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Die Klimakatastrophe schreitet unvermindert voran, während sich die bürgerliche Politik im „grünen Kapitalismus“ übt und teile der Klimabewegung immer noch der Hoffnung in die aussichtlose Reform des Kapitalismus zum Klimaschutz hingeben. Aktion Klimakampf in einem Gastbeitrag warum eine reovolutionäre antikapitalistische Organisierung gegen die Klimakatastrophe notwendig ist.

Was bedeutet die Erwärmung der Erde für uns?
Zwei Grad: Die Korallenriffe sterben fast vollständig ab, Hitzewellen wie jene in Europa im Jahr 2003, an der zehntausende Menschen starben, werden Alltag.
Drei Grad: Viele Küstenstädte der Erde versinken im Meer, die Golfregion wird für Menschen unbewohnbar.
Vier Grad: Indien, Bangladesch und große Teile Chinas zu werden zu Wüsten, in Europa herrscht permanente Dürre.

Und das Pariser Klimaabkommen? Wenn alle Staaten die Ziele einhalten würden, die sie sich im Rahmen dieses Abkommens gegeben haben, dann – so steht das in dem UN-Bericht „Emission Gap Report“ – liefe das auf eine Erwärmung von 3,2 Grad hinaus. Aber die Staaten halten sich nicht an diese Klimaziele. Das liegt nicht daran, dass irgendjemand den Ernst der Lage noch nicht begriffen hätte. Seit 1979 ist offiziell bekannt, dass Treibhausgase die Erde erwärmen und was das für die Menschheit bedeutet. Seither sind die Emissionen kontinuierlich weiter angestiegen. Es liegt daran, dass kapitalistisches Wirtschaften und Klimaschutz einen unauflösbaren Widerspruch bilden. Die Klimabewegung in Deutschland weiß das.

Das „System, welches die Erde zerstört“, schreibt Extinction Rebellion Deutschland in seinen „Prinzipien und Werten“, basiere auf folgenden Säulen: der „Kultur des rücksichtslosen Konsums und der Ausbeutung von Menschen und Natur“, „zunehmendem Ressourcenverbrauch, Profitmaximierung und auf Wachstum basierenden Wirtschaftssystemen und Finanzsystemen“ und einem Diskurs, „der wirtschaftlichen Argumenten mehr Raum gibt, als Demokratie-, Umwelt- und Sozialaspekten“. Den Ruf ihres britischen Vorbilds nach „Change“, Veränderung, übersetzen sie mit „(System)wandel“.

„Kohle stoppen, Systemwandel jetzt!“, prangt als Aufruf im Header der Ende Gelände-Homepage. Und selbst Luisa Neubauer schreibt in einem Artikel über die Proteste im Dannenröder Forst im Spiegel: „Wenn eine Autobahn gebaut werden darf, damit ein Süßwarenhersteller seine Süßwarenlastwagen ein paar Minuten schneller von A nach B fahren lassen kann, müssen wir uns fragen, was wir dagegen tun können, dass in diesem politischen System wie selbstverständlich Konzerninteressen vor Menscheninteressen, Wachstumsideologie vor Lebensgrundlagenerhalt gestellt werden können.“ Nötig sei „ein Systemwandel“.

Alle wichtigen Akteure der Klimabewegung hierzulande sehen, dass das kapitalistische System die Ursache unseres Problems ist. Das ist – zumindest im Fall von XR und FFF – eine relativ neue Entwicklung. Aber es ist eine Entwicklung, die passieren musste. Weil man nicht ernsthaft für Klimaschutz kämpfen kann, ohne dass einem an jeder Front das Kapital gegenübersteht und seinen Drang nach Profiten und Wirtschaftswachstum gegen die Bedürfnisse von Mensch und Natur verteidigt.

Die Klimabewegung weiß, dass der Kapitalismus der Klimagerechtigkeit entgegensteht. Aber ihr fehlt eine Analyse davon, was „Kapitalismus“ bedeutet. Deswegen spielt diese Erkenntnis in der Praxis bislang kaum eine Rolle. Das muss sich ändern. Es braucht eine Strategie. Wir sind ein Zusammenschluss von Menschen, die sich als Teil der Klimabewegung in Deutschland verstehen und sich in konkreten Kämpfen politisiert haben. Uns eint die Überzeugung, dass aus unserer theoretischen Erkenntnis über die Rolle des Kapitalismus für die Klimakrise praktische Konsequenzen folgen müssen. Als „Aktion Klimakampf“ streben wir den Aufbau einer einheitlichen, klassenkämpferischen und revolutionären Organisation für den Klimakampf an, deren Struktur die praktische Konsequenz aus unserer Analyse des herrschenden Systems und aus unseren Erfahrungen im Kampf gegen die Klimakrise sein soll.

Der Kern des Kapitalismus

Wenn alle heutigen Kohlekraftwerke so weiterlaufen wie geplant, dann würden deren Emissionen alleine ausreichen, um das 1,5 Grad-„Ziel“ zu überschreiten. Das ist kein Geheimnis und deswegen ist – das zeigen alle Umfragen – eine absolute Mehrheit der Menschen in Deutschland für das sofortige Ende der Kohlekraft. Aber die Mehrheit der Menschen hat in dieser Frage nicht mitzureden.

Kapitalismus bedeutet, dass Entscheidungen, die alle betreffen, von einer sehr kleinen Gruppe sehr reicher Menschen getroffen werden. Und zwar auf genau einer einzigen Grundlage: Der des Profits.

Der Grund dafür liegt in den Eigentumsverhältnissen. Sie bilden den Kern des Kapitalismus – und deswegen auch den Hebel zu seinem Sturz.

Im Kapitalismus ist die Produktion eine gesellschaftliche. Das bedeutet: In die Herstellung und Verteilung all jener Dinge, die wir alltäglich konsumieren, ist – fast – die ganze Gesellschaft eingebunden. Bevor eine Tomate als Ketchup bei uns auf dem Teller landet, ist die Arbeit von hunderten Menschen darin eingeflossen: in das Pflücken der Tomaten, die Verarbeitung zu Ketchup, das Design der Ketchupflasche, den Verkauf und immer wieder den Transport. Die Mittel der Produktion dagegen – die Tomatenplantagen, Verpackungskonzerne und Ketchupfabriken – befinden sich in den Händen einiger Weniger. Diese Wenigen treffen die Entscheidungen über die gesellschaftliche Produktion und ziehen aus ihr Profite. Dabei befinden sie sich in einem permanenten Wettstreit miteinander um die größtmögliche Profitspanne. Wer zu wenig Profite macht, verliert und verschwindet vom Markt. Eine wichtige Möglichkeit, die eigene Profitspanne zu vergrößern, ist es, die eigene Produktion auszubauen. Wenn BMW eine neue Technologie implementiert, die es dem Konzern ermöglicht, mehr Autos als früher in kürzerer Zeit herzustellen, dann müssen alle anderen Automobilkonzerne nachziehen – sonst könnte BMW sie langfristig vom Markt verdrängen. Der „Wachstumszwang“ des Kapitalismus entspringt diesem Mechanismus.

Gleichzeitig entspringen alle Profite der Ausbeutung von Menschen und Natur. Deswegen werden sich die Eigentümer:innen und Shareholder:innen niemals freiwillig entscheiden, diese Ausbeutung zu verringern oder zu beenden. Genauso, wie das Kapital stets versucht, die Löhne zu drücken und den Arbeitstag zu verlängern, versucht es auch stets, die Ausbeutung der Natur zu intensivieren. Vergiftete Flüsse. Brandrodung im Regenwald. Massentierhaltung. Überdüngung von Böden. Abgasskandale. Hinter all diesen Phänomenen stehen aktive Entscheidungen. Entscheidungen, die Shareholder:innen und Kapitalist:innen getroffen haben, getroffen im Wettstreit um die höchstmögliche Profitspanne. Es gibt nur einen Weg, diese Mechanismen außer Kraft zu setzen: Wir müssen die Eigentumsverhältnisse umwerfen, die dahinter stehen. Denn wenn die Wirtschaft sich in den Händen der Gesellschaft befindet, wird das Konkurrenzverhältnis aufgelöst – und damit auch der Zwang, die Profite zu vergrößern. Das Einzige, was dem entgegen steht, ist der Eigentumstitel. Denn die Produktion ist ja bereits gesellschaftlich. Privatisiert sind nur die Profite – und die Entscheidungsmacht.

Die hunderttausenden Menschen, die in Deutschland in der Automobilindustrie arbeiten, haben sich nicht dafür entschieden, jedes Jahr mehr SUVs mit immer höherem Schadstoffausstoß zu produzieren. Sie haben nicht einmal die Entscheidung getroffen, unbedingt Autos herstellen zu wollen. In ihren Werken ließen sich durchaus auch ganz andere Produkte produzieren. In der Corona-Krise haben Zuliefererbetriebe wie Bosch Corona-Schnelltests hergestellt und Automobilkonzerne wie General Motors und Seat Beatmungsgeräte gebaut. Die Beschäftigten treffen im Betrieb nicht die Entscheidungen. Aber sie können sich weigern, Entscheidungen umzusetzen. Sie können streiken.

Der politische Streik ist das wirksamste Mittel der Eigentumslosen, ihre Interessen durchzusetzen. Er war und bleibt ein wichtiges Kampfmittel, um die Eigentumsverhältnisse der Gesellschaft anzugreifen. Für uns bedeutet das, dass wir in unseren Kämpfen gegen die Klimakrise stets versuchen wollen, eine Verbindung zur organisierten Arbeiter:innenbewegung zu schlagen. Wir wollen die kämpferischsten Teile der Belegschaften ansprechen, uns mit ihnen vernetzen und ihre Kämpfe mit unseren verbinden. Allerdings hat die Arbeiter:innenbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten viel von ihrer Kampfkraft verloren. Durch Sozialpartnerschaft und Vereinzelung, durch Bestechung und Spaltung. Wir wollen aktiv dabei mithelfen, diesen Zustand zu durchbrechen. Der Klassenkampf ist keine Parole von vorgestern – er ist unser wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Klimakrise.

Die Rolle des Staates

Wenn das Einzige, was uns von wirksamen Entscheidungen im Kampf gegen die Klimakrise trennt, der Eigentumstitel ist – warum halten wir ihn dann immer weiter aufrecht? Der Grund dafür ist, dass das Konzept des kapitalistischen Eigentums einen mächtigen Beschützer hat: den Staat. Der Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, ist mit der Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems entstanden. Die Aufgabe des Staates im Kapitalismus ist es damit seit seiner Entstehung, seine nationalen Konzerne nach außen zu schützen – und die Eigentumsverhältnisse nach innen aufrecht zu erhalten.

Wenn der deutsche Staat mit dem Mercosur-Abkommen dazu beiträgt, dass der Regenwald in Brasilien noch schneller für Soja niedergebrannt wird, dann tut er das für die Unterstützung seiner Chemie- und Fleischkonzerne. Und wenn er Menschen, die Essen aus dem Müll fischen, mit Strafen überzieht, während gleichzeitig Modekonzerne ungestraft Millionen Tonnen Kleidung verbrennen dürfen, dann tut er das, weil es seine wichtigste Aufgabe ist, die Eigentumsverhältnisse durchzusetzen – ungeachtet der gesellschaftlichen Folgen.

Diese Aufgabe hat der Staat unabhängig von der Frage, welche Regierung gerade an der Macht ist. Auch die Grünen tragen in Hessen in der Regierung die Rodung des Dannenröder Forsts mit, auch die Linkspartei verhindert in der Regierung in Berlin keine Abschiebungen. Im kapitalistischen Staat regieren bedeutet, die Interessen des Kapitals durchzusetzen. An den Staat zu appellieren oder zu „Klimawahlen“ aufzurufen, wie es Fridays For Future immer wieder tut, halten wir deswegen für aussichtslos – und gewissermaßen sogar für gefährlich. Denn wenn eine so große und wichtige Bewegung wie FFF die Botschaft vermittelt, man könne die Klimakrise „abwählen“, dann stärken sie damit das Vertrauen der Menschen in eine Institution, von der sie sich nichts zu versprechen haben.

Der wichtigste Gegner des Staates – und seiner Polizei – sind all jene Bewegungen, die aktiven Widerstand gegen die Durchsetzung der Interessen des Kapitals leisten. Deswegen werden im Dannenröder Forst friedliche Baumbesetzer so brutal von der Polizei zusammengeschlagen; werden Hausbesetzungen mit Hundertschaften geräumt und wird das private Betriebsgelände von RWE jedes Jahr zu Ende Gelände mit tausenden Polizeieinheiten gesichert.

In den meisten Fällen tritt der Staat in Deutschland noch verhältnismäßig wenig aggressiv gegen die Klimabewegung auf. Das liegt daran, dass diese lange keine Gefahr für Profite oder Eigentumsverhältnisse dargestellt hat. Demonstrationen von Millionen von Menschen im Rahmen von FFF kann der Staat getrost ignorieren; Autobahnblockaden wie von Extinction Rebellion sind zwar sicherlich ein Ärgernis, aber stellen die Eigentumsverhältnisse nicht in Frage. Je erfolgreicher sich die Klimabewegung jedoch der Ausbeutung der Natur entgegenstellt und je stärker sie mit ihrem Widerstand den Profit des Kapitals bedroht, desto härter wird auch dieser Staat gegen die Bewegung vorgehen. Eine offene Kooperation mit der Polizei, wie sie Extinction Rebellion betreibt, halten wir deswegen für einen großen Fehler.

Wir sind überzeugt: es ist nötig, uns heute schon auf eine Art zu organisieren, die uns vor den Zugriffen des Staates schützen kann: Wir treten nicht alle offen nach außen auf und versuchen, unsere Strukturen so undurchsichtig wie möglich zu halten. Der Weg zwischen verdeckter Organisierung und Anschlussfähigkeit ist schwer zu finden. Aber die Erfahrung zeigt: Es ist möglich.

Individualismus und Kollektivität

Von außen betrachtet, sieht es aus, als seien all diese Überlegungen von der Klimabewegung in Deutschland sehr weit weg. Zeitungen publizieren Interviews mit FFF-Aktivist:innen, die bei den Grünen sind oder Klimalisten für die nächsten Wahlen in ihrer Region gründen wollen. Politiker:innen regen Treffen mit Klimagruppen an und lassen sich dabei fotografieren. Und hunderte Kapitalist:innen können Briefe mit freundlichen Appellen der Klimaaktivist:innen mit nachsichtigem Lächeln in den Papierkorb werfen.

Aber der Eindruck täuscht. Ein großer Teil der Klimabewegung in Deutschland steht weit links von diesen Bildern. Man sieht sie nur nicht. Ein wichtiger Grund dafür ist der Individualismus der Bewegung. Die Klimabewegung hat den kollektiven Beschluss gefasst, keine kollektiven Beschlüsse zu fassen. Der „Klimaplan von unten“ ist ein Beispiel dafür. 2019 hatte die Gruppe gerechte1komma5 die Bewegung zur Diskussion aufgerufen: Wo wollen wir hin? Dutzende Klimagruppen in Deutschland trafen sich zur Diskussion. Ortsgruppen von Ende Gelände und Extinction Rebellion veranstalteten Seminare; gemeinsam trugen wir alle unsere Vorstellungen zusammen. Jeder und jede sollte die Möglichkeit haben, seine oder ihre Expertise mit einzubringen. Ein wichtiger Schritt. Aber eines fehlte: Der Wille, sich zu einigen.

2020 wurde der „Klimaplan von unten“ schließlich veröffentlicht. Er umfasst mehr als 100 verschiedene Ideen. Von „Zertifikatehandel mit CO2“ bis „Enteignung der Energiekonzerne“ ist alles dabei. Viele der Maßnahmen widersprechen sich. Aber wenn 100 verschiedene Maßnahmen zur Auswahl stehen, dann können sich Medien und Politik aussuchen, welche davon sie in den Fokus stellen – und welche sie ignorieren. Die Weigerung, kollektive Beschlüsse zu fassen, macht linke Positionen in der Klimabewegung unsichtbar.

Würde FFF Deutschland eine klare Entscheidung dazu treffen, wie sie zu diesem System und seinen Institutionen stehen, dann könnte nicht mehr Luisa Neubauer als (von den Medien gekürtes) Gesicht der Bewegung mit Vertretern der NATO über grüne Kriege diskutieren. Denn es gäbe nur zwei Möglichkeiten: Entweder, die Bewegung entscheidet, gegen imperialistische Kriege und ihre Vertreter zu sein. Dann müsste Neubauer diese Position mittragen – oder sie könnte nicht mehr im Namen von FFF sprechen. Oder aber die Bewegung entscheidet, imperialistische Kriege und grüne Bomben in Ordnung zu finden. Dann würden sich die linken Teile der Bewegung eine neue Organisierung suchen. Aber FFF trifft keine Entscheidungen in solchen Fragen.

Genauso, wie die Klimabewegung insgesamt keine Entscheidung zu der Frage treffen möchte, was „Systemwandel“ eigentlich bedeuten soll. „XR hat die strategische Entscheidung getroffen, keine konkreten Vorschläge zu unterbreiten, wie die Klima- und Umweltkrise zu lösen ist“, schreibt Extinction Rebellion. Aber eine Strategie ohne eine Vorstellung, wie man zu seinem Ziel gelangt, ist keine Strategie. Wir sind überzeugt: Wenn wir die Ursachen der Klimakrise beseitigen wollen, dann brauchen wir eine Einigkeit darüber, worin diese bestehen – und wie man sie bekämpfen kann.

Dieses Papier und unsere Organisierung sollen ein erster Schritt in diese Richtung sein. Wir rufen alle in der Klimabewegung Aktiven und jede Klimagruppe auf, mit uns zu diskutieren, uns zu kritisieren, zu verbessern, wo wir falsch liegen – und sich mit uns zu organisieren. Nicht nur in der Theorie, sondern vor allem in der Praxis. Denn nur durch die Praxis können wir den richtigen Weg finden, um die Ursachen dieser Krise wirksam angehen zu können. Es gibt kein historisches Beispiel dafür, dass kapitalistische Staaten oder Konzerne freiwillig die Interessen der Menschen oder der Umwelt vor die Profite gestellt hätten. Aber es gibt historische Beispiele für Revolutionen. Revolutionäre Bewegungen haben in der Vergangenheit Kriege beendet, Systeme gestürzt und koloniale Besatzer davongejagt. Sie können auch die Klimakrise aufhalten.

Die Zeit für den revolutionären Klimakampf ist jetzt.

Wir haben eine Welt zu verlieren.

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Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

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Die traditionelle Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin stellt sich dieses Jahr neu auf. Ein breites migrantisches Bündnis will die Demo revitalisieren. Peter Schaber sprach mit Aicha Jamal, Pressesprecherin des Revolutionären 1. Mai Bündnisses und Mitglied von Migrantifa Berlin, über den Kampftag der Weltarbeiterklasse und wie man ihn dieses Jahr in Berlin begehen möchte.

