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Pflegebonus und Impfpflicht, Zuckerbrot und Peitsch – die Bundesregierung nimmt Pfleger:innen als Adressat:innen ihrer Politik ins Visier. Wir haben mit Eileen (25), die auf der Intensivstation in einem Berliner Krankenhaus arbeitet darüber, was der viel beschworene Pflegenotstand eigentlich bedeutet, sowie über Pflege in Zeiten von Corona gesprochen.

Du hast ja im April 2020, als die Pandemie richtig losging, direkt nach Abschluss deiner Ausbildung auf der Intensivstation angefangen. Wie war das?

Ich habe als Berufsanfängerin direkt in dem Fachbereich der Intensivstation angefangen. Eigentlich sollte man das mit einer Berufserfahrung von ein bis zwei Jahren machen, aber dadurch, dass der Notstand so hoch war, konnte ich direkt nach der Ausbildung dort anfangen. Das Pensum, das ich zu lernen hatte war enorm hoch, mit Fähigkeiten, die ich in der Ausbildung gar nicht an die Hand bekommen habe. Dazu kam dann noch die Situation mit der Pandemie. Wir waren erst in anderen Räumen, um die Patient:innen zu isolieren, weil gar nicht klar war, wie lange das anhalten wird. Es gab viel extremere Maßnahmen als jetzt um die Pandemie einzudämmen. Das hat sich ein bisschen entspannt; nicht vom Arbeitspensum, sondern von den Maßnahmen, die von den hygienebeauftragten Personen gemacht wurden.

Hast du im Laufe der Pandemie einen Unterschied gemerkt, in der Art und Weise wie Ihr arbeiten musstet?

Auf jeden Fall. Nach zwei Jahren Pandemie sind wir zumindest mit den Arbeitsmaterialien auf einem guten Weg. Es gibt genug FFP2-Masken und Schutzkleidung für die Pflegekräfte. D.h.wir müssen nicht mehr für zwei Dienste die selbe Maske tragen oder den selben Kittel für unterschiedliche Patient:innen. Ein Mindestmaß an Arbeitsschutz ist jetzt gegeben, aber das war nach zehn Monaten in denen wir nicht sicher sein konnten, dass wir genug Schutzkleidung haben. Deswegen sind auch viele Kolleginnen und Kollegen an Corona erkrankt.

Was super traurig ist, ist wie sich das im Zwischenmenschlichen entwickelt hat. Durch die Maske kann man mit Mimik nicht viel ausrichten. Man kann nicht richtig miteinander sprechen, sich nicht richtig sehen, Emotionen und Gefühle ausdrücken. Es ist natürlich essentiell die Masken zu tragen. Aber im Laufe der Pandemie ist die Anonymität größer geworden und dadurch kann man für die Patienten nicht so viel emotionale Arbeit leisten.

Wie ist denn die Situation aktuell bei euch auf der Station?

Es gibt wenige Covidpatient:innen auf der Intensivstation, zumindest bei mir im Krankenhaus. Dafür sind aber die Normalstationen komplett voll. Und die meisten Patient:innen, denen es auf der Intensivstation sehr schlecht geht, haben Vorerkrankungen, konnten sich deshalb vielleicht nicht impfen lassen. Es ist ein ganz anderer Zustand als im letzten Jahr. Das ist zumindest bei mir auf Station so.

Insgesamt haben ja im Laufe der Pandemie viele Leute gekündigt. War das bei euch auch so?

Ja. Konsequenz daraus ist ein noch stärkerer Pflegenotstand. Ich habe einige Kolleg:innen, die vorher Vollzeit gearbeitet haben und jetzt reduziert haben, weil so intensiv im Schichtdienst zu arbeiten nicht mit einem normalen Leben vereinbar ist. Wir werden z.B. sehr oft aus dem Frei geholt. Das kann man sich in einem normalen 9 to 5 Job ja kaum vorstellen. Ich wurde schon sonntags beim Frühstück angerufen wurde, ob ich nicht einspringen und Montag Dienst machen kann. Ich sehe so oft die Telefonnummer vom Krankenhaus auf meinem Handy und will eigentlich gar nicht rangehen; kriege Herzrasen, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich gleich absagen muss. Und das ist ein Stressfaktor unabhängig davon, ob man gerade auf Station ist, oder nicht. Wenn man dann sowieso insgesamt nur acht Tage im Monat frei hat und dann noch zwei Dienste übernommen hat, bleibt nicht viel übrig. Ich selber habe jetzt auch Stunden reduziert und angefangen zu studieren.

Bei uns auf Station haben aber auch einige neue Leute angefangen. Wenn so viele Leute neu auf der Intensivstation anfangen, ist aber auch die Frage, inwieweit wir dem gewachsen sind. Ich z.B. hatte eine Einarbeitung von fünf Wochen, eigentlich ist Vorschrift mindestens zwei Monate. Und das ist auch eingeschränkt worden, damit wir schnell als souveräne Arbeitskraft in den Schichtplan eingeführt werden konnten. Dadurch leidet dann unter Umständen die Arbeitsqualität, was dann der Rest des Teams kompensieren muss. Bei mir hat das auch zu extremer Überforderung geführt. Man wird dann einfach so in diese Ausnahmesituation reingeworfen. Dir bleibt dann nicht so eine richtige Wahl.

Stichwort Pflegenotstand. Was hat das für euch bedeutet?

Dass Leute Überstunden machen, dass Kolleginnen und Kollegen länger arbeiten müssen, dass die körperliche Belastung extrem hoch ist. Patient:innen richtig zu versorgen ist oft nicht möglich. Es ist eher so dass man eine Liste an essentiell notwendigen Dingen abarbeitet, ohne mal nach rechts und links gucken zu können, damit es den Menschen gut geht. Und wenn‘s nur darum geht mal zwei Minuten mit der Person zu sprechen. Der Puls ist die ganze Zeit auf 180. Man versucht jedem die Medikamente zu geben und den Grundbedarf sicherzustellen. Das ist nicht die Art von Pflege, wie ich sie gelernt habe und wie wir arbeiten möchten.

Pflegenotstand ist auch ganz viel Ungewissheit. Dass man zum Dienst kommt und nicht weiß, ob man richtig besetzt ist. Angst davor, dass zu wenig Menschen da sind, um die Patient:innen zu versorgen. Resignation und Unmut. Unterschwellig macht sich auch ein schlechtes Gewissen breit, wenn man krank ist und nicht arbeiten kann, weil man das Gefühl hat, seine Kolleg:innen im Stich zu lassen. Das ist doch eine perfide Vorstellung, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich krank bin, weil es nicht die personellen Möglichkeiten gibt, das zu kompensieren. Auch das ist für mich Pflegenotstand.

„Ich kann meine Arbeit nicht beenden, dann lass ich das für morgen liegen“ – das geht in dem Job nicht. Entweder müssen das dann meine Kolleg:innen machen, oder es wird halt nicht gemacht. Und das ist dann zu Lasten der kranken Personen. Das ist auch eine sehr gefährliche Arbeitsweise.

Meistens geht ja auch alles gut. Aber wir müssen ja auch den schlimmsten Fall vorbereitet sein und nicht hoffen, dass der schlimmste Fall nicht eintritt. Sodass ich dann dastehe und zwei instabile Patient:innen habe, die ich nicht versorgen kann, weil ich nicht genug Hände habe.

Hast du denn den Eindruck, dass sich an den grundlegenden Problemen etwas ändert im Laufe der Pandemie?

Zum einen bin ich dankbar dafür, dass der Pflege so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das hat sehr viel Kraft gegeben. Aber z.B. über den Sommer, als weniger Menschen wegen Corona in den Krankenhäusern waren, habe ich gar keinen Rückhalt gespürt. Es gab ja punktuell den Pflegestreik, wo noch Solidarität da war, aber unser Kampf ist immer nur Thema, wenn der größte Ausnahmezustand erreicht ist. Und das ist unfair, weil unabhängig von der Pandemiesituation, die Situation angespannt und überfordernd ist. Und nicht nur Covidpatient:innen versorgt werden müssen, sondern mit mindestens genau so hohem Aufwand andere Patient:innen, die auf der Intensivstation liegen.

Die Arbeit der Pflege wird wahrscheinlich wieder in den Hintergrund geraten, weil die Pandemie von einigen schon als beendet gefeiert wird und die Kontaktbeschränkungen schrittweise gelockert werden und Krankheit, Pandemie und sterbende Patient:innen das Leben der meisten Menschen in den nächsten Monate nicht mehr dominieren wird.

Und was hältst du von dem angekündigten Pflegebonus?

Den Pflegebonus halte ich für Quatsch. Das ist Symptombehandlung. Weil‘s sich schön anhört, wenn man liest, dass die Pfleger:innen eine Milliarde bekommen. Aber mir ist es egal, wie viele Nullen da sind. Es geht generell um eine bessere Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen. Mehr Zeit, mehr Sicherheit.

Und was ist mit Leuten, die nicht direkt am Krankenbett von Covidpatient:innen arbeiten, aber genauso essentiell für das Gesundheitssystem sind? Was ist mit Leuten in der ambulanten Pflege? Was ist mit Leuten, die in der ersten und zweiten Welle gearbeitet haben, aber danach aufgehört haben? Und einen genauso großen Anteil daran hatten, der Pandemie Herr:in zu werden. Das ist alles gar nicht berücksichtigt. Ich habe das nicht mehr oder weniger verdient als jemand der an einem Bett von einem Krebspatienten steht.

An den Strukturen wird also nichts gemacht, sondern Geld rausgeworfen um die Sache zu beruhigen. Es wird ja auch über eine Impfpflicht diskutiert, insbesondere für Pflegepersonal. Wie siehst du das? Wie wird das bei euch diskutiert?

Ich halt es schon für eine Voraussetzung, dass medizinisches Fachpersonal, welches mit kranken Menschen arbeitet geboostert ist. Denn dass die Impfung mehr als essentiell ist, um die Pandemie einzudämmen, Menschenleben zu retten und uns gegenseitig zu schützen, steht außer Frage.

Ich kenne aber auch einige Menschen, die in der Pflege arbeiten und nicht geimpft sind. Die lieben ihren Job und sind unglaublich gewissenhaft im Umgang mit Patient:innen, wie alle anderen auch. Die würden ihren Job gefährden, bzw. kündigen, wenn die Impfpflicht kommen würde. Das muss man sich mal vorstellen, was da für Prinzipien und Überzeugungen dahinterstehen, das in Kauf zu nehmen. Und ich denke nicht, dass eine Impfpflicht diese Prinzipien aufweichen würde, sondern eher die Situation noch verschärft. Ich denke, dass es mittlerweile nicht mehr irgendeine Angst vor der Wirkung oder Langzeitfolgen ist, die viele davon abhält, sondern eher ein Misstrauen, nach dem Motto „Ich mache nichts wozu ich gezwungen werde“ und „Ich mache nichts was eine Regierung mir sagt, der ich nicht mehr so richtig vertraue“. Es wäre wichtiger gewesen frühzeitig, im Sommer Überzeugungsarbeit zu leisten, aber da war halt Wahlkampf. Und da wurde der Zeitpunkt verpasst und jetzt sind die Fronten verhärtet.

Im Sommer wurde in Berlin gestreikt, hast du daran teilgenommen?

