergab geht. Wir haben immer weniger Geld, verlieren unsere Jobs und sind einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als die Bonzen, obwohl wir unser Privatleben komplett einschränken müssen.

Ein weiteres Thema ist der Ausverkauf der Stadt, die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt. Die komplette Stadt gehört Investoren. Da wollen wir vor allem das Thema Enteignung aufgreifen, weswegen es auch eine Enteignungs-Block auf der Demo geben wird.

Natürlich spielen auch die Kämpfe in den Herkunftsländern unserer Freund:innen eine große Rolle, in denen ja oft genug der deutsche Imperialismus mitmischt: Kurdische Genoss:innen werden mitlaufen, Solidarität mit den indischen Bauernaufständen wird es geben, aus den Philippinen beteiligen sich Genoss:innen, Palästina und der Sudan werden eine Rolle spielen. Geflüchtete und die Kämpfe gegen das mörderische Grenzregime werden ebenfalls vertreten sein.

Ihr schreibt in eurer Pressemitteilung, dass es euch wichtig ist, dass die Demo „nicht entfremdend“ auf die Menschen in Neukölln wirkt. Welches Auftreten schwebt euch da vor?

Bei unserer Demonstration zu Hanau haben wir gesehen, dass sich sehr viele migrantische Menschen der Demo angeschlossen haben und mitgelaufen sind, weil sie sich angesprochen gefühlt haben. Ich glaube, schon durch das breite migrantische Bündnis, das dieses Jahr zum ersten Mal mit aufruft, können wir einladend auf unsere Geschwister wirken. Dadurch dass wir unsere Themen und unsere politische Kultur miteinbringen, schaffen wir einen Identifikationspunkt.

Gleichzeitig wollen wir einen Anknüpfungspunkt schaffen, weil der 1. Mai auch in vielen unserer Herkunftsländer eine lange Tradition hat. Wir haben uns zudem entschieden, die Demo dieses Jahr anzumelden, das heisst, wir können auch mehr Redebeiträge und kulturelle Beiträge stattfinden lassen. Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, die Leute ermutigt, sich in die Demo einzureihen.

Dadurch, dass viele migrantische Gruppen aufrufen, wird auch von Anfang an ein breiterer Schnitt durch die Gesellschaft anwesend sein, ältere Genoss:innen, Familien mit Kindern und so weiter. Wir bitten auch alle Teilnehmenden darum, die Demonstration als kämpferische politische Veranstaltung und nicht als Outdoor-Party zum Biertrinken zu sehen.

Die Corona-Zahlen steigen. Wie ist unter diesen Bedingungen die Demo sicher durchzuführen?

Wir nehmen das Virus sehr ernst und wollen auch bei der Demonstration das Infektionsrisiko so gering wie möglich halten. Mindestabstände sollen eingehalten werden, Masken sind Pflicht. Gleichzeitig fordern wir die Polizei dazu auf, sich von der Demo fernzuhalten, denn es ist unmöglich, das durchzusetzen, wenn ein Mob von Cops auf die Demo einprügelt.

Die Gefahr einer im Freien, mit Abstand und Maske durchgeführten Demonstration ist unserer Einschätzung nach geringer als das Ansteckungsrisiko, dem wir jeden Tag auf der Arbeit ausgesetzt sind. Solange das nicht beendet wird, lassen wir es uns auch nicht nehmen, für unsere Interessen auf die Straße zu gehen.

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„Corona? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Diese Umdichtung von Tucholskys „Französischem Witz“ fasst die Attitüde der Bundesregierung zur Coronakrise ganz treffend zusammen. Die bis jetzt mehr als 24.000 Toten allein in Deutschland waren ein einkalkuliertes Opfer, das zu bringen war, um die kapitalistische Wirtschaft am Laufen zu halten.

Von wegen Gesundheitsschutz

Die öffentlichen Erklärungen sind selbstverständlich andere: „Wir sind zum Handeln gezwungen“, so Angela Merkel (CDU) nachdem vergangenen Freitag mehr als 600 Menschen an einem Tag an Corona gestorben waren. „Letztendlich bleibt der Maßstab der Gesundheitsschutz“, so Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Wirklich? Die Toten der Wochen davor waren kein Grund zu Handeln? Oder die Warnungen von verschiedensten Wissenschaftler:innen der letzten Monate?

Die unerträglichen Folgen dieser Politik zeigen sich nicht nur in den Todeszahlen, die unter ferner liefen den Grundton der täglichen Berichterstattung bilden. Vor allem die Gesundheitsarbeiter:innen, die nach Jahrzehnten neoliberaler Austeritäts- und Privatisierungspolitik sowieso schon unter katastrophalen Arbeitsbedingungen zu leiden hatten, tragen die Folgen der Krise. Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankenhäusern haben ein sieben Mal höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Ihre Hilfeschreie sind wohl unter dem Lärm des ganzen Applauses untergegangen.

Der Gesundheitsschutz war während der ganzen Pandemie nur nachrangig, das wichtigste war und ist, dass möglichst viele Menschen weiter arbeiten gehen und die irre Selbstmordsekte Kapitalismus am Laufen halten. Allein die Ausrichtung der Maßnahmen nach der verfügbaren Zahl der Intensivbetten kalkulierte das massenhafte Sterben von Menschen mit ein. Aber auch im seit gestern geltenden „harten Lockdown“ zeigt sich diese Menschenverachtung: Ausgangssperren in Sachsen und Baden-Württemberg, Aufenthalts- und Versammlungsverbote bundesweit, private Treffen sind auf ein Minimum zu reduzieren. Der einzige Bereich der nicht reguliert wird: der Arbeitsplatz, wo wir die Profite für die Kapitalist:innen erschuften. Und während einfach immer weitergearbeitet werden soll, schließen Kitas und Schulen. Eltern (vor allem Frauen*) sollen dann alles gleichzeitig machen: Arbeiten gehen, Kinder betreuen, den Haushalt schmeißen und dabei natürlich nicht das Konsumieren vergessen – online bei amazon versteht sich. Unternehmer:innen hingegen werden lediglich nett gebeten, Betriebsferien auszurufen oder Homeoffice zu ermöglichen, während der Rest des gesellschaftlichen Lebens von der Polizei kontrolliert und Zuwiderhandlungen hart sanktioniert werden. Die Frage, ob man sich nicht auch am Arbeitsplatz mit der tödlichen Seuche anstecken kann, stellt dabei niemand.

Gleichzeitig steigen die Vermögen trotz Corona-Krise weiter , haben 40 Prozent der Bevölkerung Einkommenseinbußen, von den geschätzt 500.000 sowieso illegalisierten in Deutschland ganz zu schweigen. Während Arbeiter:innen in Kurzarbeit gehen, schütten sich die Aktionäre großzügig Dividenden aus – dieses Jahr voraussichtlich über 37 Milliarden Euro allein aus DAX-Unternehmen. Und die so gebeutelten Unternehmer:innen können Hilfen von läppischen 500.000 € pro Unternehmen und Monat klar machen. Für den Rest bleibt Hartz IV. Alles zum Wohle „der Wirtschaft“ – oder anders formuliert: der besitzenden Klasse.

