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Weitgehend ignoriert von den Mainstream Medien aber auch einer linken Öffentlichkeit finden seit mehr als 10 Tagen erneute Großdemonstrationen in mehreren Städten im Südwesten Irans statt. Aktueller Auslöser der Massenproteste ist eine akute (Trink-)Wasserknappheit infolge der katastrophalen Staudammpolitik der iranischen Regierung sowie andauernde Stromausfälle in der Region. Die Antwort der Regierung auf die Proteste der Bevölkerung ist wie immer äußerst brutal. Inzwischen wurde in der gesamten Region massiv Militär aufgefahren, mehr als neun Demonstranten wurden von den Sicherheitskräften getötet und viele verhaftet.

Die Proteste finden vor allem nahe der irakischen Grenze statt, in der Provinz Khuzestan, deren Süden überwiegend von der arabischen Minderheit im Iran bewohnt wird. Die iranische Regierung führt seit Jahrzehnten eine gezielte Vertreibungs- und Verarmungspolitik gegen die arabische Minderheit durch, die sich nicht in die nationalistische Staatslogik einbinden lässt und für ihr Recht auf kulturelle Selbstbestimmung kämpft. Denn anders als das nationalistische Staatsnarrativ glauben lassen möchte, gehört ein Großteil der Bevölkerung des Iran unterschiedlichen ethnischen Minderheiten an, wie z.B. Aserbaidschaner*innen, Kurd*innen, Lor*innen, Araber*innen, Balutsch*innen, Turkmen*innen, Afghan*innen etc. Bereits während der iranischen Revolution hatten linke Bewegungen in der Region einen großen Einfluss und auch während der letzten Massenproteste 2018 und 2019 fanden in vielen Städten in Khuzestan große Demonstrationen statt.

Für das Regime geht es um den ungehinderten Zugriff auf und die Kontrolle über die Öl- und Gasindustrie in der Provinz, denn ca. 90% der iranischen Öl- und Gasproduktion stammen aus Khuzestan und 8 % der weltweiten Ölreserven liegen dort. In den letzten 40 Jahren hat das iranische Regime mit einem erzwungenen Bevölkerungsaustausch versucht, die Provinz zu „iranisieren“. Dabei wurden mehr als 200.000 Hektar Land von arabischen Kleinbäuer*innen beschlagnahmt und auf persische Siedler*innen übertragen. Auch Arbeitsplätze in der Öl- und Gasindustrie, der Verwaltung oder dem Dienstleistungssektor sind der persischen Bevölkerung vorbehalten. Viele grundlegende Rechte werden de arabischen Bevölkerung verwehrt, die Provinz befindet sich seit Jahren in einem militärischen Ausnahmezustand.

Neben der Öl- und Gasindustrie gibt es kaum andere Industrien in der Provinz, die vom Irak-Iran-Krieg am meisten betroffen war und in großen Teilen zerstört wurde. Bis heute sind die Folgen des Krieges deutlich zu sehen, ein Wiederaufbau ist nicht in Sicht. Der Großteil der arabischen Bevölkerung lebt vor allem von Subsistenzlandwirtschaft und Tierzucht. Die ökologischen Bedingungen in der Region sind für sie ein wichtiger Faktor, um zu Überleben.

Ähnlich wie die türkische Regierung hat auch der Iran in den letzten Jahrzehnten riesige Staudamm- und Flussumleitungsprojekte geplant und umgesetzt. Laut der Zeitung Resalat wurden an den Flüssen Khuzestans und deren Zuflüssen insgesamt 170 Dämme errichtet. Laut den Informationen der Regierung sind noch mehr als 150 Staudammbau- und Wasserumleitungsprojekte in Planung, viele davon an den Flüssen, die durch Khuzestan fileßen. Ziel ist es, Wasser für die Industrien und das Agrobusiness in anderen Provinzen zur Verfügung zu stellen und der militärisch-ökonomischen Elite des Landes ein lukratives Geschäft einzubringen. Inzwischen zählt der Iran nach China zum zweitgrößten Staudammbauer der Welt. Neben Staudämmen wurden auch zahlreiche Flüsse aus der Region umgeleitet, um Wasser in andere iranische Provinzen zu transportieren. Durch die Flussumleitungen und Staudämme wurden nicht nur tausende von Dörfern überflutet und die Bewohner*innen vertrieben, sondern auch das natürliche Ökosystem der Region nachhaltig zerstört. Viele der Flüsse und Seen in der Region sind inzwischen ausgetrocknet, viele der Kleinbäuer*innen können ihre Felder nicht mehr ausreichend bewässern, ganze Tierherden sind verdurstet. Die Staudamm- und Wasserpolitik führt zu einer künstlich erzeugten Dürre und verschärft die Auswirkungen des Klimawandels auf die Region massiv.

Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen systematischen Diskriminierung, der staatlich produzierten Armut sowie Vertreibungs- und Wasserpolitik lieferte eine akute (Trink-) Wasserknappheit sowie in deren Folge zahlreiche Stromausfälle den aktuellen Anlass für den Ausbruch der Massenproteste. Seit etwa 10 Tagen gehen in fast allen Städten, Dörfern und Gemeinden der Provinz jeden Abend Tausende von Menschen auf die Straßen. Sie fordern nicht nur konkrete Veränderungen ihrer Lebenssituation, sondern vielfach auch ein Ende der Diktatur. Besonders ist diesmal, dass sich sowohl die Arbeiter*innen der Öl- und Gasindustrie solidarisieren, die sich selbst seit mehr als fünf Wochen im Streik befinden, als auch die Bevölkerung in anderen Regionen des Landes, darunter auch Städte, die vorwiegend von der Minderheit der Loren bewohnt werden. In der Vergangenheit war das Verhältnis zwischen arabischer Minderheit und Loren geprägt von Konflikten und Auseinandersetzungen. Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen seitens der lorischen Bevölkerung stellen deshalb eine neue Qualität der Proteste dar. Ebenso wie Solidaritätsdemonstrationen in anderen Großstädten wie z.B. in Tabriz, der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan oder in Teheran. Die Erfahrungen der Niederschlagung der Massenproteste in den letzten Jahren, sowie die zunehmend geteilte Erfahrung von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen infolge der neoliberalen Politik und Naturzerstörung haben dazu geführt, dass innerhalb der Bevölkerung ein neues Bewusstsein entstanden ist, dass trotz aller Unterschiede nur ein gemeinsamer Kampf gegen das Regime Erfolg haben kann. Für die Fortsetzung der aktuellen Aufstände spielt auch die weitere Entwicklung der Kämpfe der Arbeiter*innen eine wichtige Rolle. Sollten sich solidarische Streiks ausweiten und irgendwann in einen Generalstreik münden, wäre dies ein wichtiger Schritt, um die jahrelange Sackgasse der Repression zu überwinden, in die die Massenproteste bisher gemündet sind.

Die Antwort des Regimes auf die Proteste folgt immer dem üblichen Muster: Leugnung, Kriminalisierung und massive Repression. Als die ersten Videos über die Demonstrationen in Khuzestan auftauchten, behauptete die Regierung noch, diese seien gefälscht. Als die Proteste unübersehbar wurden, räumte sie Probleme bei der Wasser- und Stromversorgung ein, beschuldigte die Demonstrant*innen jedoch, von ausländischen Mächten gelenkt zu sein und dem Iran schaden zu wollen bzw. Separationsbestrebungen zu verfolgen. Gleichzeitig wurde die Militärpräsenz massiv ausgeweitet und die Protestierenden mit aller Brutalität angegriffen. Dabei wird auch – wie bereits in den Massenprotesten von 2018 und 2019 – mit scharfer Munition auf die Protestierenden geschossen, viele Demonstrant*innen wurden teils schwer verletzt, mehrere getötet. Um die Verbreitung von Aufnahmen der Proteste im Internet zu verhindern und die Kommunikationskanäle zu unterbrechen, wurde zudem das Internet und Mobilfunknetz tagelang ausgeschaltet. Auch wurden viele Demonstrant*innen festgenommen, u.a. auch aus Krankenhäusern heraus, die verletzte Demonstrant*innen wegen notwendiger Behandlungen aufgesucht hatten. Im Internet kursieren deshalb zunehmend Anleitungen, wie Schussverletzungen oder andere Wunden eigenhändig zu operieren sind, um eine ärztliche Behandlung in Krankenhäusern vermeiden zu können. Bei der Repression gegen die eigene Bevölkerung benutzt das Regime neben Waffen auch modernste Überwachungstechnologien, die es unter anderem auch von deutschen Unternehmen erhält. Nach der Grünen Bewegung von 2009 wurde etwa bekannt, dass Siemens

Überwachungstechnologie an den Iran geliefert hat. Neuerdings wird die Teilnahme an Demonstrantionen mithilfe einer neuen Technologie ausgewertet, die auf der Analyse von Chips basiert, die sich z.B. auf EC-Karten befinden.

Die aktuellen Proteste in Khuzestan und in manchen Nachbarprovinzen reihen sich ein in eine Serie von Massenprotesten und Streikwellen, die in immer kürzeren Abständen im Iran ausbrechen. Anders als es das Regime (und ein Teil der anti-imperialistischen Linken) darstellen, sind sie weniger die Folge ausländischer Provokationen, sondern vielmehr die Konsequenz der jahrzehntelangen ultra-neoliberalen Politik des Regimes, die zu einer Verarmung breiter Teile der Bevölkerung im Iran geführt hat. Arbeitslosigkeit und extrem prekäre Arbeitsverhältnisse sind an der Tagesordnung, aktive Arbeitsaktivist*innen werden ebenso brutal verfolgt, verhaftet und hingerichtet, wie Teilnehmer*innen der Massenproteste. Da die einzige Antwort des Regimes die brutale Niederschlagung und Unterdrückung jeglicher widerständiger Tendenzen ist, werden sich die vielfältigen Krisen im Iran auch in Zukunft weiter zuspitzen und weitere Massenproteste zur Folge haben. Umso wichtiger ist es, dass linke Bewegungen hierzulande, eine klare Position zu den Protesten im Iran entwickeln und sich mit ihnen solidarisieren. Dazu gehört zu allererst, das Schweigen zu brechen und den Protestierenden und ihren Kämpfen hierzulande eine Stimme und Öffentlichkeit zu geben. Gleichzeitig ist es wichtig, die Rolle der bundesdeutschen Politik sowie deutscher Unternehmen bei der Unterstützung des iranischen Regimes und seines Repressionsapparates sichtbar zu machen und anzugreifen.

In den Mainstream Medien findet sich vor allem Kritik an den autoritären und patriarchalen Aspekten der Diktatur im Iran. Die katastrophalen Auswirkungen der neoliberalen Politik, sowie die zahlreichen Streiks und Massenproteste dagegen werden weitaus weniger thematisiert. Das ist was die herrschende Politik angeht nicht weiter verwunderlich. Kritisch ist jedoch, dass selbst in Teilen der linken Bewegung eine Solidarisierung mit den Protestierenden ausbleibt – sowohl teilweise seitens der iranischen Linken als auch der nicht-iranischen Linken weltweit. Grund dafür ist ein Imperialismusverständnis, dass ausschließlich auf der Ebene der Staaten ansetzt und diese schematisch in imperialistische und anti-imperialistische Kräfte unterteilt. Der Iran wird darin zu einer anti-imperialistischen Macht gegen den US-Imperialismus stilisiert und jegliche Proteste innerhalb des Irans auf Systemchange Bestrebungen der USA reduziert. Diese Logik führt letztlich dazu, dass selbst Teile der iranischen Linken in der aktuellen Situation das iranische Regime unterstützen und ihrer Interpretation folgen, die Niederschlagung der Massenproteste sei eine notwendige Verteidigung gegen den US-Imperialismus. Dass der Iran selbst eine imperialistische Politik im Mittleren und Nahen Osten verfolgt und mit aller Brutalität die herrschenden kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen gegen die eigene Gesellschaft durch- und umsetzt, bleibt in dieser Lesart nachranging, ebenso wie der notwendige Widerstand der Bevölkerung gegen die unerträglichen alltäglichen Zustände.

Wir halten eine Unterstützung des iranischen Regimes und eine Entsolidarisierung mit den Protesten der Bevölkerung für fatal und das zugrundeliegende Imperialismus-Verständnis für zu verkürzt. Letzteres trennt antiimperialistische Kämpfe von antikapitalistischen und landet dadurch notgedrungen in der Geopolitk und somit in der nationalen Falle. Auch wenn es Bestrebungen der USA und anderer Mächte gibt, den Iran von innen heraus zu destabilisieren, so können die Massenproteste der letzten Jahre nicht darauf reduziert und ihr emanzipatorisches Potential nicht verleugnet werden. Aus unserer Perspektive kann weder das blutige iranische Regime, noch die blutige US-Interventionspolitik eine Alternative bilden, sondern nur das Potential, dass aus einer Bewegung von unten erwachsen kann. Denn die Entstehung von revolutionärer Subjektivität ist ein Kampfprozess von unten. Insofern sollte der revolutionäre Charakter eines Aufstandes vorwiegend anhand seines Potentials beurteilt werden, Menschen verändern und beeinflussen zu können und nicht anhand der unmittelbaren Auswirkungen auf die Strukturen der etablierten Ordnung. Umso wichtiger ist es, dass gerade iranische Linke die Massenproteste und Aufstände aktiv unterstützen und in den Diskurs intervenieren, um die emanzipatorischen Stimmen und Kräfte zu stärken. Die Massenproteste im Irak von 2019 bis heute haben gezeigt, dass auf vielen der Demonstrationen gegen das irakische Regime der Slogan „Weder der Iran, noch die USA“ gerufen wurde. Diese Tendenzen finden sich auch in den Aufständen im Iran, denn die Erfahrungen mit den US-Interventionen im Irak und in Afghanistan sind auch der Bevölkerung im Iran im Bewusstsein und stärken Positionen die eine emanzipatorische Alternative fordern.

Der Nahe Osten befindet sich in einer multiplen Krise infolge der zunehmenden Militarisierung, den Auswirkungen des Klimawandels und der imperialistischen, neoliberalen und naturzerstörerischen Politik der regionalen und globalen Mächte. Der Iran gilt als wichtiger Akteur in der Region. Wachsende Proteste und Streiks im Iran sind deshalb auch ein wichtiges Moment, um andere Menschen im Nahen Osten zu inspirieren und zu ermutigen, für ihre Interessen einzutreten und solidarisch für eine andere Gesellschaft zu kämpfen.

Unsere Solidarität ist deshalb bei den Demonstrant*innen und streikenden Arbeiter*innen im Iran!
Lasst uns den Kampf internationalisieren!
Lasst uns die Hoffnung internationalisieren!

# Text: kollektiv aus Bremen
# Titelbild: Federation of Anarchism Era, Poster in der Provinz Fars „Khuzestan ist nicht allein“

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150 Jahre §218“ – oder auch 150 Jahre Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Der „Abtreibungsparagraph“ 218, der dieses Jahr sein unrühmliches Jubiläum feiert, hat zwei Weltkriege und den deutschen Faschismus unbeschadet überstanden. Die Ursprünge dieses Gesetzes sind aber noch älter und sind Teil einer Politik gegen die körperliche Selbstbestimmung im Dienste der Logik des Kapitalismus.

„Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, so lautet der erste Satz des §218 StGB. Diese Kriminalisierung von Abtreibungen wird zwar durch den seit 1974 bestehenden mehrfach reformierten §218a aufgeweicht, Probleme haben ungewollt Schwangere trotzdem. Straffrei bleiben Schwangerschaftsabbrüche, wenn die schwangere Person in Folge sexualisierter Gewalt schwanger geworden ist, wenn die Gesundheit der schwangeren Person bedroht ist, oder unter der Bedingung, dass die schwangere Person den Abbruch innerhalb der ersten 12 Wochen nach einer sogenannten „Schwangerschaftskonfliktberatung“ sowie einer dreitägiger „Bedenkzeit“ durchführen lässt.

Die Beratung bei letzterer Ausnahme dient laut Strafgesetzbuch „dem Schutz des ungeborenen Lebens“ sowie dazu, „die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen“. Bei geringem oder keinem Einkommen muss außerdem ein Antrag für die Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt werden, wo die eigene finanzielle Situation offengelegt werden muss. Ein weiterer Schritt, der sich in Deutschland zunehmend schwierig gestaltet, ist die Suche nach Gynäkolog*innen, die Schwangerschaftsabbrüche überhaupt durchführen. In den letzten Jahren wurden Ärzt*innen, die auf ihrer Webseite darüber informierten, dass bzw. mit welchen Methoden sie Abtreibungen vornehmen, immer wieder kriminalisiert und von Fundamentalist*innen und Rechten bedroht. Folgerichtig sinkt die Anzahl der Praxen, die überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführen drastisch. Laut der Initiative Mehr als du denkst – Weniger als du denkst hat sich die Anzahl in Deutschland in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert. In Köln zum Beispiel, einer Stadt mit mehr als einer Millionen Einwohner*innen, gibt es offiziell nur noch vier Einrichtungen, in Münster und Tübingen jeweils nur eine, in Regensburg sogar gar keine.

Selbst wenn eine Praxis gefunden ist und der in manchen Fällen entwürdigende Beratungsprozess überstanden ist, sehen sich ungewollt Schwangere oft unzähligen teils aggressiven Anschuldigungen und Verurteilungen aus der Gesellschaft ausgesetzt. Wenn man Glück hat vielleicht nicht im eigenen Umfeld, spätestens aber im Internet. Auf hilfreiche Plattformen wie z.B. die queer-feministischen Verzeichnisse gynformation oder queermed verweisen Suchmaschinen leider auf den hinteren Plätzen. Stattdessen landen ungewollt Schwangere nicht selten auf Webseiten und Foren, in denen versucht wird, sie mit Bildern und Anschuldigungen dazu zu drängen von einem Abbruch abzusehen und ins Gewissen zu reden.

Die Probleme der rechtlichen und gesellschaftlichen (Nicht-)Akzeptanz von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland sind vielfältig und zumindest in liberalen Kreisen bekannt. Was aber in vielen der aktuellen Diskussionen untergeht oder teilweise gar nicht vorkommt ist eine antikapitalistische Perspektive, bzw. eine Analyse dessen, was Klasse mit Abtreibungen und mit sexueller, reproduktiver und körperlicher Selbstbestimmung zu tun hat. Dazu lohnt sich ein Blick in die Geschichte.