Ich arbeite in einem Klinikum, das von der Kirche getragen wird und wir dürfen nicht streiken, was mehr als frustrierend ist, aber man fügt sich dem. Man erwartet, dass sich dann auch kirchliche Häuser einem Tarifvertrag anpassen, weil sie sonst nicht mehr konkurrenzfähig sind. Verdi hatte dazu aufgerufen, dass Pflegepersonal in der Charité und den Vivantes-Kliniken und dem Facility Managements in den Streik gehen, um zu erreichen, dass bei nicht-Einhaltung der Personaluntergrenzen ein Freizeitanspruch entsteht oder auch Geld gezahlt wird.

Ich habe den Streik und die Demos als sehr motivierend wahrgenommen. Die Solidarität war auf jeden Fall spürbar, auch aus medizinischen Berufen, die nicht aus der Pflege sind. Das sind alles kleine Schritte, von denen ich weiß, dass sie wichtig sind und Kämpfe, die geführt werden müssen, aber es ist wieder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil das ändert nichts daran, dass es zu wenig Pflegekräfte gibt.

Für die Zukunft von der Arbeit in der Pflege, was würdest du dir wünschen?

Die Privatisierung im Gesundheitswesen hat dazu geführt, dass alles immer an Zahlen festgemacht wird und es um Finanzen geht. Es sollte nicht daran bemessen werden, wie viel Geld ein kranker Mensch kostet, um daran festzulegen wie viele Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Ich wünsche mir mehr Zeit für meine Patienten:innen, damit ich sie über das Technische hinaus versorgen kann, weil man in der Ausbildung unglaublich schöne Dinge in der Patientenbegleitung lernt, die komplett in Vergessenheit geraten, weil man dafür keine Zeit hat.

# Titelbild: SnaPsi Сталкер, CC BY-NC-ND 2.0, Intensivstation, Symbolbild

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Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch “Auklärung” rassistischer “Einzelfälle”, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, wurden Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Sedat Gürbüz von einem Rassisten ermordet. Zwei lange Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt, kurz vor dem 19. Februar 2022, sind die Medien wieder voll mit Beileidsbekundungen und dem Ruf nach mehr Toleranz und “Diversity”. Der Antirassismus (Antira) ist im Mainstream angekommen. Die Antira-Bewegung der letzten Jahrzehnte hat ihn mit Beharrlichkeit und Kraft dorthin geschoben. Das ist aber gleichzeitig Fluch und Segen. Zeit also, die Linse zu schärfen.

Was haben zwei Jahre nach Hanau mit sich gebracht

Seit dem 3. Dezember tagt der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zum 19. Februar. Dort soll eine Aufarbeitung erzwungen und Antworten auf viel zu viele offene Fragen gefunden werden. Fragen, wie zu den Waffenscheinen des Täters, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum respektlosen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach oder zur Rolle des Vaters des Täters. Der Untersuchungsausschuss und der damit angestoßene Aufarbeitungsprozess wurden nur durch die Beharrlichkeit der Angehörigen und Unterstützer*innen erkämpft.

Die Liste der Fälle, die bisher folgenlos blieben, ist immer noch lang. Rassistisches Verhalten der Behörden vor, während und nach der Tat haben keine Konsequenzen gehabt – weder in Polizeibehörden noch beispielsweise im hessischen Innenministerium. 13 Mitglieder der SEK-Einheit, die am Anschlagsort im Einsatz waren, waren Teil einer rechtsradikalen Chatgruppe. Diese SEK-Einheit wurde nach Bekanntwerden aufgelöst, was jedoch nicht bedeutet hat, dass die jeweiligen Polizisten ihren Job los waren.

Im Dezember 2021 hat sich die Generalbundesanwaltschaft mal wieder damit lächerlich gemacht, dass sie die Ermittlungen gegen mögliche Mittäter eingestellt hat. Somit reihen sie Hanau in die unzähligen rassistischen Vorfälle ein, bei denen die Behörden behaupten es handle sich um Einzeltäter, um die strukturelle Dimension von Rassismus auszublenden. Nur so ist es rhetorisch überhaupt möglich Solidarität zu heucheln, ohne sich selbst konsequent in die Verantwortung zu nehmen.

Weiterhin unbekannt ist, wer die Scheiben der Arena Bar zwei Monate nach dem Anschlag eingeschlagen hat. Es gibt auch keine nennenswerten Debatten um die Ignoranz und den Rassismus der sogenannten Mitte: Noch bevor Details zum Anschlag klar waren, mutmaßten einige Medien schon über eine “Milieutat”, die Hanau-Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag wurde unverhältnismäßig kurzfristig vom SPD-Bürgermeister aufgrund der Infektionslage abgesagt und die CDU wünschte sich nicht lange nach dem Anschlag, dass Hanau wieder zur “Normalität” zurückkehre.

Wo wir zwei Jahre nach Hanau als Bewegung stehen

Die Angehörigen, die Initiative 19. Februar und die Antira-Bewegung haben es geschafft, die Namen und Erinnerungen an Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin in und durch uns weiterleben zu lassen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhats, hat inmitten der Trauer, der Wut und des Schmerzes die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen sich über Generationen und Identitäten hinweg, stehen zusammen und schaffen damit neue Allianzen für den Kampf für ihre gemeinsamen Forderungen. Es sind auch diese gemeinsamen Kämpfe, die die Themen Polizeigewalt, rechte Strukturen in Behörden sowie institutionellem Rassismus immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Politische und gesellschaftliche Debatten zur (De)legitimierung des Verfassungsschutzes und der Abschaffung der Polizei haben es in die breite Öffentlichkeit geschafft, unter anderem durch die starken und abolitionistisch geprägten #BLM-Proteste unserer Schwarzen Geschwister, die aus den USA kamen und auch hier in rassifizierten Communities verbreitet wurden.

Gleichzeitig erleben wir einen sich immer weiter ausbreitenden liberalen Antirassismus, bei dem nicht um materielle Bedingungen, sondern ausschließlich um “Diversity”, Quoten und individuelles Bewusstseinstraining oder Privilegiencheck geht. Selbst die Bundesregierung hat vor etwa einem Jahr einen 89 “starken” Maßnahmenkatalog beschlossen, als “klares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus”. Die Bürger*innen sollen zu “wehrhaften Demokrat*innen” erzogen werden, um so dem Rechtsruck entgegen zu treten. Diese extreme Verharmlosung rechter Gewalt und ihrer Netzwerke zeugt von einer fatalen analytischen Unschärfe, innerhalb dessen struktureller Rassismus und Unterdrückung nicht verstanden werden kann. Infolgedessen laufen antirassistische Kämpfe Gefahr, vom herrschenden System vereinnahmt zu werden.

Mehr als nur Aufklärung 

Gerade beim Attentat in Hanau zeigt sich, wie wenig Menschen wirklich verstanden haben, wenn selbst diejenigen, die politisch für den Anschlag mitverantwortlich sind, unreflektiert zum Gedenken aufrufen. Für sie bedeutet Gedenken ein bloßes Erinnern und einen Kranz niederzulegen. Sie sehen nicht, dass Hanau Ursache einer Klassengesellschaft und eines Systems ist, in dem zwangsläufig ein oben und unten existieren. Hanau steht in einer Kontinuität zum Anwerbeabkommen, zum Asylrechtskompromiss und zum NSU-Komplex. Sie verstehen nicht, dass Hanau nicht als einzelner, abgekoppelter Einzelfall betrachtet werden kann, den es zu “lösen” gilt. Jeder einzelne Fall rassistischer und rechter Gewalt könnte wahrscheinlich umfangreicher aufgeklärt werden, wenn der Wille da wäre – doch selbst wenn, würden zu jedem aufgeklärtem Fall zehn neue dazu kommen.

Wenn wir uns die Geschichte von Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit seitens der Behörden und des Staates bei rechten, antisemitischen und rassistischen Taten anschauen, müssen wir wohl auch beim 19. Februar davon ausgehen, dass er leider nur begrenzt erfolgreich sein wird. Die unzähligen Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex, der Ausschuss zur Anschlagsserie in Neukölln und die zahlreichen Gutachten im Fall Oury Jallohs zeigen zum einen, dass die Verantwortlichen sich gegenseitig in ihren Erzählungen und Schuldabweisungen stützen und schützen werden. Zum anderen haben wir strukturell gesehen nicht viel gewonnen. Natürlich ist es enorm wichtig, die verfügbaren rechtlichen Mittel maximal auszuschöpfen, um die konkreten Täter*innen zu benennen, zur Verantwortung zu ziehen und Netzwerke aufzudecken. Kommt ein Untersuchungsausschuss mit dem nötigen Druck zustande, so ist es ein Etappenerfolg innerhalb des herrschenden Systems und aus Sicht der Angehörigen ein kämpferisches Mittel. Deshalb gebührt ihnen die vollste Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, dass das Zurücktreten von Politiker*in X oder die Versetzung von Beamt*in Y die Revolution herbeiführen wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass das System in sich gut funktioniert und nur hier und da sind noch ein paar Schönheitsfehler durch neues Personal oder Zusatzparagraphen zu beheben. Es kann nicht bei bloßer Aufklärung bleiben. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die rechte Ideologien und Gewalt an den Wurzeln bekämpft – und die sitzen im Herzen des kapitalistischen Systems.

Solange wir in diesem kapitalistischen System leben, werden wir immer wieder konfrontiert sein mit dem Auffliegen von rechten Strukturen innerhalb der Polizei, der Bundeswehr, den Sondereinsatzkommandos und werden hören von Reservisten, die Sprengstoffe horten und Todeslisten führen. Die sogenannte Mitte wird weiterhin nach Abschiebungen von Menschen, die sich „illegal“ hier aufhalten schreien. Die Rechten werden die Erzählung eines “Rassenkrieges” immer weiterspinnen, bis sie schlussendlich handeln werden. Es werden wieder und wieder Menschen in Gewahrsam zu Tode kommen, ohne jegliche Konsequenzen für die verantwortlichen Polizist*innen. Das EU-Grenzregime wird ungebremst seine Mauern höherziehen und ihre Grenzen “verteidigen”. Und unsere Geschwister im globalen Süden werden Tag für Tag weiter in mörderischen imperialistischen Kriegen um Ressourcen und Macht nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Leben verlieren. 

Diese Normalität rechten Terrors müssen wir bekämpfen. Dabei dürfen wir uns nicht von bürgerlichen Parteien, Politiker*innen oder sonstigen staatlichen Bediensteten vereinnahmen lassen. Denn deren einziger Zweck ist es, eben jenes System und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu schützen. Zwar versuchen sie es durch eine Reform hier und da weniger brutal erscheinen zu lassen, am Grundproblem ändert sich jedoch nichts.

Warum am 19. Februar auf die Straße gehen 

Die Forderungen nach Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen der Angehörigen, Betroffenen und der Initiative 19. Februar gilt es zu unterstützen, wo und wie immer wir können. Gleichzeitig werden wir unser Streben nach radikaler Veränderung der Gesellschaft und Selbstorganisierung weiterverfolgen. Wir vergessen nicht, sondern werden weiterhin all diejenigen anklagen, die für das rassistisches Klima verantwortlich sind, die rechte Strukturen schützen, rechten Terror durch rassistische Politik befeuern sowie den Nährboden für Ausbeutung und Ausgrenzung  füttern. Wir können keine Forderungen an einen Staat stellen, der genau das tut und aktiv daran beteiligt ist, zu vertuschen und zu manipulieren. Wir lassen uns nicht mit leeren Worten und Gesten abspeisen, sondern werden selber machen!