Die Schuldfrage

Diese zynische Politk des Sterbenlassens kann natürlich nicht eingestanden werden. Deswegen wird, wie beim Klimaschutz, die Verantwortung für die grassierende Epidemie ins private verlagert. Wenn die Frage im Raum steht, wer an der fortlaufenden Verbreitung des Virus Schuld hat, ist der anklagende Zeigefinger schnell ausgestreckt: Die jungen, rücksichtlosen Leute, die feiern wollen; die Demonstrant:innen auf den Black Lives Matter Demonstrationen; die arabischen Großfamilien in Neukölln und ihre ach so großen Hochzeiten; die Gastronomie; und jetzt, ganz aktuell, die unverfrorenen Glühweintrinker:innen. Oder wie es im WDR heißt: „Die Menschen haben sich nicht genügend an die Appelle von Politik und Wissenschaft gehalten.“

Im neoliberal verstellten Blick auf die Welt werden gesellschaftliche Zusammenhänge, wie der Zwang zur Arbeit, der Zwang sich den mörderischen Vorgaben in Betrieben zu beugen weder erkannt noch thematisiert. Statt den staatlich orchestrierten Zerfall der Sozialstrukturen zugunsten der Profitmaximierung in den Blick zu nehmen, wird die Schuld den Einzelnen in die Schuhe geschoben. Soll heißen: Schuld an der Misere haben weder die Regierung, noch die viel zu engen Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in den Fleischfabriken, sondern die Arbeiter:innen, die sich erdreisten, nach der Maloche dort noch ihre Oma zu besuchen. Dieser Blick auf die vermeintlichen Ursachen der Pandemie kennt dann eben auch nur die neoliberale, vereinzelnde Antwort, die wir jetzt gerade sehen: Zuckerbrot für die Kapitalist:innen, die autoritäre Peitsche für den Rest. Neoliberale Ideologie und staatlicher Autoritarismus gehen schließlich gerne auch mal Hand in Hand.

Die Coronakrise offenbart einmal mehr, wie verkommen und menschenfeindlich dieses Gesellschaftsmodell ist. Die Maschine muss weiterlaufen und weiter Profite aus den Arbeiter:innen pressen, im Krankenhaus, am Band, im Einzelhandel; dafür sind ein paar Coronatote schon ok. Und wenn‘s dann gar nicht mehr geht, werden eben die Büttel des Staates auf die Leute losgelassen – it‘s the economy, stupid.

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Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands? Teil 1 einer Analyse.

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es ist also klar, dass Nationalismus als Basis einer Protestbewegung, die ein gutes Leben für alle will, ungeeignet ist. Welche klassenkämpferischen und emanzipatorischen Perspektiven es davon abgesehen trotzdem gibt, beschreiben wir im zweiten Teil unserer Analyse.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Viertel in Minsk

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Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man in Politik und Wirtschaft die „Held:innen des Alltags“ schätze, gingen einher mit realer Missachtung von Löhnen, Arbeitsdruck und Gesundheitsschutz. Unser Autor Frederik Kunert ist Integrations-Erzieher an einer Berliner Grundschule und schreibt über Mehrbelastung, fehlende Gegenwehr und die zynische „Corona-Prämie“.

Analog zu den als „Helden und Heldinnen der Corona-Krise“ gefeierten Beschäftigten im Gesundheitsbereich, wird auch den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas und Schulen ins Gesicht gespuckt: Mit der „Dankesprämie“, für die Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich feiern lässt.

In seiner Pressemitteilung als regierender Bürgermeister vom 5.5.2020 spricht er von einer „einmaligen Dankesprämie“ von bis zu 1.000 Euro für alle Beschäftigten, „die in der Corona-Krise außergewöhnliche Leistungen erbracht haben und in Serviceeinrichtungen einer erhöhten gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt waren.“ Zu diesen Beschäftigten zählt er explizit die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, sowie in den Schulhorten.

Ohne die Arbeit dieser Beschäftigten hätten auch einige andere systemrelevante Berufe nicht in dem Maße weiter ausgeführt werden können, wie es der Fall war. Sie übernahmen die Notbetreuung und setzten sich so einem erhöhten Infektionsrisiko aus. Auch jetzt, in der zweiten Welle, sind sie diesem Risiko weitestgehend ausgesetzt. Hygienekonzepte sind in Einrichtungen mit mehreren Hundert Kindern in der Praxis oft nicht umsetzbar. Der Schutz der pädagogischen Fachkräfte scheint oft nicht von Belang. Wichtig ist dagegen offenbar eher, alles um jeden Preis am Laufen zu halten und ein abermaliges Schließen der Schulen und Kitas zu verhindern.

Politiker:innen überschlugen sich im Verlauf der ersten Welle mit Komplimenten und Dankesreden an die „Heldinnen und Helden des Alltags“ und manch einer träumte gar davon, soziale Berufe würden endlich ihrem gesellschaftlichen Stellenwert angemessen bezahlt. Schließlich zeigte die Corona-Krise wie schon lange kein Ereignis vor ihr, welche Berufe „systemrelevant“ – eigentlich eher: relevant für die Gesellschaft – sind und welche eigentlich kein Mensch braucht. Hedgefonds-Manager:innen und Vermieter:innen gehören jedenfalls nicht zu denen, die die gesellschaftlichen Abläufe am Leben halten.

Den offenen Widerspruch zwischen der Bezahlung vieler Berufe und ihrer gesellschaftlichen Relevanz beschrieb schon der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bullshit-Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit“: „Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt. Auch hier ist es schwierig, ein objektives Maß zu finden, aber einen Eindruck kann man sich mit einer einfachen Frage verschaffen: Was würde geschehen, wenn diese ganze Berufsgruppe einfach verschwinden würde? Man kann über Krankenschwestern, die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr oder Automechaniker*innen sagen, was man will, aber eines liegt auf der Hand: Würden sie plötzlich verschwinden, die Folgen wären sofort spürbar und katastrophal. Auch eine Welt ohne Lehrer*innen oder Hafenarbeiter*innen würde schnell in Schwierigkeiten geraten und selbst ohne Science-Fiction-Autor*innen oder Ska-Musiker*innen wäre sie sicher weniger schön. Dagegen ist nicht ganz klar, wie die Welt leiden würde, wenn alle Private-Equity-Manager*innen, Lobbyist*innen, Public-Relations-Berater*innen, Versicherungsfachleute und Rechtsberater*innen für Konzerne auf ähnliche Weise verschwinden würden.“ Schnell wurde aber doch klar, dass man außer etwas Beifall und eventuell einer Prämie nicht viel zu erwarten hat. Wie wenig war trotz aller vorhanden Skepsis dann doch ein Schlag ins Gesicht.

Viele soziale Einrichtungen werden von freien Trägern getragen, auch viele Ganztagsbetreuungen an den Schulen gehören zu den freien Trägern. Daraus entsteht eine oftmals gespaltene Belegschaft: einige haben noch alte Verträge und sind beispielsweise beim Senat angestellt und somit im öffentlichen Dienst, andere sind bei den freien Trägern angestellt. Oftmals werden die Tarifverträge angepasst, jedoch nicht immer. Den Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes wurden ihre Dankesprämien ausgezahlt. Ähnlich differenzierend und spaltend lief es bzgl. der Prämie auch im Pflege-Bereich.