Migrantifa ist aus einer Massenmoblisierung gegen rechten Terror, racial Profiling, Rassismus entstanden. Jetzt werdet ihr dieses Jahr zu einer der Hauptorganisatorinnen des Revolutionären 1. Mai. Warum? Was sind die inhaltlichen Gründe dafür, sich diese schwer handhabbare Demo aufzubürden?

Es ist uns vor allem wichtig, dass der Klassenkampf migrantischer wird – und dass überhaupt Klassenkampf in diesem Land stattfindet. Es geht uns auch darum, aufzuzeigen, dass liberaler Antirassismus nichts bringt. Die Idee, dass mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse Verbesserungen für den Großteil der migrantischen Bevölkerung oder den Globalen Süden hervorbringen wird, ist eine Illusion. Die Produktionsweise muss geändert werden. Der Kapitalismus trägt den Rassismus in sich wie die Wolke den Regen, könnte man in Abwandlung eines Zitats von Jean Jaures sagen. Das einzige wirksame Mittel gegen Rassismus ist Klassenkampf.

Andererseits nehmen wir auch wahr, dass die radikale Linke in Deutschland sich in den vergangenen Jahren sehr isoliert war von der Bevölkerung. Wir glauben aber, dass radikale Politik nicht in Szenen oder Blasen gemacht werden kann, sondern dass man eine breite Massenbewegung aufbauen muss, die weit über das Szene- und Akademikermilieu hinausgeht. Man muss die Arbeitenden, Erwerbslosen, die Menschen ohne Papiere, Frauen und die Jugend abholen.

Die Demo führt dieses Jahr durch Berlin-Neukölln. Was war ausschlaggebend für die Wahl der Route?

Neukölln ist einerseits der Ort, in dem wir als Migrantifa schon viele Verbindungen zu Nachbar:innen haben. Wir sind sehr präsent hier. Und es ist ein Ort, an dem sich viele politische Entwicklungen aufzeigen lassen: Der rechte Terror, die massive Polizeipräsenz, die Kriminalisierung der Communities durch die rassistische Clan-Debatte, die Gewerbekontrollen und Razzien. Diese Faschisierungstendenzen sind vom kapitalistischen System nicht zu trennen und deshalb ist es wichtig, sie auch am Tag der Weltarbeiterklasse zum Thema zu machen.

Neukölln ist auch ein migrantischer und Arbeiterbezirk. Weil unser Ziel ist, am 1. Mai unsere Klassengeschwister einzuladen, mit uns auf die Straße zu gehen, fanden wir, dass das der richtige Kiez ist.

Wir wollen die historische Bedeutung von Kreuzberg für den 1. Mai zwar mitaufnehmen – deshalb laufen wir am Ende auch rein-, aber gleichzeitig ist in Kreuzberg schon sehr viel von der früheren Kultur und dem früheren Kiezleben durch die Gentrifizierung zerstört worden.

Jenseits der neuköllnspezifischen Themen, welche bundesweiten oder globalen Anliegen stehen dieses Jahr im Mittelpunkt?

Es geht vor allem um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse, die Erwerbslosen und Armen. Die herrschende Klasse zeigt auf die Bevölkerung und tut so, als ob diese an der Pandemie Schuld wäre. Aber in Wahrheit steht in der offiziellen Corona-Politik ja nicht irgendein Gemeinwohl im Zentrum, sondern Kapitalinteressen. Diese Krise hat Profiteure, die sich immens an ihr bereichern, während es für uns stetig bergab geht. Wir haben immer weniger Geld, verlieren unsere Jobs und sind einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als die Bonzen, obwohl wir unser Privatleben komplett einschränken müssen.

Ein weiteres Thema ist der Ausverkauf der Stadt, die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt. Die komplette Stadt gehört Investoren. Da wollen wir vor allem das Thema Enteignung aufgreifen, weswegen es auch eine Enteignungs-Block auf der Demo geben wird.

Natürlich spielen auch die Kämpfe in den Herkunftsländern unserer Freund:innen eine große Rolle, in denen ja oft genug der deutsche Imperialismus mitmischt: Kurdische Genoss:innen werden mitlaufen, Solidarität mit den indischen Bauernaufständen wird es geben, aus den Philippinen beteiligen sich Genoss:innen, Palästina und der Sudan werden eine Rolle spielen. Geflüchtete und die Kämpfe gegen das mörderische Grenzregime werden ebenfalls vertreten sein.

Ihr schreibt in eurer Pressemitteilung, dass es euch wichtig ist, dass die Demo „nicht entfremdend“ auf die Menschen in Neukölln wirkt. Welches Auftreten schwebt euch da vor?

Bei unserer Demonstration zu Hanau haben wir gesehen, dass sich sehr viele migrantische Menschen der Demo angeschlossen haben und mitgelaufen sind, weil sie sich angesprochen gefühlt haben. Ich glaube, schon durch das breite migrantische Bündnis, das dieses Jahr zum ersten Mal mit aufruft, können wir einladend auf unsere Geschwister wirken. Dadurch dass wir unsere Themen und unsere politische Kultur miteinbringen, schaffen wir einen Identifikationspunkt.

Gleichzeitig wollen wir einen Anknüpfungspunkt schaffen, weil der 1. Mai auch in vielen unserer Herkunftsländer eine lange Tradition hat. Wir haben uns zudem entschieden, die Demo dieses Jahr anzumelden, das heisst, wir können auch mehr Redebeiträge und kulturelle Beiträge stattfinden lassen. Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, die Leute ermutigt, sich in die Demo einzureihen.

Dadurch, dass viele migrantische Gruppen aufrufen, wird auch von Anfang an ein breiterer Schnitt durch die Gesellschaft anwesend sein, ältere Genoss:innen, Familien mit Kindern und so weiter. Wir bitten auch alle Teilnehmenden darum, die Demonstration als kämpferische politische Veranstaltung und nicht als Outdoor-Party zum Biertrinken zu sehen.

Die Corona-Zahlen steigen. Wie ist unter diesen Bedingungen die Demo sicher durchzuführen?

Wir nehmen das Virus sehr ernst und wollen auch bei der Demonstration das Infektionsrisiko so gering wie möglich halten. Mindestabstände sollen eingehalten werden, Masken sind Pflicht. Gleichzeitig fordern wir die Polizei dazu auf, sich von der Demo fernzuhalten, denn es ist unmöglich, das durchzusetzen, wenn ein Mob von Cops auf die Demo einprügelt.

Die Gefahr einer im Freien, mit Abstand und Maske durchgeführten Demonstration ist unserer Einschätzung nach geringer als das Ansteckungsrisiko, dem wir jeden Tag auf der Arbeit ausgesetzt sind. Solange das nicht beendet wird, lassen wir es uns auch nicht nehmen, für unsere Interessen auf die Straße zu gehen.

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„Corona? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Diese Umdichtung von Tucholskys „Französischem Witz“ fasst die Attitüde der Bundesregierung zur Coronakrise ganz treffend zusammen. Die bis jetzt mehr als 24.000 Toten allein in Deutschland waren ein einkalkuliertes Opfer, das zu bringen war, um die kapitalistische Wirtschaft am Laufen zu halten.

Von wegen Gesundheitsschutz

Die öffentlichen Erklärungen sind selbstverständlich andere: „Wir sind zum Handeln gezwungen“, so Angela Merkel (CDU) nachdem vergangenen Freitag mehr als 600 Menschen an einem Tag an Corona gestorben waren. „Letztendlich bleibt der Maßstab der Gesundheitsschutz“, so Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Wirklich? Die Toten der Wochen davor waren kein Grund zu Handeln? Oder die Warnungen von verschiedensten Wissenschaftler:innen der letzten Monate?

Die unerträglichen Folgen dieser Politik zeigen sich nicht nur in den Todeszahlen, die unter ferner liefen den Grundton der täglichen Berichterstattung bilden. Vor allem die Gesundheitsarbeiter:innen, die nach Jahrzehnten neoliberaler Austeritäts- und Privatisierungspolitik sowieso schon unter katastrophalen Arbeitsbedingungen zu leiden hatten, tragen die Folgen der Krise. Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankenhäusern haben ein sieben Mal höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Ihre Hilfeschreie sind wohl unter dem Lärm des ganzen Applauses untergegangen.

Der Gesundheitsschutz war während der ganzen Pandemie nur nachrangig, das wichtigste war und ist, dass möglichst viele Menschen weiter arbeiten gehen und die irre Selbstmordsekte Kapitalismus am Laufen halten. Allein die Ausrichtung der Maßnahmen nach der verfügbaren Zahl der Intensivbetten kalkulierte das massenhafte Sterben von Menschen mit ein. Aber auch im seit gestern geltenden „harten Lockdown“ zeigt sich diese Menschenverachtung: Ausgangssperren in Sachsen und Baden-Württemberg, Aufenthalts- und Versammlungsverbote bundesweit, private Treffen sind auf ein Minimum zu reduzieren. Der einzige Bereich der nicht reguliert wird: der Arbeitsplatz, wo wir die Profite für die Kapitalist:innen erschuften. Und während einfach immer weitergearbeitet werden soll, schließen Kitas und Schulen. Eltern (vor allem Frauen*) sollen dann alles gleichzeitig machen: Arbeiten gehen, Kinder betreuen, den Haushalt schmeißen und dabei natürlich nicht das Konsumieren vergessen – online bei amazon versteht sich. Unternehmer:innen hingegen werden lediglich nett gebeten, Betriebsferien auszurufen oder Homeoffice zu ermöglichen, während der Rest des gesellschaftlichen Lebens von der Polizei kontrolliert und Zuwiderhandlungen hart sanktioniert werden. Die Frage, ob man sich nicht auch am Arbeitsplatz mit der tödlichen Seuche anstecken kann, stellt dabei niemand.

Gleichzeitig steigen die Vermögen trotz Corona-Krise weiter , haben 40 Prozent der Bevölkerung Einkommenseinbußen, von den geschätzt 500.000 sowieso illegalisierten in Deutschland ganz zu schweigen. Während Arbeiter:innen in Kurzarbeit gehen, schütten sich die Aktionäre großzügig Dividenden aus – dieses Jahr voraussichtlich über 37 Milliarden Euro allein aus DAX-Unternehmen. Und die so gebeutelten Unternehmer:innen können Hilfen von läppischen 500.000 € pro Unternehmen und Monat klar machen. Für den Rest bleibt Hartz IV. Alles zum Wohle „der Wirtschaft“ – oder anders formuliert: der besitzenden Klasse.

Die Schuldfrage

Diese zynische Politk des Sterbenlassens kann natürlich nicht eingestanden werden. Deswegen wird, wie beim Klimaschutz, die Verantwortung für die grassierende Epidemie ins private verlagert. Wenn die Frage im Raum steht, wer an der fortlaufenden Verbreitung des Virus Schuld hat, ist der anklagende Zeigefinger schnell ausgestreckt: Die jungen, rücksichtlosen Leute, die feiern wollen; die Demonstrant:innen auf den Black Lives Matter Demonstrationen; die arabischen Großfamilien in Neukölln und ihre ach so großen Hochzeiten; die Gastronomie; und jetzt, ganz aktuell, die unverfrorenen Glühweintrinker:innen. Oder wie es im WDR heißt: „Die Menschen haben sich nicht genügend an die Appelle von Politik und Wissenschaft gehalten.“

Im neoliberal verstellten Blick auf die Welt werden gesellschaftliche Zusammenhänge, wie der Zwang zur Arbeit, der Zwang sich den mörderischen Vorgaben in Betrieben zu beugen weder erkannt noch thematisiert. Statt den staatlich orchestrierten Zerfall der Sozialstrukturen zugunsten der Profitmaximierung in den Blick zu nehmen, wird die Schuld den Einzelnen in die Schuhe geschoben. Soll heißen: Schuld an der Misere haben weder die Regierung, noch die viel zu engen Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in den Fleischfabriken, sondern die Arbeiter:innen, die sich erdreisten, nach der Maloche dort noch ihre Oma zu besuchen. Dieser Blick auf die vermeintlichen Ursachen der Pandemie kennt dann eben auch nur die neoliberale, vereinzelnde Antwort, die wir jetzt gerade sehen: Zuckerbrot für die Kapitalist:innen, die autoritäre Peitsche für den Rest. Neoliberale Ideologie und staatlicher Autoritarismus gehen schließlich gerne auch mal Hand in Hand.

Die Coronakrise offenbart einmal mehr, wie verkommen und menschenfeindlich dieses Gesellschaftsmodell ist. Die Maschine muss weiterlaufen und weiter Profite aus den Arbeiter:innen pressen, im Krankenhaus, am Band, im Einzelhandel; dafür sind ein paar Coronatote schon ok. Und wenn‘s dann gar nicht mehr geht, werden eben die Büttel des Staates auf die Leute losgelassen – it‘s the economy, stupid.

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Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands? Teil 1 einer Analyse.

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es ist also klar, dass Nationalismus als Basis einer Protestbewegung, die ein gutes Leben für alle will, ungeeignet ist. Welche klassenkämpferischen und emanzipatorischen Perspektiven es davon abgesehen trotzdem gibt, beschreiben wir im zweiten Teil unserer Analyse.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Viertel in Minsk

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Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man in Politik und Wirtschaft die „Held:innen des Alltags“ schätze, gingen einher mit realer Missachtung von Löhnen, Arbeitsdruck und Gesundheitsschutz. Unser Autor Frederik Kunert ist Integrations-Erzieher an einer Berliner Grundschule und schreibt über Mehrbelastung, fehlende Gegenwehr und die zynische „Corona-Prämie“.

Analog zu den als „Helden und Heldinnen der Corona-Krise“ gefeierten Beschäftigten im Gesundheitsbereich, wird auch den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas und Schulen ins Gesicht gespuckt: Mit der „Dankesprämie“, für die Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich feiern lässt.

In seiner Pressemitteilung als regierender Bürgermeister vom 5.5.2020 spricht er von einer „einmaligen Dankesprämie“ von bis zu 1.000 Euro für alle Beschäftigten, „die in der Corona-Krise außergewöhnliche Leistungen erbracht haben und in Serviceeinrichtungen einer erhöhten gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt waren.“ Zu diesen Beschäftigten zählt er explizit die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, sowie in den Schulhorten.

Ohne die Arbeit dieser Beschäftigten hätten auch einige andere systemrelevante Berufe nicht in dem Maße weiter ausgeführt werden können, wie es der Fall war. Sie übernahmen die Notbetreuung und setzten sich so einem erhöhten Infektionsrisiko aus. Auch jetzt, in der zweiten Welle, sind sie diesem Risiko weitestgehend ausgesetzt. Hygienekonzepte sind in Einrichtungen mit mehreren Hundert Kindern in der Praxis oft nicht umsetzbar. Der Schutz der pädagogischen Fachkräfte scheint oft nicht von Belang. Wichtig ist dagegen offenbar eher, alles um jeden Preis am Laufen zu halten und ein abermaliges Schließen der Schulen und Kitas zu verhindern.

Politiker:innen überschlugen sich im Verlauf der ersten Welle mit Komplimenten und Dankesreden an die „Heldinnen und Helden des Alltags“ und manch einer träumte gar davon, soziale Berufe würden endlich ihrem gesellschaftlichen Stellenwert angemessen bezahlt. Schließlich zeigte die Corona-Krise wie schon lange kein Ereignis vor ihr, welche Berufe „systemrelevant“ – eigentlich eher: relevant für die Gesellschaft – sind und welche eigentlich kein Mensch braucht. Hedgefonds-Manager:innen und Vermieter:innen gehören jedenfalls nicht zu denen, die die gesellschaftlichen Abläufe am Leben halten.

Den offenen Widerspruch zwischen der Bezahlung vieler Berufe und ihrer gesellschaftlichen Relevanz beschrieb schon der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bullshit-Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit“: „Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt. Auch hier ist es schwierig, ein objektives Maß zu finden, aber einen Eindruck kann man sich mit einer einfachen Frage verschaffen: Was würde geschehen, wenn diese ganze Berufsgruppe einfach verschwinden würde? Man kann über Krankenschwestern, die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr oder Automechaniker*innen sagen, was man will, aber eines liegt auf der Hand: Würden sie plötzlich verschwinden, die Folgen wären sofort spürbar und katastrophal. Auch eine Welt ohne Lehrer*innen oder Hafenarbeiter*innen würde schnell in Schwierigkeiten geraten und selbst ohne Science-Fiction-Autor*innen oder Ska-Musiker*innen wäre sie sicher weniger schön. Dagegen ist nicht ganz klar, wie die Welt leiden würde, wenn alle Private-Equity-Manager*innen, Lobbyist*innen, Public-Relations-Berater*innen, Versicherungsfachleute und Rechtsberater*innen für Konzerne auf ähnliche Weise verschwinden würden.“ Schnell wurde aber doch klar, dass man außer etwas Beifall und eventuell einer Prämie nicht viel zu erwarten hat. Wie wenig war trotz aller vorhanden Skepsis dann doch ein Schlag ins Gesicht.

Viele soziale Einrichtungen werden von freien Trägern getragen, auch viele Ganztagsbetreuungen an den Schulen gehören zu den freien Trägern. Daraus entsteht eine oftmals gespaltene Belegschaft: einige haben noch alte Verträge und sind beispielsweise beim Senat angestellt und somit im öffentlichen Dienst, andere sind bei den freien Trägern angestellt. Oftmals werden die Tarifverträge angepasst, jedoch nicht immer. Den Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes wurden ihre Dankesprämien ausgezahlt. Ähnlich differenzierend und spaltend lief es bzgl. der Prämie auch im Pflege-Bereich.