Wir wollen eine Alternative schaffen zu diesem ausbeuterischen, kapitalistischen System, in dem es um Profite statt um Menschenleben geht. Wir wollen kontinuierliche Arbeit in den Nachbarschaften leisten, weiter mit unseren Nachbar*innen in Kontakt treten, zuhören, unsere politischen Visionen teilen und gemeinsam organisieren und umsetzen. Die Verankerung und Bezug zur Nachbarschaft ist besonders wichtig, denn hier wachsen wir auf, haben unsere Beziehungen, Geschichten und führen unsere Kämpfe. Nichtsdestotrotz stehen wir Seite an Seite mit unseren Geschwistern und Genoss*innen im globalen Süden, denn nur der globale Kampf kann eine Befreiung aller sein!

Für den 19. Februar 2022 heißt es, Menschen auf die Straßen zu holen, die tagtäglich erfahren was es heißt, diskriminiert, ausgebeutet und entmenschlicht zu werden. Für viele sitzt die Trauer und die Wut um Hanau, aber auch um unzählige andere Fälle rassistischer Gewalt, immer noch tief. Daher werden wir zur Tatzeit gemeinsam auf den Straßen sein, um kollektive Momente der Trauer, der Wut, der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität zu teilen!

Ajde, alerta, haydi, yallah und bijî Migrantifa!

# Titelbild: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

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Zum Abschied wünschte sich Angela Merkel einen Schlager aus dem Osten – und ein letztes Mal führten Kanzlerin, mediale Öffentlichkeit und leider auch einige Linke das absurde Merkelschauspiel auf. Die Rollen dabei sind inzwischen perfekt einstudiert: Auf der einen Seite steht die Regierungschefin des mächtigsten Landes der mächtigen EU, die bei aller Macht aber so schön bodenständig und unprätentiös auftritt. Auf der anderen sind Leute, die ganz hin und weg sind davon. Entweder sie sind mit Merkels neoliberaler Politik sowieso einverstanden oder aber finden „eigentlich“ Merkels Politik doof, die Person jedoch derart hinreißend sympathisch, dass sie es eben doch nochmal sagen müssen: Wir werden sie vermissen. Danke Merkel.

Diese Unfähigkeit (oder ist es Unwillen?), Form und Inhalt zu trennen und zu priorisieren, ist frustrierend. Aber mit etwas Distanz lässt sich auch sagen: Man kann Merkel Respekt dafür zollen, dass sie es geschafft hat, durch die äußere Form den Inhalt ihrer Politik derart nachrangig werden zu lassen, dass ihn viele – auch Linke – kaum mehr wahrnehmen. Also im Grunde: die Politik zu entpolitisieren und damit die Selbstentwaffnung der kritischen Öffentlichkeit voranzutreiben. Ihrer Nachfolgeregierung, vor allem dem Merkelianer Olaf Scholz, übergibt die Kanzlerin damit ein wertvolles Erbe.

Nicht Schröders Stil, aber seine Politik

Bei ihr selbst war das noch anders: Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder von der SPD, war ein klassischer Großmaul-Politiker, bei dem Form und Inhalt bestens miteinander korrespondierten. Schröder stand für eine Politik, die Arme noch ärmer werden ließ, die zutiefst Arbeiter*innenfeindlich, dafür aber richtig gut fürs deutsche Kapital war. Schröder ließ sich lachend mit Zigarre fotografieren, beschimpfte Arbeitslose, markierte den Macho und am Ende konnte er nicht einmal in Würde abtreten, sondern blamierte sich vor aller Augen am Wahlabend 2005, als er in der Elefantenrunde immer wieder behauptete, auch die nächste Regierung anzuführen, obwohl da schon jede*r wusste, dass er verloren hatte. Danach ging Schröder zu Gazprom. Es passte alles.

Merkel indes pflegte bis zum Ende einen anderen Stil. Sie verhielt sich in den Augen der meisten nicht so großmäulig, arrogant, demonstrativ machthungrig und auf den eigenen Vorteil bedacht wie man es von Spitzenpolitiker*innen gewohnt ist. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch hat sogar recht, wenn er – anlässlich des Zapfenstreiches zu ihren Ehren – sagt, Merkel sei unbestechlich gewesen, weil „zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise materielle Werte Maßstab für ihr Agieren“ gewesen seien. Gemeint ist hier vermutlich: Sie hat sich in ihrem Amt nie selbst bereichert. Das trifft zu – auf Merkel persönlich (auf andere Politiker*innen ihrer Partei, wie wir wissen, nicht) .

Politikerkorruption ist aber nicht der Kern der Politik; die Aufgabe einer Regierung an der Spitze eines mächtigen kapitalistischen, im Fall Deutschlands auch imperialistischen Staates ist es keineswegs, sicherzustellen, dass sich ihre Mitglieder die eigenen Taschen füllen können – das ist, wenn überhaupt, nur willkommene Nebensache. Die vorrangigste Aufgabe einer deutschen Bundesregierung ist es, für optimale Akkumulationsbedingungen für das deutsche Kapital zu sorgen. Bartschs Tweet ist insofern wiederum falsch, als dass für Merkels Politik materielle Werte sehr wohl Maßstab waren. Denn darum, es dem nationalen Kapital so gut es ging zu ermöglichen, sich (Mehr)Wert anzueignen (es zu reinvestieren und so weiter), zielte ihr Regierungshandeln ja sehr oft ab.

Und dafür, diese Politik für das Kapital und gegen die Ausgebeuteten im In- und Ausland umzusetzen, war sie eine wirklich gute Besetzung, gerade wegen ihrer Integrität und Rechtschaffenheit. Allzu korrupte Politiker*innen oder Staatsbedienstete sind eher hinderlich für ein Land, das Supermacht ist und bleiben will; eine in den Augen vieler unbestechliche Kanzlerin, die wirklich daran glaubt, dass es für alle das Beste ist, wenn es „der deutschen Wirtschaft“ gut geht, dagegen Gold wert.

Damit es ihr „gut geht“, war unter anderem wesentlich, das von Schöder hinterlassene Erbe der Agenda 2010 zu erhalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln. Merkel mag einen anderen Stil als ihr Vorgänger gepflegt haben, hat aber dessen Politik konsequent fortgeführt. Präsentiert und dauerhaft vermittelt hat sie das viel weniger ekelhaft und damit unterm Strich besser als etwa Schröder, sogar jenen, die von ihrer Politik nicht profitieren konnten oder unter ihr objektiv litten: Keine habe sich ziviler und ehrlicher präsentiert, resümierten zwei Journalistinnen im RBB-Inforadio zu Merkels Abschied sehr zutreffend, und ergänzten: „Das hat sie wählbar und akzeptabel gemacht für viele.“ Anders als Schröder, der augenscheinlich für Bruch, Kahlschlag und brutalen Umbau stand, stand Merkel für kleine Schritte, dafür, unaufgeregt und „leise“ zu regieren. Das war ungemein effektiv, weil sie so das Programm der Ungleichheit fast immer wie die normalste, oder auch: natürlichste Sache der Welt aussehen ließ.

Gute Merkel, schlechte Regierung

Die mit den Jahren zum Kult gewordene Bildsprache half dabei: Merkel mit eingefrorenem Gesicht beim Karneval, während die Funkemariechen um sie herum springen; Merkel kreischend mit Papageien in Mecklenburg; Merkel beim Einkaufen mit Klopapier im Wagen („wie ein normaler Mensch!!“); zuletzt: Merkel beim Zapfenstreich, die sich Nina Hagen vorspielen lässt. Andere Bilder – Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend Anfang der 1990er Jahre beim Plaudern mit Nazi-Skinheads; Anti-Merkel-Plakate bei Protesten gegen das Spardiktat in Griechenland – konnten dagegen nicht ankommen.

Die Bilder der lebensnahen und uneitlen, der menschlichen Merkel haben außerdem geholfen, zwei weitere bemerkenswerten Trends zu verstärken, die vor allem in den späteren Merkel-Jahren wirkten und wiederum mit Trennung zu tun hatten: Die Trennung Merkels von ihren Minister*innen in der Rezeption des Regierungshandelns sowie die Trennung von Merkel und den Leidtragenden ihrer Politik.

Während beispielsweise Merkels Atem beim Zapfenstreich am Reichstagsufer unter Beobachtung Tausender ergriffener Journalist*innen und Linker gefror, drohen weiterhin Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze zu erfrieren (mehrere haben ihr Leben bereits verloren), also an der östlichen Außengrenze jener Staatengemeinschaft, deren mächtigstes Mitgliedsland die Bundesrepublik Deutschland ist. Die Verweigerung Deutschlands, die Geflüchteten aufzunehmen und die demonstrative Unterstützung Polens folgen der Weigerung, die Geflüchteten aus Moria zu evakuieren, dem EU-Abschottungskurs, dem in den letzten Jahren Tausende an den Außengrenzen sinnlos zum Opfer gefallen sind, dem von Merkel maßgeblich ausgehandelten EU-Türkei-Deal, den unmenschlichen Ankerzentren – die Liste ließe sich fortsetzen.

Doch regelmäßig, ganz so, als sei Merkel losgelöst von ihrem Kabinett und schwebe über den Dingen, nahm die Wut, die sich auf Gestalten wie Horst Seehofer, Julia Klöckner oder Jens Spahn richtete, Merkel explizit aus. Und ähnlich wie die Minister*innen von der Kanzlerin separiert wurden, scheinen auch die Opfer der Politik der vergangenen 16 Jahre gar nichts mehr mit derjenigen zu tun zu haben, die sie maßgeblich lenkte. Bartschs oben zitierte Aussage steht hier auch exemplarisch für eine atemberaubende Empathieverweigerung, die mit dem „Merkel-Kult“ einiger Linker zwangsläufig einhergeht: Obwohl sie genau wissen, was die Merkel-Regierung der griechischen Arbeiter*innenklasse angetan hat, was sich an den Außengrenzen abspielt, wie es Kindern von Hartz-IV-Bezieher*innen geht, was Prekarität mit den Menschen macht… – trotzdem gebührt Merkel ihr Dank, Respekt und ihre Anerkennung.

Rechte Dämonisierung

Das Beschriebene bezieht sich auf die mediale, linke und linksliberale Öffentlichkeit. Ganz rechts sieht es natürlich anders aus: Hier wird Merkel völlig überhöhend und persönlich dämonisiert, vor allem aus rassistischen Beweggründen, wegen der Aufnahme von Geflüchteten im Jahr 2015, eine Portion Sexismus spielt auch eine Rolle. Rechte haben keine Analyse davon, wie der Kapitalismus funktioniert beziehungsweise sind sehr gut mit ihm arrangiert, oft konsequenter als der neoliberalste Neoliberale; ihr Hass richtet sich nach unten oder eben auf Einzelne, die oben sind, es aber aus ihrer Sicht dort falsch machen. Dabei sind einzelne Politiker*innen, selbst wenn sie so mächtig sind wie Merkel, nicht der Skandal, sondern das System, das sie verteidigen und dessen Reproduktion sie dienen.