Die freien Träger mussten nun die Gelder für die Dankesprämie beantragen, um sie ihren Beschäftigten ebenfalls zahlen zu können. Relativ schnell und problemlos erhielten sie die Gelder. Allerdings reichten diese Gelder für eine Prämie von bis zu 1.000 Euro, wie Michael Müller es großspurig angekündigt hat, von vorne bis hinten nicht. Auf alle Mitarbeiter*innen verteilt, wäre eine Prämie von etwa 50 Euro pro Person dabei herausgekommen. Viele freie Träger verzichteten auf die Zahlung dieser „Prämie“, die sich doch eher wie Hohn und Spott anfühlen würde. Ein Erzieher beschriebt das Gefühl vieler Mitarbeiter*innen gegenüber dem RBB so: „Nach dem Motto: Diejenigen, die für das Land Berlin arbeiten, haben es gut und die anderen müssen sehen, wo sie bleiben. So hört sich das für mich an.“

Auf einen offenen Brief zu dieser Thematik reagierte der Bürgermeister bisher nicht. Nicht nur dieser schlechte Witz einer „Prämie“, auch die aktuell ablaufenden Vorgänge in den Einrichtungen sind ein Schlag ins Gesicht der pädagogischen Fachkräfte. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW sieht die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen und Kitas kritisch: „Konkrete und verbindliche Maßnahmen – Fehlanzeige! Die Sommerferien hätte die Senatorin besser nutzen können. Insbesondere, um sich mit den Beschäftigtenvertretungen dazu auszutauschen, wie Bildung in Zeiten von Corona aussehen kann“, kritisierte die Vorsitzende der GEW-Berlin, Doreen Siebernik. Weiter sagt sie: „Die Kolleg*innen fühlen sich in den Schulen allein gelassen. Es herrscht riesige Unsicherheit, wie der Schulalltag mit den einzuhaltenden und mitunter widersprüchlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen und vor dem Hintergrund tausender fehlender Lehrkräfte aussehen soll. Wir verstehen das Bedürfnis nach einem geregelten Schulstart. Aber wir halten es für unverantwortlich, die Gruppen- und Klassengrößen wieder auf das Vor-Corona-Niveau anzuheben und auf Abstandsregeln zu verzichten. Auch die Erfahrungen mit dem Lernen in kleinen Gruppen sind unbeachtet geblieben.“

Leider bleibt die GEW auch hier wie so oft zahnlos. Politische Streiks sind verboten und demnach ausgeschlossen. Für bessere Arbeitsbedingungen, ein anderes Schulsystem oder ähnliche „Utopien“ darf nicht gestreikt werden. Lediglich für Tarifforderungen ist dies zulässig und auch hier hat die GEW in den letzten Jahren einige Mitglieder mit ihrer weichen Verhandlungsstrategie verschreckt. Viele Erzieher*innen sind bereit, lange zu streiken, um wenigstens endlich angemessen bezahlt zu werden, die GEW gibt sich jedoch oft mit Warnstreiks und anschließenden faulen Kompromissen und minimalen Lohnerhöhungen zufrieden.

Michael Müller hingegen scheint für seine Kandidatur für den Bundestag bestens vorbereitet zu sein: Das eine sagen und das andere tun, das klingt nach SPD-Politik in Reinform.

# Titelbild: flickr Uwe Hiksch

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Die radikale Linke in Deutschland hat den Betrieb als Feld der Agitation und Öffentlichkeitsarbeit weitgehend vernachlässigt, ja aufgegeben. Ich meine mit „den Betrieb“ nicht irgendwelche Betriebe, wo andere Leute arbeiten, die wir vor den Werkstoren agitieren könnten, oder Arbeitskämpfe, an denen wir uns möglicherweise solidarisch beteiligen könnten – was immer zu begrüßen ist! –, sondern den eigenen Arbeitsplatz, die eigenen Kolleg*innen.

Politischer Aktivismus findet in Deutschland meist nach Feierabend statt, gern auch am Wochenende und anlässlich von Groß-Events. Der Arbeitsplatz gilt als tendenziell unpolitischer Raum, für die herrschende Klasse steht er auch außerhalb der Demokratie. Sie hat dieses Denken in den vergangenen 40 Jahren erfolgreich verbreitet — bis tief in radikale und alternative Kreise. Der politische Aktivismus folgt heute eher den Gesetzmäßigkeiten der neoliberalen Urlaubs-, Event- und Festivalkultur.

Das war 1971 offenbar anders. Damals fand der Hamburger Rätekommunist Bernie Kelb in seiner Betriebsfibel schroffe Worte für das, was wir heute vorfinden:

Revolutionäre Arbeit soll nicht auf der Idiotenwiese stattfinden. Die Idiotenwiese ist der Freiraum, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb. Dabei darf der Begriff »Betrieb« nicht zu eng gefasst werden. Es kann sich um eine Behörde, eine Fabrik, eine Klinik, ein Warenhaus oder um eine Uni, eine Zeitungsredaktion, eine Bank und (für Lehrer und für Schüler) eine Schule handeln.

Kelbs Betriebsfibel ist wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit. Sehr interessant zu lesen. Heute fehlt vielen Radikalen ein direkter Bezug zur Lebensrealität der arbeitenden Klasse. Zu ihrer Denkweise, ihrer Gefühls- und Gemengelage. Darin liegt ein wichtiger Grund für die Schwäche der Linken und ihre relative Bedeutungslosigkeit, daraus resultiert Orientierungslosigkeit bishin zu Verpeiltheit und Anfälligkeit für neo-konservative oder neoliberale Irrungen und andere Wirrungen ideologischer Art.

Das gilt sicher nicht für die wenigen Radikalen, die auch heute in Betriebsräten und Gewerkschaftsgremien die Stellung halten. Sie haben eher das umgekehrte Problem. Sie sind mit bürokratischen Vorgängen — vieles davon relativer Bullshit — so ausgelastet, oder werden von der Unternehmerseite sogar gezielt überlastet, dass sie nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht. Gerichtsverfahren, Einigungsstellen, gewerkschaftliche Gremien und Kommissionen… Hier geht es selten um das große Ganze. Eine Politisierung der Belegschaften findet eher nicht statt, weil einerseits schlicht keine Zeit bleibt, weil andererseits die verständliche Orientierung ist, als Betriebsrat Service für die Beschäftigten zu liefern und als Gewerkschaft Mehrwert für die Mitglieder: Geld, Freizeit, Sicherheit. Meist auch nur: Schlimmeres verhindern, den allgemeinen Abwärtstrend verlangsamen.

Das war früher mal anders. Anfang der 1970er gab es einen breiten und vielschichtigen Strom von jungen Radikalen — Sozialisten, Kommunisten und Anarchist*innen — hinein vor allem in industrielle Großbetriebe. Diese Orte wurden aufgrund von Erfahrungen aus Frankreich und Italien mit einiger Berechtigung als Hoffnungsträger für kommende Aufstände, oder zumindest für einen Zugang zum Proletariat ausgemacht. Da waren die Spontis bei Opel in Rüsselsheim, Mitglieder der KPD/ML bei BMW in Spandau, das Kölner Anarchosyndikat bei Ford, Trotzkist*innen der GIM sickert in Betriebe ein, selbst Militante der Bewegung 2. Juni heuerten nach der erfolgreichen Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz, als ihnen der Boden in West-Berlin zu heiß wurde, bei KHD in Köln an (Werner Sauber) oder in einer Klodeckelfabrik in Essen (Fritz Teufel), um dort etwas aufzubauen. Oder es wenigstens zu versuchen. Und sie waren gemessen an ihren bescheidenen Zahlen und ihrer relativen Ahnungslosigkeit – da sie nach Faschismus und Adenauer beinahe ganz allein und ganz von vorn anfangen mussten – insgesamt sogar relativ erfolgreich.