Viele der Ursprünge patriarchaler Kontrolle über Sexualität und Reproduktion und Antworten auf die Frage, wie das mit Kapitalismus zusammenhängt, liegen in den religiösen und politischen Entwicklungen im Europa der frühen Neuzeit. Im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert und später dem Beginn des Kapitalismus verfestigten sich auch bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen, Sexualität und Ehe. Die Ehe wurde insbesondere von den protestantischen Kirchen zunehmend als universales Ideal für ein frommes Leben für alle beworben, und eine dementsprechende Sexualmoral und Familienpolitik entstand. Klöster, für Frauen die nahezu einzige gesellschaftlich akzeptierte Option neben dem Heiraten, wurden in protestantischen Gebieten teilweise gewaltsam aufgelöst. Schließlich sei die Bestimmung von Frauen nicht das enthaltsame Leben als Nonne, sondern Kinder zu gebären. Auch wenn sie sich „müde und zuletzt todt tragen“, schrieb damals Martin Luther höchstpersönlich, „das schadet nichts, laß’ sie nur todt tragen, darumb sind sie da“.

Sämtliche nicht-eheliche, nicht-monogame und nicht-heterosexuelle Formen von Sexualität wurden im Zuge dessen geächtet und verfolgt. Davon waren am meisten arme Frauen betroffen. Unter den Vagabund*innen und Bettler*innen, die zuvor aufgrund gewaltsamer Landenteignung vertrieben wurden und verarmten, waren viele Frauen, die als Tänzerinnen oder Prostituierte arbeiteten und als solche kriminalisiert wurden. August Bebel schrieb über die Zeit der Reformation: Den öffentlichen Frauenhäusern wurde der Krieg erklärt, sie wurden als ‚Höhlen des Satans‘ geschlossen, die Prostituierten als ‚Töchter des Teufels‘ verfolgt, und jede Frau, die einen ‚Fehltritt‘ beging, nach wie vor als Aushund aller Schlechtigkeit an den Pranger gestellt.“

Daneben stieg auch die Kontrolle und Verfolgung von Hebammen und Schwangeren, die abtrieben bzw. Abtreibungen durchführten, rasant an. Neben Hexerei wurde der angebliche „Kindsmord“ zu dem Verbrechen, für das Frauen im 16. und 17. Jahrhundert am häufigsten verfolgt und verurteilt wurden. Diese verstärkte Kriminalisierungspolitik traf nicht nur die ärmsten Schichten und Frauen am Stärksten, sondern war wie gemacht für den entstehenden Kapitalismus, der nach Arbeitskräften dürstete. Der französische Staatstheoretiker und Merkantilist Jean Bodin zum Beispiel verteufelte Frauen in seinen Werken nicht nur aufs Übelste, sondern betonte auch immer wieder die Notwendigkeit der Reproduktion von Arbeitskräften, weshalb er vorschlug, Frauen sollten mindestens fünf Kinder gebären und dass der Staat die Pflicht habe, jene „teuflischen Kräfte“ zu vernichten, die angeblich Empfängnis und Geburt sabotierten. Damit meinte er in erster Linie Hexen: ab Mitte des 16. Jahrhunderts begann auch die Hochphase der Hexenverfolgung, welcher insbesondere ärmere Frauen zum Opfer fielen.

Der Beginn des Kapitalismus wurde begleitet von dieser patriarchalen Politik, die die Körper von Frauen kontrollieren und disziplinieren wollte, die in der Literatur und nach dem herrschenden Frauenbild dieser Zeit überwiegend als gefährliche und unberechenbare Wesen dargestellt wurden, die man zähmen müsse.

Versuche seitens des Staates, Körper und Sexualität zu kontrollieren, hat es seither immer gegeben. Die beschriebenen Entwicklungen in der frühen Neuzeit sind keine isolierten historischen Ereignisse, sondern haben maßgeblich die darauffolgenden Jahrhunderte geprägt. Auch im kolonialen Raum konnten europäische Kolonialisten diese tief misogyne und patriarchale Ordnung „exportieren“ und etablieren.

Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung ist und bleibt also eine Frage der Verhältnisse, in denen wir leben. Wer am Ende abtreiben kann ist nämlich auch eine Klassenfrage: Während über lange Zeit etwa Wohlhabende wenigstens unter einigermaßen sicheren Bedingungen abtreiben konnten, blieb ärmeren Schwangeren oft nur der illegale Eingriff, der mitunter lebensgefährlich sein konnte. So bekämpften in Deutschland lange Zeit vor allem Kommunist*innen und Sozialist*innen den „Klassenparagraphen“ 218. Legal waren Schwangerschaftsabbrüche später in der DDR, wo ab Beginn der 1970er Jahre auch die Pille kostenlos zur Verfügung stand.

Heute wird Arbeiter*innenfamilien, Migrant*innen und von Rassismus Betroffenen über Schwangerschaftsabbrüche hinaus auch insgesamt die Fähigkeit zur reproduktiven Selbstbestimmung und Verantwortung abgesprochen, zum Beispiel in Form des typischen Vorwurfs, Migrant*innen würden „zu viele Kinder“ bekommen, die sie dann angeblich nicht richtig erziehen und aufziehen könnten. Auch die Figur der „Teeniemutter“, wie sie oft im Fernsehen dargestellt ist, hat oft eine sichtbar klassistische Rahmung. Während über sie der moralische Zeigefinger erhoben wird, bleibt Selbstbestimmung etwas, was vor allem Privilegierten und Besitzenden vergönnt bleibt.

Von wirklicher Selbstbestimmung für alle sind wir aktuell also weit entfernt. Die Forderung „My Body My Choice“ im radikalen Sinne des Wortes umzusetzen, ist im bestehenden System in vielerlei Hinsicht unmöglich. Ein System, das ausbeutet, kriminalisiert, stigmatisiert, beschämt, pathologisiert, einsperrt und abschiebt steht grundsätzlich im Widerspruch zu körperlicher Selbstbestimmung. Diese Tatsache müssen wir uns bei allen feministischen Kämpfen vor Augen halten. Und aus klassenkämpferischer Perspektive wiederum müssen wir uns mit Blick auf die Geschichte vor Augen halten, dass Themen wie das Recht auf sichere und kostenlose Abtreibungen oder zum Beispiel auch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung für trans, inter und nicht-binäre Personen Bestandteil antikapitalistischer Kämpfe sind und sein müssen.

Körperliche, reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung ist nämlich niemals eine rein individuelle Frage. Damit allen Menschen kostenlose, sichere Verhütung zur Verfügung steht und das Wissen darüber allen Menschen bedingungslos zugänglich gemacht wird; damit Menschen selbst darüber entscheiden können, wie sie sich körperlich und geschlechtlich identifizieren und ausdrücken, ohne schikaniert, erniedrigt und eingeschüchtert zu werden; und damit Eingriffe wie Schwangerschaftsabbrüche legal, sicher, kostenlos und vor allem auch entstigmatisiert sind, braucht es eine ganz andere gesellschaftliche Basis, die nicht auf Ausbeutung, Individualismus und Vereinzelung, sondern auf Kollektivität und gegenseitiger Unterstützung beruht. Eine Zerschlagung patriarchaler und kapitalistischer Verhältnisse ist dafür unabdingbar.

# Titelbild: Gemeinfrei, Hexenverbrennung 1555

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Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den raschen Aufstieg seines Unicorns zu einer Milliardenbewertung freuen kann. Für die tausenden im Unternehmen angestellten Arbeiter:innen dagegen werden mies bezahlt, stehen unter einem enormen Druck und sehen sich sexualisierten oder rassistischen Übergriffen von Vorgesetzten ausgesetzt. Nach der Kündigung eines Kollegen entwickelte sich deshalb in dem Unternehmen ein breiter Arbeitskampf auf vielen Ebenen, der bis dato andauert. Wir haben mit Yasha, Rider bei Gorillas in Berlin und Mit-Initiator des Betriebsrats, über den Arbeitsalltag und das Unternehmen gesprochen.

Kannst du uns am Anfang ein wenig über dich erzählen? Wie lange arbeitest du schon bei Gorillas?

Ich arbeite seit Januar als Rider bei Gorillas. Ich bin 28 Jahre alt und mache nebenbei meinen Master. Ich habe auch als Übersetzer gearbeitet, aber ich brauchte einen Job mit Sozialversicherung. In der Pandemie habe ich mich dann überall beworben, hier wurde ich genommen.

Ist das generell ein Ding bei Gorillas, dass viele studieren und den Job nebenbei machen wie du?

Eigentlich nicht. Ich denke, es ist abhängig von den Herkunftsländern. Die meisten, die aus Südostasien kommen, die studieren. Aber es gibt viele mit europäischen Pässen, die aber aus Südamerika kommen. Und die sind oft nur zum arbeiten hier. Vielleicht wollen sie in der Zukunft studieren, aber aktuell geht es ihnen darum, Geld zu verdienen, ein bisschen was an die Familien zu schicken.

Mein Eindruck wäre, die Belegschaft ist vorwiegend migrantisch. Ist das so?

Ja, natürlich. Deutsche haben wir, würde ich sagen, so vier auf hundert Fahrer.

Gibt es Herkunftsländer, die besonders stark vertreten sind?

Argentinien und Chile sind ganz vorne mit dabei. Einige sind aus Nordamerika, wie ich. Türkei ist repräsentiert, Südostasien ist auch gut mit dabei.

Die aktuelle Welle des Arbeitskampfes begann mit der Kündigung eines Kollegen. Aber die Kritik und Forderungen der Fahrer:innen gehen ja über den konkreten Fall hinaus. Worum geht es euch bei dem Protest?

Wahrscheinlich besteht da kein Zusammenhang, aber die Kündigung passierte direkt in der Woche, nachdem wir eine große Betriebsversammlung von 200 Arbeiter:innen durchgeführt haben. Dort haben wir den Wahlvorstand für einen Betriebsrat gewählt. Und da wollte auch das Management teilnehmen. Sie haben sehr viel Druck gemacht und wollten sich durch die Hintertür da reinschmuggeln. Im Nachhinein haben sie auch eine Mail geschickt und drohten gerichtlich gegen den Betriebsrat vorzugehen – was sie allerdings nicht gemacht haben.

Fünf Tage später kam die Kündigung dieses Kollegen. Er war am Ende der Probezeit und hatte in seinem Warenhaus die beste Leistung. Nicht dass das für uns ausschlaggebend wäre, aber es macht die Kündigung noch fragwürdiger. Es gab keinen richtigen Grund, niemand konnte das nachvollziehen und das hat die Leute empört.

Und natürlich, das knüpfte dann schon an die ganzen anderen Probleme an. Es gab schon im Januar einen offenen Brief, im Februar gab es auch schon mal Streiks. Und seitdem haben sich auch nochmal viele Sachen verschlechtert. Zum Beispiel haben sie die Körbe von den Fahrrädern abgenommen, sodass die Leute die Ware tatsächlich auf dem Rücken tragen müssen. Sie planten, die Pausen unbezahlt zu machen – ob sie das wirklich gemacht haben, wissen wir nicht, wir sehen das erst mit dem kommenden Gehalt.

Dazu gibt es ungleiche Entlohnung. Leute, die vergangenen Oktober angefangen haben, hatten die Möglichkeit nach einer bestimmten Stundenzahl eine Lohnerhöhung auf 12 Euro zu bekommen. Die, die später angefangen haben, haben diese Möglichkeit nicht und sind bei 10,50 Euro.

10,50 ist extrem niedrig …

Ja alles hier ist niedrig, 12 Euro sind ja auch niedrig. Aber dass es zusätzlich noch ungleichen Lohn für dieselbe Arbeit ist, ist natürlich noch schlimmer. Gegen die Niedrigkeit des Lohns müssen wir langfristig kämpfen, aber diese Ungleichheit kann vielleicht der Betriebsrat sogar kurzfristig lösen.

Dazu kommen viele Geschichten von sexueller Belästigung und rassistischem Verhalten durch Vorgesetzte. Das Unternehmen ignoriert das. Beförderungen in eine höhere Stelle sind extrem abhängig von Nepotismus. Einen transparenten Prozess gibt es nicht. Du musst mit deinem Vorgesetzten befreundet sein, auf dieselben Partys gehen, dann kriegst du eine Beförderung.

Wie ist der Betrieb aufgebaut? Ganz unten sind Rider, ganz oben wahrscheinlich der CEO. Wie siehts dazwischen aus?

Ganz unten sind die Rider. Ganz oben – keine Ahnung. Da gibts viele, es ist sehr hierarchisch aufgebaut. Wie das genau aussieht, ist für uns nicht transparent. Wir haben irgendwelche „rider Ops“, „rider supervisors“ oder „rider captains“, die haben da jetzt auch die Namen geändert, es gibt wohl auch irgendwas wie einen „rider champion“, keine Ahnung, was das sein soll.

Fahren diese Vorarbeiter auch selber Touren?

Wenn es Engpässe gibt, dann schon, aber nicht im Normalfall. Sie sind zur Kontrolle der Arbeiter:innen da und sie sind für die Fahrräder verantwortlich, die Ausrüstung, die Pausenzeiten. Seit einiger Zeit haben sie auch den Auftrag, uns offizielle Mahnungen zu geben – nach zwei Mahnungen ist man raus. Ähnlich wie bei Amazon sind sie auch dafür verantwortlich, den eigenen Vorgesetzten die Namen der Personen weiterzuleiten, die politisch aktiv sind. Wie ihr Verhältnis zu den Arbeiter:innen ist, ist von Warenhaus zu Warenhaus unterschiedlich. Hier ist ein ganz gutes Verhältnis, in anderen Standorten waren die Beziehungen zu den Vorgesetzten wirklich schlecht.

Neben den Riders und ihren Vorgesetzten gibt es auch noch Pickers und Inventory, Arbeiter:innen, die für die Zusammenstellung der Bestellungen zuständig sind. Auch die haben noch einen Supervisor, der für sie verantwortlich ist. Und dann jeweils einen Warehouse-Manager, der sitzt zwei Stunden pro Tag hier rum. Keine Ahnung, was er macht. Und über dem gibts keine Ahnung wie viele Positionen, aber die sieht man normalerweise nicht.

Das heisst, den CEO Kağan Sümer sieht man im Arbeitsalltag eher nicht.

Ne, nie gesehen. Also vor zwei Wochen haben wir ihn mal bei einem Protest gesehen, aber ansonsten nie.

Wie viel Arbeiter:innen hat Gorillas in Berlin insgesamt?

Wenn wir nur die Arbeiter:innen zählen, würde ich sagen, um die 2000. Es ist eine Schätzung, ganz so klar ist das nicht. Es gibt auch viele von Leiharbeitsfirmen wie Zenjob, die mal einen Tag hier arbeiten.

Wie viele erreicht ihr mit euren Forderungen?

Interessante Frage. Wir haben ein Netzwerk aufgezogen mit Kolleg:innen aus anderen Städten Deutschlands, den Niederlanden und London. Wir haben also auch Leute erreicht weit über Berlin hinaus, Leipzig, Köln, Hamburg, Groningen, Amsterdam. In Berlin haben wir die größte Basis.

Kannst du ein bisschen über deinen Arbeitsalltag erzählen. Das ganze Konzept klingt für mich nach der Garantie für einen Scheissjob. Irgendwer ruft an, bestellt ein Brötchen und dieses Unternehmen garantiert, dass die knapp über Mindestlohn bezahlten Fahrer:innen das innerhalb von zehn Minuten vorbei bringen. Ist das nicht schon auf Stress angelegt?

Ja. Allerdings hängen diese zehn Minuten immer vom Vorgesetzten ab, ob das durchgesetzt wird oder nicht. Ich habe in den ersten Wochen richtig viel Druck auf mich selbst gemacht, das rechtzeitig zu liefern. Dann habe ich kapiert, dass das nicht so wichtig ist. Ich fahre, wie ich will und halte an jeder roten Ampel. Und niemand mault mich deshalb an. Das geht. Aber es gibt Leute, für die ist dieser Job viel wichtiger als für mich. Und die sind immer unter Druck. Und da gibt es Kündigungen und keiner kriegt es mit, weil sie sich nicht mit den Kolleg:innen vernetzt haben. Alle, die hier länger arbeiten, sagen, dass sich der Arbeitsalltag nochmal verschlechtert hat und viele Kolleg:innen verschwunden sind, gekündigt wurden oder gekündigt haben.

Und klar gibt‘s Leute, die wollen aufsteigen. Die machen dann richtig viel Druck auf sich selbst. Und es gibt eine Statistiken, die erfassen, wie viele Bestellungen man an einem Tag gemacht hat, wer der Schnellste war. In manchen Warenhäusern haben sie Tabellen, da wird der beste Picker, der schnellste Rider ausgeschrieben und die anderen, die weiter unten in der Liste sind, müssen dann den Grund hinschreiben, warum sie nicht so viel geschafft haben. Das ist aber abhängig von den lokalen Leitungen.

Also wenn man einen „guten“ Vorarbeiter hat, dann ist die Lage erträglicher …

Was ist ein guter Vorarbeiter? Das sind die, die auf unserer Seite sind. Das gibt‘s tatsächlich, aber es sind nicht viele. Die stecken uns Informationen aus Managementkanälen. Es gibt auch Leute da oben, die uns unterstützen, die das aber nicht öffentlich machen, weil sie den Job nicht verlieren wollen. Und die sind schon gefährlich für die Firma, weil es kommt dadurch viel Scheisse raus.

Wie würdest du die Unternehmenkultur beschreiben? Weil von aussen sieht das wirklich aus wie der Prototyp so einer irren Start-up-Kultur.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass das für unseren CEO so eine Lockerroom-Kultur hier ist. Es gibt auch viel so Macho-Gehabe. Es gibt Warehouses, da haben erleben Frauen Situationen, dass Vorgesetzte sie in die Wangen kneifen zur Begrüßung. Es gibt ein Warenhaus, wenn die nicht genügend Rider haben, rufen sie in anderen Standorten an und fordern ausschließlich weibliche Fahrerinnen an. Die Vorgesetzten da belästigen diese Frauen, rufen sie an und fragen so: Hey, wo bist du, willst du heute Abend was mit mir machen? Diese Erfahrungen kann man sich auf der Instagram-Seite GorillasRiderLife ansehen.

Hat das Management bislang irgendwelche Zugeständnisse gemacht?