Die freien Träger mussten nun die Gelder für die Dankesprämie beantragen, um sie ihren Beschäftigten ebenfalls zahlen zu können. Relativ schnell und problemlos erhielten sie die Gelder. Allerdings reichten diese Gelder für eine Prämie von bis zu 1.000 Euro, wie Michael Müller es großspurig angekündigt hat, von vorne bis hinten nicht. Auf alle Mitarbeiter*innen verteilt, wäre eine Prämie von etwa 50 Euro pro Person dabei herausgekommen. Viele freie Träger verzichteten auf die Zahlung dieser „Prämie“, die sich doch eher wie Hohn und Spott anfühlen würde. Ein Erzieher beschriebt das Gefühl vieler Mitarbeiter*innen gegenüber dem RBB so: „Nach dem Motto: Diejenigen, die für das Land Berlin arbeiten, haben es gut und die anderen müssen sehen, wo sie bleiben. So hört sich das für mich an.“

Auf einen offenen Brief zu dieser Thematik reagierte der Bürgermeister bisher nicht. Nicht nur dieser schlechte Witz einer „Prämie“, auch die aktuell ablaufenden Vorgänge in den Einrichtungen sind ein Schlag ins Gesicht der pädagogischen Fachkräfte. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW sieht die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen und Kitas kritisch: „Konkrete und verbindliche Maßnahmen – Fehlanzeige! Die Sommerferien hätte die Senatorin besser nutzen können. Insbesondere, um sich mit den Beschäftigtenvertretungen dazu auszutauschen, wie Bildung in Zeiten von Corona aussehen kann“, kritisierte die Vorsitzende der GEW-Berlin, Doreen Siebernik. Weiter sagt sie: „Die Kolleg*innen fühlen sich in den Schulen allein gelassen. Es herrscht riesige Unsicherheit, wie der Schulalltag mit den einzuhaltenden und mitunter widersprüchlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen und vor dem Hintergrund tausender fehlender Lehrkräfte aussehen soll. Wir verstehen das Bedürfnis nach einem geregelten Schulstart. Aber wir halten es für unverantwortlich, die Gruppen- und Klassengrößen wieder auf das Vor-Corona-Niveau anzuheben und auf Abstandsregeln zu verzichten. Auch die Erfahrungen mit dem Lernen in kleinen Gruppen sind unbeachtet geblieben.“

Leider bleibt die GEW auch hier wie so oft zahnlos. Politische Streiks sind verboten und demnach ausgeschlossen. Für bessere Arbeitsbedingungen, ein anderes Schulsystem oder ähnliche „Utopien“ darf nicht gestreikt werden. Lediglich für Tarifforderungen ist dies zulässig und auch hier hat die GEW in den letzten Jahren einige Mitglieder mit ihrer weichen Verhandlungsstrategie verschreckt. Viele Erzieher*innen sind bereit, lange zu streiken, um wenigstens endlich angemessen bezahlt zu werden, die GEW gibt sich jedoch oft mit Warnstreiks und anschließenden faulen Kompromissen und minimalen Lohnerhöhungen zufrieden.

Michael Müller hingegen scheint für seine Kandidatur für den Bundestag bestens vorbereitet zu sein: Das eine sagen und das andere tun, das klingt nach SPD-Politik in Reinform.

# Titelbild: flickr Uwe Hiksch

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Die radikale Linke in Deutschland hat den Betrieb als Feld der Agitation und Öffentlichkeitsarbeit weitgehend vernachlässigt, ja aufgegeben. Ich meine mit „den Betrieb“ nicht irgendwelche Betriebe, wo andere Leute arbeiten, die wir vor den Werkstoren agitieren könnten, oder Arbeitskämpfe, an denen wir uns möglicherweise solidarisch beteiligen könnten – was immer zu begrüßen ist! –, sondern den eigenen Arbeitsplatz, die eigenen Kolleg*innen.

Politischer Aktivismus findet in Deutschland meist nach Feierabend statt, gern auch am Wochenende und anlässlich von Groß-Events. Der Arbeitsplatz gilt als tendenziell unpolitischer Raum, für die herrschende Klasse steht er auch außerhalb der Demokratie. Sie hat dieses Denken in den vergangenen 40 Jahren erfolgreich verbreitet — bis tief in radikale und alternative Kreise. Der politische Aktivismus folgt heute eher den Gesetzmäßigkeiten der neoliberalen Urlaubs-, Event- und Festivalkultur.

Das war 1971 offenbar anders. Damals fand der Hamburger Rätekommunist Bernie Kelb in seiner Betriebsfibel schroffe Worte für das, was wir heute vorfinden:

Revolutionäre Arbeit soll nicht auf der Idiotenwiese stattfinden. Die Idiotenwiese ist der Freiraum, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb. Dabei darf der Begriff »Betrieb« nicht zu eng gefasst werden. Es kann sich um eine Behörde, eine Fabrik, eine Klinik, ein Warenhaus oder um eine Uni, eine Zeitungsredaktion, eine Bank und (für Lehrer und für Schüler) eine Schule handeln.

Kelbs Betriebsfibel ist wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit. Sehr interessant zu lesen. Heute fehlt vielen Radikalen ein direkter Bezug zur Lebensrealität der arbeitenden Klasse. Zu ihrer Denkweise, ihrer Gefühls- und Gemengelage. Darin liegt ein wichtiger Grund für die Schwäche der Linken und ihre relative Bedeutungslosigkeit, daraus resultiert Orientierungslosigkeit bishin zu Verpeiltheit und Anfälligkeit für neo-konservative oder neoliberale Irrungen und andere Wirrungen ideologischer Art.

Das gilt sicher nicht für die wenigen Radikalen, die auch heute in Betriebsräten und Gewerkschaftsgremien die Stellung halten. Sie haben eher das umgekehrte Problem. Sie sind mit bürokratischen Vorgängen — vieles davon relativer Bullshit — so ausgelastet, oder werden von der Unternehmerseite sogar gezielt überlastet, dass sie nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht. Gerichtsverfahren, Einigungsstellen, gewerkschaftliche Gremien und Kommissionen… Hier geht es selten um das große Ganze. Eine Politisierung der Belegschaften findet eher nicht statt, weil einerseits schlicht keine Zeit bleibt, weil andererseits die verständliche Orientierung ist, als Betriebsrat Service für die Beschäftigten zu liefern und als Gewerkschaft Mehrwert für die Mitglieder: Geld, Freizeit, Sicherheit. Meist auch nur: Schlimmeres verhindern, den allgemeinen Abwärtstrend verlangsamen.

Das war früher mal anders. Anfang der 1970er gab es einen breiten und vielschichtigen Strom von jungen Radikalen — Sozialisten, Kommunisten und Anarchist*innen — hinein vor allem in industrielle Großbetriebe. Diese Orte wurden aufgrund von Erfahrungen aus Frankreich und Italien mit einiger Berechtigung als Hoffnungsträger für kommende Aufstände, oder zumindest für einen Zugang zum Proletariat ausgemacht. Da waren die Spontis bei Opel in Rüsselsheim, Mitglieder der KPD/ML bei BMW in Spandau, das Kölner Anarchosyndikat bei Ford, Trotzkist*innen der GIM sickert in Betriebe ein, selbst Militante der Bewegung 2. Juni heuerten nach der erfolgreichen Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz, als ihnen der Boden in West-Berlin zu heiß wurde, bei KHD in Köln an (Werner Sauber) oder in einer Klodeckelfabrik in Essen (Fritz Teufel), um dort etwas aufzubauen. Oder es wenigstens zu versuchen. Und sie waren gemessen an ihren bescheidenen Zahlen und ihrer relativen Ahnungslosigkeit – da sie nach Faschismus und Adenauer beinahe ganz allein und ganz von vorn anfangen mussten – insgesamt sogar relativ erfolgreich.

Die Welle wilder Streiks, die 1973 durch Westdeutschland ging, die mit dem großen Fordarbeiterstreik 1973 ihren Höhepunkt fand, geschah zumeist mit Beteiligung dieser radikalen Elemente. Vielleicht waren sie — und das ist meine die zentrale Vermutung und Hoffnung — so etwas wie das Salz in der Suppe.

Ich möchte dafür plädieren, den Faden wieder aufzunehmen. Dabei gilt zu bedenken: Du steigst niemals in den selben Fluss. Es gibt kein zurück in die Zukunft. Selbstverständlich haben sich die Zeiten seit damals radikal gewandelt, ja der Kapitalismus hat sich – auch wegen der oben beschriebenen Anfälligkeit der Großbetriebe für das Einsickern der freien Radikalen – umgewandelt und grundlegend neu strukturiert. Die nach dem Vorbild der Ford Motor Company und General Motors integrierten Riesenfabriken sind zerschlagen worden in einen verbliebenen Kern der Endmontage und eine optimierte Wertschöpfungskette aus Sub-Unternehmen und Zulieferern, die beständig im Preis gedrückt werden.

Die Möglichkeiten, direkt als Jobber, Werksstudent*in oder Ungelernte in einem Großbetrieb anzuheuern und damit quasi automatisch Teil der ausgebeuteten Massenarbeiterschaft zu werden und in ihr zu wirken, sind durch Leiharbeit und Werkverträge verschlossen. Die Belegschaften sind heute weitgehend aufgespalten und zersplittert.

Hinzu kommt die Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet stets auch Auslese der renitenten Elemente sowohl bei Entlassungen als auch bei bei Einstellungen. In Zeiten der Praktika, sachgrundlosen Befristungen, Kettenbefristungen und Scheinselbständigkeit wird aus der Bewerbungssituation und Bewährungsphase ein Dauerzustand. Daraus – und aus der neoliberalen Gehirnwäsche, die uns umgibt – resultierte ein Anpassungsdruck der insgesamt auf die Psyche der arbeitenden Bevölkerung geschlagen ist. Es sieht nicht gut aus. Aber Fridays for Future und auch der Corona-Crash haben möglicherweise viele aus dem geistigen Wachkoma gerissen. Vielleicht hat sich der Wind gedreht. Möglicherweise ist eine neue Generation entstanden.

Welche Ratschläge und Orientierungspunkte gibt es? Nicht viel. Das vielleicht wertvollste Buch in deutscher Sprache war die oben zitierte „Betriebsfibel – Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz“. Kelb schreibt, dass der Vorentwurf zu seinem Werk im »Arbeitskreis Strategie« (ehemals Republikanischer Club) in Hamburg diskutiert wurde.

Ich werde mich in den nächsten Folgen mit der dunklen Seite des Organizing befassen: Union Busting. Organisierung im Betrieb, von der IG Metall bürokratisch „strategische Erschließung“ genannt und deren professionelle Bekämpfung gehören in dialektischer Weise zusammen. Die Strategien von Organzing und Union Busting reagieren aufeinander und korrespondieren.

Um die Serie weiter zu entwickeln bin ich für Anregungen, Hinweise, Fallbeispiele und Kritik dankbar. Mein Ziel ist es, daraus ein Handbuch entstehen zu lassen. (Kontakt: elmar.wigand@posteo.de)

# Titelbild: Stadtarchiv Kiel / Friedrich Magnussen / CC BY-SA 3.0 DE, Streik der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) für höhere Löhne bei Hagenuk Kiel 1981

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Bei den Protesten gegen Lukaschenko in Belarus mischen auch anarchistische Gruppen mit. Am 21. Oktober hat das LCM Xenia, Igor und Pjetr interviewt, Anarchist*innen aus Minsk, Belarus getroffen. Sie erzählten von ihren Erfahrungen und Perspektiven auf die Protestwelle, im Zuge derer seit Anfang August hunderttausende Menschen wöchentlich auf die Straße gehen. Sie fordern den Rücktritt des Diktators Lukashenko, Neuwahlen und Freiheit für politische Gefangene. Einige Tage nach dem Interview wurden Xenia und Igor selbst verhaftet.

Wieso beteiligt ihr euch an den Protesten?

Pjetr: Wir sehen zwar, wie sich die Proteste in Richtung Neoliberalismus bewegen, wie versucht wird einen freien Markt zu errichten und soziale Rechte abzubauen. In ökonomischer Hinsicht stimmt diese Bewegung also nicht mit unserer Ideologie überein, es gibt keinen Diskurs über Arbeiter*innenselbstverwaltung und soziale Rechte.

In politischer Hinsicht aber schon. Seit vielen Jahren leben wir unter dieser Diktatur, wir haben keine Möglichkeit, uns offen als Anarchist*innen zu bezeichnen, keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit. Es ist also sehr wichtig, diese Bewegung zu unterstützen, da sie mehr Raum für Freiheit verspricht. Wir denken, dass ein Ende dieser Diktatur auch im wirtschaftlichen Bereich mehr Handlungsspielraum eröffnen wird. Vielleicht werden wir eine stärkere Arbeiter*innenbewegung bekommen, mit mehr Freiheit sich zu organisieren.

Igor: Alle bisherigen Proteste in Belarus waren, wie wir hier dazu sagen, ziemlich zahnlos. Es waren eher kleine Sachen, wie Applausaktionen, die trotzdem sehr bald von der Bereitschaftspolizei, von OMON, zerschlagen wurden. Und die Leute haben danach nicht weiter gemacht. Das, was in diesem Sommer begann, als erheblicher Widerstand geleistet wurde, ist wirklich etwas Wunderbares für unsere Gesellschaft. Also ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass wir jetzt ein wenig stagnieren, denn das ist etwas wirklich Unerwartetes und bereits ein großer Schritt vorwärts für unsere Gesellschaft.

Ihr meintet, die Proteste gehen in eine neoliberale Richtung. Denkt ihr, es gibt auch Aussicht auf emanzipatorischere Lösungen? Was für Perspektiven seht ihr generell in den Protesten?

Igor: Ich denke die Chance, dass diese Revolution weiter in Richtung einer emanzipatorischen Perspektive geht, ist sehr gering. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie mit diesen neoliberalen Reformen zu Ende geht, aber dennoch wird sie die Plattform schaffen, von der aus anarchistische Ideen weiter verbreitet werden können.

Pjetr: Ich denke auch diese neoliberalen Reformen werden kommen, weil alle großen politischen Akteure dafür sind. Zum Beispiel fördern dies ehemalige Präsidentschaftskandidat*innen. Aber wenn sie an die Macht kommen, dann wegen des Drucks von der Straße, also werden sie uns in Zukunft irgendwie respektieren müssen.

Xenia: Das Wichtigste ist, dass sich das Bewusstsein der Menschen bereits verändert hat. Die Menschen haben erkannt, was sie tun können, was ihre Interessen sind, wie sie sich organisieren und handeln können. Und das ist bereits eine ganz erhebliche Veränderung. Wir werden nicht mehr so leben, wie wir früher gelebt haben.

Gibt es irgendwelche Gruppen oder Personen, die den Protest anführen?

Xenia: Wir haben uns oft einen führungslosen Protest gewünscht, und das haben wir jetzt erreicht. Im Moment ist er sehr selbstorganisiert, die Menschen versammeln sich in den Nachbarschaften und entscheiden selbst, wie sie handeln wollen.

Igor: Das stimmt, aber es gibt Leute, die versuchen, die Proteste anzuführen, zum Beispiel dieser Koordinierungsrat um Tikhanowskaja. Auch Blogger*innen haben ihre eigene Agenda, am populärsten ist Nexta. Aber auch der Telegramkanal der anarchistischen Gruppe Pramen, der im Moment fast 10.000 Abonnent*innen hat, ist sehr beliebt.

Pjetr: Zwischen diesen verschiedenen Oppositionsführer*innen gibt es eine Art Rollenverteilung. Tikhanowskaja und der Koordinationsrat versuchen den politischen Diskurs zu bestimmen, während Blogger*innen wie Nexta und andere die Straßenproteste koordinieren.

Gestern wurden Nexta, die größte Plattform der Proteste, und deren Symbole als extremistisch eingestuft. Warum denkt ihr ist das passiert und wird es Auswirkungen haben?

Xenia: Ich denke, dass sie nicht in der Lage sein werden tatsächlich zu verhindern, dass diese Plattform gelesen wird. Nexta war einer der ersten Blogs, der den Massen beigebracht hat VPNs zu benutzen, also werden die Leute trotzdem Zugang dazu haben. Ich denke, es wird die Leute nur noch mehr davon überzeugen, diese Quelle zu nutzen.

Igor: Das zeigt einmal mehr die ganze Absurdität eines solchen Begriffs wie Extremismus. Zum Beispiel wurde anfangs die Hälfte der anarchistischen Websites auch als extremistisch deklariert. Und okay, jetzt wird Nexta als solche eingestuft. Ich glaube, es war ein weiterer Versuch, jede Art oppositionellen Denkens zu stoppen.

Welche Rolle haben Anarchist*innen in den Protesten? Welche Rolle könnten oder sollten sie eurer Meinung nach in Zukunft übernehmen?

Igor: Ursprünglich war die anarchistische Präsenz ziemlich schwach, würde ich sagen. Wir waren nur einige Bezugsgruppen, die an den Protesten teilnahmen. Wir waren dort, aber ohne eine klare und überzeugende Agenda. Aber dann hat sich das geändert. Jetzt nehmen Anarchist*innen mehr und mehr den Raum ein. Beispielsweise sucht jetzt Nexta die Freundschaft und den Rat von Anarchist*innen.

Xenia: Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese Tendenz noch zunimmt, denn ja, wir werden jetzt irgendwie erwähnt, aber es ist immer noch nicht sehr viel. Es wäre schön, wenn wir als ernstzunehmende politische Kraft wahrgenommen werden.

Pjetr: Interessant ist, dass es Impulse aus der Gesellschaft gibt, die wir hätten vorschlagen können. Zum Beispiel Solidaritätsfonds, Initiativen gegenseitiger Hilfe, Blockade-Taktiken und sogar Barrikaden. All dies hätte von uns kommen können, aber es kam von der Basisbewegung.

Deshalb denke ich, dass dies eine gute Gelegenheit für Anarchist*innen ist, neue Protesttaktiken vorzuschlagen. Dadurch können horizontale Netzwerke geschaffen werden, die für die Zukunft erhalten bleiben.

Igor: Was auch spannend ist, ist das es inzwischen einige Bilder von Anarchist*innen gibt, die fast schon wie ein Mythos sind. Da gibt es zum Beispiel Gerüchte, dass Anarchist*innen alle Proteste koordinieren, dass Anarchist*innen die Barrikaden errichten, dass Anarchist*innen die ganze Zeit in der ersten Reihe stehen. Aber das hat eher wenig mit der Realität zu tun.

Pramen hat ein anarchistisches Programm für die Aufstände in Belarus veröffentlicht. Glaubt ihr, dass es irgendeine Perspektive hat?

Pjetr: Ich habe das Programm mitgeschrieben und denke, man kann es dafür kritisieren, dass es opportunistisch und nicht radikal genug ist. Man kann es auch dafür kritisieren, dass es keine konkreten Vorschläge dafür liefert, was zu tun ist, damit die Revolution siegt. Die Perspektive sehe ich darin, dass es einen Vektor hin zu einer anarchistischen Ausrichtung darstellt.

Was können wir aus diesen Protesten lernen?

Igor: Eine wichtige Lektion der Proteste ist, dass Anarchie auch ohne Anarchist*innen funktioniert. Das weckt große Hoffnung auf weitere Veränderungen.

Pjetr: Uns ist bewusst geworden, dass wir uns besser auf die Revolution vorbereiten müssen. Wir brauchen eine anarchistische Organisation, die nicht nur eine abstrakte Vision hat, sondern auch ein konkretes Programm, mit einer konkreten Vision, welche Veränderungen wir erreichen wollen, wie unsere Gesellschaft organisiert sein soll, und was unser Plan ist, wenn eine Revolution gegen die Diktatur, in der wir leben, stattfindet – ich glaube, wir brauchen mehr gesunden Optimismus.