Die Welle wilder Streiks, die 1973 durch Westdeutschland ging, die mit dem großen Fordarbeiterstreik 1973 ihren Höhepunkt fand, geschah zumeist mit Beteiligung dieser radikalen Elemente. Vielleicht waren sie — und das ist meine die zentrale Vermutung und Hoffnung — so etwas wie das Salz in der Suppe.

Ich möchte dafür plädieren, den Faden wieder aufzunehmen. Dabei gilt zu bedenken: Du steigst niemals in den selben Fluss. Es gibt kein zurück in die Zukunft. Selbstverständlich haben sich die Zeiten seit damals radikal gewandelt, ja der Kapitalismus hat sich – auch wegen der oben beschriebenen Anfälligkeit der Großbetriebe für das Einsickern der freien Radikalen – umgewandelt und grundlegend neu strukturiert. Die nach dem Vorbild der Ford Motor Company und General Motors integrierten Riesenfabriken sind zerschlagen worden in einen verbliebenen Kern der Endmontage und eine optimierte Wertschöpfungskette aus Sub-Unternehmen und Zulieferern, die beständig im Preis gedrückt werden.

Die Möglichkeiten, direkt als Jobber, Werksstudent*in oder Ungelernte in einem Großbetrieb anzuheuern und damit quasi automatisch Teil der ausgebeuteten Massenarbeiterschaft zu werden und in ihr zu wirken, sind durch Leiharbeit und Werkverträge verschlossen. Die Belegschaften sind heute weitgehend aufgespalten und zersplittert.

Hinzu kommt die Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet stets auch Auslese der renitenten Elemente sowohl bei Entlassungen als auch bei bei Einstellungen. In Zeiten der Praktika, sachgrundlosen Befristungen, Kettenbefristungen und Scheinselbständigkeit wird aus der Bewerbungssituation und Bewährungsphase ein Dauerzustand. Daraus – und aus der neoliberalen Gehirnwäsche, die uns umgibt – resultierte ein Anpassungsdruck der insgesamt auf die Psyche der arbeitenden Bevölkerung geschlagen ist. Es sieht nicht gut aus. Aber Fridays for Future und auch der Corona-Crash haben möglicherweise viele aus dem geistigen Wachkoma gerissen. Vielleicht hat sich der Wind gedreht. Möglicherweise ist eine neue Generation entstanden.

Welche Ratschläge und Orientierungspunkte gibt es? Nicht viel. Das vielleicht wertvollste Buch in deutscher Sprache war die oben zitierte „Betriebsfibel – Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz“. Kelb schreibt, dass der Vorentwurf zu seinem Werk im »Arbeitskreis Strategie« (ehemals Republikanischer Club) in Hamburg diskutiert wurde.

Ich werde mich in den nächsten Folgen mit der dunklen Seite des Organizing befassen: Union Busting. Organisierung im Betrieb, von der IG Metall bürokratisch „strategische Erschließung“ genannt und deren professionelle Bekämpfung gehören in dialektischer Weise zusammen. Die Strategien von Organzing und Union Busting reagieren aufeinander und korrespondieren.

Um die Serie weiter zu entwickeln bin ich für Anregungen, Hinweise, Fallbeispiele und Kritik dankbar. Mein Ziel ist es, daraus ein Handbuch entstehen zu lassen. (Kontakt: elmar.wigand@posteo.de)

# Titelbild: Stadtarchiv Kiel / Friedrich Magnussen / CC BY-SA 3.0 DE, Streik der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) für höhere Löhne bei Hagenuk Kiel 1981

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Bei den Protesten gegen Lukaschenko in Belarus mischen auch anarchistische Gruppen mit. Am 21. Oktober hat das LCM Xenia, Igor und Pjetr interviewt, Anarchist*innen aus Minsk, Belarus getroffen. Sie erzählten von ihren Erfahrungen und Perspektiven auf die Protestwelle, im Zuge derer seit Anfang August hunderttausende Menschen wöchentlich auf die Straße gehen. Sie fordern den Rücktritt des Diktators Lukashenko, Neuwahlen und Freiheit für politische Gefangene. Einige Tage nach dem Interview wurden Xenia und Igor selbst verhaftet.

Wieso beteiligt ihr euch an den Protesten?

Pjetr: Wir sehen zwar, wie sich die Proteste in Richtung Neoliberalismus bewegen, wie versucht wird einen freien Markt zu errichten und soziale Rechte abzubauen. In ökonomischer Hinsicht stimmt diese Bewegung also nicht mit unserer Ideologie überein, es gibt keinen Diskurs über Arbeiter*innenselbstverwaltung und soziale Rechte.

In politischer Hinsicht aber schon. Seit vielen Jahren leben wir unter dieser Diktatur, wir haben keine Möglichkeit, uns offen als Anarchist*innen zu bezeichnen, keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit. Es ist also sehr wichtig, diese Bewegung zu unterstützen, da sie mehr Raum für Freiheit verspricht. Wir denken, dass ein Ende dieser Diktatur auch im wirtschaftlichen Bereich mehr Handlungsspielraum eröffnen wird. Vielleicht werden wir eine stärkere Arbeiter*innenbewegung bekommen, mit mehr Freiheit sich zu organisieren.

Igor: Alle bisherigen Proteste in Belarus waren, wie wir hier dazu sagen, ziemlich zahnlos. Es waren eher kleine Sachen, wie Applausaktionen, die trotzdem sehr bald von der Bereitschaftspolizei, von OMON, zerschlagen wurden. Und die Leute haben danach nicht weiter gemacht. Das, was in diesem Sommer begann, als erheblicher Widerstand geleistet wurde, ist wirklich etwas Wunderbares für unsere Gesellschaft. Also ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass wir jetzt ein wenig stagnieren, denn das ist etwas wirklich Unerwartetes und bereits ein großer Schritt vorwärts für unsere Gesellschaft.

Ihr meintet, die Proteste gehen in eine neoliberale Richtung. Denkt ihr, es gibt auch Aussicht auf emanzipatorischere Lösungen? Was für Perspektiven seht ihr generell in den Protesten?

Igor: Ich denke die Chance, dass diese Revolution weiter in Richtung einer emanzipatorischen Perspektive geht, ist sehr gering. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie mit diesen neoliberalen Reformen zu Ende geht, aber dennoch wird sie die Plattform schaffen, von der aus anarchistische Ideen weiter verbreitet werden können.

Pjetr: Ich denke auch diese neoliberalen Reformen werden kommen, weil alle großen politischen Akteure dafür sind. Zum Beispiel fördern dies ehemalige Präsidentschaftskandidat*innen. Aber wenn sie an die Macht kommen, dann wegen des Drucks von der Straße, also werden sie uns in Zukunft irgendwie respektieren müssen.