Kleinigkeiten, wie das zum Beispiel die Regenausrüstung gewaschen wurde oder wir neue Regen-Ponchos bekommen haben. Aber von den 19 Forderungen, die wir haben, ist bislang keine erfüllt worden. Nicht alle sind kurzfristig zu erfüllen. Aber manche sind sehr dringend. Zum Beispiel Fahrräder, die nicht alle drei Tage kaputt gehen. Alleine in diesem Warehouse gab es in letzter Zeit vier Arbeitsunfälle, einige davon mit Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Einige der Forderungen könnte das Management leicht erfüllen: Ein oder zweimal die Woche eine halbe Stunde Treffen der Arbeiter:innen. Aber auch auf sowas wird überhaupt nicht reagiert. Oder in Sachen Arbeitsschutz: Wir haben in einer Sicherheitsschulung gelernt, dass das Maximalgewicht unserer Rucksäcke zehn Kilo nicht übersteigen soll. Das wird immer noch überschritten. Oder Schuhe, Sommerjacken und so weiter – diese Ausrüstung müssten sie eigentlich stellen. Arbeitshandys zum Beispiel – wir benutzen immer noch unsere privaten Handys. Die Kunden können uns auch nach der Schicht erreichen und belästigen, das ist schon mehrmals passiert. Da gibt es keinen Datenschutz.

Vor einigen Wochen hatten wir erkämpft, dass sie uns zusicherten, ausstehende Löhne zu bezahlen, aber auch das haben sie nicht bei allen gemacht. Wir haben das dann recherchiert und an die Medien geschickt.

Zum Abschluss: Welche Form von externer Unterstützung wünscht ihr euch?

Das ist eine schwere Frage, wir haben darüber keine einheitliche Meinung. Wir haben diese Solidaritätskampagne, in deren Rahmen man Geld spenden kann. Gut wäre auch unabhängige Solidaritätsaktionen durchzuführen, die den Kampf sichtbar machen. Und dass die Arbeiter:innen sehen, es gibt Unterstützung aus der Öffentlichkeit. Damit man sieht, es handelt sich nicht nur um eine kleine radikale Gruppe – das ist ja die Lüge des Managements.

Außerdem rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen auf, die wir ankündigen. Aber da ist es wichtig, dass sich Externe eher im Hintergrund halten und sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Arbeiter:innen eine Versammlung haben, sollte man sich, wenn man von außen kommt, lieber ein bisschen zurückhalten, statt sich als Arbeiter:in auszugeben. Ansonsten: Alle Aktionen, die nicht falsch sind, sind gut. Vielleicht gibt‘s da ja auch noch mehr als mit jetzt einfallen.

Ruft ihr eigentlich zu einem Boykott auf oder ist das kontraproduktiv?

Wir wollen selbst keinen machen. Aber wir sind hier ja angestellt, wir kriegen Stundenlohn, keine Pauschale pro Bestellung. Deswegen ist es mir persönlich scheissegal. Aber wenn man schon da bestellt, dann kommt den Fahrer:innen wenigstens entgegen, weil in den 5. Stock Hinterhaus in zehn Minuten Lieferzeit ist schwierig. Und Trinkgeld in bar, nicht über die Online-App.

# Titelbild: Gorillas Workers Collective

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Sollte noch irgend jemand daran gezweifelt haben, dann haben CDU und CSU vor einigen Tagen klar gestellt, für wen sie Politik machen. Sie sind die Parteien des Kapitals, die Handlanger der Konzerne, der Industrie, die Sachverwalter der Besitzenden. Das 140-seitige Bundestagswahlprogramm, das die Unionsparteien vor einigen Tagen präsentiert haben, hat das noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Für klar denkende Zeitgenossen ist die Stoßrichtung dieses Programms sicher keine Überraschung – überraschen konnte allein, wie dreist und deutlich es die Ignoranz von Laschet, Söder & Co. gegenüber den Problemen unserer Zeit und ihre Funktion als Anwalt des Kapitals zum Ausdruck bringt.

In den bürgerlichen Medien gab und gibt es durchaus eine Menge Kritik an dem Papier, sogar von der staatstragenden Zeit, was sicher etwas heißen soll. Dabei machen sich die journalistischen Kritiker zu Recht schon über den Titel des Programms „Für Stabilität und Erneuerung“ lustig, der tatsächlich so aufregend ist wie eine Rede von Armin Laschet. Aber zum Lachen ist das Ganze ansonsten eigentlich nicht, denn da zu befürchten ist, dass CDU und CSU auch die nächste Bundesregierung anführen werden, verheißt das Programm nichts Gutes für das untere Drittel der Gesellschaft, vor allem aber für die Marginalisierten in diesem Land.

Dieses Wahlprogramm ist vor allem eine Verbeugung vor all denen, die ihre Schäflein ohnehin im Trockenen haben – eine Zusicherung: „Keine Angst, wir nehmen Euch nichts! Wir erhöhen Eure Steuern nicht und Ihr dürft weiter über die Autobahnen rasen.“ Vermögenssteuer, Vermögensabgabe, Erhöhung der Hartz-4-Regelsätze und dergleichen, für die Union ist all das Teufelszeug, Forderungen sozialistischer Gleichmacher. Sie wollen nach der Bundestagswahl da weitermachen, wo sie in der Coronakrise angefangen haben: die Industrie und die Besitzenden pempern bis der Arzt kommt. Die Zeche der Krise bezahlen sollen die breite Masse und die Marginalisierten. Da auch die Schuldenbremse nach dem Willen von CDU und CSU wieder eingesetzt werden soll, läuft das auf einen Sozialabbau ungeahnten Ausmaßes hinaus.

Ebenso unfassbar wie diese sozialpolitische Ignoranz ist die Positionierung zur Klimapolitik im Programm, die schon einer Leugnung des Klimawandels gleichkommt. Dieser wird unter ferner liefen abgehandelt. Und natürlich müssen wir uns keine Sorgen machen: Der Markt regelt auch das, das scheinen diese durchgeknallten Unionspolitiker allen Ernstes zu glauben. Das berühmte Cover des Supertramp-Albums „Crisis? What Crisis?“ von 1975 mit dem Mann im Liegestuhl vor rauchenden Industrieschloten – dieses Bild gehört vorn auf das Wahlprogramm der Union. Keines illustriert besser, was drin steht.

#Titelbild: A. Laschet: Dirk Vorderstraße/CC BY 2.0; M. Söder Gemeinfrei, Supertramp Album Cover/ Foto Privat; Montage LCM

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Es ist ja immer noch Kapitalismus und wenn wir in dem überleben wollen, müssen wir die Waren erwerben, derer es dazu bedarf. Dazu brauchen wir Geld. Und wer nicht über den Segen eines reichen Elternhauses verfügt, wird früher oder später in die Welt der Lohnarbeit eintreten. Das gilt sehr allgemein und doch ist genau dieser Bereich des eigenen Arbeitslebens einer, der in der hiesigen radikalen und autonomen Linken eigentlich so gut wie nie eine politische Rolle spielt. „Das Private ist Politisch“ gilt offenbar für diesen an sich schon politischen Part des sogenannten Privatlebens kaum. Arbeit ist Arbeit. Politik findet nach Feierabend statt und dreht sich meistens auch um ganz andere Themen.

Das hat weitreichende Auswirkungen, denn die je individuellen Strategien im Umgang mit diesem riesigen blinden Fleck sind auch für Organisationen nicht leicht zu verdauen. Karrierismus ist eine beliebte Strategie: Wenn man schon nichts dran ändern kann, dass man Geld verdienen muss, dann möchte man schon bitte recht viel davon. Und da die im Vergleich zur Normalbevölkerung überproportional studentische und gut vernetzte urbane Linke hier auch Möglichkeiten ohne Ende hat – von der Mitarbeiterstelle beim MdB deiner Wahl über die Funktionärsposten in Stiftungen und Gewerkschaften bis zu dann schon ganz „unpolitischen“ (einer muss es ja machen) Leitungsfunktionen in Bürokratie, Medienzirkus oder bei Konzernen -, lockt der Aufstieg. Irgendeine Scham muss man nicht empfinden, denn wenn man nicht gerade Bulle wird, interessiert es eigentlich keinen, was man arbeitstechnisch so macht. Es ist Privatsache.

Nun besteht auch die außerparlamentarische Linke nicht zu 100 Prozent aus aufstiegswilligen Karrierist:innen, wahrscheinlich nicht einmal mehrheitlich. Aber auch dem Rest, der unterbezahlt und ausgepowert vor sich hin malocht, bleibt nicht viel anzufangen mit diesem Schicksal. Auf einem durchschnittlichen Plenum sitzen dann vielleicht ein:e Erzieher:in, ein:e Handwerker:in, fünf Student:innen und drei Erwerbslose. Dass mehrere Leute aus einem Betrieb zufällig auch in der selben Gruppe sind, ist eher selten. Man verbannt daher den Bereich, der einen Großteil der eigenen Lebenszeit einnimmt, aus dem eigenen Aktivismus und kümmert sich lieber um andere wichtige Themen. Im Betrieb erzählt man am Besten gar nicht, dass man Kommunist:in, Anarchist:in oder sonstwas ist, das gibt nur Stress.

Das Ergebnis ist eine radikale Linke, die sich zwar (zurecht natürlich) mit internationalen und gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt, aber keine Kraft in der Arbeiter:innenklasse hat, die trotz aller Unkenrufe nun mal die breiteste soziale Klasse mit gemeinsamen Interessen auch in diesem Land ist. Dass dann gelegentlich Bücher und Artikel erscheinen, die beschwören, wie unendlich wichtig die Klassenfrage ist, ändert daran auch nichts, denn die zirkulieren sehr selten in Belegschaften als Pausenlektüre.

Ein Banner zu malen, śich vor einen Betrieb stellen, wenn da mal was geht, und sich solidarischen zeigen, ist da uniroisch schon besser als nichts. Es ersetzt aber nicht, als Gleiche:r unter Gleichen in einem Betrieb mit den eigenen Kolleg:innen zu diskutieren, für die eigene Weltanschauung zu werben und der meistens ohnehin schon vorhandenen Wut eine Richtung zu geben.

Im richtigen Betrieb ist das deutlich einfacher als man gemeinhin denkt. Als ich nach einem halben Leben in freiwilliger postakademischer Prekarisierung endlich eine Umschulung in einen normalen Handwerksberuf gemacht hatte, war ich erstmal überrascht, wie wenig an der Mär dran ist, die Klasse sei „unpolitisch“. Im Schnitt waren alle Gespräche politischer als in der „politischen Szene“, wenn auch nicht immer „politisch korrekt“. Und die Frontlinien waren, zumindest in Großbetrieben, auch immer recht klar. Auch, wenn die Kolleg:innen oft (berechtigte) Angst haben, zu kämpfen, dass man vom Chef über den Tisch gezogen wird und der Vorarbeiter ein Arschloch ist, das wissen die meisten, das braucht keiner erklären. Dazu kommt, dass unter Kolleg:innen oft – trotz aller Spaltungslinien und Konkurrenzverhältnisse innerhalb der Klasse – ein Vertrauensverhältnis da ist, das ansonsten nicht gegeben ist. Es ist etwas anderes, ob ich acht, zehn, zwölf Stunden am Tag mit den anderen gemeinsam dieselbe Scheisse durchstehe, oder ob ich auf der Straße Wildfremde anquatsche.

„Revolutionäre Arbeit soll nicht in dem Freiraum stattfinden, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb“, schrieb Berni Kelb in seiner „Betriebsfibel“. Die Lage ist dafür schon deshalb nicht schlecht, weil ohnehin viele Belegschaften kämpfen – von den Lieferfahrer:innen über die Pflege, von Logistik bis Metall-Industrie.

Der erste Schritt für die außerparlamentarische Linke zu einem Schritt in diese Tür wäre, sich zu erinnern, dass die Art und Weise, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen, natürlich keine „Privatsache“ ist, sondern im Zentrum auch unserer politischen Betätigung stehen sollte.

Für diejenigen, die ohnehin schon malochen, heisst das, die Kolleg:innen als politische Subjekte zu begreifen, ordentlich Rabatz im Betrieb zu machen und die Genoss:innen in der Politgruppe außerhalb dazu zu bewegen, das zu unterstützen. Für die anderen würde das wiederum heissen: Sich das eigene Arbeitsleben so zu gestalten, dass man auch Aussicht darauf hat, mit anderen Kolleg:innen in Kontakt zu kommen, die man organisieren will. Sich zu überlegen? Ist die Arbeit, der ich nachgehe, denn eigentlich geeignet, andere Kolleg:innen zu organisieren? Alleine am Schreibtisch in der akademischen Dauerprekarisierung dahinsiechend oder als heranwachsende:r Chef:in mit BWL-Master wird man wahrscheinlich weniger Aussicht auf kollektive Aktion der Klasse haben als auf Station im Krankenhaus, im Tiefbau oder als Fahrradkurier:in.

# Bildquelle: https://www.peoplesworld.org/article/pw-readers-speak-tariffs-vs-international-working-class-solidarity/

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Race- und Klassenfragen sind zwar verschränkt, sollten aber auch unabhängig voneinander betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der jüngst intensiv geführten identitätspolitischen Kontroversen wird folgend anhand a) der Debatten um Haupt- und Nebenwidersprüche und des neuen Buches von Sahra Wagenknecht; b) eines Vergleichs zwischen versklavten Schwarzen auf den US-amerikanischen Plantagen und weißen britischen TextilarbeiterInnen des 19. Jahrhunderts; c) der Rolle des euro-amerikanischen Kolonialismus, Imperialismus und ihren nichtweißen NutznießerInnen und KollaborateurInnen sowie d) den jetzigen Arbeitsbeziehungen und sozioökonomischen Verhältnissen im Kapitalismus diskutiert

Zahlreiche liberale und politisch rechts zu verortende JournalistInnen und AkademikerInnen bedienten sich zuletzt – v.a. unter dem Deckmantel des liberalen Universalismus – der zum Kampfbegriff avancierten Schablone „linker Identitätspolitik“. Meistens, um ihre Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber institutioneller Diskriminierung und Formen der Unterdrückung, die aus sozialer Ungleichheit, Rassismus und patriarchalen Strukturen resultieren, unverblümt zur Schau zu stellen. Unter Missachtung der bestehenden Faktenlage, bagatellisieren sie die Existenz von strukturellem Rassismus, rassistischen Morddrohungen, physischer Gewalt gegen und die Ermordung von People of Color (PoC), Frauen, LGBTQ+ Personen, Obdachlosen und AntifaschistInnen. Zusätzlich erkennen sie die Notwendigkeit von geschützten Räumen sowie sozialer Mobilität für diskriminierte Gruppen und subalterne Klassen nicht an. Stattdessen beschwören sie die vermeintlichen Gefahren der „woken Cancel Culture“, der „feministischen Sprachpolizei“ und der gefährlich überbordenden „PoC-Mobs“.

Auch in linken Kreisen gab es in den letzten Jahren vermehrt hitzige Debatten darüber, ob Klassen- gegenüber Race– und/oder Geschlechterfragen der Vorrang eingeräumt werden sollten. Orthodoxe Linke vertreten nicht selten die Meinung, dass die Kategorie der Klasse den Hauptwiderspruch darstellen würde, da sie über Partikularinteressen und unterschiedliche Identitätsgruppen hinausgehe. Heterodoxe Linke hingegen messen Race– und Geschlechterfragen oftmals die größere Bedeutung bei und lehnen die Vorstellung ab, dass diese Kategorien lediglich Nebenwidersprüche seien.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die Gegenüberstellung von Klasse und Race/Herkunft ist in Sahra Wagenknechts jüngst erschienenem Buch Die Selbstgerechten (2021) zu finden. Darin wettert sie gegen die linksliberale „Lifestyle-Linke“, deren Identitätspolitik angeblich darauf hinausläuft, „das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden.“ (S. 102). Gleichzeitig bleibt sie selbst jedoch ebenfalls der Identitätspolitik verhaftet ohne es aber als solche kenntlich zu machen. Sie stellt nämlich einer nicht klar definierten Gemeinschaft – die v.a. daraus besteht, dass sie deutsche Kultur, Bräuche und Traditionen vertritt – Menschen gegenüber, die „nicht dazugehören“. Linksidentitär wird es besonders dann, wenn sie die eher bildungsfernen Unterschichten (mit deutschem Pass oder zumindest gesichertem Aufenthaltsstatus), deren Interessen sie vorgibt zu vertreten, den gebildeten „Lifestyle-Linken“ sowie „Zuwanderern“ (ohne dauerhaften/gesicherten Aufenthaltsstatus) gegenüberstellt. In der Tat ruft sie dazu auf, die Interessen der einheimischen Geringverdienenden als das wesentliche Grundproblem zu betrachten. Sie behauptet aber, dass dies nur möglich wäre, wenn die Einwanderung begrenzt werden würde, da Migration maßgeblich für das Lohndumping verantwortlich sei. Die Bedürfnisse und Kämpfe von MigrantInnen und Geflüchteten werden dadurch zu einem Sekundarproblem degradiert. Für Wagenknecht sind letztere scheinbar nur Zahlen, deren Anstieg eingeschränkt werden müsse, um die ihrer Meinung nach berechtigten Ängste vor der Immigration und den wirtschaftlichen Folgen für die deutsche Kerngemeinschaft zu minimieren. Die „Zuwanderer“ wären ohnehin in ihren Heimatländern besser aufgehoben, ohne dass Wagenknecht dabei auch nur den geringsten Anschein macht sich in diese Menschen hineinzuversetzen, um ihre konkreten Flucht- und Auswanderungsmotive besser verstehen zu können. Ihr Verständnis für besorgte BürgerInnen einerseits und die Empathielosigkeit gegenüber in Deutschland lebenden Geflüchteten und MigrantInnen (insbesondere denjenigen, die nicht aufgrund von politischer Verfolgung oder Kriegen geflohen sind) andererseits sind jedenfalls frappierend. Ferner ist es – selbst aus einer einigermaßen progressiven sozialdemokratischen Logik heraus – äußerst problematisch, dass sie denkt, es sei angemessener die Einwanderung einzudämmen und politisch praktikabler die Fluchtursachen zu bekämpfen als gesetzlich höhere Löhne flächendeckend durchzusetzen, von denen ja schließlich alle Arbeitenden in Deutschland bis zu einem gewissen Grad profitieren würden.