Das heißt andersherum auch: Klar kann ich als Linke finden, ich wäre lieber mit Merkel als mit Schröder oder Spahn oder Trump in einem Raum eingesperrt (allein schon, da sie wahrscheinlich schön schweigsam ist). Doch 16 Jahre lang Form und Inhalt kaum voneinander unterscheiden zu können und sich im Gegenteil immer weiter in die Form zu verlieben, ist eine schwache Leistung. Mehr noch: Dass nach 16 Jahre Amtszeit „Merkel muss Weg“ ein zu 100 Prozent rechts besetzter Slogan ist und Linke ihn nicht einmal während der schlimmsten Zeiten der Griechenlandkrise riefen, ist – ehrlich gesagt – zum Schämen. Oder, ganz nüchtern betrachtet, einer der größeren Erfolge ihrer Kanzlerinnenschaft. Jetzt ist Merkel weg und was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass das giftige Handeln von Mächtigen auch von vielen Linke allzu gerne bereitwillig geschluckt wird, wenn die Verpackung nur freundlich genug ist.

# Titelbild: pixabay

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Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), einer Veranstaltung, bei der die Bundesbehörde regelmäßig den Diskurs simuliert, aber tatsächlich vor allem ihre Forderung nach mehr Geld und Befugnissen argumentativ absichert. In einem moderierten Gespräch äußerte sich Kahane per Videoschalte zur Zusammenarbeit von Polizei und „Zivilgesellschaft“ – und zwar an der Seite von Thilo Cablitz, dem Pressesprecher der Polizei Berlin. Das zeigt vor allem eines: Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) hat keine Berührungsängste, jedenfalls wenn es um die Behörden geht, die in der BRD für Repression und Machtabsicherung zuständig sind.

Nicht nur für diesen Kuschelkurs zieht die in Heidelberg sitzende Stiftung schon seit längerer Zeit Kritik von radikalen Linken auf sich und das durchaus zu Recht. Wie der aktuelle Zoff um einen Tweet von Dan Kedem, einem der Landessprecher der Linksjugend Solid Berlin, erneut gezeigt hat, sind Kahane und ihre Stiftung Teil eines sich linksliberal gebenden Milieus, das tatsächlich staatstragend und systemerhaltend agiert, sich von den Herrschenden für ihre Zwecke einspannen lässt und daher im Ergebnis mehr Schaden anrichtet, als zu helfen.

Die Nähe der AAS zu den Sicherheitsorganen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Positionierung. Es ist bezeichnend, dass Kahane und ihre Stiftung nicht nur mit der Polizei gut können, sondern auch mit dem Verfassungsschutz keine grundsätzlichen Probleme haben. Mit Stephan J. Kramer sitzt der Chef des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz im Stiftungsrat. Der als Erwachsener zum Judentum konvertierte Kramer war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, bevor Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ihn Ende 2015 an die Spitze seines Verfassungsschutzamtes holte mit dem Ziel, dieses zu „demokratisieren“. Im Stiftungsrat der AAS saß der Jurist schon bevor er den Behördenposten übernahm.
Das hielt diverse antirassistische Initiativen, darunter die Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“, die Opfer des NSU-Terrors unterstützt, im Juli 2016 nicht davon ab, in einer Erklärung Kritik zu üben. Moniert wurde dabei nicht nur das Verbleiben Kramers im Stiftungsrat der AAS, sondern auch ein Auftritt Kahanes bei einem Symposium ostdeutscher Verfassungsschutzämter. Eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten sei „für uns nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus“, konstatierten die Initiativen. Kahane erklärte damals gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, an Kramer festhalten zu wollen. Die AAS werde weiterhin mit Vertreter:innen des Verfassungsschutzes sprechen und versuchen, Reformen durchzusetzen.

Kahanes Äußerungen sind ebenso wie das Vorhaben von Kramer und Bartsch, den Verfassungsschutz „reformieren“ zu wollen, Ausdruck einer Haltung, die mit naiv noch schmeichelhaft umschrieben ist. Da versucht offenbar der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. Diese Haltung ist typisch für das erwähnte sich meist linksliberal gerierende Milieu, das seinen Frieden mit dem System gemacht hat. Weil es von einer tiefer gehenden Analyse der Verhältnisse absieht, unterschätzt es die Macht der Apparate, deren Eigendynamik und schlechten Absichten, glaubt an die „wehrhafte Demokratie“, wie sie der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP gerade postuliert hat.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist sozusagen qua Amt zu diesem Glauben und dem Verzicht auf fundierte Kritik verpflichtet. Wer jedes Jahr Millionen vom Staat bekommt, um die „demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“ (Selbstdarstellung), der wird es sich mit diesem Staat nicht verderben wollen. Dass Kahane und die AAS bei den Repressionsbehörden hoch willkommen sind, hat aber noch einen anderen Grund. Leistet die Stiftung doch für die Legitimation der Apparate und dieses Staates unschätzbare Dienste, die weit über den Verzicht auf Fundamentalkritik hinausgeht. Es ist eine Art Ablasshandel oder wie man heute eher sagen würde: ein Win-Win-Geschäft.

Mit den Millionen an Steuergeldern, die an die Stiftung zur Förderung von Projekten überwiesen werden, kauft sich der Staat frei von der Verpflichtung, rechts genauer hinzusehen. Das wird kurzerhand an die AAS und ähnliche Träger delegiert. Zugleich stellen Kahane und ihr Laden den Herrschenden nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ einen Persilschein aus. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat ihren Geldgeber:innen noch mehr anzubieten. Sie hetzt gegen alle, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht als bedauerlichen Auswuchs einer ansonsten ganz wunderbaren Ordnung, sondern sie als systemisch, als logische Folge der kapitalistischen Verhältnisse begreifen. Dazu nutzt die Stiftung extensiv den Antisemitismus-Vorwurf, was immer wieder zu Zoff mit radikalen Linken führt.

Kritik an Israel und jegliche Unterstützung für die Palästinenser:innen wird von der AAS in einer besonders penetranten Weise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Für die Stellungnahmen von Kahane sind solche Sätze typisch: „Antisemitische Zuschreibungen gegen Israel als jüdischen Staat sind die moderne Form des Antisemitismus, die Rechtsextreme über muslimische Milieus bis hin zur Linken eint. Unter dem Mantel der Israelkritik und des Kapitalismus-Bashings werden Juden zum Opfer von Hass und Gewalt.“

Wer es wagt, diese absurde Darstellung zu kritisieren, findet sich schnell im Mittelpunkt eines Shitstorms wieder. So wurde Dan Kedem von der Linksjugend Solid Berlin, selbst Jude, Mitte November Opfer einer regelrechten Hetzkampagne. Er hatte einen Post retweetet, in der die AAS erklärte, wer sich mit der Forderung nach Freiheit der Palästinenser:innen „from the river to the sea“ gemein mache, fordere die Zerstörung Israels. Als Kommentar schrieb Kedem dazu:

„Amadeu Antonio Stiftung liquidieren!“

Auch wenn das Verb im Zusammenhang mit einer Stiftung deren Auflösung meint, war diese Wortwahl mindestens ungeschickt. Kedem zog den Tweet dann auch schnell zurück und twitterte: „Zur Klarstellung – dieser Tweet war ein Shitpost. Die AAS halte ich für eine problematische Stiftung, die Arbeit leistet, die mich und viele andere linke Juden extrem beeinträchtigt. Wie man das anders lesen kann als „ich finde die AAS doof” ist mir wirklich unerklärlich.“

Diese Entschuldigung bewahrte ihn aber nicht vor der alsbald losgetretenen Kampagne, an der sich auch die Führung des Landesverbandes seiner Partei beteiligte. Die nutzte die Gelegenheit mit Kritik an Kedem und den neuen Sprecher:innenrat von Solid Berlin anzuschließen. Der hatte nämlich zuletzt die „Reformer“ der Berliner Linkspartei und ihre Orientierung auf eine Koalition mit SPD und Grünen massiv von links kritisiert.

Auf der Website klassegegenklasse.org wurde zur Solidarität mit Kedem aufgerufen. Jüdische und migrantische Stimmen würden insbesondere dann diskreditiert, „wenn sie nicht mit der staatstragenden Ideologie einhergehen“, hieß es dort. Stiftungen wie die Amadeu Antonio Stiftung und auch Die Linke stellten sich „hier immer wieder auf die Seite der Kriminalisierung von Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung“. Auch bei Twitter gab es neben Kritik auch Zuspruch für den Berliner Solid-Landessprecher. Die Bewegung „Palästina spricht“ twitterte: „Sie will Aufklärungsarbeit leisten, sich gegen Rassismus einsetzen & eine demokratische Zivilgesellschaft stärken. Doch statt diese Ziele durchzusetzen, bleibt die Amadeu Antonio Stiftung selber lieber unaufgeklärt, verbreitet antipalästinensischen Rassismus & zionistische Propaganda.“ Ein User warf der AAS bei Twitter vor, Menschen, die Kapitalismuskritik üben, als antisemitisch zu framen.

Dass Kahane tatsächlich kein perfides und reaktionäres Argument zu viel ist, wenn es darum geht, linke Kapitalismuskritiker:innen zu diffamieren, hatte sie im Sommer 2017 bewiesen. Im Juli des Jahres, kurz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, fiel sie der Protestbewegung im stiftungseigenen Portal Belltower News in den Rücken. „Linksextremismus ist keine Kinderkrankheit, sondern eine autoritäre, antidemokratische Ideologie“, schrieb sie damals. Dreist reduzierte die Autorin die Kapitalismuskritik auf „Feindseligkeit gegenüber Eliten“, die kein rechts und links kenne, und schlug mühelos die Brücke von dort zum Antisemitismus-Vorwurf: Der sei „das Grundgeräusch des Eliten-Bashings“. Wortreich verteidigte Kahane den Kapitalismus und die Globalisierung.

Fassungslos machen die kritische:n Leser:in folgende Sätze aus dem Beitrag: „Linke kritisieren den Kapitalismus in globalisierter Form grundsätzlich und sehen hier nur Elend und Zerstörung. Ihre Antwort für die Menschen in den Entwicklungsländern: „Lieber arm als ausgebeutet“ oder „lieber authentisch als industrialisiert“ ist ignorant, zynisch und in ihrem Wesen auch rassistisch.“ Diese Linken wollten „den Menschen in der nicht-weißen Welt die Art von Fortschritt vorenthalten, den sie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen“.

Bleibt nur hinzuzufügen: Von Kahane und ihrer Stiftung geht vielleicht mehr Gefahr aus als von denen, die sie angeblich bekämpft, den Rassist:innen und Nazis. Denn sie verwirren die Maßstäbe und entziehen letzten Endes einem entschlossenen Kampf gegen Rechts jede Grundlage. Man kann also davon ausgehen, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch unter der „Ampel“-Koalition weiter mit Steuergeldern gemästet wird.