Xenia: Das Wichtigste ist, dass sich das Bewusstsein der Menschen bereits verändert hat. Die Menschen haben erkannt, was sie tun können, was ihre Interessen sind, wie sie sich organisieren und handeln können. Und das ist bereits eine ganz erhebliche Veränderung. Wir werden nicht mehr so leben, wie wir früher gelebt haben.

Gibt es irgendwelche Gruppen oder Personen, die den Protest anführen?

Xenia: Wir haben uns oft einen führungslosen Protest gewünscht, und das haben wir jetzt erreicht. Im Moment ist er sehr selbstorganisiert, die Menschen versammeln sich in den Nachbarschaften und entscheiden selbst, wie sie handeln wollen.

Igor: Das stimmt, aber es gibt Leute, die versuchen, die Proteste anzuführen, zum Beispiel dieser Koordinierungsrat um Tikhanowskaja. Auch Blogger*innen haben ihre eigene Agenda, am populärsten ist Nexta. Aber auch der Telegramkanal der anarchistischen Gruppe Pramen, der im Moment fast 10.000 Abonnent*innen hat, ist sehr beliebt.

Pjetr: Zwischen diesen verschiedenen Oppositionsführer*innen gibt es eine Art Rollenverteilung. Tikhanowskaja und der Koordinationsrat versuchen den politischen Diskurs zu bestimmen, während Blogger*innen wie Nexta und andere die Straßenproteste koordinieren.

Gestern wurden Nexta, die größte Plattform der Proteste, und deren Symbole als extremistisch eingestuft. Warum denkt ihr ist das passiert und wird es Auswirkungen haben?

Xenia: Ich denke, dass sie nicht in der Lage sein werden tatsächlich zu verhindern, dass diese Plattform gelesen wird. Nexta war einer der ersten Blogs, der den Massen beigebracht hat VPNs zu benutzen, also werden die Leute trotzdem Zugang dazu haben. Ich denke, es wird die Leute nur noch mehr davon überzeugen, diese Quelle zu nutzen.

Igor: Das zeigt einmal mehr die ganze Absurdität eines solchen Begriffs wie Extremismus. Zum Beispiel wurde anfangs die Hälfte der anarchistischen Websites auch als extremistisch deklariert. Und okay, jetzt wird Nexta als solche eingestuft. Ich glaube, es war ein weiterer Versuch, jede Art oppositionellen Denkens zu stoppen.

Welche Rolle haben Anarchist*innen in den Protesten? Welche Rolle könnten oder sollten sie eurer Meinung nach in Zukunft übernehmen?

Igor: Ursprünglich war die anarchistische Präsenz ziemlich schwach, würde ich sagen. Wir waren nur einige Bezugsgruppen, die an den Protesten teilnahmen. Wir waren dort, aber ohne eine klare und überzeugende Agenda. Aber dann hat sich das geändert. Jetzt nehmen Anarchist*innen mehr und mehr den Raum ein. Beispielsweise sucht jetzt Nexta die Freundschaft und den Rat von Anarchist*innen.

Xenia: Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese Tendenz noch zunimmt, denn ja, wir werden jetzt irgendwie erwähnt, aber es ist immer noch nicht sehr viel. Es wäre schön, wenn wir als ernstzunehmende politische Kraft wahrgenommen werden.

Pjetr: Interessant ist, dass es Impulse aus der Gesellschaft gibt, die wir hätten vorschlagen können. Zum Beispiel Solidaritätsfonds, Initiativen gegenseitiger Hilfe, Blockade-Taktiken und sogar Barrikaden. All dies hätte von uns kommen können, aber es kam von der Basisbewegung.

Deshalb denke ich, dass dies eine gute Gelegenheit für Anarchist*innen ist, neue Protesttaktiken vorzuschlagen. Dadurch können horizontale Netzwerke geschaffen werden, die für die Zukunft erhalten bleiben.

Igor: Was auch spannend ist, ist das es inzwischen einige Bilder von Anarchist*innen gibt, die fast schon wie ein Mythos sind. Da gibt es zum Beispiel Gerüchte, dass Anarchist*innen alle Proteste koordinieren, dass Anarchist*innen die Barrikaden errichten, dass Anarchist*innen die ganze Zeit in der ersten Reihe stehen. Aber das hat eher wenig mit der Realität zu tun.

Pramen hat ein anarchistisches Programm für die Aufstände in Belarus veröffentlicht. Glaubt ihr, dass es irgendeine Perspektive hat?

Pjetr: Ich habe das Programm mitgeschrieben und denke, man kann es dafür kritisieren, dass es opportunistisch und nicht radikal genug ist. Man kann es auch dafür kritisieren, dass es keine konkreten Vorschläge dafür liefert, was zu tun ist, damit die Revolution siegt. Die Perspektive sehe ich darin, dass es einen Vektor hin zu einer anarchistischen Ausrichtung darstellt.

Was können wir aus diesen Protesten lernen?

Igor: Eine wichtige Lektion der Proteste ist, dass Anarchie auch ohne Anarchist*innen funktioniert. Das weckt große Hoffnung auf weitere Veränderungen.

Pjetr: Uns ist bewusst geworden, dass wir uns besser auf die Revolution vorbereiten müssen. Wir brauchen eine anarchistische Organisation, die nicht nur eine abstrakte Vision hat, sondern auch ein konkretes Programm, mit einer konkreten Vision, welche Veränderungen wir erreichen wollen, wie unsere Gesellschaft organisiert sein soll, und was unser Plan ist, wenn eine Revolution gegen die Diktatur, in der wir leben, stattfindet – ich glaube, wir brauchen mehr gesunden Optimismus.

Was haltet ihr im Hinblick auf internationale Solidarität für notwendig und was wünscht ihr euch?

Xenia: Verschiedene Leute haben uns gefragt, ob wir materielle Unterstützung brauchen, aber im Moment wir können das nicht klar als „schickt uns Geld“, „schickt uns Waffen“ oder „schickt uns Menschen“ formulieren. Für mich ist es einfach wichtig, dass die Menschen ihre Solidarität ausdrücken, dass sie uns Briefe schreiben und fragen, wie sie helfen können. Das ist bereits eine große Hilfe. Außerdem ist es schön wahrgenommen zu werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten.

Pjetr: Ich möchte allen, die diese Zeilen lesen, für ihre moralische Unterstützung danken. Aber auch praktische Solidarität kann etwas bewirken. Es könnte Kampagnen geben, die Druck auf die Regierungen der Länder aufbauen, die die belarussische Revolution nicht unterstützen, oder die dem belarussische Regime sogar aktiv helfen. Da wäre zum Beispiel die Firma Volkswagen, die Profite daraus schlägt, dass die repressiven Institutionen hier in Belarus hauptsächlich ihre Fahrzeuge benutzen. Und auch einige IT-Firmen, wie Synesis, die dem belarussischen Regime Entschlüsselungs-Software zur Verfügung stellen. Auch finanzielle Unterstützung ist willkommen.

Wollt Ihr noch etwas hinzufügen?

Pjetr: Ich möchte vielleicht etwas persönliches sagen. Früher habe ich mir die Revolution als etwas wirklich Schönes und Wunderbares vorgestellt, als eine Art Kreativität der Massen, mit einem Anstieg des sozialen Lebens. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass dies auch mit einer Zunahme der Repressionen und der Macht einhergeht. Schließlich scheint es nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Angst zu sein. Wir müssen also noch mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, uns gegenseitig zu unterstützen und uns umeinander zu kümmern.