Was haltet ihr im Hinblick auf internationale Solidarität für notwendig und was wünscht ihr euch?

Xenia: Verschiedene Leute haben uns gefragt, ob wir materielle Unterstützung brauchen, aber im Moment wir können das nicht klar als „schickt uns Geld“, „schickt uns Waffen“ oder „schickt uns Menschen“ formulieren. Für mich ist es einfach wichtig, dass die Menschen ihre Solidarität ausdrücken, dass sie uns Briefe schreiben und fragen, wie sie helfen können. Das ist bereits eine große Hilfe. Außerdem ist es schön wahrgenommen zu werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten.

Pjetr: Ich möchte allen, die diese Zeilen lesen, für ihre moralische Unterstützung danken. Aber auch praktische Solidarität kann etwas bewirken. Es könnte Kampagnen geben, die Druck auf die Regierungen der Länder aufbauen, die die belarussische Revolution nicht unterstützen, oder die dem belarussische Regime sogar aktiv helfen. Da wäre zum Beispiel die Firma Volkswagen, die Profite daraus schlägt, dass die repressiven Institutionen hier in Belarus hauptsächlich ihre Fahrzeuge benutzen. Und auch einige IT-Firmen, wie Synesis, die dem belarussischen Regime Entschlüsselungs-Software zur Verfügung stellen. Auch finanzielle Unterstützung ist willkommen.

Wollt Ihr noch etwas hinzufügen?

Pjetr: Ich möchte vielleicht etwas persönliches sagen. Früher habe ich mir die Revolution als etwas wirklich Schönes und Wunderbares vorgestellt, als eine Art Kreativität der Massen, mit einem Anstieg des sozialen Lebens. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass dies auch mit einer Zunahme der Repressionen und der Macht einhergeht. Schließlich scheint es nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Angst zu sein. Wir müssen also noch mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, uns gegenseitig zu unterstützen und uns umeinander zu kümmern.

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Der „Arbeitgeberverband“ der Metallindustrie bläst zur Offensive. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung präsentierte Stefan Wolf, designierter Gesamtmetall-Chef, eine Wunschliste ausgewählter Grausamkeiten. Der Kern: Die Beschäftigten sollen unbezahlt mehr arbeiten. „Mal zwei oder auch mal vier Stunden pro Woche“ kann er sich vorstellen, den Metallarbeiter*innen dieses Landes abzuknöpfen. Die 35-Stunden-Woche sei unzeitgemäß, die Löhne in Deutschland zu hoch.

Er stößt damit in die gleiche Kerbe wie zuvor sein Vorgänger Rainer Dulger. Der Multimillionär und Erbe eines Familienunternehmens beweinte zuerst, dass „es nichts zu verteilen gebe“, weil Corona es der Industrie eben unmöglich mache. Von den Gewerkschaften erwarte er eine Nulllohnrunde – also faktisch schon ob der Inflation eine Reallohnsenkung. Mehr noch aber sei selbst das nur „ein Signal“, denn es gehe um eine Trendwende: „Wir Arbeitgeber predigen seit Jahren, dass zu hohe Lohnkosten und Lohnnebenkosten Konsequenzen haben.“ Auf die Frage, was er Dulger von den Verhandlungsangeboten der Gewerkschaft IG Metall hält, antwortet der Manager mit der üblichen Erpressungsstrategie: „Wer in dieser Lage Arbeit noch teurer macht, als sie ohnehin schon ist, riskiert, dass Firmen auf Dauer Arbeitsplätze ins Ausland verlagern.“

Es geht also – wie immer – um den Standort Deutschland. Der heilige Kral für beide Seiten der „Sozialpartnerschaft“ zu dessen Rettung am Ende die Belegschaften „Zugeständnisse“ machen müssen. Doch wir haben Krise und so verlangt der heilige Standort ganz besondere Opfer.

Die (von anderen, nicht von den Kapitalisten) zu erbringenden Opfer hat der „Arbeitgeberverband“ der Metallbranche in einem Papier festgehalten, das den Titel „Wiederhochfahren und Wiederherstellung -Vorschläge für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise“ trägt. Es beginnt damit, dass die Pandemie genutzt werden soll, um die ohnehin schwachen Vorgaben zum Klimaschutz aufzuweichen: Es sei nötig, dass „auf eine weitere Verschärfung der Kli-maschutzziele, insbesondere durch die EU-Kommission verzichtet wird.“

Im selben Tenor geht es weiter, denn es soll auf sehr vieles „verzichtet“ werden: auf eine Vermögenssteuer, die Erhöhung der Erbschaftssteuer, die Grundrente und eine Reihe von Regelungen zum Schutz von Arbeiter*innen. Auch Leiharbeit und „flexible“ Arbeitsverhältnisse will man nicht beschränkt sehen.

Das Papier ist ein Generalangriff, denn die deutschen Industriefürsten haben sich viel vorgenommen. Die Pandemie soll genutzt werden, um Reallohnsenkungen durchzudrücken und einen Abbau von Rechten der Werktätigen zu beschleunigen, der im Grunde genommen seit Jahrzehnten im Gang ist.

Und so wie es aussieht, könnte zumindest einiges davon Erfolg haben. Von SPD und CDU/CSU ist selbstredend nichts zu erwarten, aber auch die Gewerkschaften haben vielerorts bereits vor der Schlacht die Waffen gestreckt und führen nur noch Defensivkämpfe zum Arbeitsplatzerhalt. Und in den radikaleren Teilen der Linken dieses Landes scheint man dergleichen Attacken erst gar nicht für irgendwas zu halten, was einen selbst betrifft.

Dabei wäre die Vorlage des Klassenfeinds geeignet zur Vereinigung vieler Kämpfe, denn er richtet sich ja gegen verschiedene Teile der Bevölkerung: Die Aufweichung der Klimaziele betrifft schlechthin alle, bewegt aber derzeit die Jüngeren; die Forderung nach noch mehr Altersarmut dagegen betrifft unmittelbar die Älteren. Und die Wünsche nach Lohnkürzungen betreffen nicht nur alle Beschäftigten im Metallsektor, sondern haben generell Signalwirkung. Die Laissez-Faire-Auslegung des Gesundheitsschutzes verstärkt die Pandemie. Und die Ablehnung von Sozial- und Arbeitsstandards in den Lieferketten schreibt das globale Ausbeutungsmodell des deutschen Imperialismus fest.

Die Bosse der Metaller sind insofern ein dankbarer Gegner. Sie sagen offen, was sie wollen. Und es ist nicht schwer zu verstehen, dass es sich gegen die überwiegende Mehrheit der Menschen richtet. Eigentlich eine gute Gelegenheit für eine Gegenoffensive.

# Bildquelle: wikimedia.commons

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In Slowenien finden seit Ende April Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung statt. Das LCM sprach mit Ramona, Anarchistin aus Ljubljana. Im ersten Teil des Interviews geht es darum, wie die Proteste entstanden sind und was die Leute auf die Straße treibt. Im zweiten Teil geht es um Verschwörungstheoretiker*innen, die gelebte Solidarität während der Aktionen und was es bedeutet über Monate hinweg an Massenprotesten beteiligt zu sein.

Slowenien wird im Moment von vielen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen erschüttert, was ist in Ljubljana los?

Die Proteste sind sehr kreativ, und ich denke, sie sind mehr als nur Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Sie richten sich vor allem gegen die autoritäre rechtsaußen-Regierungen, aber auch gegen Militarismus, Kapitalismus, Umweltzerstörung, die rassistische Migrationspolitik usw. Die Proteste nehmen unterschiedliche Formen an, bündeln sich aber meist auf die, seit dem 26. April laufenden, wöchentlichen Freitagsproteste. Es finden viele Aktionen statt: Freitags sind es die riesigen abendlichen Demonstrationen; Dann gibt es kleinere Aktionen, manchmal auch außerhalb der Hauptstadt Ljubljana, wie zum Beispiel am 19. September in Anhovo gegen die Zerstörung der Natur. In den vergangenen Wochen gab es auch regelmäßige Dienstagsaktionen von selbstorganisierten Kulturschaffenden vor dem Kulturministerium. Die Journalisten organisieren sich und hatten auch ihre eigene Demonstration. Die Menschen finden wirklich zusammen, und nach all diesen Monaten gibt es immer noch eine Menge Energie. Sogar während des Sommers kamen die Menschen immer wieder auf die Straße. Die Zahlen gingen zwar zurück, aber es waren nie weniger als 3.000, was für Ljubljana eine Menge für einen selbstorganisierten Protest ist. Ich würde sagen, es ist ganz anders als in den vergangenen Jahren. Wir sind es gewohnt Demonstrationen zu haben, die schneller stattfanden, aber nicht länger als eine Woche oder höchstens ein paar Wochen dauern. Das bedeutet, dass sich das Terrain des Kampfes verändert. Wir müssen uns auf lang anhaltende Proteste einstellen, was an sich schon bedeutet, dass wir auch unsere Strategien anpassen müssen.

Wie hat das alles angefangen?

Wir sind jetzt ja schon im fünften Monat des Protests. Am 12. März verhängte Slowenien wegen Covid19 den Pandemiestatus. Noch in derselben Nacht übernahm Janez Janša die Regierung und wurde Premierminister, nachdem der ehemalige Premierminister Marjan Šarec zurücktrat. Janša ist ein rechtsextremer Politiker, dem Verbindungen zum Waffenhandel in den Balkankriegen in den 1990er Jahren nachgesagt werden. Er war auch der Premierminister, als 2012/2013 der große, sechs Monate andauernde Aufstand stattfand. Damals musste er unter dem Druck der Proteste zurücktreten. So begann der Pandemiezustand bei uns: Mit einem rechtsextremen Ministerpräsidenten und vielen Fragen, wie man sich als soziale Bewegung in einer Situation, in der Kollektivität verboten ist, organisieren kann.

Es gab auch eine verpflichtende Quarantäne mit all den damit verbundenen Problemen und dem Slogan #stayathome: Dadurch gab es die Gefahr, dass diese Zuhause das Zuhause zu einem Schauplatz patriarchaler Gewalt werden, und patriarchale Werte gestärkt werden. Es wurde viel gegen Dating, gegen Geselligkeit, geredet. Im Prinzip wurde die Idee propagiert, dass der einzig sichere Ort die Familie sei, ohne darüber zu sprechen, was in den Familien passiert, die nicht bilderbuchmäßig sind, wo es zum Beispiel viel häusliche Gewalt gibt. In dem Diskurs wurden auch „die Anderen“, sprich Migrant*innen als schmutzig, gefährlich und als Krankheitsträger dargestellt. Wir wussten, dass diese Quarantäne nur denjenigen zur Verfügung steht, die sie sich leisten können, weil viele Menschen einfach nicht zu Hause bleiben können. Entweder, weil sie infolge der Gentrifizierung kein Zuhause haben und im Allgemeinen auf der Verliererseite der kapitalistischen Ausbeutung stehen, und natürlich, weil viele Menschen in der Industrie oder in Lieferdiensten und Geschäften dazu gezwungen sind, weiter zu arbeiten, damit andere Menschen zu Hause bleiben können.

Wie seid Ihr als Radikale oder Antiautoritäre damit umgegangen?

Für die Bewegung war es eine Herausforderung, eine sichere Umgebung für die Proteste und uns selbst zu schaffen. Gleichzeitig mussten wir Wege finden, um zu vermitteln, dass es einen Unterschied gibt zwischen Maßnahmen gegen die Pandemie und Maßnahmen, die einfach ein Ausdruck des Autoritarismus sind, der mit Janša an die Regierung gekommen ist. Was passierte, war, dass die Mauern der Stadt sofort mit Slogans gegen autoritäre Maßnahmen bedeckt waren, die als Covid19-Maßnahmen maskiert waren – Slogans wie „Lasst uns die Regierung unter Quarantäne stellen, nicht das Volk“ oder „Lasst uns die Regierung in die Fabriken und die Arbeiter in Sicherheit bringen“. Viele Menschen protestierten auch individuell, wie z.B. mit dem Aufstellen von Kreuzen auf dem Platz vor dem Parlament in 1,5 Meter Abstand, dem Markieren eines sicheren Weges für die Menschen, die sich versammelten, oder ähnliche aktivistische und künstlerische Interventionen in der Stadt.

Und abgesehen von Graffiti?

Am 26. April haben wir, über 25 antiautoritäre Gruppen, beschlossen, zu Fahrraddemonstrationen auf den Straßen aufzurufen. Wir haben diesen alten Trick aus der Antiglobalisierungsbewegung auspackt, obwohl wir alle vor 20 Jahren dieser Taktik sehr kritisch gegenüberstanden, weil sie uns nicht militant oder subversiv genug war. Aber in einer Situation, in der die Menschen Angst hatten, ihre Wohnungen zu verlassen, geschweige denn mit jemandem zusammen zu sein, der nicht zu ihrer unmittelbaren Familie gehört, dachten wir, dass dies den Menschen ein Gefühl der Sicherheit geben würde; dass sie sich nicht anstecken würden, weil es eine gewisse physische Distanz zulässt, die während des Protests eine sichere Umgebung schuf. Wir haben uns auch gefreut, dass wir uns vermummen konnten, und sich niemand wirklich darum schert.(lacht)

Wie ist es ausgegangen?

Wir dachten, dass vielleicht 40-50 Personen zu dieser Demo kommen würden. Aber schon bei der ersten Demonstration waren wir 500. Es ist wichtig, den Kontext zu verstehen: Das war vor der Ermordung von George Floyd bevor alles in die Luft gegangen ist.

500 klingt nach nicht viel…

Man muss diese Zahlen im Kontext sehen: In Slowenien gibt es 2 Millionen Menschen, in Ljubljana sind es 350.000, und wenn selbstorganisierte Demonstrationen 1000 Menschen auf die Straße locken, ist es ein Erfolg. Wenn es zwischen 2.000 und 3.000 Menschen sind, ist es die größte Sache überhaupt. Unter solchen Umständen 500 Leute auf der Straßen zu haben, war riesig. Wir merkten sofort, dass das der Moment ist, und begannen mit der vollen Mobilisierung für den 1. Mai, und es explodierte. Es waren zwischen 10.000 und 15.000 Menschen mit Fahrrädern auf den Straßen, viele neue Leute schlossen sich an, Demonstrationen fanden in anderen Städten des Landes statt. Und obwohl die Demonstrationen zu dieser Zeit nicht sehr militant waren, machte schon die bloße Tatsache, dass wir gegen die Anordnungen der Regierung da waren, einen Konflikt daraus, einfach indem wir als ein Kollektiv da waren.

Was ist es, das die Menschen auf die Straße treibt? Sind es die Maßnahmen der Regierung? Ist es die Angst vor der Wirtschaftskrise?

Ich denke, es ist die Tatsache, dass wir während des Aufstands von 2012 und 2013 wirklich die Idee etabliert haben, dass man Politikern nicht trauen kann, weil sie gegen die Interessen der Menschen arbeiten. Und auch wenn sich damals die sozialen Unruhen gelegt haben und die Eliten eine Person geopfert haben, um sich als Ganzes zu erhalten, glaube ich, dass diese Regierung bei ihrem Amtsantritt wenig Vertrauen hatte. Deshalb wurden Maßnahmen, die ja auch in anderen Ländern ergriffen wurden, als eine Art Trick angesehen, den die Regierung benutzte. Die Leute sind skeptisch, denn sie haben sehr strenge Sparmaßnahmen erlebt, eine ideologische Übernahme des Wohlfahrtsstaates. Sie rechnen mit der Privatisierung des Bildungswesens und der öffentlichen Gesundheit. Sie rechnen mit Einschnitten in die Sozialstaatsstrukturen. Und sie erwarten, dass diese Regierung bald ideologische Themen wie das Recht auf Verhütung und Abtreibung in Angriff nehmen wird. Dazu kam die Tatsache, dass es offensichtlich war, dass die Regierung versuchte, einige Maßnahmen einzuführen, die nichts mit der Pandemie zu tun hatten, sondern damit, Dissens in der Gesellschaft zu verhindern. Zum Beispiel wollte die Regierung diese Pandemie sofort mit militärischer Gewalt bekämpfen, indem sie dem Militär Autorität über die Zivilbevölkerung gab. All dies und die Angst vor dem, was noch kommen wird, wie eine Wirtschaftskrise, hat die Menschen auf die Straße gelockt.

# Titelbild: Črt Piksi, Demo in LJubljana „Gemeinsam gegen Nationalismus – für Würde und eine bessere Welt“

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“Tötet sie!” rief einer der Anwohner eines bürgerlichen Viertels aus seinem Fenster, weitere Nachbar*innen klatschten Beifall und ermunterten die Polizei, die Gilets Jaunes (Gelbwesten) durch die Straßen zu jagen. Eine Szene, die zeigt, wie polarisiert die französische Gesellschaft fast zwei Jahre nach dem Beginn des Aufstands der Gilets Jaunes ist. Die Metropolregion Paris ist sowieso streng nach den Klassen geteilt: In der Peripherie — den Banlieues — leben die Arbeiter*innen und Armen der Gesellschaft. Innerhalb der Stadtgrenzen von Paris und besonders im 8. und 16. Arrondissement (franz. für Bezirk) leben die reichen Bourgeois innerhalb ihrer Luxuswohnungen. Die Gilets Jaunes suchen sich mit Absicht diese schicken Bezirke für ihre Demonstrationen aus, um ihren Protest hör- und sichtbar zu machen — und auch, um die Bourgeois zu erschrecken.

Und so verwundert es nicht, dass sie auch am 12. September auf dem Champs-Élysées demonstrieren wollten. Dort und drumherum fanden die berühmten Straßenschlachten auf dem Höhepunkt der Bewegung der Gilets Jaunes statt. Seit März 2019 allerdings werden alle Demonstration um die Prachtstraße und die Oberschichtsbezirke drum herum verboten und in eine Sperrzone mit enorm viel Polizeipräsenz verwandelt. Am 12. September selbst hatten sich sie Luxusboutiquen schon einen Tag zuvor aus Angst vor Zerstörungen verbarrikadiert. Sogar das Tragen einer gelben Weste scheint dort untersagt worden zu sein: Schon um 8 Uhr morgens wurde eine Person mit gelber Weste verhaftet. Die Gilets Jaunes, sie haben sich zweifellos in das Gedächtnis der Herrschenden eingebrannt.