Die Beziehungen zwischen Klasse, Race und Geschlecht sind auf jeden Fall weitaus komplizierter, komplexer und dynamischer, als es eine einfache Gegenüberstellung darzulegen vermag, und hängen darüber hinaus zu einem entscheidenden Maße vom spezifischen räumlich-zeitlichen Kontext ab, in dem sie Verwendung finden. Es wäre daher vielleicht lehrreich einen historischen Exkurs vorzunehmen und einen vergleichenden Blick auf zwei der am meisten ausgebeuteten Gruppen der atlantischen Welt vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu werfen: die versklavten schwarzen ArbeiterInnen der amerikanischen Plantagenwirtschaft und die LohnarbeiterInnen der englischen Textilfabriken. Versklavte Menschen wurden zunächst zu Eigentum degradiert und der Verkauf an europäische SklavenhalterInnen setzte sie einer Ware gleich. Im Anschluss daran wurden sie zu elementaren Bestandteilen der Produktivkräfte von PlantagenbesitzerInnen. In Zeiten hohen Arbeitskräftebedarfs und geringen SklavInnennangebots war ihr Leben im monetären Sinne wertvoller als das vieler mittelloser, weißer LohnarbeiterInnen. Während Versklavte im 19. Jahrhundert oft versichert waren (ähnlich wie andere Kapitalanlagen) und genug zu essen hatten, um nicht zu verhungern, waren sie gesetzlich gesprochen tot, d.h. vollkommen rechtlos und daher horrender physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt, von der weiße ArbeiterInnen i.d.R. verschont blieben.

Im Gegensatz dazu war es nicht ungewöhnlich, dass die, auch als „LohnsklavInnen“ bezeichneten, ArbeiterInnen der frühen Industrialisierungsphase Großbritanniens, v.a. Frauen und Kinder, länger arbeiten mussten und auch häufiger an Unterernährung starben als ihre de facto und de jure versklavten amerikanischen Pendants jener Zeit. Gleichzeitig waren weiße, britische Männer (und in begrenztem Maße auch Frauen) rechtlich freie Personen, die – zumindest theoretisch – ihre Arbeitskraft verkaufen konnten, an wen sie wollten. Eines ist allerdings klar: Im 19. Jahrhundert wurden sowohl den meisten karibischen und US-amerikanischen Versklavten als auch den britischen LohnarbeiterInnen grundlegende Rechte verwehrt. Trotz offensichtlicher Unterschiede hatten versklavte Menschen im US-amerikanischen Süden und „LohnsklavInnen“ in den Baumwollspinnereien von Lancashire mehr gemeinsam als mit den einheimischen Eliten, weißen HerrInnen und Kapitalisten, die sie beherrschten, unterdrückten und, wie im Falle der Sklaventreiber, verkauften.

Zur gleichen Zeit gab es – obwohl die überwiegende Mehrheit der PlantagenbesitzerInnen weiß waren – auch freie PoC (gens de couleur libres) und schwarze Sklavenhalter in der Karibik, wie zum Beispiel im späten 18. Jahrhundert auf Saint-Domingue (heute Haiti). Westafrikanische Eliten erzielten ebenfalls hohe Gewinne durch den Verkauf versklavter Menschen an europäische Sklavenhändler. Unumstritten ist jedoch, dass Euro-AmerikanerInnen zu den unangefochtenen HerrscherInnen des globalen 19. Jahrhunderts avancierten und ganze Erdteile durch koloniale Unterwerfung gewaltsam ausbeuteten. Wichtige Teile der zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert akkumulierten euro-amerikanischen Reichtümer entsprangen der Anwendung roher Gewalt; der Versklavung von 12 Millionen AfrikanerInnen während des transatlantischen Sklavenhandels, der Ausrottung indigener Völker, der kolonialen Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen sowie aus neokolonialen Kriegen. Obwohl Regime-Change-Operationen in Ländern wie Afghanistan (seit 2001), Irak (2003-2011), Libyen (2011) und Mali (2013) die Staatsverschuldung in die Höhe trieben, generierten sie gleichzeitig enorme Profite für den militärisch-industriellen-Komplex, v.a. in den USA.

Parallel dazu machten asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Königshäuser, Adlige, Politiker, Kapitalisten und andere Eliten, einschließlich der „Kompradoren-Bourgeoisien“, zur selben Zeit ein Vermögen durch Steuererhebung, Handel, Produktion, den Verkauf von natürlichen Ressourcen und die Umwandlung von Menschen in Eigentum. Sie lebten ein bequemes und luxuriöses Leben auf Kosten ihrer überwiegend armen und unterdrückten Untertanen. Darüber sollte ferner nicht vergessen werden, dass die Kolonisierung und imperialistische Ausbeutung Indiens, Westasiens, Afrikas und Lateinamerikas auch durch die Zusammenarbeit mit den lokalen euro-amerikanischen KollaborateurInnen ermöglicht wurde.

Nun zurück zur Gegenwart. Heute besteht ein überproportional großer Anteil der „gering qualifizierten“ euro-amerikanischen ArbeiterInnen aus Nichtweißen und Geflüchteten. Sie arbeiten auf Baustellen, als zeitlich befristete landwirtschaftliche LohnarbeiterInnen, in Geschäften und Supermärkten, als Pflegekräfte, KrankenpflegerInnen, Reinigungskräfte, im Transportwesen und Lieferservice, in Fabriken und in der Fleisch- und Lagerindustrie. Sie bilden den Löwenanteil der „essentiellen Arbeitskräfte“. Obwohl sie unentbehrlich sind, so sind sie doch austauschbar und obendrein gehören sie zu den mit am schwersten von der grassierenden Covid-19-Pandemie Betroffenen. Viele dieser ArbeiterInnen, die in prekären Arbeitsverhältnissen schuften und trotz zunehmender Arbeitszeiten kaum über die Runden kommen, veranschaulichen die Überschneidungen von Klasse und Race/Herkunft.

Abgesehen von den Niedriglöhnen wird ein großer Anteil der „essentiellen Arbeitskräfte“ massiv überwacht und erniedrigt. So riskieren Amazon-Angestellte beispielsweise ihre Anstellung, wenn sie Pausen einlegen um auf die Toilette zu gehen, während migrantische Zeitarbeitskräfte, die in der Landwirtschaft oder der Fleischindustrie arbeiten, in besonders miserablen und überfüllten Wohnverhältnissen leben müssen. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass Amazon im Dezember 2020 einen Landkreis in Alabama (USA) dazu veranlasste, die Ampelschaltung vor ihrem Warenhaus so zu verändern, dass gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen nicht mehr genug Zeit hatten andere ArbeiterInnen anzuwerben, während sie an der Ampel warteten.

Selbst (oder sollte man nicht viel eher sagen gerade) in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland arbeiten über 20% der Beschäftigten im Niedriglohnsektor – davon etwa 40% MigrantInnen und PoC. „Hochqualifizierte“ ArbeitnehmerInnen sind allerdings ebenso von der allgegenwärtigen Sparpolitik betroffen, die im Laufe der letzten 40 Jahre immer stärker um sich gegriffen hat. Es ist keine Ausnahme, dass ein/e angehende/r PsychotherapeutIn nach sechs Jahren Studium, während der Ausbildung ca. 240€ im Monat verdient und Lehrbeauftragte an Universitäten und Hochschulen einen Stundenlohn von etwa 20€ und oftmals sogar nur 3€ beziehen (ohne Zulagen für Vor- und Nachbereitungen der Seminare). Auch in den USA sind außerordentliche Dozierende auf dem Vormarsch und machen ca. 75% der akademischen Belegschaft aus. Sie erhalten zwischen 20.000$ und 25.000$ pro Jahr und müssen ihr Einkommen nicht selten durch Nebentätigkeiten aufstocken, um überleben zu können.

Gleichzeitig gibt es sowohl im „Globalen Norden“ als auch im „Globalen Süden“ eine verhältnismäßig kleine, aber dennoch beachtliche Anzahl von gutsituierten PoC der Mittel- und Oberschicht. Ihnen geht es wirtschaftlich besser als großen Teilen der weißen ArbeiterInnenklasse Euro-Amerikas, die zunehmend der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, v.a. seitdem die industrielle Produktion verstärkt nach Asien ausgelagert wurde. Darüber hinaus zeigen der wirtschaftliche Aufstieg und die Kapitalinvestitionen Japans, Südkoreas, Chinas, Indiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens in den USA, Europa, Lateinamerika und Afrika, dass die Antagonismen zwischen der „entwickelten“ und der „sich entwickelnden“ Welt nur eine Seite der Medaille aufzuzeigen vermag. In diesem spezifischen Zusammenhang ist die Aussage des Historikers C.L.R. James aus dem Jahr 1938 erwähnenswert – auch wenn er m. E. das Ausmaß von Rassifizierungsprozessen wohl deutlich unterschätzte: „In der Politik ist die Racefrage der Klassenfrage untergeordnet, und den Imperialismus [ausschließlich] in Race-Begriffen zu denken, ist verhängnisvoll. Aber den Racefaktor als bloße Nebensächlichkeit zu vernachlässigen, ist ein Fehler, der nur weniger schwer wiegt, als ihn zum wesentlichen Moment zu erklären.“

Bis zu einem gewissen Grad werden als weiß gelesene Non-Citizens (d.h. „AusländerInnen“ oder geflüchtete Menschen ohne Bürgerrechte) aus den Peripherien (z.B. Osteuropa und Südamerika) stärker diskriminiert als nichtweiße StaatsbürgerInnen, einschließlich schwarzer und anderer nichtweißer Menschen mit Pässen aus den USA oder europäischen Staaten. Diese weiß gelesenen ImmigrantInnen sind mehr oder weniger Teil der überwiegend nichtweißen und immer weiter ansteigenden globalen Reservearmee illegalisierter Arbeitskräfte. Im Jahr 2020 betrug die Zahl der Zwangsvertriebenen weltweit über 80 Millionen Menschen. Im Westen schuften Geflüchtete beispielsweise auf Baustellen oder als ZwangsarbeiterInnen (z.B. in der Prostitution) und werden, falls ihnen der ohnehin schon dürftige Arbeitslohn nicht vorenthalten wird, meistens mit Hungerlöhnen abgespeist. Um ein anderes Beispiel zu nennen: in Frankreich vermieten einige von Lohnkürzungen betroffene Fahrradkuriere multinationaler Essenslieferketten wie Uber Eats und Deliveroo ihre Arbeits-App-Accounts an „illegale“ Geflüchtete, die nicht selten noch minderjährig sind. Im Gegenzug erhalten sie 30 bis 50% der auf Stücklohn beruhenden Lieferserviceerträge.

Auf der anderen Seite sind jene nichtweißen euro-amerikanischen Minderheiten, die ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besitzen – auch wenn sie wohlhabend und hochqualifiziert sind – derzeit immer öfter faschistischen Mobs, rassistischer Gewalt und Terrorismus ausgesetzt. Seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten, wurden sie zudem Opfer heftiger Polizeigewalt, systematischem Racial Profiling und struktureller Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt; eine Normalität, die weißen euro-amerikanischen Bevölkerungsgruppen heutzutage zumeist erspart bleibt. Tatsächlich laufen schwarze Menschen in den USA permanent Gefahr, von der Polizei verhaftet oder getötet zu werden, mehr oder weniger unabhängig von ihrem Status und Einkommen (wobei Geld und Macht sicherlich dazu beitragen, diese Gefahren zu mindern).

Die verschiedenen globalen Nationalbourgeoisien haben oft ähnliche Interessen. Abgesehen von den „ArbeiterInnenaristokratien“ gilt dies auch für weite Teile der internationalen ArbeiterInnenklasse. Daher ist Solidarität unter PoC kein Wert an sich, sondern hängt sehr stark vom jeweiligen Kontext ab. In der Tat sind, könnten und sollten weiße Menschen aus der ArbeiterInnenklasse als potentielle Verbündete für alle Arten von emanzipatorischen Bewegungen betrachtet werden, vorausgesetzt, sie sind nicht rassistisch, frauenfeindlich usw. und auch zur Kooperation bereit. Im Gegensatz dazu versteht es sich von selbst, dass nichtweiße KriegsverbrecherInnen, Diktatoren, autoritäre HerrscherInnen und kapitalistische MilliardärInnen – die sich allesamt auf Kosten ihrer ausgebeuteten und unterdrückten Bevölkerungen und ArbeiterInnen bereichern und ermächtigen – niemals Teil einer genuin progressiven Allianz sein können.

Kurz gesagt, das Verstehen der tiefgreifenden Beziehung zwischen Race, Klasse und Geschlecht ist ein kompliziertes Unterfangen. Obwohl diese Kategorien in einem Netz intersektionaler Beziehungen miteinander verwoben sind, sollten sie ebenso unabhängig voneinander, d.h. aus sich selbst heraus verstanden werden. Einerseits scheint es unwahrscheinlich, dass die Rassifizierung und strukturelle Diskriminierung schwarzer und anderer nichtweißer Menschen signifikant abnehmen wird, solange die gegenwärtigen kapitalistischen sozioökonomischen Strukturen und Herrschaftsverhältnisse bestehen bleiben. Andererseits führen Empowerment und die Verbesserung der Lebensbedingungen von PoC nicht automatisch zu weniger Rassismus, da rassistische Ideologien nicht auf rein materialistischer Basis erklärt werden können. Gleichzeitig können sich die unterprivilegierten Klassen in der „entwickelten Welt“ nicht nachhaltig emanzipieren, wenn die Mehrzahl der Menschen auf unserem Planeten in Fesseln lebt. Karl Marx brachte 1866 dieses dialektische Verhältnis von Klasse und Race prägnant auf den Punkt, als er schrieb: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“

# Titelbild: Sowjetisch-chinesisches Propagandaplakat zur Stärkung der Kooperation der beiden Staaten, Ausschnitt

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier, Teil 2 hier)

Was die Umweltkrise auf unserem Planeten angeht, hebt ihr die entscheidende Bedeutung von Murray Bookchins Konzept der Sozialen Ökologie hervor. Warum seht ihr darin einen Schlüssel zur Lösung unserer ökologischen Probleme?

Ich denke, dass die Soziale Ökologie so wichtig ist, weil sie wirklich den Kern trifft, um den es bei unserer ökologischen Krise und dem Klimawandel geht. Natürlich ist klar, dass eine handvoll Öl- und Gasfirmen den Klimawandel antreiben und dass Privateigentum, Privatisierung und Kapital im Allgemeinen das Problem sind. Aber ich denke, dass Soziale Ökologie hier wirklich an die Wurzeln geht: Weil Menschen eine hierarchische Perspektive auf die Phänomene in der Welt haben, werden auch ihre sozialen Beziehungen zueinander hierarchisch sein. Und das projizieren sie wiederum auf die nicht-menschliche Natur. Nicht-menschliche Natur ist übrigens ein sehr wichtiger Begriff. Denn auch wir Menschen sind Natur, wie Tiere und Organismen auch. Wie Bookchin sagt: Menschen sind die bewusste Natur selbst.

Wir müssen also herausfinden, was uns dazu bringt, unsere Umwelt so zu behandeln. Es ist nicht nur die Existenz von Kapital. Menschen haben das Land und nicht-menschliche Spezies schon vor dem Kapitalismus ausgebeutet. Und Soziale Ökologie hilft dabei, die eigentliche Ursache davon zu finden. Man will ja auch keine Ärztin, die nur Symptome behandelt, sondern eine, die die hinter den Symptomen steckende Krankheit behandelt. Und diese dahintersteckenden Krankheiten sind Herrschaft und die hierarchische Ordnung aller existierenden Phänomene. Und ihre Symptome sind Kapitalismus, Privateigentum, Rassismus, Gender-Hass, Krieg und all das.

Außerdem beinhaltet die Soziale Ökologie eine sehr starke Kritik an klassischem Umweltschutz. Denn Soziale Ökologie ist etwas anderes. Umweltschutz betrachtet nur Teilprobleme und betreibt keine Systemanalyse. Umweltschützer*innen sehen sich nur die Phänomene an und wollen natürlich etwas gegen sie tun. Aber sie verbinden sie nicht mit den Konzernen, dem Nationalstaat und der hierarchischen Mentalität und Epistemologie. Sie kommen somit nicht zu den zugrundeliegenden Ursachen und was dabei herauskommt sind »umweltfreundliche Unternehmen«.

Erst neulich hat Luisa Neubauer, eine FFF-Aktivistin, an einer Videokonferenz der NATO teilgenommen und ihnen erklärt, wie sie CO2-neutral werden können.

Ja, und dann haben wir ein grünes Militär (lacht). Lass uns dominieren und ausbeuten, aber lass es uns grün und umweltbewusst machen. Es ist genau diese Art von Wahnsinn! Der Direktor der CIA unter der Biden-Administration ist ein Schwarzer Mann. Als ob es das besser machen würde! Es nimmt wirklich einen Level von Absurdität an! Und sowas kann sogar eine Art ökofaschistische Pipeline sein, die zu einer Verstärkung von Sozialdarwinusmus führen kann, was wiederum bis zur Eugenik führen kann: »Hey, lass uns doch Bevölkerungskontrolle betreiben!« Davor und vor dem Umweltbewusstsein der Nationalstaaten und Regierungen müssen wir auf der Hut sein! Deshalb ist Soziale Ökologie so wichtig. Sie verbindet das Ökologische mit dem Politischen, dem Sozialen und dem Ökonomischen.

In der ersten Episode eures Podcasts 1000 Cuts sprecht ihr von der Hyper-Individualisitischen Ideologie in unserer Gesellschaft und überall um uns herum. Wo siehst du Möglichkeiten, Menschen aus ihrer Atomisierung herauszuholen?

Ich denke, dass diese Art von Hyper-Individualismus und Unglücklichsein tatsächlich ein logisches Nebenprodukt des Lebens in einer hierarchischen Klassen- und Konsumgesellschaft ist. Aber es liegt eine große Leere darin, sich nur auf sich selbst zu fokussieren. In Wahrheit kommt so viel unserer Freude von Dingen außerhalb von uns selbst!

Und manchmal braucht es echte Tragödien wie den Tod von George Floyd, möge er in Liebe ruhen, um Menschen aufzuwecken und zu radikalisieren. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, zum Beispiel in Korea und Deutschland. So viele Leute mit so verschiedenen Hintergründen unterstützen #BlackLivesMatter! Das macht mich wirklich emotional und es zeigt die tiefsitzende Solidarität in Menschen, die unter all diesen, durch unsere aktuelle Gesellschaft verursachten, Lagen von Verzweiflung begraben ist. Aber wir sind dazu fähig, frei zu sein!