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Der „Arbeitgeberverband“ der Metallindustrie bläst zur Offensive. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung präsentierte Stefan Wolf, designierter Gesamtmetall-Chef, eine Wunschliste ausgewählter Grausamkeiten. Der Kern: Die Beschäftigten sollen unbezahlt mehr arbeiten. „Mal zwei oder auch mal vier Stunden pro Woche“ kann er sich vorstellen, den Metallarbeiter*innen dieses Landes abzuknöpfen. Die 35-Stunden-Woche sei unzeitgemäß, die Löhne in Deutschland zu hoch.

Er stößt damit in die gleiche Kerbe wie zuvor sein Vorgänger Rainer Dulger. Der Multimillionär und Erbe eines Familienunternehmens beweinte zuerst, dass „es nichts zu verteilen gebe“, weil Corona es der Industrie eben unmöglich mache. Von den Gewerkschaften erwarte er eine Nulllohnrunde – also faktisch schon ob der Inflation eine Reallohnsenkung. Mehr noch aber sei selbst das nur „ein Signal“, denn es gehe um eine Trendwende: „Wir Arbeitgeber predigen seit Jahren, dass zu hohe Lohnkosten und Lohnnebenkosten Konsequenzen haben.“ Auf die Frage, was er Dulger von den Verhandlungsangeboten der Gewerkschaft IG Metall hält, antwortet der Manager mit der üblichen Erpressungsstrategie: „Wer in dieser Lage Arbeit noch teurer macht, als sie ohnehin schon ist, riskiert, dass Firmen auf Dauer Arbeitsplätze ins Ausland verlagern.“

Es geht also – wie immer – um den Standort Deutschland. Der heilige Kral für beide Seiten der „Sozialpartnerschaft“ zu dessen Rettung am Ende die Belegschaften „Zugeständnisse“ machen müssen. Doch wir haben Krise und so verlangt der heilige Standort ganz besondere Opfer.

Die (von anderen, nicht von den Kapitalisten) zu erbringenden Opfer hat der „Arbeitgeberverband“ der Metallbranche in einem Papier festgehalten, das den Titel „Wiederhochfahren und Wiederherstellung -Vorschläge für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise“ trägt. Es beginnt damit, dass die Pandemie genutzt werden soll, um die ohnehin schwachen Vorgaben zum Klimaschutz aufzuweichen: Es sei nötig, dass „auf eine weitere Verschärfung der Kli-maschutzziele, insbesondere durch die EU-Kommission verzichtet wird.“

Im selben Tenor geht es weiter, denn es soll auf sehr vieles „verzichtet“ werden: auf eine Vermögenssteuer, die Erhöhung der Erbschaftssteuer, die Grundrente und eine Reihe von Regelungen zum Schutz von Arbeiter*innen. Auch Leiharbeit und „flexible“ Arbeitsverhältnisse will man nicht beschränkt sehen.

Das Papier ist ein Generalangriff, denn die deutschen Industriefürsten haben sich viel vorgenommen. Die Pandemie soll genutzt werden, um Reallohnsenkungen durchzudrücken und einen Abbau von Rechten der Werktätigen zu beschleunigen, der im Grunde genommen seit Jahrzehnten im Gang ist.

Und so wie es aussieht, könnte zumindest einiges davon Erfolg haben. Von SPD und CDU/CSU ist selbstredend nichts zu erwarten, aber auch die Gewerkschaften haben vielerorts bereits vor der Schlacht die Waffen gestreckt und führen nur noch Defensivkämpfe zum Arbeitsplatzerhalt. Und in den radikaleren Teilen der Linken dieses Landes scheint man dergleichen Attacken erst gar nicht für irgendwas zu halten, was einen selbst betrifft.

Dabei wäre die Vorlage des Klassenfeinds geeignet zur Vereinigung vieler Kämpfe, denn er richtet sich ja gegen verschiedene Teile der Bevölkerung: Die Aufweichung der Klimaziele betrifft schlechthin alle, bewegt aber derzeit die Jüngeren; die Forderung nach noch mehr Altersarmut dagegen betrifft unmittelbar die Älteren. Und die Wünsche nach Lohnkürzungen betreffen nicht nur alle Beschäftigten im Metallsektor, sondern haben generell Signalwirkung. Die Laissez-Faire-Auslegung des Gesundheitsschutzes verstärkt die Pandemie. Und die Ablehnung von Sozial- und Arbeitsstandards in den Lieferketten schreibt das globale Ausbeutungsmodell des deutschen Imperialismus fest.

Die Bosse der Metaller sind insofern ein dankbarer Gegner. Sie sagen offen, was sie wollen. Und es ist nicht schwer zu verstehen, dass es sich gegen die überwiegende Mehrheit der Menschen richtet. Eigentlich eine gute Gelegenheit für eine Gegenoffensive.

# Bildquelle: wikimedia.commons

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In Slowenien finden seit Ende April Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung statt. Das LCM sprach mit Ramona, Anarchistin aus Ljubljana. Im ersten Teil des Interviews geht es darum, wie die Proteste entstanden sind und was die Leute auf die Straße treibt. Im zweiten Teil geht es um Verschwörungstheoretiker*innen, die gelebte Solidarität während der Aktionen und was es bedeutet über Monate hinweg an Massenprotesten beteiligt zu sein.

Slowenien wird im Moment von vielen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen erschüttert, was ist in Ljubljana los?

Die Proteste sind sehr kreativ, und ich denke, sie sind mehr als nur Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Sie richten sich vor allem gegen die autoritäre rechtsaußen-Regierungen, aber auch gegen Militarismus, Kapitalismus, Umweltzerstörung, die rassistische Migrationspolitik usw. Die Proteste nehmen unterschiedliche Formen an, bündeln sich aber meist auf die, seit dem 26. April laufenden, wöchentlichen Freitagsproteste. Es finden viele Aktionen statt: Freitags sind es die riesigen abendlichen Demonstrationen; Dann gibt es kleinere Aktionen, manchmal auch außerhalb der Hauptstadt Ljubljana, wie zum Beispiel am 19. September in Anhovo gegen die Zerstörung der Natur. In den vergangenen Wochen gab es auch regelmäßige Dienstagsaktionen von selbstorganisierten Kulturschaffenden vor dem Kulturministerium. Die Journalisten organisieren sich und hatten auch ihre eigene Demonstration. Die Menschen finden wirklich zusammen, und nach all diesen Monaten gibt es immer noch eine Menge Energie. Sogar während des Sommers kamen die Menschen immer wieder auf die Straße. Die Zahlen gingen zwar zurück, aber es waren nie weniger als 3.000, was für Ljubljana eine Menge für einen selbstorganisierten Protest ist. Ich würde sagen, es ist ganz anders als in den vergangenen Jahren. Wir sind es gewohnt Demonstrationen zu haben, die schneller stattfanden, aber nicht länger als eine Woche oder höchstens ein paar Wochen dauern. Das bedeutet, dass sich das Terrain des Kampfes verändert. Wir müssen uns auf lang anhaltende Proteste einstellen, was an sich schon bedeutet, dass wir auch unsere Strategien anpassen müssen.

Wie hat das alles angefangen?