# Titelbild: Kuscheln mit Bullen – Anetta Kahane zusammen mit dem Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), Foto: BKA

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In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

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Nach den erneuten wilden Streiks beim Lieferdienst Gorillas Anfang Oktober, folgte eine Welle der Entlassungen. Diese werden mittlerweile größtenteils als widerrechtlich angesehen. Über diese illegalen Kündigungen, die schlechte Einstellung der Unternehmensführung gegenüber ihren Arbeiter:innen, sowie die Notwendigkeit zur Organisierung und die Frage nach der Legalität wilder Streiks in Deutschland haben wir uns mit Felix unterhalten.

Hallo. Kannst du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Felix. Ich wurde unrechtmäßig von Gorillas entlassen und habe im Schöneberger Warehouse gearbeitet, das ist eines der Lager, in denen wir gestreikt haben. Und ich bin auch im Gorillas Workers Collective.

Seit wann bist du Teil davon? 

Ähm, seit April.

Seitdem ist eine Menge passiert, es gab neue Streiks, erst kürzlich.

Ja, wir scherzen, dass dies die dritte Welle ist.

Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen, was momentan bei Gorillas passiert?

Bei den letzten Streiks hat das Unternehmen seine eigene Darstellung der Ereignisse veröffentlicht und im Grunde genommen davon gesprochen, dass die streikenden Arbeitnehmer:innen “nicht glücklich” seien. Dabei bedienen sie sich der immer gleichen Sprache, die in solchen Start ups verwendet wird. Und uns wurde versucht uns Angst zu machen. Einige der streikenden Arbeiter:innen wurden entlassen, andere nicht. Es ist verwirrend, wenn nicht alle Arbeiter:innen, die entlassen wurden, gestreikt haben. Einige von ihnen waren sogar krankgeschrieben. Und andere Kolleg:innen, die gestreikt haben, wurden wiederum nicht entlassen oder illegal gekündigt. Gorillas macht weiter wie bisher und versucht, bei den anstehenden Betriebsratswahlen in den Wahlvorstand einzugreifen. Einige Arbeiter:innen, die wieder eingestellt wurden, mussten dafür sozusagen vor dem Unternehmen in die Knie gehen.

Was ist die Strategie des Workers Collective oder, sagen wir, der organisierten Arbeiter:innen im Allgemeinen, um sich gegen die Maßnahmen des Unternehmens oder auch gegen diese Narrative zu wehren?

Das Kollektiv hat die Aktionen unterstützt und es gab Leute, die Teil des Kollektivs waren, die auch gestreikt haben, aber ich würde eher über die Strategie der Arbeiter:innen in diesen Warehouses reden. Ich kann über Schöneberg und ein bisschen auch das Warehouse im Bergmannkiez sprechen. Wir müssen die Verbindung zu diesen Arbeiter:innen aufrechterhalten, auch wenn einige von ihnen das Unternehmen verlassen haben. Ich meine, viele Leute haben jetzt Angst, (illegal) entlassen zu werden, deshalb ist es ein bisschen schwieriger, sich zu organisieren. Ich denke, es gibt einen Punkt, an dem die Angst in gewisser Weise auch die Wut darüber überwiegt, dass das Unternehmen eine Reihe von Kolleg:innen gefeuert hat. Es gab auch Forderungen innerhalb der Streiks. Bei Gesprächen mit der Geschäftsführung wurde gesagt, dass diese bald erfüllt werden würden. Aber wir haben immer gesagt, dass das falsche Versprechungen sind. Gorillas hat monatelang Dinge versprochen. Seit dem letzten Streik und seit den Streiks davor. Sie haben uns Dinge versprochen, die nicht eingetroffen sind, stattdessen ist es nur noch schlimmer geworden. 

Inwiefern schlimmer?

Es ging unter anderem um die Qualität der Fahrräder und der Rucksäcke. Die Arbeiter:innen bekommen durch das Gewicht der Taschen chronische Rückenschmerzen. Die Manager haben uns – neben anderen Versprechungen – auch gesagt, dass wir bald neue Fahrräder bekommen und dass diese angeblich nur für die Lagerhäuser bestimmt sind. Es ist schon zu diversen Unfällen gekommen: Die Fahrräder gehen kaputt oder funktionieren nicht, so dass die Arbeiter:innen gefährdet sind. Und ich spreche aus der Sicht eines Riders. Diese Dinger kommen in das Warehouse und funktionieren nicht, dadurch passieren immer wieder Unfälle und es wird trotzdem nichts für die Sicherheit der Arbeiter:innen getan. 
Auch verschiedene Dinge bei der Schichtplanung, die sich ändern sollten, sind immer noch nicht umgesetzt.

Im Grunde wurden also keine eurer Forderungen erfüllt.

Nein. 

Du hast eben bereits über illegale Kündigungen gesprochen. Kannst du uns erklären, warum diese aus deiner Sicht illegal sind?

Sie sind illegal, weil viele von uns, mich eingeschlossen, nur Anrufe bekommen haben. Und technisch gesehen ist man erst entlassen, wenn man eine schriftliche Kündigung erhält. So lange kann man weiter arbeiten. Aber viele von uns haben diesen Anruf bekommen und dann wurden im Grunde alle unsere Schichten aus der App gelöscht, die wir benutzen, um uns ein- und auszutragen oder um zu wissen, wann unsere nächsten Schichten sind. Außerdem gab es verschiedene Dinge in den Kündigungen selbst, die nicht korrekt waren – sei es, dass sie nicht richtig unterschrieben oder Namen falsch geschrieben waren. 
Ich denke aber, das ist nicht unbedingt die Antwort auf deine Frage. Es gibt auch eine Menge Diskussionen, ob wilde Streiks legal oder illegal sind. Aber es ist eigentlich eine Grauzone. Es ist nicht legal, denn es gibt kein Gesetz darüber. Aber es ist auch nicht illegal. In Deutschland hat man das Recht zu streiken, wenn eine Gewerkschaft zum Streik aufruft. Aber im EU-Recht heißt es, dass die Arbeitnehmer:innen auch ein Streikrecht haben, wenn das nicht der Fall ist. Es geht also auch um die Frage, ob man das deutsche Recht dem EU-Recht unter- oder überordnet. 
Deshalb bereiten einige Arbeiter:innen wie ich Gerichtsprozesse vor, um wilde Streiks in Deutschland zu legalisieren. Wir wollen das bis vor den Europäischen Gerichtshof bringen. 

Wir haben gerade über die rechtlichen Strategien gesprochen, um mit diesen Kündigungen umzugehen. Was sind die politischen Strategien?

Es gibt Wut und Frustration und es gibt auch diese Angst, die ich schon angesprochen hatte. Wir sprechen über prekäre Arbeitnehmer:innen. Nicht nur wegen des Jobs an sich, sondern auch, weil viele von ihnen Angst haben, ihn zu verlieren. Sie müssen für ihre eigene Unterkunft und Verpflegung aufkommen und manchmal auch noch Geld nach Hause schicken. Und vielleicht ist der Job bei Gorillas nicht ihr Einziger. Auch die Beziehungen der Menschen zu Leuten in Machtpositionen sind verschieden, weil wir aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Man kann die Leute nicht dazu zwingen, zu streiken oder weiter zu streiken, aber es gibt immer noch die Möglichkeit, sich zu organisieren. So läuft das immer. Es gibt Streiks und dann werden die Probleme nicht gelöst. Deshalb ist es so wichtig, dass die Beschäftigten zusammenhalten und sich weiter organisieren. Auch wenn es auf einer kleineren Ebene ist als das, was Anfang Oktober in meinem Warehouse passiert ist. 
Aber mit dem kommenden Winter und wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern, wird sich das fortsetzen und wiederholen, und die Beschäftigten organisieren sich immer mehr, wie man sehen kann. Vor zwei Wochen wurden mindestens vier Warehouses zu verschiedenen Zeiten bestreikt. Es breitet sich aus. 

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast!

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Mit der Rechtsstaatlichkeit ist das so eine Sache. Meistens wird sie bemüht, wenn irgendwo eine Mülltonne brennt oder sonst irgend etwas passiert, das dem einen oder der anderen rechten Politiker:in nicht in die Agenda passt. Zuletzt verkündete der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) angesichts der Räumung des Köpi-Wagenplatzes: „Rechtsstaatlichkeit ist ein hohes Gut und muss sich immer durchsetzen.“ Eine ebenso beliebte Floskel ist auch die “Härte des Rechtsstaates”, mit der dem aktuell ausgemachten Feindbild begegnet werden soll. Gemeinsam haben diese Beschwörungen, dass die, die sie äußern, an Rechtsstaatlichkeit appellieren, aber eigentlich meinen, dass Justiz und Polizei besagtem Feindbild mal ordentlich auf den Deckel geben sollen. Mehr Rechtsstaatlichkeit heißt dabei also eigentlich einfach mehr Polizei und mehr repressive Gesetze.

Das eigentlich Rechtsstaatsprinzip zu bemühen, ist dabei aber eigentlich etwas anderes: Staat und Bürger müssen sich Gesetzen unterwerfen, sind vor den Gesetzen gleich und sollen innerhalb des durch die Gesetze vorgegeben Rahmens handeln. Das heißt ein Rechtsstaat ist eigentlich einer, in dem sich auch der Staat an seine eigenen Gesetze hält.

Die Realität sieht jedoch anders aus. Im Fall des Köpi-Wagenplatzes lief das Ganze nämlich folgendermaßen: Der dubiose Investor Siegfried Nehls kaufte über ein Geflecht von Briefkastenfirmen das Gelände, auf dem der Köpi-Wagenplatz stand. Um kurz vor Ablauf der Baugenehmigung noch schnell mit dem Bau beginnen zu können, ließ er angeblich von einem der Geschäftsführer eine Prozessvollmacht unterschreiben. Nur ist die Unterschrift einem Schriftgutachten zufolge aller Wahrscheinlichkeit nach gefälscht. Den Geschäftsführer hat niemand jemals gesehen. Die formalen Voraussetzungen für das Führen des Räumungsprozesses, eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung des Eigentümervertreters, waren also von Anfang an gar nicht erfüllt. Rechtsstaatlich höchst fragwürdig das alles.

Dem Gericht war das egal. Irgendjemand hat eine Vollmacht unterschrieben, um 50 Menschen obdachlos zu machen. Diese bereitete den Weg für die ach so rechtsstaatliche Polizei, die dann in einem gigantischen Einsatz von 3.500 Beamt:innen am Freitag Vormittag die Räumung durchführte.

Würden Justiz und Polizei sich an ihre angeblichen rechtsstaatlich Prinzipien halten, hätte dies nicht passieren dürfen. Dasselbe gilt für die ganze Posse um die Rigaer94, bei der ein Anwalt – entgegen sämtlicher bisheriger höchstrichterlichen Entscheidungen – vom Berliner Kammergericht als Eigentümervertreter anerkannt wird. Von der vermeintlichen Rechtsstaatlichkeit polizeilicher Prügelorgien und Morde müssen wir gar nicht erst reden. Wenn es Kapitalinteressen dient, oder es Staatsdiener:innen in der Arbeit für diese Interessen behindert, wird im Zweifel auf Recht und Gesetz geschissen. Die Rechtsstaatlichkeit, die Geisel bemüht ist ein Witz.