Eine neue Episode

Frankreich im September 2020 ist ein Land, das seit 2016 von einer Intensivierung der Klassenkämpfe erschüttert wird und wohl inmitten einer zweiten Welle von tausenden Corona-Neuinfektionen steht. Im Frühjahr hatte die Covid19-Pandemie das Land völlig unvorbereitet und dementsprechend hart getroffen. Aktuell gelten weiterhin harte Regeln, die mit der Eindämmung des Virus gerechtfertigt werden: So muss im öffentlichen Raum immer eine Maske getragen werden, wer das nicht tut riskiert ein Bußgeld von 135 Euro. Während die respressiven Maßnahmen verschärft werden, wird an der Gesundheitsinfrstruktur, die im Frühjahr heillos überlastet war wenig geändert. Die Zahl der Intensivbetten etwa ist nach wie vor niedrig und wurde seit Beginn der Pandemie nicht erhöht.

Von der neuerlichen Explosion an Neueinfektionen ist besonders die Region um Marseille getroffen. Dort gibt es pro 100.000 Einwohnenden 312 Neuinfektionen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt diese Zeit bundesweit bei 12,8 Neuinfektionen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich Frankreich am Anfang einer zweiten Welle befindet. Nichtsdestotrotz wird schon jetzt seitens der Regierung ein erneuerter Lockdown ausgeschlossen, da die Wirtschaft das nicht verkraften würde. Um sagenhafte 9,5 Prozent sank das BIP des Landes im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist die Kontraktion mehr als doppelt so groß wie bei Deutschland oder selbst dem weltweiten Durchschnitt von 4,5 Prozent.

Diese äußerst delikate Krisenlage in einem Land mit 9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze führt dazu, dass die Lösung seitens der herrschenden Klasse in Massenentlassungen und Werkschließungen besteht. Dabei trifft es nicht nur die Produktion, wie beim Reifenhersteller Bridgestone, wo in Béthune ein Werk mit 863 Mitarbeitenden geschlossen wurde; selbst bei der Supermarktkette Auchan soll es zu 1.475 Entlassungen kommen. Während Bridgestone der Primus unter den Reifenherstellern ist und rund 27 Milliarden US-Dollar Umsatz macht, gehört Auchan der sechstreichsten Familie Frankreichs um Patron Gérard Mulliez mit einem Vermögen von 26 Milliarden Euro.

Diese zwei ausgesuchten Beispiele zeigen, dass die Arbeiter*innenklasse mit weiteren Angriffen auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen rechnen muss. Eine der bekanntesten Figuren der Gelbwesten, Jerome Rodrigues sagte dazu: “Es kommt eine neue Krise auf uns zu und es ist sicher, dass sie uns Elend bringen wird.” Die neue Mobilisierung der Gilets Jaunes, die bei weitem nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Nantes, Rennes, Marseille oder Lyon zusammenkamen, griff diese Themen auf und verband sie mit dem anhaltenden Thema der Polizeirepression und -gewalt: In Toulouse wurde jegliche Demo verboten; in Paris kam es immer wieder zu Einkesselungen, die teilweise stundenlang andauerten und auch Journalist*innen betrafen.

Die größte Gewerkschaft im Land, die CGT griff dabei in ihrer Mobilisierung am 17. September nur die sozioökonomischen Aspekte auf und rief zu Streiks und Demonstrationen auf. Diese „Aktionstage” folgen allerdings einer symbolischen Routine. Die Beteiligung an den Streiks fällt sehr gering aus und die Demonstrationen selbst können zwar durchaus groß sein, aber nicht militant und sind vollkommen von der Gewerkschaftsbürokratie kontrolliert. Es sind die immer gleichen Demorouten und Parolen, sodass jegliche Spontaneität schon im Voraus abgewürgt wird.

Sogar der Staatssekretär im Verkehrsministerium, Jean-Baptiste Djebbari, sprach abfällig von einem „Gewohnheitsstreik“ und versicherte, dass der Streik keine Auswirkungen haben würde. Dabei ist es klar, dass die „Wut unter den Arbeiter*innen zunimmt“, wie es der CGT-Sekretär Laurent Brun ausdrückte. Die Frage ist aber, was die Gewerkschaften machen, um diese Wut zu organisieren.

Die Winterstreiks 2019/20 gegen die geplante Rentenreform, die das Renteneintrittsalter faktisch auf 64 Jahre anhob, zeigten, dass langanhaltende Streiks möglich sind. Diese müssen aber unbedingt auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt werden, damit sie nicht isoliert bleiben und angesichts großer Lohneinbußen der Streikenden (in Frankreich gibt es kein Streikgeld) irgendwann abgebrochen werden müssen. Die Bereitschaft, diese Kämpfe zu führen ist unter den Arbeiter*innen auf jeden Fall da. Denn wie es ein kämpferischer Gewerkschafter und Arbeiter von Bridgestone ausdrückte, “sind wir bereit und in der Lage, Reifen herzustellen und den französischen und europäischen Markt zu beliefern — ohne die Chefs!”

#Titelbild: GrandCelinien – (G. A.) / CC-BY-SA-3.0

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Mit dem Text „Die beste Entschwörung ist Klassenkampf“ vom Mai 2020, übt Daniel Kulla lieber Ideologiekritik und gibt Impulse für die Aushebelung des Konkurrenzverhältnisses durch Klassenkampf – auch mit dem Mittel der Verschwörung. Das Interview knüpft an diesen und den Text „Blame the Game – Das System ist keine Verschwörung“ des Roten Aufbau Hamburg an. Lea Matika in einem Interview mit Daniel Kulla über Fehler im (nicht nur antisemitischen) Verschwörungsdiskurs, (innerlinke) Konkurrenzverhältnisse und den vergessenen Klassenkampf.

Du sprichst in deinem Text von „der Hufeisenbastelei“ der Linken. Wo liegen die konkreten Fehler im linken Umgang mit Verschwörungstheorien und -theoretikern?

Der Mainstreamdiskurs versucht, das Thema so einzugrenzen, als gäbe es auf der einen Seite die FDGO und auf der anderen das Aluhut-Universum. So werden die Zusammenhänge mit den alltagsideologischen Auffassungen verwischt. Der Fehler beginnt da, wo Linke dieses Mainstream-Ding mitmachen. Wo sie einerseits meinen, sich bekennen zu müssen, dieser Verblendung nicht aufgesessen zu sein und sich andererseits aktiv am Pathologisierungsdiskurs beteiligen. Die Frage, warum Linke so anfällig für „Verschwörungstheorien“ seien, ist ja schon falsch gestellt. Nicht, dass es das gar nicht gäbe, aber im Grunde kam das gerade zuletzt überwiegend von rechts bzw. aus dem liberalkonservativen Spektrum. Warum also sich selbst bezichtigen? Man kann darüber reden, wo Anschlüsse passieren, klar.

Das grundsätzliche Problem ist doch aber dort, wo die Linke als Teil des Konkurrenzbetriebs auch zu sich selbst in Konkurrenz tritt. Und wo sie aufhört zu fragen, was stimmt und was getan werden kann, sondern wo es nur darum geht, die anderen zu widerlegen und sich daran abzuarbeiten, damit man kurzzeitig mal gewinnt. Dazu eignet sich auch der Verschwörungsdikurs. Es wäre schön, über diese Dinge hinauszukommen –was nicht heißen soll, alle Gräben zuzuschütten, und nichts mehr auszutragen, im Gegenteil. Aber diese Abgrenzungs- und Bezichtigungstendenzen stehen dem im Weg. Und diese Luxustrategie kann sich die Linke gar nicht leisten.

Es ist zu forschen, wo das herkommt und was getan werden kann, wie tief das sitzt, wie viele das betrifft und wo die Übergänge sind, und es nicht bei solchen Säuberungsmomenten zu belassen, wie jemanden aus seiner Freundesliste zu löschen. Das geht manchmal nicht anders, aber es ist weniger ein Grund zu triumphieren, es ist eher traurig, dass man nicht mehr zusammenkommt.

Welche Funktion haben denn Verschwörungstheorien, speziell auch in der Krise, die ja keineswegs ein temporärer Ausnahmezustand ist, die einem friedlichen Normalzustand gegenüber steht, sondern bestehende Ungerechtigkeit und Ungleichheit verschärft?

In meinem Vortrag zum Thema habe ich aufgehört zu viel vorauszusetzen, da eine Vermittlung dieser Grundlagen kaum stattfindet. Auch in der Konkurrenzpraxis der Linken will niemand zugeben, Dinge nicht zu wissen, und so wird aufgehört, darüber zu reden. Also fange ich auch ganz grundsätzlich an: Was ist Ideologie und warum gibt es die überhaupt? Warum glauben Menschen Dinge, die nicht stimmen? Was haben sie davon?

Das hat grundsätzlich mit Herrschaft zu tun, dem großen Widerspruch in der Welt; etwas, das sich von Anfang an legitimieren muss, weil Menschen eigentlich Herrschaft nicht brauchen. Ideologie ist die Erzählung von Herrschaft über sich selbst, mit der sie versucht sich zu legitimieren. Und da fungiert als Haupterzählung, dass diese Herrschaft nicht so schlimm sei wie die anderen. Im modernen Diskurs haben wir die kapitalistischen Nationalstaaten, die sich in dieser Form vergleichen. Untereinander und natürlich auch mit verschiedenen historischen Herrschaften, die irgendwann schon mal falsch waren und denen man jetzt überlegen ist.

Diese Normalerzählung ist stets am Wirken. Die Menschen, die beherrscht und ausgebeutet werden, übersetzen das für sich und befinden sich ja auch in einer ähnlichen Konkurrenz, nämlich in Statuskonkurrenz und eben der ökonomischen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Da bedarf es einer Fremdabwertung, um sich aufzuwerten. Wer andere als doof überführen kann, gilt ja als schlau.

Diese Erzählung kriegt ständig Risse und geht nicht mehr auf für die Leute, weil Krise ist oder die sich mal wieder verschärft. Auch auf der individuellen Ebene macht sich das bei den Leuten bemerkbar, wenn der Deal mit dem Idealstaat nicht mehr aufgeht und man denkt: „Na, ob ich meine Rente wirklich noch kriege?“. Wenn ich nun an dieser Stelle Herrschaft nicht infrage stelle und mich mit anderen gegen sie zusammentue, dann gibt es den Impuls, den Realstaat an diese Idealstaatsvorstellung anzupassen. Notfalls gewaltsam: Also die Vorfahrt für die „Tüchtigen“ wieder durchzusetzen.

Man repariert also den Riss im eigenen Weltbild bzw. der ideologischen Haupterzählung. Dafür ist die Unterstellung einer übermächtigen Verschwörung einfach das allerbeste Mittel, also quasi der Joker. Eine Instanz, die alles kann, alles weiß, wunderbare Fähigkeiten besitzt, und eine optimale Projektionsfläche für alle möglichen Zuschreibungen bietet. Die Leute damit überführen zu wollen, dass das verrückt ist, geht voll daran vorbei. Das ist ja gerade die Leistung, keine eigene Ideologie sondern Reparaturprogramm für sie zu sein; eine wunderbare Erklärung für das Unverständliche. Und in dem Moment, wo sich jemand selbst davon überzeugen kann, stehen die Chancen nicht schlecht, dass andere das ähnlich sehen und übernehmen. Zusätzlich kann sich als Mahner und potentieller Retter der Noch-Nicht-Geretteten inszeniert werden, was Status verspricht oder auch reales Einkommen generieren kann.

Wie passen die vorherrschenden antisemitischen Denkmuster im Verschwörungsdiskurs mit einer Selbstinszenierung als ‚die neuen Juden‘ zusammen, wie man es bei Corona-Verschwörungsgläubigen sehen konnte, die sich Davidsterne mit der Aufschrift ‚ungeimpft‘ anheften?

Auf Deutschland bezogen gehe ich davon aus, dass ein Großteil dieses Verschwörungsdiskurses antisemitisch funktioniert – es ist aber nicht zwangsläufig so. Bis der moderne Antisemitismus entstanden ist, funktionierte der Weltverschwörungsdiskurs fast hundert Jahre ohne spezifische Rolle für die Juden. Da wird manchmal eine gedankliche Abkürzung gemacht, dass das beides in eins fallen würde. Der moderne Antisemitismus kommt ohne Verschwörungserzählung nicht aus, aber umgekehrt stimmt das nicht wirklich.

Diese Mustererkennungsgeschichte die dann anläuft, nach dem Motto „Oh guck, eine Krake! – das muss Antisemitismus sein!“, greift unter Umständen daneben. Wie lässt sich denn Herrschaft durch Institutionen, deren Macht in mehrere Länder reinreicht wie z.B. die EU, sonst darstellen? Das ist trotzdem als Hinweis ernst zu nehmen, aber wie argumentieren die Leute denn sonst, die so etwas benutzen? Man kann die ja erstmal warnen, was sie da möglicherweise mit transportieren, statt „Ertappt!“ zu schreien. Da wird es sich teilweise zu einfach gemacht.

Die Selbstinszenierung als die „neuen Juden“ ist teilweise auch so ein Joker im Diskurs. Denn das ist etabliert als das Schlimmste, was irgendwann mal passiert ist – und wenn ich mich maximal selbst viktimisieren will, ist das halt erste Wahl. Viele sind natürlich schon antisemitisch motiviert. Aber ob jetzt alle Leute, die damit rumlaufen, diesem Diskurs so aufsitzen, wäre erstmal zu prüfen. Dass es darauf oft hinausläuft und auch immer wieder diese mörderische Konsequenz hat, ist unbestritten, aber analytisch war mir das manchmal zu bequem, da es nicht die Grundlagen angreift, sondern eher wieder auf diese Abgrenzung und Selbstaufwertung durch Expertentum aus ist – und das macht meiner Meinung nach die Waffe stumpf. Ideologiekritik sollte einfach treffen, sonst verspielt sie ihre Glaubwürdigkeit.

Hast du noch was anzumerken?

Ich würd gern was zum Text des Roten Aufbau Hamburg sagen. Darin heißt es, Kapitalismus sei keine Verschwörung – und das stimmt natürlich. Der kapitalistische Normalbetrieb findet in aller Öffentlichkeit statt und ist nicht verborgen. Aber: Zu seiner Aufrechterhaltung und Ausweitung werden ständig Verschwörungen gebildet. Es ist unter Herrschaftsbedingungen normal, dass es Verschwörungen gibt und es wäre naiv, anzunehmen, dass Verschwörungen keine Rolle spielten. An anderer Stelle wurde geschrieben, dass die Reichen ja auch in Konkurrenz zu einander stünden und sich deshalb nicht verschwören würden – die stehen natürlich in Konkurrenz, aber sie schließen sich auch zusammen.

Es steht zwar im Text, dass wir um Wohnung, Intimbeziehung, Lebensmittel, usw. konkurrieren

– aber fehlt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren. Da fehlt der Zusammenschluss im Klassenkampf, durch den die Konkurrenz ja tatsächlich ausgehebelt werden kann. Und das wäre auch der Schritt raus aus der Ideologie. Ideologie ist nicht nur Manipulation, sondern sie entsteht ständig aus der Konkurrenz – und kann genau da umgedreht werden! Denn wenn ich mit Ideologie die Konkurrenz normalerweise reproduziere, ist das Konkurrenzbedürfnis in dem Moment, wo sich Leute egalitär zusammentun, um zu streiken oder zu besetzen, aufgeknackt. Dann geht es darum, eine Erzählung zu entwickeln, in der man sich gegenseitig nicht mehr abwertet.

Das fand ich eine Auslassung an der Stelle. Denn wenn ich nicht über die Verschwörung der anderen reden will, dann rede ich auch nicht von der Verschwörung von unserer Seite, die es ja eigentlich ist: Was es oft für ein Theater ist, in einem Betrieb einen Betriebsrat zu haben! Das wird ja auch nicht offen gemacht. Man spricht sich erstmal ab, fühlt vor bei den Kollegen, vielleicht auch außerhalb der Arbeit – so funktioniert ja Verschwörung: über den öffentlichen, klar abgesteckten Rahmen hinaus zu gucken, was durchgesetzt werden kann. Wer sich aber auf den Normaldiskurs einlässt, schlägt sich selber dieses Mittel aus der Hand.

Diese Leerstelle, zwar über ökonomische Verhältnisse zu reden, aber nicht über Klassenkampf, ist auch eine begriffliche. „Klasse“ ruft halt dieses „der Mann mit Helm im Betrieb“-Bild auf. Ich schlage „Arbeitskräfte“ vor, das ist genderneutral und fasst es sehr weit; also wer lebt davon, dass jemand in der Familie oder Lebensgemeinschaft versucht seine Arbeitskraft zu verkaufen, egal, wie gut bezahlt oder legal, und wer hat so das gemeinsame Interesse, dass der eigene Lebensunterhalt für die andere Seite niedrig zu haltende Kosten sind – das ist alles die Klasse. Und alles weitere muss im Klassenkampf ermittelt werden. Wer auf welcher Seite steht, wird sich dann zeigen und kann sich in fortgesetzten Kämpfen immer wieder verschieben.

Und ich bin dafür, immer Forschung und Geschichte im Blick zu behalten und nach Bedürfnissen und Fähigkeiten unserer Spezies außerhalb von Herrschaft zu schauen. Wenn sich eine Annahme als falsch herausstelt, ist das zu inkooperieren – wir machen doch keine Religion.

# Lea Matika ist Journalistin und Künstlerin in Leipzig.

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Deutschland gehört zu jenen Ländern, in denen die sogenannte „Sozialpartnerschaft“ am weitesten ausgeprägt ist. Das hübsch klingende Wort bezeichnet einen Mechanismus der Vermeidung von Arbeiter*innenkämpfen, bei dem zwischen Gewerkschaftsfunktionär*innen und den Vertreter*innen der Bosse am Tisch ausgehandelt wird, wie viele Brotkrumen nach unten fallen dürfen. Das Heiligtum dieses institutionalisierten Klassenfriedens zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ist dementsprechend der „Standort Deutschland“ und nicht das bessere Leben der proletarischen Schichten. Und das Stoßgebet beider Seiten ist der abertausende Male widerlegte Slogan: „Geht´s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“

In Krisenzeiten beinhaltet dieses Konzept die vorauseilende Kapitulation der Arbeiter*innenvertretung, eine von der Sozialdemokratie in Deutschland seit ihrer Zustimmung zum 1. Weltkrieg gehütete Tradition. Wenn Krise ist, so die Idee, müssen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen Händchen halten und zusammenstehen für das Wohl der Nation. Und so verlautbarte der Deutsche Gewerkschaftsbund gleich am Anfang der Corona-Krise: „DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer erklären: Die Sozialpartner stellen gemeinsame Verantwortung in der Coronakrise über Differenzen.“ Man wolle, so die Pressemitteilung vom 13. März, Konflikte „hinten anstellen“. Nur noch absurd wirkt die Passage: „Die letzte große Bewährungsprobe für die Sozialpartnerschaft war das Handeln in der Finanzkrise 2008/2009. Die Sozialpartner haben damals in Zusammenarbeit mit der Politik, als Tarifpartner und auf betrieblicher Ebene wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen in Arbeit und die Unternehmen im Markt blieben.“

Länger arbeiten, weniger Pausen

Soweit, so schlecht. Nicht nur geht der DGB ohne jede offensive Vision in eine Krise, die eine Auseinandersetzung darüber ist, wie es in der Gesellschaft weitergeht. Darüber hinaus aber nimmt man den Arbeiter*innen zugleich jede Verteidigungskraft gegen Angriffe. Denn während von unten tatsächlich durch die angepassten Gewerkschaften der Klassenfriede gewahrt wird – klar, ein paar Tarifkrümel hier und da, müssen vermeldet werden–, sind die Kapitalisten natürlich nicht so geschwisterlich drauf. Sie sehen in der Krise eine Chance zur Rücknahme von Arbeiter*innenrechten, zum Abgreifen von staatlicher „Unterstützung“, zur „Marktbereinigung“ – also zur weiteren Monopolisierung.