Und dabei geht es nicht nur darum, abstrakte gesellschaftliche Herrschaft und Unterdrückung zu überwinden. Sondern darum, frei zu sein von Mangel an materiellen Notwendigkeiten. Einen großen Teil unseres Lebens im Kapitalismus verbringen wir damit, für Unternehmen zu schuften, ohne dass sich unsere Arbeit verbunden zu etwas sinnvollem, lebensbejahenden anfühlt. Das ist was Marx Entfremdung oder entfremdete Arbeit nennt. Und das alles, um erfundenes Zeug namens Geld zu bekommen und sich davon die Erfüllung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse, wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf zu erkaufen. Stattdessen könnten wir in einer Gesellschaft leben, die den Menschen zur Verfügung stellt, was sie zum Leben brauchen: Nahrung, Kleidung, eine Unterkunft und so weiter. Den Menschen das zu geben, würde bedeuten, dass die Gemeinschaft eine echte Verantwortung gegenüber dem Individuum hätte. Und ich denke, wir haben diese Verantwortung und dieses Verständnis verloren.

Tragödien wie beispielsweise die Corona-Pandemie haben den Menschen das eklatante Versagen des Nationalstaates gezeigt, insbesondere hier in den USA. Wir gehen eben immer voran! (lacht). Und ich denke, dass der Anarchismus, was das angeht bestätigt wurde. Denn er zeigt diese Versäumnisse des Nationalstaates und des bürokratischen Systems mit allen seinen Verwaltungswegen, Befehlsketten, Ämtern und Behörden auf. Anarchist*innen haben nichts gegen Struktur und Ordnung. Aber Bürokratie macht Dinge langsam, verkompliziert sie und entfremdet Menschen von der Entscheidungsfindung.

Auch wenn es manchmal sehr gute Gründe gibt, das teilweise zu ignorieren, schränkt die Pandemie die Linke zur Zeit darin ein, was sie im öffentlichen Raum tun kann. Aber was derzeit alle machen können, ist das persönliche Umfeld zu radikalisieren. Was hälst du von diesem Ansatz als politisches Instrument?

Ich denke, er ist zentral, aber kann auch hart sein. Die meisten Menschen, auch unter den geliebten Menschen, die einem nahestehen, sind keine Marxist*innen, Sozialist*innen oder Anarchist*innen und betreiben keine systemische Analyse. Und auch das ist ein Nebenprodukt des Lebens in einer hierarchischen Klassengesellschaft. Wenn die Menschen eine derartige Analyse betreiben würden, würden sie sehen, dass die Umwelt nicht immer so gewesen ist, sondern, dass sie eine in der Menschheitsgeschichte relativ neue Konstruktion ist. Und dann würden sie nicht mehr gehorchen und den Regeln folgen. Sie wüssten dann, dass das alles Bullshit ist und dass wir alles abreißen und neue Systeme aufbauen können, die effizienter, funktionaler, ethischer und humaner sind.

Deshalb wird das kapitalistische System immer ein stark individualistisches Denken fördern, das sich auf Persönlichkeiten fokussiert, anstatt ein systemisches Denken zu fördern, dass sich auf Institutionen und Strukturen konzentriert. Man sieht das gut, wenn man sich die Morde an Mr. Floyd und an Menschen vor ihm wie Ahmaud Arbery oder Breonna Taylor sowie die globale Institution der Polizei ansieht. Es zeigt einem, dass die Polizei selbst das Problem ist und nicht die Individuen, aus denen sie besteht. Aber wenn man solche Unterhaltungen mit Menschen im eigenen Umfeld führt, dann bekommt man Antworten wie: »Naja, aber ich kenne diese eine Person und er ist ein Cop und er ist wirklich ein guter Mensch.« Aber es ist mir scheißegal, ob dein Onkel ein guter Mensch mit Dienstmarke ist. Das ändert nichts an dem Fakt, dass Cop-Familien wesentlich höhere Raten von häuslicher Gewalt und Drogensucht haben oder dass Polizist*innen regelmäßig Menschen vergewaltigen. Und die Institution der Polizei ist noch nicht einmal effizient! Wir haben hier eine Chance von 40 Prozent, dass ein Mordfall ungelöst bleibt. Die Institution funktioniert einfach nicht.

Aber man muss diese Gespräche trotzdem führen, denn man weiß nie, was bei Menschen hängen bleibt. Freunde von mir, die nichts gegen den Kapitalismus hatten, die liberale oder sogar teilweise konservative Ansichten hatten, haben wirklich angefangen, sich zu ändern und Dinge zu hinterfragen. Warum kommen zum Beispiel prominente und reiche Menschen an Corona-Impfungen während normale, hart arbeitende und gute Menschen aus der Arbeiter*innenklasse keine bekommen, sondern stattdessen in Scharen sterben? Sie beginnen also die Hierarchien und Klassenteilung zu hinterfragen. Andere Menschen mit denen wir reden werden dickköpfig sein. Aber einige erkennen, sobald sie die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten einmal sehen, dass wahr ist, was wir sagen.

Ich beobachte, wie Menschen sich radikalisieren und ich versuche, einige meiner Freund*innen zu radikalisieren. Zum Beispiel versuche ich eine mexikanische Freundin dazu zu bringen, etwas von den Zapatistas aus Chiapas zu lesen! Sie sind, wie die Menschen in Rojava, ein Leuchtfeuer für die Welt. Ich denke also, dass man das Persönliche politisch machen muss, insbesondere als Schwarze oder BIPoC Person. Denn die Menschen am unteren Ende der rassistischen globalen Hierarchie werden die ersten sein, die den Schmerz spüren und die leiden, wenn es um Rassismus, um Sexismus, um Klimawandel und allgemein um die Art geht, in der das Kapital und der Neoliberalismus unsere Leben misshandeln. Wir müssen diese Gespräche also definitiv in unseren Communities führen.

Dasselbe gilt aber auch für weiße Menschen! Als die dominante Kraft weltweit, die vom globalen Projekt der weißen Vorherrschaft proftitiert, müssen auch sie diese Unterhaltungen führen. Sie müssen sich dazu entscheiden, diese schwierigen Unterhaltungen am Esstisch zu führen: »Opa, es ist einfach keine gute Idee, rassistisch zu sein, das bringt’s einfach nicht!« Das gleiche gilt auch für mich als Schwarzen Mann. Ich muss mich anders verhalten und ich muss mit anderen Männern darüber sprechen, Misogynie, Homophobie und Transphobie zu beenden. Also ja, wir müssen wirklich anfangen das Persönliche zum Politischen zu machen.

Gibt es noch etwas, das du gerne hinzufügen oder hervorheben möchtest?

Wir haben ja schon über vieles gesprochen, aber um das Interview positiv zu beenden, würde ich gerne hinzufügen: Erlaubt euch nicht, in Verzeiflung, Depressionen oder Angst zu versinken. Macht wirklich alles, das euch im aktuellen Moment Freude, Hoffnung und Positivität bringt. Dann lasst euch davon antreiben, rafft euch auf, geht raus und organisiert euch mit den Menschen in eurer Community! Denn, um den großen Mr. Rogers zu zitieren: »Sucht immer nach den Helfer*innen!« Die Dinge können düster und dunkel erscheinen. Aber sucht immer nach den Helfer*innen und versucht selbst welche zu werden!

Und eine weitere Sache, die ich den Menschen gerne sagen würde ist: Habt keine Angst davor, euch gegenseitig zu helfen oder Hilfe anzunehmen! Erst kürzlich haben meine Familie und ich sehr von gegenseitiger Hilfe profitiert. Wir hatten mit dem Kälteeinbruch zu kämpfen und einer meiner Genossen hat uns mit Wasser zum Trinken oder zum Spülen der Toilette ausgeholfen. Ein anderes Beispiel ist eine Mutual-Aid-Gruppe hier in Houston, die uns ein Rohrstück organisiert hat, das schwierig zu bekommen war, das wir aber gebraucht haben, da eines unserer Rohre geplatzt war. Also genau sowas! Habt keine Angst davor, in die Community zu gehen und Hilfe anzubieten und anzunehmen. Habt keine Angst davor, euch mit Leuten, die anders sind als ihr, zu organisieren und gemeinsam Strategien zu entwickeln, um uns verdammt nochmal endlich zu befreien! Tut also alles, um euch mit Freude zu wappnen. Dann nutzt diese Freude, eure eigene Stärke und Autonomie und verändert euer Leben und das Leben der Menschen um euch herum.

Ich bin wirklich froh, dass ich diese Frage gestellt habe. Ich denke, das ist eine sehr schöne Antwort. Meine letzte Frage ist: Was können wir hier tun, um euren Kampf zu unterstützen?

Dinge wie dieses Interview unterstützen uns wirklich. Sprecht mit uns, teilt unser Bildungsmaterial. Es ist auch immer gut uns einzuladen, um über Politik und die Frage, was wir tun sollten, zu sprechen. Außerdem ist es möglich Zeit oder Ressourcen für die Dinge, die wir hier machen zu spenden. Und wir haben Twitter, Insta und einen Podcast, der wirklich zugänglich ist.

Aber das Wichtigste, was die deutsche Linke tun kann ist, diese Ideen, Strategien und Ressourcen zu nehmen und sie an ihren eigenen Kontext anzupassen. Fangt an, den Scheiß dort anzugehen, wo ihr eben seid, in Berlin, Köln oder wo auch immer. Denn es geht nicht darum, dass BSA der Shit ist. Es geht darum, dass die Linke der Shit ist, sodass wir alle befreit werden können. Genau darum geht’s am Ende!

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Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier)

Erst kürzlich habt ihr umfangreiche Kernprinzipien veröffentlicht, die euren politischen Standpunkt und euren Aktionsplan beschreiben. Was waren eure Gründe dafür?

Eine Organisation wie die unsere muss sich im Klaren über ihre Überzeugungen, ihre Ideologie und ihre Praxis sein. Aber viele linke Gruppen sind in dieser Hinsicht auf eine gefährliche Art sehr vage. Sie haben Mitglieder mit Ideologien, die letztlich im Widerspruch zueinander stehen. Überzeugte Campist*innen (Antiimperialist:innen, die zu Fans jener Staaten werden, die gegen die USA stehen, etwa Russland, Iran, etc., d.Red.) passen nicht besonders gut zu internationalistischen oder interkommunalistischen Tendenzen in der selben Organisation.

Ein weiterer Grund ist, dass wir viel politische Bildung betreiben. Und die Überzeugungen vieler Menschen sind nicht schlüssig, sie sind einfach von verschiedenen Personen aufgeschnapptes Geschwafel. Deshalb ist es uns so wichtig, dass wir so detaillierte Kernprinzipien haben, die auch auf Nuancen und Details eingehen. Denn so wissen die Leute wirklich, was unsere Theorie und vor allem unsere Praxis ist. Denn viele Linke sind vage und opportunistisch und wollen nur Leute anwerben, egal wer kommt. Aber darum geht es uns nicht. Wir sind keine Massenpartei, sondern eher eine Katalysator-Organisation. Wir sind da, um Leute zu unterstützen und sie dazu anzuspornen, selbst loszugehen und vor Ort auf direktdemokratische und autonome Art auf einen Systemwandel hinzuarbeiten. Man muss ehrlich sein in Bezug auf die eigenen Überzeugungen. Und auch wenn das beängstigend sein kann und verwundbar macht, wird es Leute geben, die einen respektieren, weil sie wissen wer man ist und weil man zu den eigenen Prinzipien steht. Man ist nicht Wischiwaschi.

Das erste, was ihr in euren Prinzipien schreibt, ist, dass ihr Wissenschaftliche Sozialist*innen seid. Warum sind euch die Prinzipien und Methoden des Wissenschaftlichen Sozialismus so wichtig?

Als ich gerade angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, hat ein Genosse zu mir gesagt, dass Wissenschaftlicher Sozialismus den Unterschied ausmacht zwischen Linken, die etwas auf die Reihe bekommen und denen, die es nicht tun. Er war da sehr direkt, aber es ist die Wahrheit. Eine zutiefst von wissenschaftlicher Methodik geprägte Ideologie ist der einzig richtige Weg. Dabei dürfen wir jedoch nicht in Szientismus verfallen, also die Ansicht, dass menschliches Wissen ausschließlich durch wissenschaftliche Methodik erlangt werden kann. Wir müssen bei unserer Analyse von Systemen und Strukturen der Herrschaft und Ausbeutung materiell und empirisch sein. In Bezug darauf, wie unsere Welt zustande gekommen ist und wie sie aussieht, können wir uns nicht in idealistische Phantasien zurückziehen.

Außerdem ist es wichtig, dass unsere sozialistische Theorie und Praxis auf Geschichte, Anthropologie, Psychologie, Physik, Biologie und so weiter basiert. Wir können nicht wie rechte Libertäre sein, die den Markt auf antike, vorschriftliche Völker projizieren. Als ob es den Markt schon immer gegeben hätte. In seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre sagt der große David Graeber, möge er in Liebe ruhen: »Das ist Bullshit!« Es ist also sehr wichtig, von diesen wissenschaftlichen Forschungsfeldern auszugehen und zu versuchen, empirisch zu sein.

Schauen wir zum Beispiel die Propaganda gegen die menschliche Natur an, der wir in der hierarchischen Klassengesellschaft unterworfen sind. Menschen seien von Natur aus konkurrenzorientiert und gewalttätig und könnten niemals sich selbst überlassen werden, weil das nur Chaos gäbe. Wenn man sich aber die tatsächlichen soziologischen und anthropolgischen Belege ansieht, wie Kropotkin vor langer Zeit oder Rutger Bregman in seinem jüngsten Buch Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit, dann sind Menschen sehr viel besser als behauptet. Rebecca Solnit hat in ihrem Buch A Paradise built in Hell darüber gesprochen, wie Menschen in Katastrophenszenarien zusammenkommen und kooperieren. Und ich habe das hier in Houston, Texas während dem Hurrikan oder auch dem jüngsten Kälteeinbruch gesehen: So viel gegenseitige Hilfe!

Außerdem gibt es noch das Buch Tribe von Sebastian Junger, in dem er aufzeigt, wie Menschen evolutionär dazu gemacht sind, in Gruppen zu leben, in einer Gemeinschaft zu sein. Diese Propaganda, dass Menschen Monster sind und bla bla bla, die aus der sozialdarwinistisch beeinflussten Wissenschaft kommt, rechtfertigt im Grunde nur Hierarchien und Paternalismus. Die These von denen ist: Weil ihr Idioten euch nicht selbst regieren könnt, braucht ihr eine Daddy-Figur, die euch sagt, was zu tun ist.

Und schließlich hilft uns eine wissenschaftlich-sozialistische Perspektive auch dabei, unsere jetzigen Verhältnisse zu betrachten und zu sehen, dass es diese ganzen Strukturen und Mechanismen nicht immer gegeben hat. Und eben weil es sie in der Vergangenheit nicht immer gegeben hat, können wir dafür sorgen, dass diese Scheiße auch in Zukunft wieder verschwindet.

Später fügt ihr hinzu, dass ihr euch keinen, wie ihr es nennt, »Markennamen« wie Anarchist*in,Trotzkist*in oder Marxist*in-Leninist*in geben wollt. Was waren eure Gedanken dahinter?

Ich denke, dass es für uns sehr wichtig ist, nicht sektiererisch zu sein. Wenn man sich diese gesamte Marxismus-gegen-Anarchismus-Debatte ansieht, die bis heute weitergeht, dann muss man manchmal einfach auf diese Bezeichnungen verzichten, weil mit ihnen so viel Geschichte und Ballast verbunden ist. Man würde nur den gleichen alten Kampf wiederholen und zur Zeit der ersten Internationalen und dem Streit zwischen Bakunin und Marx zurückgehen. Wenn man aber wirklich auf die Ideologien achtet, stellt man fest, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als manche denken. Dieser ganze Streit und das Drama führen zu nichts. Es gibt also Momente, in denen wir auf solche Labels und Identitäten verzichten müssen. Auch wenn wir als Organisation fest an Identität, speziell als Schwarze Menschen, glauben. Bezeichnungen haben natürlich ihren Sinn. Dinge brauchen Namen, um sie zu verstehen und zu kategorisieren. Aber gleichzeitig verfängt man sich schnell darin und schaut nicht mehr empirisch, wie die Dinge konkret funktionieren. Aber wir müssen empirisch sein. Deshalb ist es für uns so wichtig, nicht sektiererisch zu sein. Es wird sowieso zum Vorschein kommen, wofür wir stehen

Manche Leute sind auch überrascht, wenn wir etwas von Anarchist*innen aus Japan posten. Oder wenn wir nicht nur Zeug von Marx, sondern auch von Bakunin und Kropotkin posten. Aber wir sind von Bookchin geprägt und er ist von Marx und Kropotkin geprägt. Es ist also wichtig, flexibel zu sein. Denn unabhängig von den jeweiligen Tendenzen vieler Denker*innen gibt es immer einige Stücke Wissen und Wahrheit, die man aus ihrer Analyse, Geschichte und Praxis ziehen kann. Also lest Marx! Aber lest auch Kropotkin und Kuwasi Balagoon oder Ashanti Alston. Lest sie alle! Seid selbst dazu bereit, Werke von Autoritären zu lesen! Lest Lenin, lest Mao! Aber immer mit einem kritischen Auge.

Ihr hebt auch die Wichtigkeit von dezentralen und direkt-demokratischen Strukturen hervor, um, wie ihr es nennt »echte Demokratie« aufzubauen. Eure Strategie dazu hat drei Pfeiler: Teilnahme am politischen Prozess, direkte Aktion sowie den Aufbau von Dual Power. Kannst du erklären, warum ihr diese drei gewählt habt und warum sie so wichtig sind?

Ich denke, es ist mittlerweile Common-Sense, dass es wichtig ist, sich in den politischen Prozess einzubringen und die eigene Umgebung zu verändern. Und ich meine damit nicht, sich auf nationaler Ebene zu engagieren, sondern auf lokaler Ebene, wo man eben ist. Aber selbstverständlich haben wir auch sehr ernste Bedenken in Bezug auf die repräsentative Demokratie, denn es handelt sich dabei nicht um echte Demokratie. Echte Demokratie ist direkte, wirklich kommunale Konsensbildung.

Das Zweite ist die direkte Aktion. Dazu gehören Proteste, Demonstrationen und Streiks. Wobei Streiks wiederum mit Dual Power zusammenhängen. Denn beim Durchführen bestimmter Streiks oder sogar eines Generalstreiks ist es gut, wenn man bereits eine alternative Infrastruktur aufgebaut hat, auf die sich die Streikenden verlassen können. Und auch wenn die Linke ernsthafte Kritikpunkte an Gewerkschaften hat, müssen die Menschen sich in diese Organisationen der direkten Aktion einbringen.