Dabei ist das eigentliche Problem mit all dem Gerede eigentlich ein ganz anderes: Selbst wenn Vertretungsvollmacht und all der legale Kram in Ordnung sein sollten, was sagt es über einen Rechtsstaat aus, in dem wir uns alle an Gesetze halten sollen, aber diese Gesetze nur unsere eigene Unterdrückung festschreiben? Was bringt es den Geräumten, und allen Zwangsgeräumten überhaupt, theoretisch mit Hilfe tausender Polizist:innen ihr Recht auf Eigentum schützen lassen zu können, wenn sie niemals welches haben werden? Wie sehr ist ein:e Investor:in vom Verbot unter Brücken zu schlafen betroffen? Das Recht, das der Rechtsstaat durchsetzt, ist das Recht der herrschenden Klasse.

Wenn als Antwort auf die Räumung des Köpi-Wagenplatzes Mülleimer und Autos in Flammen aufgehen, Fensterscheiben zu Bruch gehen und Steine fliegen, dann ist das also vielleicht nicht rechtsststaatlich, aber ganz sicher legitim. Denn mit diesem Rechtsstaat, mit diesen Gesetzen und Gerichten, mit dieser Polizei, die nur die Herrschenden vor den Beherrschten schützt, ist sowieso kein Blumentopf zu gewinnen.

# Titelbild: PM-Cheung, Fronttranspi der Demo zur Räumung des Köpi-Wagenplatzes

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Betriebsratswahlen 2022. Warum sie gerade jetzt wichtig sind. (Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 5)

“Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.” Dieser Spruch war Ende der 1980er Jahre auf WG-Kühlschränken, Häuser- und Toilettenwänden zu lesen. Was heute als abgedroschene Phrase gelten darf und spätestens seit den erdrutschartigen Erfolgen der AfD selbst von eingefleischten Anarch@s überdacht werden musste, kommentierte vor allem den fabelhaften Aufstieg der Grünen seit 1980 bei gleichzeitigem Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit. Der Spruch bezog sich auch generell auf Parlamentswahlen in westlichen Industrienationen.

Betriebsräte hatte damals wie heute niemand als Faktor auf dem Schirm. Sie galten bestenfalls als langweilig, bürokratisch, verfilzt… Doch das sollten wir überdenken! Die nächsten Betriebsratswahlen stehen vom 1. März bis 31. Mai 2022 an. Betriebsratsgründungen können zwar jederzeit erfolgen, existierende Gremien wählen alle vier Jahre bundesweit in diesem Zeitfenster. Jetzt sollten Wahllisten vorbereitet werden.

Dysfunktionale Demokratien und Massenverblödung

Bleiben wir noch kurz bei Parlamentswahlen. Heute wissen wir dank der USA und Donald Trump, aber auch anhand jüngster Vorgänge in anderen dysfunktionalen “westlichen” Demokratien wie Brasilien, Bolivien, dass Wahlen nicht gleich verboten werden müssen, wenn sie etwas zu ändern drohen. Die Methoden, sie unschädlich zu machen, sind wesentlich vielfältiger und raffinierter: Wahlen können untergraben, manipuliert, gezielt delegitimiert, nicht anerkannt werden. Wahlen können durch Inhaftierung oder gerichtliche Absetzung der gegnerischen Spitzenkandidaten (Lula, Evo Morales) gewonnen werden. Wahlen werden beeinflusst durch manipulativen Zuschnitt der Stimmbezirke (englisches Fachwort: Gerrymandering), durch gezieltes Abhalten bestimmter Wählergruppen (Schwarze in den Südstaaten) oder durch deren systematische Demoralisierung, Desinformation und Verblödung.

Vielleicht ändern Parlamentswahlen damals wie heute tatsächlich nichts am Kern des Übels, also den Eigentums- und Besitzverhältnissen – wo doch selbst ein bescheidener Berliner Mietendeckel vom Verfassungsgericht kassiert wird.

In Bezug auf Betriebsratswahlen gilt der Umkehrschluss: Sie sind gefürchtet,
a) weil hier tatsächliche Macht in einer überschaubaren Einheit entsteht,
b) weil diese Macht von gewählten Personen aus dem Kreis der Ausgebeuteten ausgeübt wird.

Betriebsratswahlen werden zwar nicht verboten, aber vom Staat auch nicht durchgesetzt und konsequent verteidigt, sondern durch einen professionelle Dienstleistungssektor aus Jurist:innen, Berater*innen und PR-Profis mit Methoden sabotiert, die auf der betrieblichen Ebene den oben aufgezählten parlamentarischen Wahlmanipulationen ähneln.

Betriebsratswahlen werden keineswegs flächendeckend, regulär und selbstverständlich abgehalten – entgegen geltender Gesetze. Laut einer repräsentativen Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB, einer Tochter der Bundesagentur für Arbeit) gibt es in nur 9 Prozent der wahlberechtigten Betriebe (mit mindestens fünf Beschäftigten) einen Betriebsrat. Das ist an sich ein Skandal. In jeder Schulklasse werden ab der Grundschule Klassensprecher:innen gewählt, in jeder Kommune und gibt es Stadträte. Bei genauer Betrachtung stellen wir fest: Es gibt noch nicht einmal Zahlen! Niemand weiß, wie viele Betriebsräte überhaupt existieren. Aber wir dürfen vermuten, dass selbst 1978, in der Zeit der größten Machtentfaltung der westlichen Arbeiterklasse (laut der Zeitschrift Wildcat) Betriebsräte nie flächendeckend und in sämtlichen Industrien verbreitet waren.

Warum sind Betriebsräte so gefürchtet?

Ein Betriebsrat schränkt die unternehmerische Willkür bei Einstellung und Entlassungen ebenso ein wie bei Überstunden, Dienstplänen, Urlaubsvergabe, tariflicher Eingruppierung und willkürlicher Ungleichbehandlung. Der Betriebsrat schafft Transparenz über Auftragslage, Geldflüsse, geplante Manöver des Managements; er ist die einzige wirklich effektive Kontrollinstanz für geltende Gesetze, Vorschriften und Verordnungen etwa zu Arbeitsschutz, Arbeitszeiten etc. Der Betriebsrat ist der zentrale Brückenkopf für Gewerkschaften und sozialistische Organisationen. Der Betriebsrat ist nicht kündbar – theoretisch, denn um Kündigungen zu fabrizieren und Betriebsratsmitglieder zu zermürben, werden Union Buster angeheuert. Und nur wo ein Betriebsrat existiert, können Gewerkschafter:innen offen und ohne Angst vor Kündigung im Betrieb auftreten.

Genau deshalb ist die Betriebsratswahl seit der Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes am 13. Januar 1920 ein Stiefkind der Demokratie und ein blinder Fleck des Rechtsstaats geblieben. Die SPD ließ zur Verabschiedung das größte deutsche Massaker an Demonstrant:innen der deutschen Geschichte zu. 42 Personen starben im Kugelhagel, als die mit Rechtsextremen durchsetze paramilitärische “Sicherheitspolizei” (SIPO) angeblich zum Schutz des Reichstags mit Maschinengewehren in eine Menge von 100.000 Berliner Arbeiter:innen ballerte. Das Betriebsrätegesetz und das spätere Betriebsverfassungsgesetz sind Resultate eines unerklärten Bürgerkriegs. Wesentliche Teile des Unternehmerlagers haben Betriebsräte nie oder nur zähneknirschend und vorübergehend akzeptiert. Staatsanwaltschaften und Gesetzgeber behandeln die Straftat Betriebsratsbehinderung (§119 BetrVG) als Kavaliersdelikt. Tatsächlich ist sie mit dem selben Strafmaß bewehrt wie Beleidigung, Höchststrafe ist ein Jahr Gefängnis.

Kritik von links und rechts

Auf rechtsextremer Seite ist hingegen eine ideologische Mutation passiert: Galten Betriebsräte früher als Schande für die deutsche Industrie und als Verstoß gegen das Führerprinzip, die nach der Machtübernahme der Faschisten 1933 sofort liquidiert wurden, so bereiten sich diverse Schattierungen von AfD und Pegida längst intensiv darauf vor, sich über Betriebsratsmandate dauerhaft in Belegschaften zu verankern. Dass diese Strategie durchaus erfolgreich sein könnte, zeigen Wahlerfolge des “Zentrum-Automobil” bei Daimler und BMW.

Die radikale Linke der 1970er Jahre hat Betriebsräte zu großen Teilen abgelehnt und oft aus guten Gründen und schlechten Erfahrungen regelrecht verabscheut. In einem Nachruf auf den jüngst verstorbenen Wortführer des Kölner Ford-Streiks 1973, Baha Targün,lesen wir, warum. Denn der Ford-Betriebsrat beteiligte sich federführend an der Niederschlagung des “Türken-Streiks”: “Mit Gebrüll stürmte die Polizei den Betrieb. Mit dabei: Werkschutz, angeheuerte rechtsradikale Schläger, Gewerkschaftsfunktionäre, Meister, Vorarbeiter. BahaTargün wurde schwer verletzt. Die Werksleitung bedankte sich nach dem Streik öffentlich für den ‘persönlichen Einsatz der Betriebsräte unter der Führung des Betriebsratsvorsitzenden’.”

Die Betriebsratsfürsten der Großkonzerne waren Teil eines fest verwobenen Filzes aus SPD-Apparastschiks, Gewerkschaftsbonzen, Seitenwechslern aus den Gewerkschaften ins Management, Aufsichtsratspöstchen, fetten Abfindungen, Vergünstigungen wie Dienstwagen und Lustreisen, vermutlich auch inklusive knallharter Bestechung und Korruption. Rund um Betriebsräte hat sich eine regelrechte Industrie aus Anwält:innen und Schulungsunternehmen gebildet. Betriebsräte lassen sich regelmäßig in 4-Sterne-Sporthotels schulen, all-inclusive versteht sich. Das alles war richtig und ist es zum Teil immer noch.

Zuletzt hat etwa der Prozess um massive Betriebsratsbegünstigung, Korruption und Veruntreuung bei VW, der leider mit Freisprüchen für das Management endete, für schlechte Presse von Betriebsräten gesorgt. Und dieser Prozess zeigt nur die Spitze eines Eisbergs, der immer noch ziemlich massiv ist.

Allerdings haben sich sich die Vorzeichen geändert. Der Eisberg schmilzt. Und wird vom Management in den vergangenen 40 Jahren gezielt abgeschmolzen. Auch wenn die Börsennachrichten im Ersten und das Handelsblatt einen anderen Anschein erwecken: Die deutsche Wirtschaft besteht nicht mehr aus DAX-Konzernen und Industrie-Giganten. Auslagerungen, gezielte Aufspaltungen der integrierten Großunternehmen nach Vorbild von Ford haben eine immer kleinteilige Produktionslandschaft entstehen lassen. Ein Betriebsrat bei H&M oder einem Bremsscheibenhersteller der Autoindustrie ist nicht zu vergleichen mit den Betriebsratsfürstentümern bei VW. Zudem sind ehemalige Giganten wie ThyssenKrupp, AEG oder General Electric längst Geschichte.

Wenn wir von direkter Demokratie sprechen, dann sind die bunten, alternativen Listen, die ab den 1970er Jahren zu Betriebsratswahlen antraten – und in denen sich jene Radikalinskis sammelten, die damals routinemäßig wegen “Unvereinbarkeit” aus DGB-Gewerkschaften ausgeschlossenen wurden – sogar Vorboten der Grün-Alternativen Listen auf kommunaler Ebene gewesen. Und sie enthalten Restbestände und deutliche Spurenelemente der gescheiterten sozialistischen deutschen Räterepublik von 1918.