Einige Beispiele: Während „systemrelevante“ Berufe – Gesundheits- und Transportarbeiter*innen, Kassierer*innen usw. – öffentlich sogar von jenen beklatscht werden, die ihnen in den vergangenen Jahrzehnten jede Lebensgrundlage entzogen haben, werden faktisch immense Verschlechterungen durchgesetzt. Für Pfleger*innen etwa wurden die zulässigen Arbeitszeiten verlängert und die vorgeschriebenen Ruhepausen verkürzt. Eine Maßnahme, die weder vor Corona schützt (Studien aus China zeigen sogar, dass kürzere Schichten bessere Ergebnisse aufweisen), noch das Problem des Mangels an Personal im Sektor löst. Ähnlich ergeht es Transportarbeiter*innen: Die Lenkzeiten werden gelockert, das Fahrverbot am Wochenende aufgehoben – eine Maßnahme, die nicht nur für die LKW-Fahrer*innen noch schlechtere Arbeitsbedingungen bedeutet, sondern auch die Unfallgefahr auf Deutschlands Straßen erhöht.

Gestreikt wird nirgends. Nicht in jenen Betrieben, die keinen Schutz vor Corona gewährleisten, nicht in jenen, die noch länger arbeiten lassen. Vielmehr ist der DGB bemüht, seinen Mitgliedern zu suggerieren, sie sollen duldsam sein, denn das sei ja alles nur temporär. Sogar bereits anvisierte Aktionen wurden abgesagt.

Ebenfalls kein praktischer Einspruch kommt von deutschen Gewerkschaften, wenn es um die Umverteilung von Steuergeldern in Konzernkassen geht. Dazu stellt der Staat den Unternehmen eine breite Palette von Möglichkeiten von Kurzarbeitergeld bis Steuerentlastungen zur Verfügung. Ausgestattet mit ganzen Abteilungen zur Finanzoptimierung greifen die natürlich ins Volle, wie sie es im Zuge der Finanzkrise, auf deren Management der DGB so stolz ist, getan haben. Und gleichzeitig schütten sie Dividenden an ihre Aktionär*innen aus. Der DGB begleitet diese Form des Klassenkampfs mit stoischem Nichtstun.

Versucht man bei deutschen Arbeiter*innen im sogenannten Normalarbeitsverhältnis noch durch irgendwelche Peanuts den Anschein zu wahren, man setze sich für ihre Belange ein, so fallen jene Millionen Menschen, die aus Niedriglohnländern nach Deutschland zum Arbeiten kommen, komplett aus dem Raster. Das prominenteste, aber keineswegs isolierte Beispiel sind derzeit die zur Spargelernte eingeflogenen Erntehelfer*innen. Sie kommen aus Ländern mit noch niedrigerem Lohnniveau, sind seit Jahren an die anstrengende Arbeit gewöhnt und man schert sich Null darum, ob sie an Corona sterben, solange die Profite der deutschen Agrarfürsten gewährleistet sind. Obwohl dem DGB das Problem natürlich bekannt ist, reichte es für wenig mehr als ein paar wohlfeile Presseaussendungen. Die auch hier durchgesetzten Verschlechterungen, was etwa Arbeitszeiten betrifft, wurden gleichwohl von der SPD-CDU/CSU-Koalition durchgewunken.

Ist der DGB noch zu retten?

Nun ist die von der DGB-Führung gewählte Strategie des Pakts mit dem Kapital keineswegs „alternativlos“. Und sie ist auch keine Schutzmaßnahme angesichts eines Virus. Im Gegenteil. Die Absurdität, dass man auf der einen Seite die „private“ Mobilität der Bevölkerung nahezu vollständig einschränkt und gleichzeitig in vielen Bereichen normal weitergearbeitet wird, hat keine medizinischen Gründe, sondern ökonomische. Der Rubel muss weiter rollen und die Couponschneider in den Chefetagen produzieren eben nichts.

Streiks und andere Kampfmaßnahmen wären deshalb auch keine Verantwortungslosigkeit, sondern Gebot der Stunde. In den USA legten seit Beginn der Krise Beschäftigte in zahlreichen Unternehmen – unter anderem bei Amazon – die Arbeit nieder. Ähnlich sah es in Italien, Spanien oder Zimbabwe aus. Wenn auch international die Arbeitsniederlegungen eher vereinzelt bleiben und sich die historische Schwäche der Gewerkschaftsbewegung nicht nur in Deutschland zeigt, so ist der DGB doch ein besonders braver Verein. Das nicht nur in der Krise, aber da sieht man es eben sehr deutlich.

Und das, obwohl es kaum etwas dringender bräuchte, als eine antikapitalistische und kämpferische Gewerkschaftsbewegung. Ob der DGB allerdings überhaupt noch in eine solche transformiert werden kann – wie sich das ehrliche Linke an der Basis wünschen –, ist zweifelhaft. Als Institution ist sein ideologischer Konsens der Klassenfriede zur Sicherung des Standorts, als Schicht hat die oft mit der neoliberalen SPD verwobene Funktionärsriege sich weit von den alltäglichen Problemen der Arbeiter*innenklasse entfremdet. Auf führender Ebene gehört man in der Gewerkschaftsbürokratie vom Einkommensniveau her schnell zu den oberen zehn Prozent Deutschlands – und den reichsten 1 Prozent global.

#Titelbild: wikimedia commons

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Der Mitte Juli veröffentlichte aktuelle UN-Bericht zur Ernährungssituation in der Welt hat wenig erbauliches zu berichten: Die Zahl der Hungernden steigt weltweit. Die Ursachen des Hungers werden allerdings allenfalls oberflächlich betrachtet. Unser Autor Christoph Morich hat den Bericht und seine Schwachstellen analysiert.

Immer wenn die Vereinten Nationen einen neuen Bericht zur gegenwärtigen Ernährungssituation in der Welt veröffentlichen, schafft es dieser für einen Tag in die Presse, um am nächsten wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die Zahlen des im Juli 2019 veröffentlichten Berichts „The State of Food Security and Nutrition in the World“ zeugen, wie jene der vorherigen, von der Grausamkeit der bestehenden Weltordnung: 820 Millionen Menschen leiden an Hunger. Fast 20% der Menschen in Afrika sind unterernährt. 2 Milliarden sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, haben also keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichendem Essen. Unter ihnen befinden sich 8% der Bevölkerung Europas und der USA.

Die Zahlen erregen wenig Aufmerksamkeit, da sie uns im Grunde wenig Neues verraten. Seit dem Hinweis der eigenen Eltern, man müsse essen, was auf dem Teller ist – schließlich hätten die Kinder in Afrika gar nichts zu essen – weiß ein jeder über das Grauen in der Welt Bescheid. Es erscheint als etwas Natürliches. Und nicht zuletzt aus den Benefiz-Galas der Vorweihnachtszeit oder anderen Spendenaufrufen kennen wir die Bilder hilfsbedürftiger Kinder, denen man durch finanzielle Zuwendung eine Zukunft ermöglichen kann. So nobel dabei das Motiv von Einzelnen sein mag, so sehr führen sie an einer vernünftigen und nachhaltigen Auseinandersetzung mit dem Thema vorbei. Der spanische Theoretiker Jordi Maiso spricht diesbezüglich von einer Koexistenz von Sentimentalität und Gleichgültigkeit. Rühren die einzelnen Schicksale beim Fernseh-Abend zu Tränen, stört am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit an den Obdachlosen in erster Linie ihr Geruch. Bei solcher Wohltätigkeit geht es um die Beruhigung des eigenen Gewissens und nicht um Solidarität mit den Opfern der kapitalistischen Gesellschaft. Eine solche Solidarität wäre nicht Almosen, sondern der Abschaffung ihres Leidens verpflichtet. Diese hätte sich in erster Linie mit den gesellschaftlichen Ursachen von Armut auseinanderzusetzen.

Das allgegenwärtige menschliche Leiden, von dessen Existenz alle wissen, wird verdrängt, um nichts Grundsätzliches in Frage stellen zu müssen. Der Historiker Eric Hobsbawm schreibt diesbezüglich über eine Entwicklung im 20. Jahrhundert: „Denn das Schlimmste von allem ist, dass wir uns an das Unmenschliche gewöhnt haben. Wir haben gelernt das Unerträgliche zu ertragen.“ Das Leben geht seinen Lauf, während alle wissen, dass irgendwo gerade Kinder verhungern. Diese kollektive Verdrängung des Leidens müsste durchbrochen werden. Das Grauen des Hungers von Millionen dürfte keine nebensächliche Nachrichtenmeldung sein (die sich in diesen Wochen weit hinter den Spekulationen über die Zukunft von Ursula von der Leyen finden ließ), sondern müsste als offensichtlichster Ausdruck andauernder Barbarei alles beeinflussen, was irgendwo gedacht und getan wird.

Der regelmäßige Bericht der Vereinten Nationen zur Welternährungslage ist dabei von zentraler Bedeutung, schafft er es doch zumindest, die globalen Ausmaße des Hungers nicht komplett in Vergessenheit geraten zu lassen. Die notwendigen Konsequenzen, die aus dem globalen Elend zu ziehen wären, spart er aber aus. In diesen gesellschaftlichen Verhältnissen ist die Verbreitung des Hungers vor allem abhängig von den Konjunkturzyklen in den verschiedenen Weltregionen. Dass die Anzahl der Hungerleidenden bis 2015 zurückgegangen ist, ist nämlich keineswegs das Resultat von politischen Maßnahmen zu seiner Beseitigung, sondern zum großen Teil auf den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas und Indiens zurückzuführen. Jede ökonomische Krise droht damit die Zahl der Hungernden weiter zu erhöhen.

Zwar wird in dem Bericht neben dem Klimawandel, kriegerischen Konflikten und einer konjunkturellen Verlangsamung auch die Ungleichheit innerhalb einzelner Länder als eine der Ursachen für Hunger angeführt, das wirkliche Ausmaß des Elends einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft aber verkannt: der Ausschluss der Menschen vom gesellschaftlichen Reichtum durch das Privateigentum, der Zwang die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, dem ein Großteil der Weltbevölkerung unterliegt, während die herrschende Klasse über die Produktionsmittel verfügt und an den Finanzmärkten mit Lebensmitteln spekuliert, die anderen zum Überleben fehlen.

Die ökonomischen Gründe für den Klimawandel, die Zerstörung des Planeten durch das rastlose Streben des Kapitals nach Anlagemöglichkeiten (wie die kürzlich durch den faschistischen Präsidenten Brasiliens gesetzlich legitimierte, weitestgehend uneingeschränkte Abholzung des Regenwaldes), finden allenfalls verkürzt und unterbelichtet Erwähnung. Auch kriegerische Konflikte, die in der Folge zu immer mehr Hungerleid führen, erscheinen als etwas, das mit dem gesellschaftlichen Normalbetrieb nichts zu tun hat. Viele Länder, in denen Kriege geführt werden, sind jedoch ehemalige Kolonien, die in der globalen kapitalistischen Konkurrenz nicht bestehen konnten. Durch den Abbau von Ressourcen und deren Verkauf in den globalen Norden entstehen dort Kriegsökonomien, die Konflikte vor allem deshalb andauern lassen, da Geld mit ihnen zu verdienen ist. Dies gilt insbesondere für viele Länder in Sub-Sahara Afrika, wo die Zahl der Hungernden mit 22.8% weltweit am höchsten ist. Nicht zuletzt verdient an den kriegerischen Konflikten die europäische Waffenindustrie. So etwa die deutsche Firma Rheinmetall, die Millionenprofite durch den Krieg im Jemen einstreicht, wo alle 10 Minuten ein Kind eines vermeidbaren Todes stirbt.

Die Blindheit des Berichts für den wesentlichen Ursprung der Phänomene zieht sich durch den ganzen Text. So schreiben die Autor*innen, dass insbesondere die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu einer höheren Gefahr für Hunger und Nahrungsmittelunsicherheit führen. Ohne aber zu erwähnen, dass für diese Abhängigkeit vor allem die neoliberalen Umstrukturierungen aller Nationalökonomien, u.a. durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), verantwortlich sind. Sie bauten die Diversität der Agrarwirtschaft einzelner Nationalökonomien ab, liberalisierten den Handel und forcierten Monokulturen für den Import und Export. Zwar können so größere Profite für Agrarunternehmen generiert werden, Nationalökonomien, in denen sich die Bevölkerung bis dato halbwegs selbst versorgen konnte, gerieten aber in die Abhängigkeit vom Weltmarkt. Nun einfach eine gegenteilige Entwicklung zu fordern, hat kaum Aussicht auf Erfolg und erscheint angesichts der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte so naiv wie den Sozialstaat gegen den Raubtierkapitalismus zurückzufordern. Es gibt keinen guten Kapitalismus, der sich gegen die immanente Logik des Kapitals selbst einfordern ließe.

Ohne eine grundlegende Kritik am Kapitalismus können die Grauen der Gegenwart nicht adäquat verstanden und bekämpft werden. Die Praxis der Herrschenden, die kein Interesse an der Überwindung der bestehenden Verhältnisse haben, sind dementsprechend weitestgehend konsequenzlos, wie an den Hunderten von Konferenzen und Absichtserklärungen zur Bekämpfung des Klimawandels oder des Welthungers zu sehen ist.

Und genau daran krankt der UN-Bericht. Er beschreibt das kapitalismusgemachte Grauen, ohne auch nur ansatzweise die Bedingungen, die dazu führen benennen zu können. Der Wunsch, den Hunger besiegen zu wollen, braucht aber die Vermittlung mit der theoretischen und historischen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Ohne diese bleibt es bei lächerlichen Maßnahmen, in der die Linderung von Hunger nur ein Beiprodukt eines „wirtschaftlichen Aufschwungs“ sind. Nur mit einer radikalen Kritik der bestehenden Produktionsverhältnisse, kann eine revolutionäre Gesellschaft aufgebaut werden, in der die Linderung von Leiden der Zweck der Produktion selbst wäre.

#Christoph Morich
#Titelbild: United Nations Photo/
CC BY-NC-ND 2.0

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Über die Kriegsdrohungen gegen Teheran, die Arbeiterbewegung im Iran und die Perspektive eines sozialistischen Wegs im Iran. Ein Gespräch mit Bahram Ghadimi

#Bahram Ghadimi ist Mitglied des iranischen Kollektivs »Andeesheh va Peykar« (Gedanke und Kampf). Das Kollektiv sieht sich als Fortführung jener kritischen Bewegung, die in den 1960er-Jahren mit der Gründung der »Organisation der Volksmudjahedin des Irans« begann, sich zu »Volksmudjahedin-ML« weiter entwickelte und zuletzt in die „Organisation des Kampfes für die Freiheit der Arbeiterklasse (Peykar)“ mündete. Innere Krisen und die Repression in der islamischen Republik brachten „Peykar“ jedoch zum Schweigen. »Andeesheh va Peykar« gründete sich mit dem Ziel, Auswege und Lösungen für die Lage im Iran zu Finden. Es durchlief theoretische Reflexionsprozesse und legte seinen Fokus auf die Verbreitung der Erfahrungen der Kämpfe des palästinensischen Volkes, der lateinamerikanischen Arbeiterbewegung und der Zapatistas in Mexiko.

In den vergangenen Monaten verschärfte sich die Kriegsrhetorik der USA gegen den Iran zunehmen. Denkst du, eine militärische Intervention ist realistisch? Welche Strategie verfolgt Washington?

Bevor ich antworte, muss ich sagen, dass wir diese Frage noch nicht näher in unserem Kollektiv diskutiert haben. Aber auch das zeigt, dass wir die Möglichkeit eines Kriegs noch nicht wirklich ernst nehmen. Das Gefühl, dass es tatsächlich zum Krieg kommen wird, ist bei uns noch nicht da. Wir sind aber keine Wahrsager. Im Moment zu sagen, ob es zu einer Intervention kommt oder nicht, ist reine Spekulation. Wir kennen die internen Diskussionen der US-Administration und der iranischen Regierung nicht.

Die Spannungen, die aktuell existieren, scheinen sich eher in Richtung Verhandlungen zu entwickeln. Es geht darum, dass die USA den Iran vermehrt unter Druck setzen wollen, um bestimmte Vorteile an anderer Stelle zu erhalten. Dabei kann es um die Konkurrenz zwischen Iran, Israel und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft im Mittleren Osten gehen. Denn die wirtschaftlichen Interessen dieses Dreiecks sind manchmal übereinstimmend – zum Beispiel wie es unter dem Schah zwischen Iran und Israel der Fall war -, häufiger jedoch konkurrieren sie. Deswegen denke ich, dass die USA in der jetzigen Lage den Iran aus gewissen Gebieten herausdrängen wollen: Aus Syrien, dem Jemen oder auch aus dem Libanon. Das scheint mir im Moment eher das Ziel und weniger ein wirklicher Krieg. Nicht desto trotz, müssen wir uns immer wieder an den den bekannten Satz von Clausewitz erinnern: Der Krieg ist die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Es bedeutet, auch der Staat bleibt der gleiche, vor dem Krieg, währenddessen und danach. Aber egal, ob es zum offenen Krieg kommt oder nicht: beide Staaten, sowohl die USA als auch die Islamische Republik, sind reaktionär und müssen bekämpft werden. Und zwar nicht erst, wenn der Krieg beginnt, sondern jetzt!

Diese Frage bringt mich aber auch zu einer anderen Überlegung. Als ich noch jung war, war das erste, was uns in den Sinn kam, wenn wir vom Krieg geredet haben,Vietnam oder Korea und darin die Frage des Widerstands gegen den Krieg. Wie waren gegen den Krieg, weil es einen Befreiungskampf gab, den wir unterstützten. Gleiches galt z.B für den Befreiungskampf in El Salvador und Nicaragua. Es gab immer eine Seite, die einen emanzipatorischen Moment hatte. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Schwächung der Befreiungskämpfe stehen auf beiden Seiten meist nationale Interessen, die aber nichts mit Klassenkämpfen und emanzipatorischen Momenten zu tun haben. Das Problem liegt in dem qualitativen Unterschied zwischen diesen zwei Arten von Kriegen und ihrer Vermischung bzw. Verwechslung miteinander. So dass man manchmal wie z.B damals als der Irakkrieg losging, sah dass viele Linke sich auf die Seite Saddam Husseins stellten, um ihn gegen den US-Imperialismus zu unterstützen.