Und dann Dual Power: Das ist die Schaffung von neuer Infrastruktur und neuen Systemen, die nach anderen Logiken als denen des Staates oder des Kapitals funktionieren. Die nicht hierarchisch sind und wirklich eine Gegenmacht zu Staat und Kapital aufbauen können. Ich rede hier von Worker-Self-Directed-Enterprises und Arbeiter*innen-Kooperativen, Community-Land-Trusts und solchen Dingen. Es ist auch wichtig, andere, nicht-hierarchische Beziehungen zueinander zu haben, die nicht auf rassistischer Engstirnigkeit, Genderhass, Hass auf andere Religionen oder Ähnlichem basieren. Unsere Zusammenarbeit mit Cooperation Jackson ist ein gutes Beispiel für den Aufbau von Dual Power. Genau wie sie kann man dort aufstehen, wo man lebt und auf tatsächliche Systemveränderung drängen.

Ich denke, dass hier auch Selbstverteidigung ein wichtiger Aspekt ist. Öcalan sagt dazu beispielsweise, dass diese Verteidigung nicht nur militärisch sondern auch idelologisch wichtig ist.

Ja, obwohl das Projekt in Rojava nicht perfekt ist, kein Projekt kann unter diesen Bedingungen perfekt sein, ist es ein Leuchtfeuer für die ganze Welt. Es ist ein multi-ethnisches, multi-nationales und internationalistisches Projekt. Es ist offen und Menschen können sich in die Gemeinschaft einbringen. Aber für sie ist es auch zentral, die Möglichkeiten zu haben, sich und ihr wunderbares Projekt zu verteidigen. Ich denke also, dass Rojava ein großartiges Beispiel dafür ist. Lang lebe Rojava!

Ihr betont wiederholt, dass sich diese direkt-demokratischen und nicht-hierarchischen Prinzipien auch in eurer Organisation wiederspiegeln müssen. Aus diesem Grund lehnt ihr charismatische Führungsfiguren und Avantgardismus ab. Es wird aber immer Menschen geben, die sich mehr in den Kampf einbringen als andere. Und Anarchist*innen neigen historisch dazu, in diesem Punkt sowie im Hinblick auf das Übernehmen von Macht naiv zu sein. Ein gutes Beispiel ist hier die Spanische Revolution. Was ist in Bezug auf diese Kritikpunkte euer Ansatz?

Ich denke, dass es aus diesen Gründen wichtig ist, Anararchist*innen zu haben, die auf die Geschichte schauen und versuchen, daraus zu lernen. Menschen wie Bookchin kritisieren genau das und versuchen aus den Niederlagen unserer anarchistischen Vorgänger*innen zu lernen.

Wir Anarchist*innen und staatskritische Linke, ich spreche hier für mich und nicht für die ganze Organisation, müssen einen besseren Diskurs über den Machtbegriff führen. Was meinen wir, wenn wir Macht sagen? Wie sieht sie aus? Anarchist*innen sind nicht daran interessiert, die Macht dort zu ergreifen, wo sie aktuell ist, sondern fordern sie heraus. Wir wollen eine neue Form der Macht kultivieren, die von unten nach oben funktioniert. Eine Macht, die direkt von der Arbeiterklasse, den Armen, den Unterdrücken und den historisch marginalisierten Gruppen dieser Welt ausgeht. Wohingegen Autoritäre versuchen, die bereits existierenden, hierarchischen Strukturen und Herrschaftssysteme an sich zu reißen, um sie für ihre vermeintlich »befreienden« Ziele zu nutzen. Diejenigen, die in der Vergangenheit versucht haben, die Macht an der Spitze zu kontrollieren oder zu zügeln, wurden letztendlich von der Logik dieser Macht absorbiert, transformiert oder zerstört. Daher liegt der Schlüssel für uns darin, eine neue Macht an der Basis aufzubauen, die die Logik der Macht von Staat und Kapital untergräbt. Wir wollen diese Strukturen durch den Aufbau von Macht von unten überflüssig machen, die auf direkter Demokratie anstelle von Hierarchie, Bürokratie und Autoritarismus basiert.

Und in Bezug auf den ersten Punkt müssen wir die Welt, in der wir leben wollen, bereits andeuten. Wir wollen eine nicht-hierarchische Welt. Wir müssen diesen Samen also bereits in unseren Bewegungen und Organisationen pflanzen und keimen lassen. Deshalb brauchen wir keine Parteien, sondern Kollektive, die direktdemokratisch und autonom sind und versuchen, die Menschen zu ermutigen statt sie zu entmutigen.

Ein wichtiger Grund für uns, mit diesem Paternalismus zu brechen, liegt darin, dass wir uns die Geschichte der Black Panther Party ansehen. Und Figuren wie Huey P. Newton, David Hilliard oder Fred Hampton, so brilliant sie waren, hatten einfach zu viel Macht und Autorität in der Partei. Wenn man sich die Analysen von Personen wie Lorenzo Ervin oder Russel Maroon Shoatz ansieht, dann argumentieren sie, dass eben diese hierarchische Struktur der Black Panther Party das war, was sie für Unterwanderung und Zerschlagung durch den Staat anfällig gemacht hat. Auch Donald Cox hat Held*innenverehrung, Paternalismus und dem Warten auf Erlöserfiguren sehr gut analysiert. Wir müssen einsehen, dass diese Herangehensweise es einfach nicht bringt. Wir sollten in unseren Bewegungen nicht die selben Systeme der Herrschaft replizieren, die wir bekämpfen.

Ich spreche hier aus einer spezifisch Schwarzen und New-Afrikan Perspektive. Schaut euch den revolutionären Nationalismus und Pan-Afrikaische Revolutionär*innen wie Thomas Sankara oder Kwame Nkrumah an. Viele von ihnen waren brilliant, aber eben auch autoritär und sie waren auf verschiedene Arten repressiv. Trotzdem werden sie in der revolutionären Schwarzen Linken verehrt und idealisiert, ohne auf die von ihnen unterstützte staatliche Repression zu schauen. Das selbe gilt für Kuba, Che und Fidel, so großartig sie auch waren. Ich denke also, dass es wichtig ist, diesen paternalistischen Einstellungen zu brechen und zu zeigen, dass die wahren Held*innen nicht diese revolutionären Figuren sondern die Menschen vor Ort sind, die die tägliche Organisationsarbeit leisten. Diejenigen, die man nicht sieht und deren Namen man nicht hört. Und sie wollen noch nicht einmal, dass sie gesehen und ihre Namen gehört werden. Denn was viel wichtiger ist ist die Arbeit, die uns dabei hilft, die Freiheit zu gewinnen.

# Titelbild: Arbeiterkooperative Cooperation Jackson

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Die Klimakatastrophe schreitet unvermindert voran, während sich die bürgerliche Politik im „grünen Kapitalismus“ übt und teile der Klimabewegung immer noch der Hoffnung in die aussichtlose Reform des Kapitalismus zum Klimaschutz hingeben. Aktion Klimakampf in einem Gastbeitrag warum eine reovolutionäre antikapitalistische Organisierung gegen die Klimakatastrophe notwendig ist.

Was bedeutet die Erwärmung der Erde für uns?
Zwei Grad: Die Korallenriffe sterben fast vollständig ab, Hitzewellen wie jene in Europa im Jahr 2003, an der zehntausende Menschen starben, werden Alltag.
Drei Grad: Viele Küstenstädte der Erde versinken im Meer, die Golfregion wird für Menschen unbewohnbar.
Vier Grad: Indien, Bangladesch und große Teile Chinas zu werden zu Wüsten, in Europa herrscht permanente Dürre.

Und das Pariser Klimaabkommen? Wenn alle Staaten die Ziele einhalten würden, die sie sich im Rahmen dieses Abkommens gegeben haben, dann – so steht das in dem UN-Bericht „Emission Gap Report“ – liefe das auf eine Erwärmung von 3,2 Grad hinaus. Aber die Staaten halten sich nicht an diese Klimaziele. Das liegt nicht daran, dass irgendjemand den Ernst der Lage noch nicht begriffen hätte. Seit 1979 ist offiziell bekannt, dass Treibhausgase die Erde erwärmen und was das für die Menschheit bedeutet. Seither sind die Emissionen kontinuierlich weiter angestiegen. Es liegt daran, dass kapitalistisches Wirtschaften und Klimaschutz einen unauflösbaren Widerspruch bilden. Die Klimabewegung in Deutschland weiß das.

Das „System, welches die Erde zerstört“, schreibt Extinction Rebellion Deutschland in seinen „Prinzipien und Werten“, basiere auf folgenden Säulen: der „Kultur des rücksichtslosen Konsums und der Ausbeutung von Menschen und Natur“, „zunehmendem Ressourcenverbrauch, Profitmaximierung und auf Wachstum basierenden Wirtschaftssystemen und Finanzsystemen“ und einem Diskurs, „der wirtschaftlichen Argumenten mehr Raum gibt, als Demokratie-, Umwelt- und Sozialaspekten“. Den Ruf ihres britischen Vorbilds nach „Change“, Veränderung, übersetzen sie mit „(System)wandel“.

„Kohle stoppen, Systemwandel jetzt!“, prangt als Aufruf im Header der Ende Gelände-Homepage. Und selbst Luisa Neubauer schreibt in einem Artikel über die Proteste im Dannenröder Forst im Spiegel: „Wenn eine Autobahn gebaut werden darf, damit ein Süßwarenhersteller seine Süßwarenlastwagen ein paar Minuten schneller von A nach B fahren lassen kann, müssen wir uns fragen, was wir dagegen tun können, dass in diesem politischen System wie selbstverständlich Konzerninteressen vor Menscheninteressen, Wachstumsideologie vor Lebensgrundlagenerhalt gestellt werden können.“ Nötig sei „ein Systemwandel“.

Alle wichtigen Akteure der Klimabewegung hierzulande sehen, dass das kapitalistische System die Ursache unseres Problems ist. Das ist – zumindest im Fall von XR und FFF – eine relativ neue Entwicklung. Aber es ist eine Entwicklung, die passieren musste. Weil man nicht ernsthaft für Klimaschutz kämpfen kann, ohne dass einem an jeder Front das Kapital gegenübersteht und seinen Drang nach Profiten und Wirtschaftswachstum gegen die Bedürfnisse von Mensch und Natur verteidigt.

Die Klimabewegung weiß, dass der Kapitalismus der Klimagerechtigkeit entgegensteht. Aber ihr fehlt eine Analyse davon, was „Kapitalismus“ bedeutet. Deswegen spielt diese Erkenntnis in der Praxis bislang kaum eine Rolle. Das muss sich ändern. Es braucht eine Strategie. Wir sind ein Zusammenschluss von Menschen, die sich als Teil der Klimabewegung in Deutschland verstehen und sich in konkreten Kämpfen politisiert haben. Uns eint die Überzeugung, dass aus unserer theoretischen Erkenntnis über die Rolle des Kapitalismus für die Klimakrise praktische Konsequenzen folgen müssen. Als „Aktion Klimakampf“ streben wir den Aufbau einer einheitlichen, klassenkämpferischen und revolutionären Organisation für den Klimakampf an, deren Struktur die praktische Konsequenz aus unserer Analyse des herrschenden Systems und aus unseren Erfahrungen im Kampf gegen die Klimakrise sein soll.

Der Kern des Kapitalismus

Wenn alle heutigen Kohlekraftwerke so weiterlaufen wie geplant, dann würden deren Emissionen alleine ausreichen, um das 1,5 Grad-„Ziel“ zu überschreiten. Das ist kein Geheimnis und deswegen ist – das zeigen alle Umfragen – eine absolute Mehrheit der Menschen in Deutschland für das sofortige Ende der Kohlekraft. Aber die Mehrheit der Menschen hat in dieser Frage nicht mitzureden.

Kapitalismus bedeutet, dass Entscheidungen, die alle betreffen, von einer sehr kleinen Gruppe sehr reicher Menschen getroffen werden. Und zwar auf genau einer einzigen Grundlage: Der des Profits.

Der Grund dafür liegt in den Eigentumsverhältnissen. Sie bilden den Kern des Kapitalismus – und deswegen auch den Hebel zu seinem Sturz.

Im Kapitalismus ist die Produktion eine gesellschaftliche. Das bedeutet: In die Herstellung und Verteilung all jener Dinge, die wir alltäglich konsumieren, ist – fast – die ganze Gesellschaft eingebunden. Bevor eine Tomate als Ketchup bei uns auf dem Teller landet, ist die Arbeit von hunderten Menschen darin eingeflossen: in das Pflücken der Tomaten, die Verarbeitung zu Ketchup, das Design der Ketchupflasche, den Verkauf und immer wieder den Transport. Die Mittel der Produktion dagegen – die Tomatenplantagen, Verpackungskonzerne und Ketchupfabriken – befinden sich in den Händen einiger Weniger. Diese Wenigen treffen die Entscheidungen über die gesellschaftliche Produktion und ziehen aus ihr Profite. Dabei befinden sie sich in einem permanenten Wettstreit miteinander um die größtmögliche Profitspanne. Wer zu wenig Profite macht, verliert und verschwindet vom Markt. Eine wichtige Möglichkeit, die eigene Profitspanne zu vergrößern, ist es, die eigene Produktion auszubauen. Wenn BMW eine neue Technologie implementiert, die es dem Konzern ermöglicht, mehr Autos als früher in kürzerer Zeit herzustellen, dann müssen alle anderen Automobilkonzerne nachziehen – sonst könnte BMW sie langfristig vom Markt verdrängen. Der „Wachstumszwang“ des Kapitalismus entspringt diesem Mechanismus.

Gleichzeitig entspringen alle Profite der Ausbeutung von Menschen und Natur. Deswegen werden sich die Eigentümer:innen und Shareholder:innen niemals freiwillig entscheiden, diese Ausbeutung zu verringern oder zu beenden. Genauso, wie das Kapital stets versucht, die Löhne zu drücken und den Arbeitstag zu verlängern, versucht es auch stets, die Ausbeutung der Natur zu intensivieren. Vergiftete Flüsse. Brandrodung im Regenwald. Massentierhaltung. Überdüngung von Böden. Abgasskandale. Hinter all diesen Phänomenen stehen aktive Entscheidungen. Entscheidungen, die Shareholder:innen und Kapitalist:innen getroffen haben, getroffen im Wettstreit um die höchstmögliche Profitspanne. Es gibt nur einen Weg, diese Mechanismen außer Kraft zu setzen: Wir müssen die Eigentumsverhältnisse umwerfen, die dahinter stehen. Denn wenn die Wirtschaft sich in den Händen der Gesellschaft befindet, wird das Konkurrenzverhältnis aufgelöst – und damit auch der Zwang, die Profite zu vergrößern. Das Einzige, was dem entgegen steht, ist der Eigentumstitel. Denn die Produktion ist ja bereits gesellschaftlich. Privatisiert sind nur die Profite – und die Entscheidungsmacht.

Die hunderttausenden Menschen, die in Deutschland in der Automobilindustrie arbeiten, haben sich nicht dafür entschieden, jedes Jahr mehr SUVs mit immer höherem Schadstoffausstoß zu produzieren. Sie haben nicht einmal die Entscheidung getroffen, unbedingt Autos herstellen zu wollen. In ihren Werken ließen sich durchaus auch ganz andere Produkte produzieren. In der Corona-Krise haben Zuliefererbetriebe wie Bosch Corona-Schnelltests hergestellt und Automobilkonzerne wie General Motors und Seat Beatmungsgeräte gebaut. Die Beschäftigten treffen im Betrieb nicht die Entscheidungen. Aber sie können sich weigern, Entscheidungen umzusetzen. Sie können streiken.

Der politische Streik ist das wirksamste Mittel der Eigentumslosen, ihre Interessen durchzusetzen. Er war und bleibt ein wichtiges Kampfmittel, um die Eigentumsverhältnisse der Gesellschaft anzugreifen. Für uns bedeutet das, dass wir in unseren Kämpfen gegen die Klimakrise stets versuchen wollen, eine Verbindung zur organisierten Arbeiter:innenbewegung zu schlagen. Wir wollen die kämpferischsten Teile der Belegschaften ansprechen, uns mit ihnen vernetzen und ihre Kämpfe mit unseren verbinden. Allerdings hat die Arbeiter:innenbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten viel von ihrer Kampfkraft verloren. Durch Sozialpartnerschaft und Vereinzelung, durch Bestechung und Spaltung. Wir wollen aktiv dabei mithelfen, diesen Zustand zu durchbrechen. Der Klassenkampf ist keine Parole von vorgestern – er ist unser wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Klimakrise.

Die Rolle des Staates

Wenn das Einzige, was uns von wirksamen Entscheidungen im Kampf gegen die Klimakrise trennt, der Eigentumstitel ist – warum halten wir ihn dann immer weiter aufrecht? Der Grund dafür ist, dass das Konzept des kapitalistischen Eigentums einen mächtigen Beschützer hat: den Staat. Der Nationalstaat, wie wir ihn heute kennen, ist mit der Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems entstanden. Die Aufgabe des Staates im Kapitalismus ist es damit seit seiner Entstehung, seine nationalen Konzerne nach außen zu schützen – und die Eigentumsverhältnisse nach innen aufrecht zu erhalten.

Wenn der deutsche Staat mit dem Mercosur-Abkommen dazu beiträgt, dass der Regenwald in Brasilien noch schneller für Soja niedergebrannt wird, dann tut er das für die Unterstützung seiner Chemie- und Fleischkonzerne. Und wenn er Menschen, die Essen aus dem Müll fischen, mit Strafen überzieht, während gleichzeitig Modekonzerne ungestraft Millionen Tonnen Kleidung verbrennen dürfen, dann tut er das, weil es seine wichtigste Aufgabe ist, die Eigentumsverhältnisse durchzusetzen – ungeachtet der gesellschaftlichen Folgen.

Diese Aufgabe hat der Staat unabhängig von der Frage, welche Regierung gerade an der Macht ist. Auch die Grünen tragen in Hessen in der Regierung die Rodung des Dannenröder Forsts mit, auch die Linkspartei verhindert in der Regierung in Berlin keine Abschiebungen. Im kapitalistischen Staat regieren bedeutet, die Interessen des Kapitals durchzusetzen. An den Staat zu appellieren oder zu „Klimawahlen“ aufzurufen, wie es Fridays For Future immer wieder tut, halten wir deswegen für aussichtslos – und gewissermaßen sogar für gefährlich. Denn wenn eine so große und wichtige Bewegung wie FFF die Botschaft vermittelt, man könne die Klimakrise „abwählen“, dann stärken sie damit das Vertrauen der Menschen in eine Institution, von der sie sich nichts zu versprechen haben.