Wir sind jetzt ja schon im fünften Monat des Protests. Am 12. März verhängte Slowenien wegen Covid19 den Pandemiestatus. Noch in derselben Nacht übernahm Janez Janša die Regierung und wurde Premierminister, nachdem der ehemalige Premierminister Marjan Šarec zurücktrat. Janša ist ein rechtsextremer Politiker, dem Verbindungen zum Waffenhandel in den Balkankriegen in den 1990er Jahren nachgesagt werden. Er war auch der Premierminister, als 2012/2013 der große, sechs Monate andauernde Aufstand stattfand. Damals musste er unter dem Druck der Proteste zurücktreten. So begann der Pandemiezustand bei uns: Mit einem rechtsextremen Ministerpräsidenten und vielen Fragen, wie man sich als soziale Bewegung in einer Situation, in der Kollektivität verboten ist, organisieren kann.

Es gab auch eine verpflichtende Quarantäne mit all den damit verbundenen Problemen und dem Slogan #stayathome: Dadurch gab es die Gefahr, dass diese Zuhause das Zuhause zu einem Schauplatz patriarchaler Gewalt werden, und patriarchale Werte gestärkt werden. Es wurde viel gegen Dating, gegen Geselligkeit, geredet. Im Prinzip wurde die Idee propagiert, dass der einzig sichere Ort die Familie sei, ohne darüber zu sprechen, was in den Familien passiert, die nicht bilderbuchmäßig sind, wo es zum Beispiel viel häusliche Gewalt gibt. In dem Diskurs wurden auch „die Anderen“, sprich Migrant*innen als schmutzig, gefährlich und als Krankheitsträger dargestellt. Wir wussten, dass diese Quarantäne nur denjenigen zur Verfügung steht, die sie sich leisten können, weil viele Menschen einfach nicht zu Hause bleiben können. Entweder, weil sie infolge der Gentrifizierung kein Zuhause haben und im Allgemeinen auf der Verliererseite der kapitalistischen Ausbeutung stehen, und natürlich, weil viele Menschen in der Industrie oder in Lieferdiensten und Geschäften dazu gezwungen sind, weiter zu arbeiten, damit andere Menschen zu Hause bleiben können.

Wie seid Ihr als Radikale oder Antiautoritäre damit umgegangen?

Für die Bewegung war es eine Herausforderung, eine sichere Umgebung für die Proteste und uns selbst zu schaffen. Gleichzeitig mussten wir Wege finden, um zu vermitteln, dass es einen Unterschied gibt zwischen Maßnahmen gegen die Pandemie und Maßnahmen, die einfach ein Ausdruck des Autoritarismus sind, der mit Janša an die Regierung gekommen ist. Was passierte, war, dass die Mauern der Stadt sofort mit Slogans gegen autoritäre Maßnahmen bedeckt waren, die als Covid19-Maßnahmen maskiert waren – Slogans wie „Lasst uns die Regierung unter Quarantäne stellen, nicht das Volk“ oder „Lasst uns die Regierung in die Fabriken und die Arbeiter in Sicherheit bringen“. Viele Menschen protestierten auch individuell, wie z.B. mit dem Aufstellen von Kreuzen auf dem Platz vor dem Parlament in 1,5 Meter Abstand, dem Markieren eines sicheren Weges für die Menschen, die sich versammelten, oder ähnliche aktivistische und künstlerische Interventionen in der Stadt.

Und abgesehen von Graffiti?

Am 26. April haben wir, über 25 antiautoritäre Gruppen, beschlossen, zu Fahrraddemonstrationen auf den Straßen aufzurufen. Wir haben diesen alten Trick aus der Antiglobalisierungsbewegung auspackt, obwohl wir alle vor 20 Jahren dieser Taktik sehr kritisch gegenüberstanden, weil sie uns nicht militant oder subversiv genug war. Aber in einer Situation, in der die Menschen Angst hatten, ihre Wohnungen zu verlassen, geschweige denn mit jemandem zusammen zu sein, der nicht zu ihrer unmittelbaren Familie gehört, dachten wir, dass dies den Menschen ein Gefühl der Sicherheit geben würde; dass sie sich nicht anstecken würden, weil es eine gewisse physische Distanz zulässt, die während des Protests eine sichere Umgebung schuf. Wir haben uns auch gefreut, dass wir uns vermummen konnten, und sich niemand wirklich darum schert.(lacht)

Wie ist es ausgegangen?

Wir dachten, dass vielleicht 40-50 Personen zu dieser Demo kommen würden. Aber schon bei der ersten Demonstration waren wir 500. Es ist wichtig, den Kontext zu verstehen: Das war vor der Ermordung von George Floyd bevor alles in die Luft gegangen ist.

500 klingt nach nicht viel…

Man muss diese Zahlen im Kontext sehen: In Slowenien gibt es 2 Millionen Menschen, in Ljubljana sind es 350.000, und wenn selbstorganisierte Demonstrationen 1000 Menschen auf die Straße locken, ist es ein Erfolg. Wenn es zwischen 2.000 und 3.000 Menschen sind, ist es die größte Sache überhaupt. Unter solchen Umständen 500 Leute auf der Straßen zu haben, war riesig. Wir merkten sofort, dass das der Moment ist, und begannen mit der vollen Mobilisierung für den 1. Mai, und es explodierte. Es waren zwischen 10.000 und 15.000 Menschen mit Fahrrädern auf den Straßen, viele neue Leute schlossen sich an, Demonstrationen fanden in anderen Städten des Landes statt. Und obwohl die Demonstrationen zu dieser Zeit nicht sehr militant waren, machte schon die bloße Tatsache, dass wir gegen die Anordnungen der Regierung da waren, einen Konflikt daraus, einfach indem wir als ein Kollektiv da waren.

Was ist es, das die Menschen auf die Straße treibt? Sind es die Maßnahmen der Regierung? Ist es die Angst vor der Wirtschaftskrise?

Ich denke, es ist die Tatsache, dass wir während des Aufstands von 2012 und 2013 wirklich die Idee etabliert haben, dass man Politikern nicht trauen kann, weil sie gegen die Interessen der Menschen arbeiten. Und auch wenn sich damals die sozialen Unruhen gelegt haben und die Eliten eine Person geopfert haben, um sich als Ganzes zu erhalten, glaube ich, dass diese Regierung bei ihrem Amtsantritt wenig Vertrauen hatte. Deshalb wurden Maßnahmen, die ja auch in anderen Ländern ergriffen wurden, als eine Art Trick angesehen, den die Regierung benutzte. Die Leute sind skeptisch, denn sie haben sehr strenge Sparmaßnahmen erlebt, eine ideologische Übernahme des Wohlfahrtsstaates. Sie rechnen mit der Privatisierung des Bildungswesens und der öffentlichen Gesundheit. Sie rechnen mit Einschnitten in die Sozialstaatsstrukturen. Und sie erwarten, dass diese Regierung bald ideologische Themen wie das Recht auf Verhütung und Abtreibung in Angriff nehmen wird. Dazu kam die Tatsache, dass es offensichtlich war, dass die Regierung versuchte, einige Maßnahmen einzuführen, die nichts mit der Pandemie zu tun hatten, sondern damit, Dissens in der Gesellschaft zu verhindern. Zum Beispiel wollte die Regierung diese Pandemie sofort mit militärischer Gewalt bekämpfen, indem sie dem Militär Autorität über die Zivilbevölkerung gab. All dies und die Angst vor dem, was noch kommen wird, wie eine Wirtschaftskrise, hat die Menschen auf die Straße gelockt.