Wenn diese Wahlen unwichtig wären, würden sie nicht so massiv behindert.

Für Betriebsräte gilt also der Umkehrschluss der alten Sponti-Weisheit. Daraus folgt der Appell sich jetzt ernsthaft Gedanken über eine Kandidatur und eine Wahlliste zu machen. Diese kann unabhängig, bunt und alternativ sein oder in enger Abstimmung mit einer Gewerkschaft und ihrem Vertrauensleute-Körper aufgestellt werden. Was besser ist, muss im konkreten Fall abgewogen und entschieden werden.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 2 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Beide beraten aktive Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen. Ihr erreicht sie unter kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Betriebsrat der Zeche Mansfeld 1951, wikimedia commons, CC BY-SA 3.0

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„No Pasaran“ steht auf dem Banner, welches über der Tür an der Glasfassade hängt. Ca. 40 Menschen stehen herum und unterhalten sich, malen weitere Banner. Auch einige Journalist:innen sind da und führen Interviews. Plötzlich bildet sich eine Menschentraube vor der Tür. Zwei Männer, welche von sich behaupten Rider – Lieferfahrer zu sein, wollen das Gebäude betreten, werden jedoch daran gehindert. Denn das Gorillas-Lager im Kaiserkorso 154 in Tempelhof wird seit Freitag morgen bestreikt. Und auch die Beschäftigten in Schöneberg und Gesundbrunnen, sowie kurzzeitig aus Mitte, haben sich angeschlossen. Mittlerweile gibt es einen Aufruf unter #StartUpsideDown Fotos seines umgedrehten Fahrrads zu posten, um Solidarität auszudrücken.

Es ist nicht das erste Mal, dass die schlechten und unsicheren Arbeitsbedingungen bei dem Lieferdienst in der Öffentlichkeit stehen. Als im Juni diesen Jahres einer der Fahrer ohne Vorwarnung gekündigt wurde, legten viele seiner Kolleg:innen die Arbeit nieder. Und es wurden immer mehr. Seitdem häufen sich die Erfahrungsberichte über nicht oder zu spät gezahlte Löhne, unsichere Anstellungsverhältnisse und schlechtes Equipment. Geändert hat sich aber nichts. Gleichzeitig birgt die Dynamik des wilden Streiks aber auch eine Chance, Arbeitskämpfe in Zukunft wieder spontaner und selbstorganisiert stattfinden zu lassen. Das Gorillas Workers Collective zeigt, wie es gehen kann.

Fährt man zu einem der Streikposten und spricht mit den Menschen dort, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie prekär Arbeitsbedingungen sein müssen, um sich in einen Ausstand ohne gewerkschaftliche Organisierung oder Lohnfortzahlung zu begeben. An allem scheint es zu mangeln – und das, obwohl das Start-up anfangs von Investor:innen mit Geld überschüttet wurde. Der Zustand der Fahrräder ist oft schlecht und das nötige Werkzeug nicht immer vorhanden. Die bereitgestellten Helme werden teilweise nach Unfällen nicht ausgetauscht, sondern einfach wieder zum Equipment für die nächste Person gelegt. Schichtpläne werden nicht rechtzeitig an die Arbeiter:innen ausgegeben – und das bei ständig wechselnden Arbeitszeiten und damit auch einer unterschiedlichen Anzahl an Wochenstunden, was das eigene Leben maximal unplanbar macht. Besonders, da die Beschäftigten noch nicht einmal nach ihren Kapazitäten gefragt werden.

Doch nicht nur bei den Arbeitsbedingungen ist Gorillas arbeiter:innenfeindlich. Auch ihre Lohnauszahlungen müssen die Mitarbeiter:innen selbst überprüfen um sicherzustellen, dass sie das ihnen zustehende Gehalt ausgezahlt bekommen. Und zwar pünktlich. Dafür stehen ihnen ihre Lohnzettel nicht immer zur Verfügung, es muss mehrmals nachgefragt werden, warum das Geld noch nicht auf dem Konto ist, immer wieder bekommen die Angestellten zu hören, dass dies nur ein Versehen sei. Auch ihr Trinkgeld zählen die Rider lieber selbst nach, da auch hier der Verdacht besteht, dass dieses in einigen Fällen nicht regulär ausgezahlt wurde. Ordentlich viel Mehrarbeit also. Und das bei einem Stundenlohn von gerade einmal 10,50€.

Ein Rider erzählt, dass er seit Dezember 2020 bei Gorillas arbeitet. Zunächst im Warenhaus, dann auf dem Fahrrad. Laut seiner Aussage stehen ihm aus seinen ersten beiden Monaten immer noch circa 400 Euro Gehalt zu und auch seine letzte Auszahlung ist schon eine Woche überfällig. Er berichtet, dass er sich bereits Geld bei seiner Familie und Freunden leihen musste, um pünktlich die Miete zu überweisen. Und, dass er vor zwei Tagen noch nicht einmal die drei Euro hatte, um mit der Bahn zu seiner Arbeit bei Gorillas zu fahren.

Auch die Anstellungsverhältnisse sind prekär: Aktuell findet vor dem Berliner Arbeitsgericht eine Auseinandersetzung um die Entfristung der Verträge von circa 2.000 Beschäftigten von Gorillas statt. Die entsprechende Kampagne dazu wurde am 21. August vom Gorillas Workers Collective veröffentlicht, da ein Großteil der Verträge auf ein Jahr befristet sind, manche von ihnen sogar kürzer. Allein sechs Monate befinden sich die Angestellten in der Probezeit, immer wieder gibt es Berichte, dass Menschen ohne weitere Begründung kurz vor Ende der Probezeit gekündigt wurden. Das macht Arbeitskampf schwierig. Und es sorgt zusammen mit den anderen schlechten Arbeitsbedingungen dafür, dass dem Start-up in Berlin immer weniger Faher:innen für immer mehr Bestellungen zur Verfügung stehen. Das Werbeversprechen der Firma, dass alles in 10 Minuten geliefert wird, kann so nur noch eingehalten werden, wenn die Rider zu viele Waren in die Rucksäcke packen und sich den Rücken kaputt arbeiten.

Angesichts dieser Schilderungen sollte Gorillas froh sein, dass ihre Angestellten nur streiken, anstatt sich dafür zu entscheiden alle gleichzeitig zu kündigen. Denn so viele überschüssige und austauschbare Arbeitskraft im Niedriglohnsektor der Kapitalismus auch braucht, so viele neue Lieferdienste gibt es mittlerweile. Aber zum Glück auch Menschen, die erkennen, dass immer irgendwer bei einer solchen Firma wird arbeiten müssen und die sich für ihre Rechte einsetzen.

Die zwei Männer, die den Streikposten passieren wollten, waren übrigens keine Rider, sondern arbeiteten für das Management. Trotzdem zeigte die Situation, dass keine Streikbrecher:innen geduldet werden – „No Pasaran“ eben.

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(Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 4)

Nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler.

Alte Kalenderweisheit

Das Ausscheiden gehört zu einem normalen Entwicklungsprozess, wir können Titel nicht herbeireden.

Jogi Löw nach Halbfinal-Niederlage bei der EM 2012

Für eine gewisse Zeit im April 2021 blickte die Weltöffentlichkeit auf den US-Bundesstaat Alabama und wartete gespannt auf den Ausgang der Wahlen zur Anerkennung der Einzelhandels, Großhandels- und Kaufhausgewerkschaft RWDSU im Amazon-Lager BHM1 in Bessemer, einem Vorort von Birmingham. Dass sie weltweite Aufmerksamkeit für einen demokratischen Wahlkampf am Arbeitsplatz erzeugen konnte, war womöglich der größte Verdienst der RWDSU in dieser Schlacht, die mit einer vernichtenden Niederlage endete. Manche meinen, dass die Niederlage bereits zu Beginn feststand und anhand der Ausgangslage unvermeidlich war. Dieser Artikel fasst Union-Busting-Maßnahmen und mögliche Lehren zusammen.

Denn Amazon hasst Gewerkschaften und bekämpft sie systematisch. Der Online-Gigant ist mit rund 500.000 Beschäftigten inzwischen hinter Walmart der zweitgrößte Arbeitgeber der USA. Ein Erfolg der Gewerkschaften wäre dort die erste erfolgreiche Organisierung bei Amazon gewesen. Die Wahl in Alabama sollte für die Gewerkschaftsbewegung der Startschuss für die Organisierung bei Amazon werden. Viele sahen gar eine Art Zeitenwende herannahen, nachdem vorangegangenen Sieg der Demokraten in der US-Präsidentschaftswahl, der ebenfalls über eine siegreiche Moblisierung der schwarzen Wählerschaft im Swing-State Alabama lief. Da auch bei Amazon in Alabama überwiegend Afro-Amerikaner_innen arbeiteten, glaubte man an einen positiven Trend.

Extrem erfolgreiches Union Busting

Amazon setzte alle Hebel in Bewegung und engagierte neben hausinternen Stabstellen, die mit Militärs, Psychologen, PR-Spezialisten und Geheimdienstler_innen gespickt sind, mit Morgan Lewis die wohl berüchtigste Union Busting-Kanzlei der USA ein, um den Aufmüpfigen im Betrieb eine Lektion zu erteilen. Es wurde eine verheerende Klatsche, ein Knock-down. Von 5.800 Wahlberechtigten gaben nur 3.041 ihre Stimme ab: 1.798 gegen die Gewerkschaft, nur 738 dafür, 505 Stimmen wurden angefochten, 400 davon von Amazon — mit meist lächerlichen Gründen, wie Gewerkschaftsboss Stuart Appelbaum lamentiert. Doch selbst wenn wir wir die angefochtenen Stimmen komplett für die RWDSU gewertet werden würden, was unrealistisch wäre, so hätten nur 21 Prozent der Wahlberechtigten für die Gewerkschaft gestimmt. An zweifelsfrei gezählten, unangefochtenen Stimmen waren es nur 13 Prozent. Ein Desaster.

Management nimmt Rache: Arbeitshetze und Zen-Kabinen

Wie vernichtend die Niederlage war, zeigt sich auch an den Folgen. Der Arbeitsdruck stieg weiter. Die fast lückenlose Überwachung, Kontrolle und Bestrafung waren ein wesentlicher Grund, warum sich ein Kern von Amazon-Malocher_innen bei der RWDSU gemeldet hatte und um Hilfe bat. Das berüchtigte “time off task”-Kontroll-System (TOT) misst angeblich “verschwendete Arbeitszeit”, schlägt laut Berichten aber auch an, wenn es Lieferengpässe und daher nichts zu tun gab. Wer zu viel TOT anhäuft, “erhält Warnungen und wird gekündigt”, referiert netzpolitik.org eine Studie des Open Markets Institute. Beschäftigte beschreiben den psychologischen Effekt dieser Maßnahme als schwelende Dauerpanik bei der Arbeit. Ein Armband soll außerdem sicherstellen, dass bei Beschäftigten jeder einzelne Handgriff in die richtige Richtung geht. Wenn nicht, vibriert das Kontrollbändchen.