Der wichtigste Gegner des Staates – und seiner Polizei – sind all jene Bewegungen, die aktiven Widerstand gegen die Durchsetzung der Interessen des Kapitals leisten. Deswegen werden im Dannenröder Forst friedliche Baumbesetzer so brutal von der Polizei zusammengeschlagen; werden Hausbesetzungen mit Hundertschaften geräumt und wird das private Betriebsgelände von RWE jedes Jahr zu Ende Gelände mit tausenden Polizeieinheiten gesichert.

In den meisten Fällen tritt der Staat in Deutschland noch verhältnismäßig wenig aggressiv gegen die Klimabewegung auf. Das liegt daran, dass diese lange keine Gefahr für Profite oder Eigentumsverhältnisse dargestellt hat. Demonstrationen von Millionen von Menschen im Rahmen von FFF kann der Staat getrost ignorieren; Autobahnblockaden wie von Extinction Rebellion sind zwar sicherlich ein Ärgernis, aber stellen die Eigentumsverhältnisse nicht in Frage. Je erfolgreicher sich die Klimabewegung jedoch der Ausbeutung der Natur entgegenstellt und je stärker sie mit ihrem Widerstand den Profit des Kapitals bedroht, desto härter wird auch dieser Staat gegen die Bewegung vorgehen. Eine offene Kooperation mit der Polizei, wie sie Extinction Rebellion betreibt, halten wir deswegen für einen großen Fehler.

Wir sind überzeugt: es ist nötig, uns heute schon auf eine Art zu organisieren, die uns vor den Zugriffen des Staates schützen kann: Wir treten nicht alle offen nach außen auf und versuchen, unsere Strukturen so undurchsichtig wie möglich zu halten. Der Weg zwischen verdeckter Organisierung und Anschlussfähigkeit ist schwer zu finden. Aber die Erfahrung zeigt: Es ist möglich.

Individualismus und Kollektivität

Von außen betrachtet, sieht es aus, als seien all diese Überlegungen von der Klimabewegung in Deutschland sehr weit weg. Zeitungen publizieren Interviews mit FFF-Aktivist:innen, die bei den Grünen sind oder Klimalisten für die nächsten Wahlen in ihrer Region gründen wollen. Politiker:innen regen Treffen mit Klimagruppen an und lassen sich dabei fotografieren. Und hunderte Kapitalist:innen können Briefe mit freundlichen Appellen der Klimaaktivist:innen mit nachsichtigem Lächeln in den Papierkorb werfen.

Aber der Eindruck täuscht. Ein großer Teil der Klimabewegung in Deutschland steht weit links von diesen Bildern. Man sieht sie nur nicht. Ein wichtiger Grund dafür ist der Individualismus der Bewegung. Die Klimabewegung hat den kollektiven Beschluss gefasst, keine kollektiven Beschlüsse zu fassen. Der „Klimaplan von unten“ ist ein Beispiel dafür. 2019 hatte die Gruppe gerechte1komma5 die Bewegung zur Diskussion aufgerufen: Wo wollen wir hin? Dutzende Klimagruppen in Deutschland trafen sich zur Diskussion. Ortsgruppen von Ende Gelände und Extinction Rebellion veranstalteten Seminare; gemeinsam trugen wir alle unsere Vorstellungen zusammen. Jeder und jede sollte die Möglichkeit haben, seine oder ihre Expertise mit einzubringen. Ein wichtiger Schritt. Aber eines fehlte: Der Wille, sich zu einigen.

2020 wurde der „Klimaplan von unten“ schließlich veröffentlicht. Er umfasst mehr als 100 verschiedene Ideen. Von „Zertifikatehandel mit CO2“ bis „Enteignung der Energiekonzerne“ ist alles dabei. Viele der Maßnahmen widersprechen sich. Aber wenn 100 verschiedene Maßnahmen zur Auswahl stehen, dann können sich Medien und Politik aussuchen, welche davon sie in den Fokus stellen – und welche sie ignorieren. Die Weigerung, kollektive Beschlüsse zu fassen, macht linke Positionen in der Klimabewegung unsichtbar.

Würde FFF Deutschland eine klare Entscheidung dazu treffen, wie sie zu diesem System und seinen Institutionen stehen, dann könnte nicht mehr Luisa Neubauer als (von den Medien gekürtes) Gesicht der Bewegung mit Vertretern der NATO über grüne Kriege diskutieren. Denn es gäbe nur zwei Möglichkeiten: Entweder, die Bewegung entscheidet, gegen imperialistische Kriege und ihre Vertreter zu sein. Dann müsste Neubauer diese Position mittragen – oder sie könnte nicht mehr im Namen von FFF sprechen. Oder aber die Bewegung entscheidet, imperialistische Kriege und grüne Bomben in Ordnung zu finden. Dann würden sich die linken Teile der Bewegung eine neue Organisierung suchen. Aber FFF trifft keine Entscheidungen in solchen Fragen.

Genauso, wie die Klimabewegung insgesamt keine Entscheidung zu der Frage treffen möchte, was „Systemwandel“ eigentlich bedeuten soll. „XR hat die strategische Entscheidung getroffen, keine konkreten Vorschläge zu unterbreiten, wie die Klima- und Umweltkrise zu lösen ist“, schreibt Extinction Rebellion. Aber eine Strategie ohne eine Vorstellung, wie man zu seinem Ziel gelangt, ist keine Strategie. Wir sind überzeugt: Wenn wir die Ursachen der Klimakrise beseitigen wollen, dann brauchen wir eine Einigkeit darüber, worin diese bestehen – und wie man sie bekämpfen kann.

Dieses Papier und unsere Organisierung sollen ein erster Schritt in diese Richtung sein. Wir rufen alle in der Klimabewegung Aktiven und jede Klimagruppe auf, mit uns zu diskutieren, uns zu kritisieren, zu verbessern, wo wir falsch liegen – und sich mit uns zu organisieren. Nicht nur in der Theorie, sondern vor allem in der Praxis. Denn nur durch die Praxis können wir den richtigen Weg finden, um die Ursachen dieser Krise wirksam angehen zu können. Es gibt kein historisches Beispiel dafür, dass kapitalistische Staaten oder Konzerne freiwillig die Interessen der Menschen oder der Umwelt vor die Profite gestellt hätten. Aber es gibt historische Beispiele für Revolutionen. Revolutionäre Bewegungen haben in der Vergangenheit Kriege beendet, Systeme gestürzt und koloniale Besatzer davongejagt. Sie können auch die Klimakrise aufhalten.

Die Zeit für den revolutionären Klimakampf ist jetzt.

Wir haben eine Welt zu verlieren.

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Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

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Die traditionelle Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin stellt sich dieses Jahr neu auf. Ein breites migrantisches Bündnis will die Demo revitalisieren. Peter Schaber sprach mit Aicha Jamal, Pressesprecherin des Revolutionären 1. Mai Bündnisses und Mitglied von Migrantifa Berlin, über den Kampftag der Weltarbeiterklasse und wie man ihn dieses Jahr in Berlin begehen möchte.

Migrantifa ist aus einer Massenmoblisierung gegen rechten Terror, racial Profiling, Rassismus entstanden. Jetzt werdet ihr dieses Jahr zu einer der Hauptorganisatorinnen des Revolutionären 1. Mai. Warum? Was sind die inhaltlichen Gründe dafür, sich diese schwer handhabbare Demo aufzubürden?

Es ist uns vor allem wichtig, dass der Klassenkampf migrantischer wird – und dass überhaupt Klassenkampf in diesem Land stattfindet. Es geht uns auch darum, aufzuzeigen, dass liberaler Antirassismus nichts bringt. Die Idee, dass mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse Verbesserungen für den Großteil der migrantischen Bevölkerung oder den Globalen Süden hervorbringen wird, ist eine Illusion. Die Produktionsweise muss geändert werden. Der Kapitalismus trägt den Rassismus in sich wie die Wolke den Regen, könnte man in Abwandlung eines Zitats von Jean Jaures sagen. Das einzige wirksame Mittel gegen Rassismus ist Klassenkampf.

Andererseits nehmen wir auch wahr, dass die radikale Linke in Deutschland sich in den vergangenen Jahren sehr isoliert war von der Bevölkerung. Wir glauben aber, dass radikale Politik nicht in Szenen oder Blasen gemacht werden kann, sondern dass man eine breite Massenbewegung aufbauen muss, die weit über das Szene- und Akademikermilieu hinausgeht. Man muss die Arbeitenden, Erwerbslosen, die Menschen ohne Papiere, Frauen und die Jugend abholen.

Die Demo führt dieses Jahr durch Berlin-Neukölln. Was war ausschlaggebend für die Wahl der Route?

Neukölln ist einerseits der Ort, in dem wir als Migrantifa schon viele Verbindungen zu Nachbar:innen haben. Wir sind sehr präsent hier. Und es ist ein Ort, an dem sich viele politische Entwicklungen aufzeigen lassen: Der rechte Terror, die massive Polizeipräsenz, die Kriminalisierung der Communities durch die rassistische Clan-Debatte, die Gewerbekontrollen und Razzien. Diese Faschisierungstendenzen sind vom kapitalistischen System nicht zu trennen und deshalb ist es wichtig, sie auch am Tag der Weltarbeiterklasse zum Thema zu machen.

Neukölln ist auch ein migrantischer und Arbeiterbezirk. Weil unser Ziel ist, am 1. Mai unsere Klassengeschwister einzuladen, mit uns auf die Straße zu gehen, fanden wir, dass das der richtige Kiez ist.

Wir wollen die historische Bedeutung von Kreuzberg für den 1. Mai zwar mitaufnehmen – deshalb laufen wir am Ende auch rein-, aber gleichzeitig ist in Kreuzberg schon sehr viel von der früheren Kultur und dem früheren Kiezleben durch die Gentrifizierung zerstört worden.

Jenseits der neuköllnspezifischen Themen, welche bundesweiten oder globalen Anliegen stehen dieses Jahr im Mittelpunkt?

Es geht vor allem um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse, die Erwerbslosen und Armen. Die herrschende Klasse zeigt auf die Bevölkerung und tut so, als ob diese an der Pandemie Schuld wäre. Aber in Wahrheit steht in der offiziellen Corona-Politik ja nicht irgendein Gemeinwohl im Zentrum, sondern Kapitalinteressen. Diese Krise hat Profiteure, die sich immens an ihr bereichern, während es für uns stetig bergab geht. Wir haben immer weniger Geld, verlieren unsere Jobs und sind einem deutlich höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als die Bonzen, obwohl wir unser Privatleben komplett einschränken müssen.

Ein weiteres Thema ist der Ausverkauf der Stadt, die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt. Die komplette Stadt gehört Investoren. Da wollen wir vor allem das Thema Enteignung aufgreifen, weswegen es auch eine Enteignungs-Block auf der Demo geben wird.

Natürlich spielen auch die Kämpfe in den Herkunftsländern unserer Freund:innen eine große Rolle, in denen ja oft genug der deutsche Imperialismus mitmischt: Kurdische Genoss:innen werden mitlaufen, Solidarität mit den indischen Bauernaufständen wird es geben, aus den Philippinen beteiligen sich Genoss:innen, Palästina und der Sudan werden eine Rolle spielen. Geflüchtete und die Kämpfe gegen das mörderische Grenzregime werden ebenfalls vertreten sein.

Ihr schreibt in eurer Pressemitteilung, dass es euch wichtig ist, dass die Demo „nicht entfremdend“ auf die Menschen in Neukölln wirkt. Welches Auftreten schwebt euch da vor?

Bei unserer Demonstration zu Hanau haben wir gesehen, dass sich sehr viele migrantische Menschen der Demo angeschlossen haben und mitgelaufen sind, weil sie sich angesprochen gefühlt haben. Ich glaube, schon durch das breite migrantische Bündnis, das dieses Jahr zum ersten Mal mit aufruft, können wir einladend auf unsere Geschwister wirken. Dadurch dass wir unsere Themen und unsere politische Kultur miteinbringen, schaffen wir einen Identifikationspunkt.

Gleichzeitig wollen wir einen Anknüpfungspunkt schaffen, weil der 1. Mai auch in vielen unserer Herkunftsländer eine lange Tradition hat. Wir haben uns zudem entschieden, die Demo dieses Jahr anzumelden, das heisst, wir können auch mehr Redebeiträge und kulturelle Beiträge stattfinden lassen. Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, die Leute ermutigt, sich in die Demo einzureihen.

Dadurch, dass viele migrantische Gruppen aufrufen, wird auch von Anfang an ein breiterer Schnitt durch die Gesellschaft anwesend sein, ältere Genoss:innen, Familien mit Kindern und so weiter. Wir bitten auch alle Teilnehmenden darum, die Demonstration als kämpferische politische Veranstaltung und nicht als Outdoor-Party zum Biertrinken zu sehen.

Die Corona-Zahlen steigen. Wie ist unter diesen Bedingungen die Demo sicher durchzuführen?

Wir nehmen das Virus sehr ernst und wollen auch bei der Demonstration das Infektionsrisiko so gering wie möglich halten. Mindestabstände sollen eingehalten werden, Masken sind Pflicht. Gleichzeitig fordern wir die Polizei dazu auf, sich von der Demo fernzuhalten, denn es ist unmöglich, das durchzusetzen, wenn ein Mob von Cops auf die Demo einprügelt.

Die Gefahr einer im Freien, mit Abstand und Maske durchgeführten Demonstration ist unserer Einschätzung nach geringer als das Ansteckungsrisiko, dem wir jeden Tag auf der Arbeit ausgesetzt sind. Solange das nicht beendet wird, lassen wir es uns auch nicht nehmen, für unsere Interessen auf die Straße zu gehen.

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„Corona? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ Diese Umdichtung von Tucholskys „Französischem Witz“ fasst die Attitüde der Bundesregierung zur Coronakrise ganz treffend zusammen. Die bis jetzt mehr als 24.000 Toten allein in Deutschland waren ein einkalkuliertes Opfer, das zu bringen war, um die kapitalistische Wirtschaft am Laufen zu halten.

Von wegen Gesundheitsschutz

Die öffentlichen Erklärungen sind selbstverständlich andere: „Wir sind zum Handeln gezwungen“, so Angela Merkel (CDU) nachdem vergangenen Freitag mehr als 600 Menschen an einem Tag an Corona gestorben waren. „Letztendlich bleibt der Maßstab der Gesundheitsschutz“, so Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Wirklich? Die Toten der Wochen davor waren kein Grund zu Handeln? Oder die Warnungen von verschiedensten Wissenschaftler:innen der letzten Monate?

Die unerträglichen Folgen dieser Politik zeigen sich nicht nur in den Todeszahlen, die unter ferner liefen den Grundton der täglichen Berichterstattung bilden. Vor allem die Gesundheitsarbeiter:innen, die nach Jahrzehnten neoliberaler Austeritäts- und Privatisierungspolitik sowieso schon unter katastrophalen Arbeitsbedingungen zu leiden hatten, tragen die Folgen der Krise. Beschäftigte in Pflegeheimen und Krankenhäusern haben ein sieben Mal höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Ihre Hilfeschreie sind wohl unter dem Lärm des ganzen Applauses untergegangen.

Der Gesundheitsschutz war während der ganzen Pandemie nur nachrangig, das wichtigste war und ist, dass möglichst viele Menschen weiter arbeiten gehen und die irre Selbstmordsekte Kapitalismus am Laufen halten. Allein die Ausrichtung der Maßnahmen nach der verfügbaren Zahl der Intensivbetten kalkulierte das massenhafte Sterben von Menschen mit ein. Aber auch im seit gestern geltenden „harten Lockdown“ zeigt sich diese Menschenverachtung: Ausgangssperren in Sachsen und Baden-Württemberg, Aufenthalts- und Versammlungsverbote bundesweit, private Treffen sind auf ein Minimum zu reduzieren. Der einzige Bereich der nicht reguliert wird: der Arbeitsplatz, wo wir die Profite für die Kapitalist:innen erschuften. Und während einfach immer weitergearbeitet werden soll, schließen Kitas und Schulen. Eltern (vor allem Frauen*) sollen dann alles gleichzeitig machen: Arbeiten gehen, Kinder betreuen, den Haushalt schmeißen und dabei natürlich nicht das Konsumieren vergessen – online bei amazon versteht sich. Unternehmer:innen hingegen werden lediglich nett gebeten, Betriebsferien auszurufen oder Homeoffice zu ermöglichen, während der Rest des gesellschaftlichen Lebens von der Polizei kontrolliert und Zuwiderhandlungen hart sanktioniert werden. Die Frage, ob man sich nicht auch am Arbeitsplatz mit der tödlichen Seuche anstecken kann, stellt dabei niemand.

Gleichzeitig steigen die Vermögen trotz Corona-Krise weiter , haben 40 Prozent der Bevölkerung Einkommenseinbußen, von den geschätzt 500.000 sowieso illegalisierten in Deutschland ganz zu schweigen. Während Arbeiter:innen in Kurzarbeit gehen, schütten sich die Aktionäre großzügig Dividenden aus – dieses Jahr voraussichtlich über 37 Milliarden Euro allein aus DAX-Unternehmen. Und die so gebeutelten Unternehmer:innen können Hilfen von läppischen 500.000 € pro Unternehmen und Monat klar machen. Für den Rest bleibt Hartz IV. Alles zum Wohle „der Wirtschaft“ – oder anders formuliert: der besitzenden Klasse.

Die Schuldfrage

Diese zynische Politk des Sterbenlassens kann natürlich nicht eingestanden werden. Deswegen wird, wie beim Klimaschutz, die Verantwortung für die grassierende Epidemie ins private verlagert. Wenn die Frage im Raum steht, wer an der fortlaufenden Verbreitung des Virus Schuld hat, ist der anklagende Zeigefinger schnell ausgestreckt: Die jungen, rücksichtlosen Leute, die feiern wollen; die Demonstrant:innen auf den Black Lives Matter Demonstrationen; die arabischen Großfamilien in Neukölln und ihre ach so großen Hochzeiten; die Gastronomie; und jetzt, ganz aktuell, die unverfrorenen Glühweintrinker:innen. Oder wie es im WDR heißt: „Die Menschen haben sich nicht genügend an die Appelle von Politik und Wissenschaft gehalten.“

Im neoliberal verstellten Blick auf die Welt werden gesellschaftliche Zusammenhänge, wie der Zwang zur Arbeit, der Zwang sich den mörderischen Vorgaben in Betrieben zu beugen weder erkannt noch thematisiert. Statt den staatlich orchestrierten Zerfall der Sozialstrukturen zugunsten der Profitmaximierung in den Blick zu nehmen, wird die Schuld den Einzelnen in die Schuhe geschoben. Soll heißen: Schuld an der Misere haben weder die Regierung, noch die viel zu engen Arbeitsbedingungen, zum Beispiel in den Fleischfabriken, sondern die Arbeiter:innen, die sich erdreisten, nach der Maloche dort noch ihre Oma zu besuchen. Dieser Blick auf die vermeintlichen Ursachen der Pandemie kennt dann eben auch nur die neoliberale, vereinzelnde Antwort, die wir jetzt gerade sehen: Zuckerbrot für die Kapitalist:innen, die autoritäre Peitsche für den Rest. Neoliberale Ideologie und staatlicher Autoritarismus gehen schließlich gerne auch mal Hand in Hand.