Wie stellt sich die revolutionäre Linke im Iran zu den Angriffen der USA?

Das ist abhängig davon, welchen Teil dieser Linken man fragt. Es gibt im Iran eine traditionelle Linke, von der tatsächlich nur noch Überreste existieren. Im Iran besteht sie nach ihrer Zerschlagung nicht mehr in Form von Organisationen oder Parteien. Im Ausland gibt es Gruppen, die sich gerne so darstellen, als ob sie im Land eine größere Basis hätten.

Ich möchte gerne in diesem Zusammenhang an die 80’er und dem Krieg zwischen Iran und Irak erinnern. Zu jener Zeit, als der Krieg losging, existierte eine ernstzunehmende Opposition zur iranischen Regierung aus vor allem linken Gruppen. Es gab aber auch Gruppierungen, die sich Kommunisten nannten, aber de facto für die Islamische Republik waren, so wie die an der Sowjetunion orientierte Tudeh-Partei oder die Volksfedayin (Mehrheit). Diese gingen tatsächlich so weit mit der Islamischen Republik zu kollaborieren und für sie zu spionieren. Als es zum Krieg kam, waren sie natürlich auf der Regierungsseite. Aber nicht nur sie, auch viele Maoisten, Trotzkisten und die Volksmujahedin verfielen in eine Art nationalistische Positionierung. Sie unterstützten die iranischen Streitkräfte oder formierten ihre eigenen unabhängigen Verbände an der Front gegen den Irak.

Die Politik zu dieser Zeit war so, dass zumindest in den ersten Kriegstagen die einzige größere Organisation, die den Krieg boykottiert hat, die »Peykar« (1) war. Die Position von Peykar war damals, dass das iranische Volk in keinen von reaktionären Staaten geführten Kriege gegen ihre irakischen Brüder und Schwestern treten solle. Dafür wurde Peykar nicht nur von der Regierung, sondern auch von anderen Linken angegriffen. Unter vielen Peykaris gab es wahrscheinlich genau so viele nationalistische Neigungen wie in allen anderen Organisationen. Nur ging es viel mehr darum, zu schauen, was unser Verhältnis zum Volk ist und was unser Verhältnis zu den Mächtigen. Wenn man im Kampf der Mächte zwischen Pest und Cholera eine Entscheidung treffen muss, kann man sich natürlich für eine Seite entscheiden. Oder man wählt einen dritten Weg und sagt: Ich bin gegen den Krieg und stehe gegen beide Staaten!

Auch heute müssen wir darauf achten, dass wir, wenn wir über Imperialismus sprechen, uns Gedanken machen worüber wir genau reden. Imperialismus stellt eine bestimmte Form des Kapitalismus dar. Also anders formuliert, ergibt sich dann die Frage: Auf welcher Seite stehen wir im Krieg zwischen dem kapitalistischen Staat USA und dem kapitalistischen Staat Iran? Egal, wie wir uns entscheiden, entscheiden wir uns für das kapitalistische System. Deswegen denke ich, im Falle eines solchen Krieges, muss sich die Linke entscheiden, will sie für den Kapitalismus eine Seite ergreifen, oder sieht man in der Gesellschaft Kräfte, auf deren Seite man kämpfen sollte.

Man könnte eine Brücke schlagen und sich fragen: Was passiert, wenn so ein Krieg losgeht? Dann kann man sich auch besser entscheiden. Seit Jahrzehnten bewegt sich die Arbeiterbewegung im Iran auf der Ebene defensiver Kämpfe. Besonders nach der Niederschlagung der linken und oppositionellen Bewegung zwischen 1980 und 1988 mit Massenhinrichtungen und dem Ausnahmezustand, war die Gesellschaft quasi paralysiert.

Diese Situation hat sich seit der Zeit von Rafsanjani, Ahmadinedjad und Mousavi, als sich Privatisierung und Neoliberalisierung des Kapitals im Iran durchgesetzt haben, gehalten. Das bezieht sich dabei nicht nur auf die linke Bewegung, sondern auch auf die Kämpfe der Völker im Iran – Araber, Baluchis, Turkemenen, Kurden. Die iranische Regierung hat den Krieg genutzt, um all diese Bewegungen als sogenannte Fünfte Kolonne des Feindes zu denunzieren und zu zerschlagen. In den letzten 3- 4 Jahren haben sich aber andere Kämpfe im Iran entwickelt.

Deshalb würde ich sagen, die Linke im Iran, so klein wie sie auch sein mag, hat Partei ergriffen und steht an der Seite der Arbeiterklasse. Am 1. Mai haben vier Organisationen – die Bussfahrergewerkschaft von Vahed, die Gewerkschaft von Haft-Tapeh, die Rentner Union und das Koordinationskomitee zur Unterstützung des Aufbaus der Arbeiterorganisationen – in einem 15-Punkte-Kommuniqué u.a. gegen jeglichen Besatzungskrieg gegen alle Völker der Welt ausgesprochen. Die restlichen Forderungen richten sich gegen die eigene Regierung.

Du hast von Kräften in der Bevölkerung gesprochen, an deren Seite man kämpfen kann. Welche Kämpfe gibt es derzeit konkret?

Wie ich eben gesagt habe – die Kämpfe sind offensiver geworden, in dem Sinne, dass die Arbeiterbewegung sich aktuell auch Alternativen schafft. Es kann sein, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter von Haft Tapeh aus Ohnmacht gegenüber ihrer Situation zu diesen Aktionen übergegangen sind, aber war es bei den ArbeiterInnen von Zanon, Impa, oder Bruckmann in Argentinien anderes?

Die Aufstände, die im Dezember 2017 und Januar 2018 anfingen, haben eine neue Dimension der Kämpfe im Iran eröffnet. Vielleicht vergleichbar mit der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Es war nicht nur die Arbeiterklasse, die auf die Straßen ging, sondern auch diejenigen, die über jedes Maß hinaus ausgebeutet und dann von allem ausgeschlossen, quasi weggeworfen worden sind: Die sog. „Einweg-Arbeiter“. Diese Klasse ist vor allem vorletztes Jahr auf die Straße gegangen und interessant dabei war, dass sie keine Führer hatten, keinen Chef und auch keine Organisation. Ich bin mir der Notwendigkeit einer Organisierung in einem langfristigen Kampf sehr bewusst. Dies ist auch das Resultat vieler Erfahrungen, u.a. der zapatistischen Bewegung in Chiapas. Ohne eine Organisation wäre die Widerstand im Süd-Osten Mexikos unmöglich.

Während in der Regel die Nichtexistenz einer Organisation ein Nachteil ist, war es aber in diesem spezifischem Moment im Iran ein Vorteil, weil niemand durch Festnahmen oder Bestechungen die Bewegung beenden konnte. Diese Bewegung, die von ganz unten aufgestanden war, ist heute wie eine Glut, die unter der Asche begraben ist. Ihre Erfahrungen sind in die Kämpfe der StahlarbeiterInnen von Ahvaz eingegangen. Zum ersten Mal sehen wir, dass die ArbeiterInnen in Ahvaz sich solidarisieren mit streikenden Lehrern in Teheran.

Dann gibt es die Kämpfe und Streiks der Zuckerproduktion von Hafttapeh im Süden Irans und wir sehen, dass viele ihrer taktischen Schritte an die Arbeitskämpfe in Argentinien erinnern. Es gibt Videomaterial von den Führern dieser Arbeiterbewegung wie z.B Herr Bakhschi, der zur Zeit im Gefängnis ist, der auf einer Versammlung redet und die Besetzung der Fabrik vorschlägt. Sie sprechen vom Räteaufbau und Räteorganisationsmodellen. Das sind Dinge, die vor ein paar Jahren unvorstellbar waren im Iran.

Gehen wir jetzt zurück zu der Frage, was passieren wird wenn der Krieg losgeht. In erster Linie werden all diese Bewegungen beschuldigt werden, die 5. Kolonne des US-Imperialismus zu sein. Und sie werden noch härter angegriffen werden. Somit hat der Krieg für die iranische Regierung einige Vorteile, um sich noch handfester gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen.

Die internationale Linke muss entscheiden, ob sie sich auf die Seite einer dieser Staaten stellen will, oder den Spieß umdreht und sagt: unser Subjekt ist die Bevölkerung, um sich nicht nur auf die Arbeiterklasse zu beschränken. Die Armen, die Ausgebeuteten, diejenigen, die nicht die oberen 1% bilden. Mit einer solchen Perspektive macht es dann keinen Unterschied, ob ein Rafsanjani die Leute niedermetzelt oder Bush, ob es Trump ist oder Rohani. Es geht dann darum, etwas von unten aufzubauen. Zweifellos muss die Linke gegen jeglichen Besatzungskrieg, gegen jegliche Art von Ausbeutung, Apartheid und Sexismus sein. Ich will damit betonen das es in dieser Situation keine schlimmere Seite gibt. Unser Kampf gegen Vernichtungskriege hat seinen eigenen Stempel.

Was erwartest du von einer internationalistischen Linken in Deutschland?

Ich glaube, man kann nicht nur als Stellvertreter für Iran oder Kurdistan, Mexiko oder irgendein anderes Land in Deutschland kämpfen. Doch Deutschland hat auch Mitverantwortung für die Kriege im Mittleren Osten, etwa, wenn wir uns die Waffenindustrie ansehen. Wenn wir hier etwas machen wollen, müssen wir z.B. gegen Rheinmetall mobilisieren. Der Krieg beginnt hier! Aber auch gegen die Innen- und Außenpolitik der EU müssen wir uns organisieren. Selbst wenn wir im Falle eines Angriffs für die Bevölkerung im Iran wenig tun können, müssen wir uns mit allen Mitteln gegen diese Kriege wehren.

Für uns sind die tatsächlichen Bewegungen von unten im Iran wichtig. Die Arbeiterbewegung, die kämpfenden Frauen und die kämpfenden Völker im Iran werden jeden Tag niedergemetzelt, nicht nur seit 40, sondern seit über 100 Jahren. Es hat keinen Unterschied gemacht, wer an der Macht war, ob Schah oder Khomeini, für die Bevölkerung änderte es nichts, weil das System stets das gleiche kapitalistische System blieb. Also entweder unterstützen wir eine Kriegsseite gegen die andere, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse anzurühren. Oder wir stehen ein für eine soziale Revolution, dann hat der Krieg darin keinen Platz.

#Interview: Peter Schaber und Yoldas Paramaz

#Bildquelle: http://wpiran.org/english/four-sections-haft-tapeh-sugar-cane-workers-iran-strike-unpaid-wages-job-insecurity/

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Am 14. Juni 2019 fand in der Schweiz ein landesweiter Frauen*streik statt. Zwischen 200.000 und einer halben Million Menschen wurden auf die Straße mobilisiert. Insbesondere in Zürich, wo laut offiziellen Angaben 160.000 Menschen demonstrierten, fand die größte Demonstration in der jüngeren Schweizer Geschichte statt. Noch nie haben linke Kräfte etwas ähnlich Großes erlebt. Ein Monat nach dem Streik, sprach unsere Autorin mit einer Aktivistin vom Revolutionärem Aufbau Zürich (Aufbau). Unsere Interviewpartnerin ist seit 30 Jahren politisch aktiv und fast genauso lang im Aufbau organisiert. Der Aufbau hat den Frauen*streik von Beginn an, seit Oktober 2018, in Zürich mitorganisiert. Das Interview gibt einen ersten, eher deskriptiven Einblick in die Dynamik und den Ablauf dieser großen Kampagne. Eine vertiefte Analyse und strategische Einordnung der Erfahrungen ist in Arbeit.

Für den Hintergrund: Der internationale Frauenkampftag wird seit über 100 Jahren weltweit immer am 8. März begangen. Warum ist es in der Schweiz der 14. Juni?
In Zürich führen wir seit gut 30 Jahren am internationalen Frauenkampftag eine unbewilligte revolutionäre Frauendemonstration durch, dieses Jahr mit ca. 3000 Frauen. Wir hatten also zusätzlich den Frauen*streik. Der 14. Juni ist das historische Datum des Frauenstreiks 1991, als völlig überraschend eine halbe Million Frauen schweizweit auf der Straße waren. Ausgelöst hatten ihn Uhrenarbeiterinnen. Insofern ist das Datum im kollektiven Gedächtnis verankert

Ab wann wurde in der Schweiz für einen Frauenstreik am 14. Juni 2019 mobilisiert und wie fand dies statt?
Die Initiative wurde im Sommer 2018 in der französischen Schweiz von der Gewerkschaftslinken ergriffen. Die einberufenen Sitzungen – offene Plena – wuchsen sprunghaft, bald gab es in allen französischsprachigen Kantonen Streikkollektive. In der Deutschschweiz wurde das kopiert. In Zürich war das monatliche Vernetzungstreffen der zentrale Ort, wo Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen kamen. Die Plena waren sehr wichtig, sie hielten das Thema am Leben, als sich noch nicht alle dafür interessierten. Aus ihnen heraus wurde Öffentlichkeitsarbeit geleistet, Texte verfasst, wir haben dem Tag einen Rahmen gegeben, in welchem die Aktivist*innen ihre Aktionen durchziehen konnten.

Die große Beteiligung verdankt der 14. Juni aber natürlich der Tatsache, dass überall über den Frauenstreik diskutiert wurde; bei geschlossenen Sitzungen zwischen Arbeitskolleg*innen oder Schüler*innen und Studierenden wie auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Je näher der Tag selber kam, desto dezentraler wurde im eigenen Nahbereich organisiert. Der Streik-Vorschlag wurde gehört, nicht unbedingt befolgt, aber thematisiert, z.B. sahen sich fast alle Bosse genötigt, Stellungsnahmen verlauten zu lassen. Wir denken, dass diese Vorfeld-Phase die eigentliche Qualität des Frauen*streiks ausmacht.

In Zürich organisierten zunächst Einzelpersonen, Gruppen und Zusammenhänge mehrheitlich aus der außerparlamentarischen Linken die Vernetzungstreffen – bei den ersten Treffen kannten sich die meisten Anwesenden untereinander. Die Gewerkschaften haben schnell pragmatisch entschieden, diese Arbeit dem Bündnis zu überlassen und selber auf Betriebsebene zu arbeiten. Sie waren inhaltlich äußerst zurückhaltend und haben sich nur an der praktischen Arbeit beteiligt. Es gab auch eine überregionale Vernetzung, es wurde jedoch lokal gearbeitet und überregional nur informiert.

Du bist Mitglied einer revolutionären Organisation. Wie sah eure Arbeit im Bezug auf den 14. Juni in der Schweiz aus? Welche Schwerpunkte haben sich für euch ergeben? Auf was habt ihr euch am meisten konzentriert?
Positiv gesagt, hatten wir einen sehr mobilisierten Rahmen, in dem viel möglich war. Negativ gesagt, war es schwierig, alles zu leisten. Wir hätten den Anspruch, wo wir leben und arbeiten zu organisieren, ebenso im Rahmen der revolutionären Kräfte und auf Ebene des Vernetzungstreffens. Außerdem war die Kadenz 8. März, 1. Mai, 14. Juni unangenehm eng und natürlich kann eine kommunistische Organisation nicht jedes andere Thema einfach fallen lassen, weil ein Frauen*streik kommt. Insofern ist unvermeidlich, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen.

Wir haben die Arbeit generell auf zwei Ebenen entwickelt. Sozusagen auf der klassisch politischen Ebene im Bereich des Frauenkampfs zusammen mit anderen revolutionären Kräften und dann auch auf der betrieblichen Ebene im eher gewerkschaftlichen Bereich. Wir können in beiden Bereichen auf eine lange Kontinuität entsprechender Strukturen innerhalb der Organisation zurückgreifen. In den Wochen vor dem Frauen*streik und dann schließlich am Tag selber ist es uns gut gelungen, eine revolutionäre Präsenz zu haben, die nicht ignoriert werden konnte. Insbesondere durch die Blockade des Verkehrsknotenpunktes „Central“ zusammen mit den Student*innen. Bei der Demo selbst waren dann natürlich so viele, dass alles unterging.

Unsere Arbeit auf der betrieblichen Ebene fand nicht öffentlich statt,
sondern in der Unterstützung von Basisorganisationen und in der Organisierung am eigenen Arbeitsplatz. Wir haben dabei schon früh betont, dass die Kapazitäten auf die Bereiche konzentriert werden sollten, bei denen schon Selbstorganisierungsprozesse vorhanden sind.
Auch die konkrete Organisierungsarbeit vor Ort sollte schnell beginnen.

Am Streik nahmen vor allem KiTas, Horte, Kindergärten, Schulen
und die Gastrobranche teil. Zu Streiks als konfrontativer Arbeitsniederlegung ist es aber praktisch nicht gekommen. Die Bosse haben in vielen Fällen den Konflikt gescheut und Betriebe früher schließen lassen. Die Spitäler wurden im Raum Zürich von der Verband des Personals öffentlicher Dienste, der VPOD, praktisch alleine gelassen. Es konnten dort aber kleinere selbstorganisierte Aktionen von Angestellten durchgeführt werden. Unter anderem wurden zeitgleich an vier Spitälern riesige Transparente gehängt. Besonders zu erwähnen ist die gelungene Organisierung und aktive Solidarität von KiTa-Eltern, um Druck auf die KiTas aufzubauen.

Wie war die Zusammenarbeit mit Reformistinnen und Liberalen? Wie haben die Gewerkschaftsbürokratien reagiert?
Die Vernetzungstreffen waren für bürgerliche Frauen nicht einladend, sie waren in Zürich klar von linken Kräften dominiert, auch seitens der vielen unorganisierten Frauen, war der Konsens radikaler, als zu erwarten gewesen wäre. Mit Liberalen hat es entsprechend keine Zusammenarbeit gegeben. Mit Reformist*innen war sie überraschend problemlos. Die Gewerkschaften haben den Frauenstreik als Kampagne beschlossen und waren von Anfang an dabei, sie haben sich aber auf sich selber konzentriert. Medial ist das schwer erkennbar, das liegt aber an den Medien, die ihnen unhinterfragt die Hegemonie zusprechen.