Die Arbeiter_innen versprachen sich von ihrer Gewerkschaft eine reale Verbesserung. Nach deren Niederlage wurde der Druck offenbar zusätzlich erhöht.

Was nutzt ein Sieg, der keine Früchte trägt?

Die Aufmüpfigen sollen die Knute spüren. Am 6. Mai starb ein Amazon-Arbeiter im Lager nach einem Kreislaufkollaps.1 Sein Name – und das zeigt die Dimension der Niederlage vielleicht am Deutlichsten – ist bis heute öffentlich unbekannt. Die Deutungshoheit liegt wieder ganz beim Management und der Amazon-PR. Der Gipfel des Zynismus: Um auf beständige Kritik am Arbeitsdruck und signifikant hohen Unfall- und Krankheitszahlen zu reagieren, stellte Amazon “Achtsamkeitskabinen” in der Größe von Dixie-Klos in den Lagern auf, die –– kein Scherz! – AmaZen heißen. Dort könenn die Arbeiter_innen verschiedene Arten von beruhigender Musik wählen, um sich zu entspannen. Gleichzeitig leakte die investigative Plattform The Intercept, interne Anweisungen, dass Beutel mit “menschlichen Fäkalien” im Lager nicht geduldet würden. Im Klartext: Der Arbeitsdruck durch die TOT-Erfassung war so hoch, dass keine Zeit blieb aufs Klo zu gehen. Womöglich wurde auch in der AmaZen-Bude zu beruhigender Musik “einer abgeseilt”.

Der Sieg hat viele Mütter und Väter, so heißt es. Wenn Du gewinnst kommen sie alle und wollen Dir auf die Schultern klopfen. Die Niederlage ruft hingegen Schlauberger, Nörgler, Gegner_innen im eigenen Lager und solche auf den Plan, die es ja immer schon gesagt und besser gewusst haben. Hätten die Verantwortlichen nur früher auf sie gehört! Hätten sie nur mehr Geld für die richtige Beratung und das richtige Coaching ausgegeben!

Das Geschäft dieser Dienstleister ist eigentlich ganz simpel: Ratschläge müssen nur vielschichtig, anspruchsvoll und kompliziert genug zu erfüllen sein, dann behalten die Ratgeber_innen am Ende immer Recht.

Andererseits lohnen sich Niederlagen womöglich besser, um zu lernen, als Siege. Denn der Sieg verleitet dazu, dass die zu Grunde liegende Methode verabsolutiert und stetig wiederholt wird. Ferner lernen auch unsere Gegner_innen aus ihren Niederlagen und setzen alles daran, eine Wiederholung in Zukunft zu verhindern.

Eingesetzte Union Busting-Methoden:

  • Verpflichtende Belgeschaftsversammlungen (Mandatory Meetings) während der Arbeitszeit sind das wirksamste Mittel, um betriebliche Organisierung zu sabotieren. Interessant ist, dass Amazon einerseits die “verschwendete Arbeitszeit” sekundengenau misst und sanktioniert, für propagandistische Belegschaftsversammlungen aber viel Zeit und Energie übrigt hatte. Die US-Gewerkschaftsbewegung kämpft seit den 1960er-Jahren für gleichberechtigten Zugang zu Belegschaftsversammlungen oder für ein Verbot dieser Methode.
  • Das Management nutzt alle zur Verfügung stehenden Mittel bis hin zu Details: Die Verkehrsampeln vor dem Lager wurden so geschaltet, dass Organizer auf der Straße weniger Möglichkeit hatten, Pendler anzusprechen.
  • Höherer Lohn als in anderen Amazon-Lagern
  • Zuckerbrot und Peitsche. Hier: Versprechungen und Drohungen.

Geschichte wird von Siegern geschrieben…

.. und wer siegen will muss Geschichten schreiben. Und sie glaubhaft vertreten. Es siegt, wer in der Lage ist Narrative durchsetzen. Amazon bediente folgende Erzählmuster aus dem Drehbuch des Union Busting:

  • Wir haben verstanden. Wir haben Fehler gemacht, aber wir bessern uns. Wir sehen jetzt eure Anliegen und werden uns darum kümmern.
  • Unsere Tür steht immer offen. Wir haben ein offenes Ohr. Wozu braucht ihr eine Gewerkschaft?
  • Wir bezahlen 15$ pro Stunde. Das ist mehr als ihr anderswo kriegt. (Und mehr als in anderen Amazon-Lagern).
  • Wenn die Gewerkschaft kommt, habt ihr weniger Geld. Weil ihr hohe Gewerkschaftsbeiträge zahlen müsst. (Und weil wir vielleicht den Lohn absenken.)
  • Wir schikanieren, mobben, versetzen, feuern Kolleg_innen, einfach weil sie es nicht besser verdient haben (und weil wir es können). Wollt ihr dasselbe Schicksal erleiden?
  • Angedeutete Konsequenzen (unterschwellig): Wir machen den Laden dicht, wenn ihr nicht spurt. Koste es, was es wolle.

Gelernte Lektionen: Erkenntnisse aus der Niederlage

  • Der ökonomische, betriebliche Kampf folgt anderen Gesetzen als der politische. Beide sind kaum vergleichbar.
  • Es gibt keine historische Mission, keine Zeitenwende, keinen “Genossen Trend” und kein Momentum, das Dir den Sieg bringt. (Zumindest darfst Du nicht damit rechnen.) Das ist im Betrieb fast alles Bullshit. Vergiss linke, sozialistische, historische Mythen und Versprechungen. Dass Martin Luther King einst in Birmingham heroische Schlachten ausfocht, dass Joe Bidens Wahlkampfteam in Alabama ein wichtiger Sieg gelang, interessiert am Arbeitsplatz im Ernstfall nicht.
  • Vergiss die ganze angebliche Vorherbestimmung des Bewusstseins, der Stimmung durch Hautfarbe, Ethnie, Arbeiterklasse. Am Ende zählen Brot und Butter. Oder Autos, Wohnzimmergarnituren, Jahresurlaub und Krankenversicherungen. Was gibt es real zu gewinnen, was zu verlieren? Wen kenne ich, wem kann ich vertrauen?
  • Halte Dich an die Fakten: Zahlen, Erfahrungen, gesicherte Erkenntnisse.
  • Du musst mit 75% Unterstützung in der Belegschaft in den offenen Konflikt einstiegen. Durch Union Busting (Propaganda, Zermürbung, Feuern, Neueinstellungen) kann das Management 20-25% Deiner Basis wegrasieren. Wenn Du nur mit 30-40% einsteigst, wie es die RSWDU machte, hast Du verloren, bevor die Schlacht beginnt.
  • Die Basis und Stabilität der Unterstützung muss vorab in Test-Verfahren gemessen werden: Wie beteiligt sich die Belegschaft an niederschwelligen Aktionen und solchen, die Mut erfordern?
  • “Die erste Schlacht muss gewonnen werden.” (Mao Tse Tung) Gute Vorbereitung ist alles. Solange der Sieg nicht einigermaßen sicher ist, musst Du im Verborgenen organisieren und Netzwerke bilden. Das kann lange dauern. Geduld ist gefragt.
  • Deine glaubhafte Erzählung muss sein: Die Organisierung sind die Beschäftigten, sie kommt aus dem Betrieb. Nicht: Die Gewerkschaft kommt von außen und macht etwas für die Beschäftigten. Ein Organisierungskomitee aus echten Arbeiter_innen ist Dreh- und Angelpunkt des Sieges.
  • Der Sieg muss am Boden errungen werden nicht in der Luft. Auf den Betrieb übertragen: Das Organisierungskomitee muss im Betrieb in jeder Abteilung und in jeder Gruppierung vertreten sein. Bombardierung von oben bzw. von außen durch Medien, Öffentlichkeit, Aktionen vor den Werkstoren kann allenfalls ein Support sein.
  • Es gibt einen Kipppunkt: Irgendwann haben die Kollgen vom gesamten Konflikt und seinen ständigen News, Aufrgeungen etc. einfach die Schnauze voll. Die Union Buster wissen das und dröhnen die Belegschaft gezielt zu.
  • Auch solidarischer Support und kritische Medienpräsenz (Bombardierung) können überhand nehmen und die gesamte Belegschaft gewaltig nerven. Es gilt zu dosieren und den richtigen Rhythmus zu finden.
  • Die Organisierung muss in der Gegend verankert sein, in der der Betrieb liegt. In Birmingham gab es nur Black Lives Matter und sozialistische Gruppen, wobei letztere in den konservativen Südstaaten eine Randgruppe darstellten. Die Gewerkschaft selbst kam aus den Nordstaaten. Der wichtigste Rückhalt in dieser religiösen Gegend sind Kirchen und Gemeinden. Es gilt, diese Communities in relevanter Zahl hinter sich zu bekommen, ebenso über Vereine, Bürgerinitiativen etc.
  • Wenn die Beschäftigten sich nicht trauen, offen und offensiv aufzutreten –– etwa mit Buttons, Stickern, Kundgebungen – sondern sich aus Angst vor Kündigung, Mobbing etc. ängstlich im Schützengraben wegducken, ist der Kampf bereits verloren.
  • Eine hohe Fluktuation (viele Neueinstellungenen und Abgänge) im Betrieb kann Fluch und Segen sein – in Bessemer sind es 100% pro Jahr, d.h. niemand hält die Arbeit hier auf Dauer aus. Du musst als Organisierungskommittee also immer wieder von vorn anfangen. Du kannst es aber auch immer wieder versuchen.
  • In Betriebe mit hoher Fluktuation kannst Du leicht einsickern. Du kannst dort selbst eine Weile arbeiten und Leute animieren, dort anzufangen. Warum machen das so wenige Gewerkschaften? Warum sickert die RWSDU nicht selbst mit Organizern dort ein, anstatt ehemalige Malocher_innen einer Hühnerfabrik anzuheuern, die vor dem Amazon-Werkstor Flugblätter verteilen?

Grenzen des Organizing?

Die verheerende Niederlage bei Amazon in Alabama wirft die Frage auf, was das professionelle Organizing insgesamt Wert ist, das sich in den USA seit 40 Jahren zu einer gewerkschaftsnahen Sub-Unternehmer und Dienstleistungsindustrie heraus gebildet hat. Insbesondere weil diese Sozialtechniken, die nah am Direktmarketing, Fundraising und Kundenakquise gebaut sind seit 20 Jahren von IG Metall und Ver.di adaptiert werden und insbesondere trotzkistischen und anderen Uni-Linken temporäre Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Die US-Profi-Organiziern Jane McAlevey, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem VSA-Verlag seit drei Jahren zu einer Art Guru aufgebaut wurde, meint, die entwickelten Methoden seien von der RWSDU lediglich falsch und inkonsequent angewandt worden. Dafür spricht in der Tat einiges, anderes spricht dafür, das professionelle Organizing der DGB-Gewerkschaftsapparate und ihrer US-Vorbilder wesentlich kritischer zu betrachten als bisher.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 3 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Die beiden beraten Betriebsgruppen, Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen.

Wir freuen uns über Resonanz: Anregungen, Hinweise, Nachfragen und Diskussionen! Mailt an: kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Workers at Amazon’s Shakopee, Minnesota, fulfillment center walked out in a December 2018 protest. Credit: Fibonacci Blue, CC BY 2.0.


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