# Titelbild: Črt Piksi, Demo in LJubljana „Gemeinsam gegen Nationalismus – für Würde und eine bessere Welt“

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“Tötet sie!” rief einer der Anwohner eines bürgerlichen Viertels aus seinem Fenster, weitere Nachbar*innen klatschten Beifall und ermunterten die Polizei, die Gilets Jaunes (Gelbwesten) durch die Straßen zu jagen. Eine Szene, die zeigt, wie polarisiert die französische Gesellschaft fast zwei Jahre nach dem Beginn des Aufstands der Gilets Jaunes ist. Die Metropolregion Paris ist sowieso streng nach den Klassen geteilt: In der Peripherie — den Banlieues — leben die Arbeiter*innen und Armen der Gesellschaft. Innerhalb der Stadtgrenzen von Paris und besonders im 8. und 16. Arrondissement (franz. für Bezirk) leben die reichen Bourgeois innerhalb ihrer Luxuswohnungen. Die Gilets Jaunes suchen sich mit Absicht diese schicken Bezirke für ihre Demonstrationen aus, um ihren Protest hör- und sichtbar zu machen — und auch, um die Bourgeois zu erschrecken.

Und so verwundert es nicht, dass sie auch am 12. September auf dem Champs-Élysées demonstrieren wollten. Dort und drumherum fanden die berühmten Straßenschlachten auf dem Höhepunkt der Bewegung der Gilets Jaunes statt. Seit März 2019 allerdings werden alle Demonstration um die Prachtstraße und die Oberschichtsbezirke drum herum verboten und in eine Sperrzone mit enorm viel Polizeipräsenz verwandelt. Am 12. September selbst hatten sich sie Luxusboutiquen schon einen Tag zuvor aus Angst vor Zerstörungen verbarrikadiert. Sogar das Tragen einer gelben Weste scheint dort untersagt worden zu sein: Schon um 8 Uhr morgens wurde eine Person mit gelber Weste verhaftet. Die Gilets Jaunes, sie haben sich zweifellos in das Gedächtnis der Herrschenden eingebrannt.

Eine neue Episode

Frankreich im September 2020 ist ein Land, das seit 2016 von einer Intensivierung der Klassenkämpfe erschüttert wird und wohl inmitten einer zweiten Welle von tausenden Corona-Neuinfektionen steht. Im Frühjahr hatte die Covid19-Pandemie das Land völlig unvorbereitet und dementsprechend hart getroffen. Aktuell gelten weiterhin harte Regeln, die mit der Eindämmung des Virus gerechtfertigt werden: So muss im öffentlichen Raum immer eine Maske getragen werden, wer das nicht tut riskiert ein Bußgeld von 135 Euro. Während die respressiven Maßnahmen verschärft werden, wird an der Gesundheitsinfrstruktur, die im Frühjahr heillos überlastet war wenig geändert. Die Zahl der Intensivbetten etwa ist nach wie vor niedrig und wurde seit Beginn der Pandemie nicht erhöht.

Von der neuerlichen Explosion an Neueinfektionen ist besonders die Region um Marseille getroffen. Dort gibt es pro 100.000 Einwohnenden 312 Neuinfektionen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt diese Zeit bundesweit bei 12,8 Neuinfektionen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich Frankreich am Anfang einer zweiten Welle befindet. Nichtsdestotrotz wird schon jetzt seitens der Regierung ein erneuerter Lockdown ausgeschlossen, da die Wirtschaft das nicht verkraften würde. Um sagenhafte 9,5 Prozent sank das BIP des Landes im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist die Kontraktion mehr als doppelt so groß wie bei Deutschland oder selbst dem weltweiten Durchschnitt von 4,5 Prozent.

Diese äußerst delikate Krisenlage in einem Land mit 9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze führt dazu, dass die Lösung seitens der herrschenden Klasse in Massenentlassungen und Werkschließungen besteht. Dabei trifft es nicht nur die Produktion, wie beim Reifenhersteller Bridgestone, wo in Béthune ein Werk mit 863 Mitarbeitenden geschlossen wurde; selbst bei der Supermarktkette Auchan soll es zu 1.475 Entlassungen kommen. Während Bridgestone der Primus unter den Reifenherstellern ist und rund 27 Milliarden US-Dollar Umsatz macht, gehört Auchan der sechstreichsten Familie Frankreichs um Patron Gérard Mulliez mit einem Vermögen von 26 Milliarden Euro.

Diese zwei ausgesuchten Beispiele zeigen, dass die Arbeiter*innenklasse mit weiteren Angriffen auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen rechnen muss. Eine der bekanntesten Figuren der Gelbwesten, Jerome Rodrigues sagte dazu: “Es kommt eine neue Krise auf uns zu und es ist sicher, dass sie uns Elend bringen wird.” Die neue Mobilisierung der Gilets Jaunes, die bei weitem nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Nantes, Rennes, Marseille oder Lyon zusammenkamen, griff diese Themen auf und verband sie mit dem anhaltenden Thema der Polizeirepression und -gewalt: In Toulouse wurde jegliche Demo verboten; in Paris kam es immer wieder zu Einkesselungen, die teilweise stundenlang andauerten und auch Journalist*innen betrafen.

Die größte Gewerkschaft im Land, die CGT griff dabei in ihrer Mobilisierung am 17. September nur die sozioökonomischen Aspekte auf und rief zu Streiks und Demonstrationen auf. Diese „Aktionstage” folgen allerdings einer symbolischen Routine. Die Beteiligung an den Streiks fällt sehr gering aus und die Demonstrationen selbst können zwar durchaus groß sein, aber nicht militant und sind vollkommen von der Gewerkschaftsbürokratie kontrolliert. Es sind die immer gleichen Demorouten und Parolen, sodass jegliche Spontaneität schon im Voraus abgewürgt wird.

Sogar der Staatssekretär im Verkehrsministerium, Jean-Baptiste Djebbari, sprach abfällig von einem „Gewohnheitsstreik“ und versicherte, dass der Streik keine Auswirkungen haben würde. Dabei ist es klar, dass die „Wut unter den Arbeiter*innen zunimmt“, wie es der CGT-Sekretär Laurent Brun ausdrückte. Die Frage ist aber, was die Gewerkschaften machen, um diese Wut zu organisieren.

Die Winterstreiks 2019/20 gegen die geplante Rentenreform, die das Renteneintrittsalter faktisch auf 64 Jahre anhob, zeigten, dass langanhaltende Streiks möglich sind. Diese müssen aber unbedingt auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt werden, damit sie nicht isoliert bleiben und angesichts großer Lohneinbußen der Streikenden (in Frankreich gibt es kein Streikgeld) irgendwann abgebrochen werden müssen. Die Bereitschaft, diese Kämpfe zu führen ist unter den Arbeiter*innen auf jeden Fall da. Denn wie es ein kämpferischer Gewerkschafter und Arbeiter von Bridgestone ausdrückte, “sind wir bereit und in der Lage, Reifen herzustellen und den französischen und europäischen Markt zu beliefern — ohne die Chefs!”

#Titelbild: GrandCelinien – (G. A.) / CC-BY-SA-3.0

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