Generell kann gesagt werden, dass es eine sehr harmonische, enthusiastische Kampagne war, in welcher alles begrüßt wurde, was lief, große wie kleine Aktivitäten, militante wie parlamentarische. Die Zusammenarbeit hat also sehr den Charakter einer Aktionseinheit bekommen, die politische Differenzen stark in den Hintergrund rückte und sich auf die Umsetzbarkeit des Streiks konzentrierte. Die Kehrseite davon ist natürlich, dass durch das Ausbleiben jeglicher Kritik die inhaltliche Auseinandersetzung einfach vermieden wurde. Den in der Kampagne und den organisierenden Kräften schon angelegte Bruch mit neoliberaler Vereinnahmung und die Verknüpfung von Frauenkampf und Klassenkampf hätten wir in gewissen Momenten noch stärker akzentuieren können. Wenn zum Beispiel der sozialdemokratische Bundesrat Alain Berset, der seit Jahren die Erhöhung des Frauenrentenalters vorantreibt, auf den Frauen*streik-Zug aufspringt, hätte die reformistische Politik stärker entlarvt werden können. Oder als die Grüne Polizeivorsteherin die 8. März-Demo angreifen ließ, hätte die Bewegung die Integration reformistischer Kräfte in den Repressionsapparat stärker für einen Bruch mit dem Reformismus nutzen können. Als die Gewerkschaft VPOD plötzlich schweizweit propagiert hat, streiken sei legal, wenn es legitim sei, hätten wir den Finger drauf drücken müssen und die jahrzehntelange sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftspolitik des tariflichen Arbeitsfriedens thematisieren können.

Es bleibt offen, wie viel mehr an politischer Positionierung diese Aktionseinheit also vertragen hätte. Es geht hierbei vor allem auch um eine Dynamik der Zusammenarbeit. In praktischen Fragen, war der Konsens durchaus militant und geeint. Der präventiv beschlossene Konsens war: Keine Distanzierung! Wenn wir das einfordern, müssen wir uns halt auch daran halten. Und inhaltliche Debatten hätten zu szenigen unfruchtbaren Schließungsmechanismen führen können. Es gibt leider auch eine linke, unproduktive Debattenkulturen, die es proletarischen Frauen unattraktiv macht mitzuarbeiten. Diese Dynamik wollten wir verhindern und die Stärke auf die Solidarität und Vielfalt in der Praxis legen. Aber natürlich hätte das auch anders kommen können, wenn Reformistinnen einen Hegemonialanspruch entwickelt hätten.

Erzähl uns vom 14. Juni selber: Wie sah der Frauen*streik 2019 in der Schweiz aus?
Ich kann nur für Zürich sprechen. Hier waren den ganzen Tag hindurch unzählige Aktivitäten angekündigt, diese sind nach wie vor online nachzulesen und bilden den Tag gut ab. Kleinere und größere Gruppierungen haben sich selbst organisiert und ihr Ding durchgezogen.
Wir revolutionären Kräfte haben mit den Student*innen zusammengearbeitet und am Mittag den Verkehrsknotenpunkt „Central“ unterhalb der Uni lahm gelegt. Ziel war es, den städtischen öffentlichen und kommerziellen Verkehr an einer neuralgischen Stelle zum erliegen zu bringen und den öffentlichen Raum militant zu besetzen. Das hat Freude gemacht, weil es gut organisiert war und funktioniert hat.

Offenere Mobilisierungen kamen jeweils von politischen Aktivist*innen und einem Teil der Gewerkschaften. Als Ausgangspunkt diente der Helvetiaplatz, auf dem auch die große Bühne stand. Und die Akzeptanz militanter Aktionen war groß.

Der zweite Teil des Tages war dann die Großdemo um 17 Uhr. Sie war bekanntlich unfassbar groß, die größte Demo, die Zürich in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Auch wenn du weißt, dass genau genommen sehr viele Menschen dabei sind, mit denen du wohl gar keine politische Gemeinsamkeit hast, war es natürlich überwältigend, einen solchen Mobilisierungserfolg zu erleben.

Kritik gab es unter anderem wegen der fehlenden Agitation unter migrantischen Frauen, und vor allem migrantischen Arbeiterinnen in der Schweiz (siehe Artikel von Çagdas Akkaya und Meral Çinar in der Analyse & Kritik 650). Wie seht ihr das Thema Rassismus in der Schweizer Frauenbewegung und welche Schlüsse zieht ihr für eure Arbeit?
Rassismus ist in der Schweiz ein großes Problem und ein Thema, mit welchem wir auf jeder Ebene konfrontiert sind. Doch ist die Kritik falsch formuliert und voluntaristisch. Der darin enthaltene Anspruch unterstellt, wir könnten Flugblätter verteilen und so „die Migrant*innen“ ansprechen. Sie entspricht auch nicht dem, was diese Bewegung war. Agitation gab es durchaus und der Anlass war inkludierend so weit es uns möglich war, z.B. wurde enorm viel Übersetzungsarbeit geleistet. Aber für Streik braucht es viel mehr als nur Agitation. Es haben sich vor allem soziokulturelle Schichten des Proletariats mobilisiert, klassenanalytisch also genau jene, die eine Arbeitslogik der Sorge-Arbeit verkörpern, was ja zur inhaltlichen Ausrichtung des Streiks passt. Das Ausbleiben des ebenfalls stark feminisierten und zusätzlich stark migrantischen Verkaufssektors war auffällig. Aber jede Person mit organisatorischer oder etwas gewerkschaftlicher Erfahrung weiß doch, dass gerade dieser Sektor generell schwer zu organisieren ist. Wir machen es uns wirklich zu einfach, wenn wir denken, Verkäuferinnen streiken nicht, weil Linke sie nicht antirassistisch anrufen.

Die Stärke des Streiks bestand gerade darin, dass sich Frauen selber organisierten. Die Kritik hält deshalb auch jenen Kampf von Migrant*innen klein, den es eben auch gegeben hat. Der wohl konfrontativste Streik des Tages fand in einer Reinigungsfirma statt, nur proletarische Migrant*innen mit einem Gewerkschaftssekretär. Das war ja das Überraschende am Streik, dass er sich verselbstständigt hat. Viele haben die Gelegenheit genutzt und gekämpft, das gilt es hoch zu halten und zu würdigen. Die Kritik läuft generell Gefahr, proletarische Menschen zu Objekten zu degradieren, die hilflos auf unsere rettenden Flugblätter warten. Wir versuchen uns an Orten zu bewegen, wo wir uns auskennen, in denen wir glaubwürdig auftreten können, ohne anmassend zu sein.

Wir sind nicht so viele, dass wir von einer Verankerung im Proletariat sprechen könnten. Im Verkauf oder in der Reinigung müssten wir von außen intervenieren, was wir nur mit Vorsicht machen. So haben wir z.B. am 14. unter dem Motto „Pause für die arbeitenden Verkäuferinnen“ einen Supermarkt zehn Minuten lang lahm gelegt und Gutscheine für ein Getränk an der Solibar des Frauen*streik Kollektivs auf dem zentralen Helvetiaplatz verteilt. Den Verkäuferinnen war es äußerst unangenehm, so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, aber sie haben sich außer Sichtweite des Chefs über die Geste gefreut. Ich habe früher viele Jahre in dieser Supermarkt-Kette gearbeitet, sonst hätte ich das nicht gemacht, solche Aktionen erfordern Feingefühl und Kenntnisse, ansonsten sind sie wohlmeinend, im schlechtesten Fall aber kontraproduktiv.

Wird es 2020 wieder einen Frauenstreik geben?
Es gibt Stimmen, die das wünschen, die Vernetzungstreffen gehen auch weiter, aber es ist zu früh, ernsthaft darüber zu sprechen. Wir nehmen nicht an, dass die gleiche Mobilisierung einfach so nochmals erfolgreich sein kann. Es müsste von sehr vielen Basisarbeit geleistet werden. Wie gesagt, wir waren mit einer schwungvollen Selbstorganisierung konfrontiert. Diese nun zu organisieren, wäre anspruchsvolle Kleinarbeit, die Strukturen, die das leisten könnten, gibt es noch nicht.

# Interview: Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: Blockade und Besetzung des Verkehrsknotenpunktes „Central“ , Revolutionärer Aufbau Zürich

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In der Klimabewegung wird ein altbewährtes Rezept wiederentdeckt: Der Generalstreik. Der erste Anlauf dafür ist für den 27. September geplant. Aber wie genau können wir es schaffen vom Klima- zum Generalstreik zu kommen? Wie sehen erste Schritte aus, um eine breite Ökologiebewegung aufzubauen, die dazu in der Lage ist, die Systemfrage zu stellen.

Ein Freitagnachmittag in Wien: Rund 100 Klimaaktivist*innen blockieren eine der zentralen Brücken über den Donaukanal. Der Plan: Mit zivilem Ungehorsam für die Verkehrswende mobil machen. Die Hauptforderungen: Autos raus aus der Stadt und kostenloser öffentlicher Nahverkehr für alle. Nach zwei Stunden eskaliert die Polizei die Lage. Menschen kommen mit Platzwunden ins Krankenhaus, der Rest wird abtransportiert und verbringt die Nacht in Sammel- und Einzelzellen auf dem Polizeirevier. Aktionen wie die in Wien machen trotz der Repression gerade Schule. Bewegungen wie Ende Gelände setzen auf massenhaften zivilen Ungehorsam, sie wollen „System Change not Climate Change“, wie es in der Klimagerechtigkeitsbewegung heißt. Und die Entschlossenheit dafür ist in weiten Teilen dieser Bewegungen da. Wer durch Polizeiketten rennt, um die Nacht in einer Kohlegrube zu verbringen und danach von der Polizei mitgenommen zu werden, der*die meint es ernst.

Aber wie ist diese Bewegung entstanden und wie kommuniziert sie? Über die letzten Jahre haben sich die verschiedenen Organisationen, Netzwerke und Gruppen, die außerhalb der Parlamente gegen Naturzerstörung und Klimawandel mobil machen, auf Klimacamps zusammengesetzt, um gemeinsame Ideen und eine gemeinsame Praxis zu diskutieren. Daraus sind große Kampagnen und gemeinsame Lieder und Parolen entstanden. Und zumindest ansatzweise ein gemeinsames Verständnis davon, was das für ein System ist, das den Ort, an dem wir alle leben auffrisst und nichts als Wüste und verseuchte Böden zurücklässt.

Von Fridays For Future zum Klimastreik

Mit den von Fridays For Future geschaffenen globalen Klimastreiks gibt es nun auch zeitliche Kristallisationspunkte, an denen die verschiedenen Organisationen und Bewegungen ihre Energie bündeln. Für die nächsten Monate sind wieder globale Streiks geplant, ganz groß wird es am 27. September. Für diesen Tag rufen verschiedenen Bewegungen wie Fridays For Future und Extinction Rebellion zum Earth Strike auf. Und die Rede ist dabei längst nicht mehr nur von Schüler*innen und Studierenden. Greta Thunberg, die schon die Fridays For Future losgetreten hat, hat zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Stichpunkt in die Debatte geworfen: Generalstreik. Ein altbewährtest Rezept für eine neue Bewegung.

Längst haben in der Klimagerechetigkeitsbewegung die Diskussionen darüber begonnen, wie es zu schaffen ist, mehr Arbeiter*innen und Angestellten für den Streik zu gewinnen. Denn schon jetzt ist klar: Erst wenn die lohnabhängige Klasse streikt, kann die Macht des Kapitals gebrochen werden. Erst dann können wir das System zum Stillstand bringen und ein System schaffen, in dem unsere Bedürfnisse und unsere ökologische Lebensgrundlage im Vordergrund stehen und nicht kapitalistisches Wachstum und die Profite von einigen wenigen. Erst dann werden wir wirkliche Antworten auf die Klimakrise finden.

Aber was tun? Wir wird ein Klimastreik zum Generalstreik? Oder anders gefragt: Wie bringen wir soziale und ökologische Kämpfe zusammen? Zuerst einmal müssen einige Vorurteile ausgeräumt werden. Zum Beispiel, dass den Leuten, die sich in die Kohlegrube setzen, um RWE aufzuhalten, die Kumpel, die bei RWE arbeiten egal sind. Denn das sind sie nicht. Am liebsten wäre es uns, wenn sie mit uns die Bagger lahmlegen würden, um ihren Konzern dazu zu zwingen, auf Erneuerbare umzurüsten – oder sie ihre Bosse im besten Fall einfach gleich enteignen und den Laden in die eigene Hand nehmen.

Klimapolitik als Klassenkampf von oben

Gerade konservative und rechte Kräfte versuchen gerne, ökologische Kräfte und Arbeiter*innenmilieus gegeneinander auszuspielen und den Leuten mit Warnungen vor den Kosten der ökologischen Wende Angst zu machen. Sie konstruieren die Lösung der ökologischen Krise und die soziale Frage als Gegensätze. Und leider funktioniert diese Erzählung immer wieder: Als im November die Gelbwesten in Frankreich begannen, den Herrschenden an den Kragen zu gehen, da wurden sie am Anfang als eine Art anti-ökologischer Protest der Abgehängten dargestellt. Was natürlich Unsinn ist, und von Anfang an nur der Diskreditierung der Gelbwesten dienen sollte. Wer gegen eine Benzinsteuer Kreisverkehre besetzt, der*die ist erst einmal gegen die Steuer und nicht gegen Ökologie. Auf Versammlungen der Gelbwesten wurde dann schnell klargemacht, dass man dafür sei, den Planeten zu bewahren, aber dass man die Kosten dafür nicht tagen wolle.

Die Gelbwesten haben recht! Die Regierungen versuchen schon jetzt, die Kosten für die Klimakrise auf uns abzuwälzen. Sie versuchen, die Milliarden für den ökologischen Umbau von oben, durch Einsparungen im sozialen Bereich, mit noch mehr Arbeitshetze und Steuern zu finanzieren. Wir aber sagen: Die Reichen müssen die Klimakrise zahlen! Diese Feststellung könnte zu einem der Eckpfeiler einer globalen klassenkämpferischen Ökologiebewegung werden.

Auch die Klimagerechtigkeitsbewegung funktioniert nur intersektional, oder sie wird scheitern. Und in vielen Bereichen ist diese Erkenntnis längst Praxis geworden: Feministische Positionen beispielsweise sind in großen Teilen der neuen Ökologiebewegung bereits Konsens. Es gibt wenige fortschrittliche Bewegungen in denen junge Frauen so kraftvoll und unübersehbar laut werden, wie das in der neuen Klima- und Ökologiebewegung der Fall ist. Jetzt müssen wir nachziehen und klar machen, dass eine ökologische Gesellschaft nicht nur antipatriarchal sein muss, sondern auch keine Klassengesellschaft sein kann.

Dieser Zusammenhang muss nicht einmal theoretisch hergeleitet werden, er ist allgegenwärtig, erlebbar und greifbar. Die Upperclass kann es sich aussuchen, ob sie regionales Biogemüse oder Billigtomaten aus Spanien aufs Kassenband legt. Für viele andere Teile der Gesellschaft gilt das nicht. Wer einmal ein gesundes und ökologisch nachhaltiges Leben führend dürfen wird, das entscheidet sich nicht selten schon bei der Geburt. Die Leute, die den meisten Smog einatmen, leben in den billigeren Wohnblocks entlang der Hauptstraße. Sie sind es, die die LKW vorbeibrettern hören. Und es sind die Leute in strukturschwachen Gebieten, denen Endlager für Atommüll vor die Nase gesetzt werden. In den Villenvierteln jedenfalls wird man von All dem nicht viel mitbekommen.

Dieses Verhältnis zeigt sich in globalem Maßstab noch krasser: Es ist vor Allem der globale Süden, der am wenigsten für die Klimakrise kann, aber am meisten unter den Folgen zu leiden hat. Es sind Arbeitssklaven in Kolumbien und Russland, die in Deutschland den Ausstieg aus der Steinkohleförderung möglich gemacht haben. Steinkohle wird zwar nach wie vor in deutschen Kraftwerken verbrannt, aber nicht mehr in der Bundesrepublik gefördert, weil die Arbeiter hier zu viel kosten. Dass in in Kolumbien tausende Menschen im Auftrag der Kohleindustrie von rechten Paramilitärs ermordet wurden und werden, weil sie sich nicht vertreiben lassen wollen, die schlimmen Arbeitsbedingungen im Tagebau oder die Zerstörung ihrer ökologischen Lebensgrundlagen nicht mehr hinnehmen wollten, scheint hierzulande nur wenige Menschen zu interessieren.

Die Klimabewegung muss noch intersektionaler werden

Die Klimagerechtigkeitsbewegung greift bei der Verbindung von sozialen und ökologischen Kämpfen eine Tradition auf, die in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA in den 80ern begann. Schwarze Menschen waren und sind in den USA, zum einen wegen strukturellem Rassismus, zum anderem wegen der sich auch daraus ergebenden ökonomischen Benachteiligung viel öfter von ökologischer Zerstörung betroffen als weiße Menschen. In den 80er Jahren kam in der antirassistischen Bewegung der Begriff der „Environmental Justice“ auf, der die Verquickung vom Kampf der schwarzen Bevölkerungsschichten und der Arbeiter*innenklasse um Emanzipation mit ökologischen Widerständen herstellte. Daran gilt es heute anzuknüpfen.

Ansatzpunkte dafür gibt es bereits. Die Antikapitalistische Plattform innerhalb der Fridays For Future Bewegung versucht seit einigen Monaten, klassenkämpferische Positionen in die Schulstreiks hineinzutragen. Und auch in der Anti-Kohle-Bewegung, wie bei Ende Gelände oder Gegenstrom Hamburg wird immer wieder herausgearbeitet, was Klimakrise und kapitalistische Ausbeutung miteinander zu tun haben. In Ansätzen werden dabei immer wieder auch Verbindungen zwischen Klimakrise und Migrationsbewegungen gezeichnet. Es sind Analysen und Positionen, die lauter werden, aber längst noch nicht genug Menschen erreichen. Warum? Weil wir sie nicht verständlich genug erklären, und nicht an der Lebensrealität großer Teile der Bevölkerung ansetzen.

Einerseits gilt es jetzt, die Klimabewegung inhaltlich breiter aufzustellen und sie mit anderen Bewegungen zu verbinden. Andererseits müssen wir darauf achten, dass wir nicht als eine elitäre Bewegung von Müsliesser*innen wahrgenommen werden und uns immer wieder neu überlegen, wie wir unsere Ideen und unseren Widerstand in der Gesellschaf erklären und verankern. Wenn wir vom Klima- zum Generalstreik kommen wollen, dann brauchen wir populäre Forderungen. Forderungen, die klar machen, dass eine solidarische und ökologische Gesellschaft nur von uns hier unten gegen die Vormacht der Konzerne und ihrer Regierungen aufgebaut werden kann.#Anselm Schindler

#Titelbild: Anselm Schindler, Demo „Ende Geländewagen“ am 31. Mai in Wien

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