Die Coronakrise offenbart einmal mehr, wie verkommen und menschenfeindlich dieses Gesellschaftsmodell ist. Die Maschine muss weiterlaufen und weiter Profite aus den Arbeiter:innen pressen, im Krankenhaus, am Band, im Einzelhandel; dafür sind ein paar Coronatote schon ok. Und wenn‘s dann gar nicht mehr geht, werden eben die Büttel des Staates auf die Leute losgelassen – it‘s the economy, stupid.

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Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands? Teil 1 einer Analyse.

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es ist also klar, dass Nationalismus als Basis einer Protestbewegung, die ein gutes Leben für alle will, ungeeignet ist. Welche klassenkämpferischen und emanzipatorischen Perspektiven es davon abgesehen trotzdem gibt, beschreiben wir im zweiten Teil unserer Analyse.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Viertel in Minsk

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Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man in Politik und Wirtschaft die „Held:innen des Alltags“ schätze, gingen einher mit realer Missachtung von Löhnen, Arbeitsdruck und Gesundheitsschutz. Unser Autor Frederik Kunert ist Integrations-Erzieher an einer Berliner Grundschule und schreibt über Mehrbelastung, fehlende Gegenwehr und die zynische „Corona-Prämie“.

Analog zu den als „Helden und Heldinnen der Corona-Krise“ gefeierten Beschäftigten im Gesundheitsbereich, wird auch den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas und Schulen ins Gesicht gespuckt: Mit der „Dankesprämie“, für die Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich feiern lässt.

In seiner Pressemitteilung als regierender Bürgermeister vom 5.5.2020 spricht er von einer „einmaligen Dankesprämie“ von bis zu 1.000 Euro für alle Beschäftigten, „die in der Corona-Krise außergewöhnliche Leistungen erbracht haben und in Serviceeinrichtungen einer erhöhten gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt waren.“ Zu diesen Beschäftigten zählt er explizit die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, sowie in den Schulhorten.

Ohne die Arbeit dieser Beschäftigten hätten auch einige andere systemrelevante Berufe nicht in dem Maße weiter ausgeführt werden können, wie es der Fall war. Sie übernahmen die Notbetreuung und setzten sich so einem erhöhten Infektionsrisiko aus. Auch jetzt, in der zweiten Welle, sind sie diesem Risiko weitestgehend ausgesetzt. Hygienekonzepte sind in Einrichtungen mit mehreren Hundert Kindern in der Praxis oft nicht umsetzbar. Der Schutz der pädagogischen Fachkräfte scheint oft nicht von Belang. Wichtig ist dagegen offenbar eher, alles um jeden Preis am Laufen zu halten und ein abermaliges Schließen der Schulen und Kitas zu verhindern.

Politiker:innen überschlugen sich im Verlauf der ersten Welle mit Komplimenten und Dankesreden an die „Heldinnen und Helden des Alltags“ und manch einer träumte gar davon, soziale Berufe würden endlich ihrem gesellschaftlichen Stellenwert angemessen bezahlt. Schließlich zeigte die Corona-Krise wie schon lange kein Ereignis vor ihr, welche Berufe „systemrelevant“ – eigentlich eher: relevant für die Gesellschaft – sind und welche eigentlich kein Mensch braucht. Hedgefonds-Manager:innen und Vermieter:innen gehören jedenfalls nicht zu denen, die die gesellschaftlichen Abläufe am Leben halten.

Den offenen Widerspruch zwischen der Bezahlung vieler Berufe und ihrer gesellschaftlichen Relevanz beschrieb schon der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bullshit-Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit“: „Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt. Auch hier ist es schwierig, ein objektives Maß zu finden, aber einen Eindruck kann man sich mit einer einfachen Frage verschaffen: Was würde geschehen, wenn diese ganze Berufsgruppe einfach verschwinden würde? Man kann über Krankenschwestern, die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr oder Automechaniker*innen sagen, was man will, aber eines liegt auf der Hand: Würden sie plötzlich verschwinden, die Folgen wären sofort spürbar und katastrophal. Auch eine Welt ohne Lehrer*innen oder Hafenarbeiter*innen würde schnell in Schwierigkeiten geraten und selbst ohne Science-Fiction-Autor*innen oder Ska-Musiker*innen wäre sie sicher weniger schön. Dagegen ist nicht ganz klar, wie die Welt leiden würde, wenn alle Private-Equity-Manager*innen, Lobbyist*innen, Public-Relations-Berater*innen, Versicherungsfachleute und Rechtsberater*innen für Konzerne auf ähnliche Weise verschwinden würden.“ Schnell wurde aber doch klar, dass man außer etwas Beifall und eventuell einer Prämie nicht viel zu erwarten hat. Wie wenig war trotz aller vorhanden Skepsis dann doch ein Schlag ins Gesicht.

Viele soziale Einrichtungen werden von freien Trägern getragen, auch viele Ganztagsbetreuungen an den Schulen gehören zu den freien Trägern. Daraus entsteht eine oftmals gespaltene Belegschaft: einige haben noch alte Verträge und sind beispielsweise beim Senat angestellt und somit im öffentlichen Dienst, andere sind bei den freien Trägern angestellt. Oftmals werden die Tarifverträge angepasst, jedoch nicht immer. Den Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes wurden ihre Dankesprämien ausgezahlt. Ähnlich differenzierend und spaltend lief es bzgl. der Prämie auch im Pflege-Bereich.

Die freien Träger mussten nun die Gelder für die Dankesprämie beantragen, um sie ihren Beschäftigten ebenfalls zahlen zu können. Relativ schnell und problemlos erhielten sie die Gelder. Allerdings reichten diese Gelder für eine Prämie von bis zu 1.000 Euro, wie Michael Müller es großspurig angekündigt hat, von vorne bis hinten nicht. Auf alle Mitarbeiter*innen verteilt, wäre eine Prämie von etwa 50 Euro pro Person dabei herausgekommen. Viele freie Träger verzichteten auf die Zahlung dieser „Prämie“, die sich doch eher wie Hohn und Spott anfühlen würde. Ein Erzieher beschriebt das Gefühl vieler Mitarbeiter*innen gegenüber dem RBB so: „Nach dem Motto: Diejenigen, die für das Land Berlin arbeiten, haben es gut und die anderen müssen sehen, wo sie bleiben. So hört sich das für mich an.“

Auf einen offenen Brief zu dieser Thematik reagierte der Bürgermeister bisher nicht. Nicht nur dieser schlechte Witz einer „Prämie“, auch die aktuell ablaufenden Vorgänge in den Einrichtungen sind ein Schlag ins Gesicht der pädagogischen Fachkräfte. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW sieht die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen und Kitas kritisch: „Konkrete und verbindliche Maßnahmen – Fehlanzeige! Die Sommerferien hätte die Senatorin besser nutzen können. Insbesondere, um sich mit den Beschäftigtenvertretungen dazu auszutauschen, wie Bildung in Zeiten von Corona aussehen kann“, kritisierte die Vorsitzende der GEW-Berlin, Doreen Siebernik. Weiter sagt sie: „Die Kolleg*innen fühlen sich in den Schulen allein gelassen. Es herrscht riesige Unsicherheit, wie der Schulalltag mit den einzuhaltenden und mitunter widersprüchlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen und vor dem Hintergrund tausender fehlender Lehrkräfte aussehen soll. Wir verstehen das Bedürfnis nach einem geregelten Schulstart. Aber wir halten es für unverantwortlich, die Gruppen- und Klassengrößen wieder auf das Vor-Corona-Niveau anzuheben und auf Abstandsregeln zu verzichten. Auch die Erfahrungen mit dem Lernen in kleinen Gruppen sind unbeachtet geblieben.“

Leider bleibt die GEW auch hier wie so oft zahnlos. Politische Streiks sind verboten und demnach ausgeschlossen. Für bessere Arbeitsbedingungen, ein anderes Schulsystem oder ähnliche „Utopien“ darf nicht gestreikt werden. Lediglich für Tarifforderungen ist dies zulässig und auch hier hat die GEW in den letzten Jahren einige Mitglieder mit ihrer weichen Verhandlungsstrategie verschreckt. Viele Erzieher*innen sind bereit, lange zu streiken, um wenigstens endlich angemessen bezahlt zu werden, die GEW gibt sich jedoch oft mit Warnstreiks und anschließenden faulen Kompromissen und minimalen Lohnerhöhungen zufrieden.

Michael Müller hingegen scheint für seine Kandidatur für den Bundestag bestens vorbereitet zu sein: Das eine sagen und das andere tun, das klingt nach SPD-Politik in Reinform.

# Titelbild: flickr Uwe Hiksch

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Die radikale Linke in Deutschland hat den Betrieb als Feld der Agitation und Öffentlichkeitsarbeit weitgehend vernachlässigt, ja aufgegeben. Ich meine mit „den Betrieb“ nicht irgendwelche Betriebe, wo andere Leute arbeiten, die wir vor den Werkstoren agitieren könnten, oder Arbeitskämpfe, an denen wir uns möglicherweise solidarisch beteiligen könnten – was immer zu begrüßen ist! –, sondern den eigenen Arbeitsplatz, die eigenen Kolleg*innen.

Politischer Aktivismus findet in Deutschland meist nach Feierabend statt, gern auch am Wochenende und anlässlich von Groß-Events. Der Arbeitsplatz gilt als tendenziell unpolitischer Raum, für die herrschende Klasse steht er auch außerhalb der Demokratie. Sie hat dieses Denken in den vergangenen 40 Jahren erfolgreich verbreitet — bis tief in radikale und alternative Kreise. Der politische Aktivismus folgt heute eher den Gesetzmäßigkeiten der neoliberalen Urlaubs-, Event- und Festivalkultur.

Das war 1971 offenbar anders. Damals fand der Hamburger Rätekommunist Bernie Kelb in seiner Betriebsfibel schroffe Worte für das, was wir heute vorfinden:

Revolutionäre Arbeit soll nicht auf der Idiotenwiese stattfinden. Die Idiotenwiese ist der Freiraum, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb. Dabei darf der Begriff »Betrieb« nicht zu eng gefasst werden. Es kann sich um eine Behörde, eine Fabrik, eine Klinik, ein Warenhaus oder um eine Uni, eine Zeitungsredaktion, eine Bank und (für Lehrer und für Schüler) eine Schule handeln.

Kelbs Betriebsfibel ist wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit. Sehr interessant zu lesen. Heute fehlt vielen Radikalen ein direkter Bezug zur Lebensrealität der arbeitenden Klasse. Zu ihrer Denkweise, ihrer Gefühls- und Gemengelage. Darin liegt ein wichtiger Grund für die Schwäche der Linken und ihre relative Bedeutungslosigkeit, daraus resultiert Orientierungslosigkeit bishin zu Verpeiltheit und Anfälligkeit für neo-konservative oder neoliberale Irrungen und andere Wirrungen ideologischer Art.

Das gilt sicher nicht für die wenigen Radikalen, die auch heute in Betriebsräten und Gewerkschaftsgremien die Stellung halten. Sie haben eher das umgekehrte Problem. Sie sind mit bürokratischen Vorgängen — vieles davon relativer Bullshit — so ausgelastet, oder werden von der Unternehmerseite sogar gezielt überlastet, dass sie nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht. Gerichtsverfahren, Einigungsstellen, gewerkschaftliche Gremien und Kommissionen… Hier geht es selten um das große Ganze. Eine Politisierung der Belegschaften findet eher nicht statt, weil einerseits schlicht keine Zeit bleibt, weil andererseits die verständliche Orientierung ist, als Betriebsrat Service für die Beschäftigten zu liefern und als Gewerkschaft Mehrwert für die Mitglieder: Geld, Freizeit, Sicherheit. Meist auch nur: Schlimmeres verhindern, den allgemeinen Abwärtstrend verlangsamen.

Das war früher mal anders. Anfang der 1970er gab es einen breiten und vielschichtigen Strom von jungen Radikalen — Sozialisten, Kommunisten und Anarchist*innen — hinein vor allem in industrielle Großbetriebe. Diese Orte wurden aufgrund von Erfahrungen aus Frankreich und Italien mit einiger Berechtigung als Hoffnungsträger für kommende Aufstände, oder zumindest für einen Zugang zum Proletariat ausgemacht. Da waren die Spontis bei Opel in Rüsselsheim, Mitglieder der KPD/ML bei BMW in Spandau, das Kölner Anarchosyndikat bei Ford, Trotzkist*innen der GIM sickert in Betriebe ein, selbst Militante der Bewegung 2. Juni heuerten nach der erfolgreichen Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz, als ihnen der Boden in West-Berlin zu heiß wurde, bei KHD in Köln an (Werner Sauber) oder in einer Klodeckelfabrik in Essen (Fritz Teufel), um dort etwas aufzubauen. Oder es wenigstens zu versuchen. Und sie waren gemessen an ihren bescheidenen Zahlen und ihrer relativen Ahnungslosigkeit – da sie nach Faschismus und Adenauer beinahe ganz allein und ganz von vorn anfangen mussten – insgesamt sogar relativ erfolgreich.

Die Welle wilder Streiks, die 1973 durch Westdeutschland ging, die mit dem großen Fordarbeiterstreik 1973 ihren Höhepunkt fand, geschah zumeist mit Beteiligung dieser radikalen Elemente. Vielleicht waren sie — und das ist meine die zentrale Vermutung und Hoffnung — so etwas wie das Salz in der Suppe.

Ich möchte dafür plädieren, den Faden wieder aufzunehmen. Dabei gilt zu bedenken: Du steigst niemals in den selben Fluss. Es gibt kein zurück in die Zukunft. Selbstverständlich haben sich die Zeiten seit damals radikal gewandelt, ja der Kapitalismus hat sich – auch wegen der oben beschriebenen Anfälligkeit der Großbetriebe für das Einsickern der freien Radikalen – umgewandelt und grundlegend neu strukturiert. Die nach dem Vorbild der Ford Motor Company und General Motors integrierten Riesenfabriken sind zerschlagen worden in einen verbliebenen Kern der Endmontage und eine optimierte Wertschöpfungskette aus Sub-Unternehmen und Zulieferern, die beständig im Preis gedrückt werden.

Die Möglichkeiten, direkt als Jobber, Werksstudent*in oder Ungelernte in einem Großbetrieb anzuheuern und damit quasi automatisch Teil der ausgebeuteten Massenarbeiterschaft zu werden und in ihr zu wirken, sind durch Leiharbeit und Werkverträge verschlossen. Die Belegschaften sind heute weitgehend aufgespalten und zersplittert.

Hinzu kommt die Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet stets auch Auslese der renitenten Elemente sowohl bei Entlassungen als auch bei bei Einstellungen. In Zeiten der Praktika, sachgrundlosen Befristungen, Kettenbefristungen und Scheinselbständigkeit wird aus der Bewerbungssituation und Bewährungsphase ein Dauerzustand. Daraus – und aus der neoliberalen Gehirnwäsche, die uns umgibt – resultierte ein Anpassungsdruck der insgesamt auf die Psyche der arbeitenden Bevölkerung geschlagen ist. Es sieht nicht gut aus. Aber Fridays for Future und auch der Corona-Crash haben möglicherweise viele aus dem geistigen Wachkoma gerissen. Vielleicht hat sich der Wind gedreht. Möglicherweise ist eine neue Generation entstanden.

Welche Ratschläge und Orientierungspunkte gibt es? Nicht viel. Das vielleicht wertvollste Buch in deutscher Sprache war die oben zitierte „Betriebsfibel – Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz“. Kelb schreibt, dass der Vorentwurf zu seinem Werk im »Arbeitskreis Strategie« (ehemals Republikanischer Club) in Hamburg diskutiert wurde.

Ich werde mich in den nächsten Folgen mit der dunklen Seite des Organizing befassen: Union Busting. Organisierung im Betrieb, von der IG Metall bürokratisch „strategische Erschließung“ genannt und deren professionelle Bekämpfung gehören in dialektischer Weise zusammen. Die Strategien von Organzing und Union Busting reagieren aufeinander und korrespondieren.

Um die Serie weiter zu entwickeln bin ich für Anregungen, Hinweise, Fallbeispiele und Kritik dankbar. Mein Ziel ist es, daraus ein Handbuch entstehen zu lassen. (Kontakt: elmar.wigand@posteo.de)

# Titelbild: Stadtarchiv Kiel / Friedrich Magnussen / CC BY-SA 3.0 DE, Streik der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) für höhere Löhne bei Hagenuk Kiel 1981

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Bei den Protesten gegen Lukaschenko in Belarus mischen auch anarchistische Gruppen mit. Am 21. Oktober hat das LCM Xenia, Igor und Pjetr interviewt, Anarchist*innen aus Minsk, Belarus getroffen. Sie erzählten von ihren Erfahrungen und Perspektiven auf die Protestwelle, im Zuge derer seit Anfang August hunderttausende Menschen wöchentlich auf die Straße gehen. Sie fordern den Rücktritt des Diktators Lukashenko, Neuwahlen und Freiheit für politische Gefangene. Einige Tage nach dem Interview wurden Xenia und Igor selbst verhaftet.

Wieso beteiligt ihr euch an den Protesten?

Pjetr: Wir sehen zwar, wie sich die Proteste in Richtung Neoliberalismus bewegen, wie versucht wird einen freien Markt zu errichten und soziale Rechte abzubauen. In ökonomischer Hinsicht stimmt diese Bewegung also nicht mit unserer Ideologie überein, es gibt keinen Diskurs über Arbeiter*innenselbstverwaltung und soziale Rechte.

In politischer Hinsicht aber schon. Seit vielen Jahren leben wir unter dieser Diktatur, wir haben keine Möglichkeit, uns offen als Anarchist*innen zu bezeichnen, keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit. Es ist also sehr wichtig, diese Bewegung zu unterstützen, da sie mehr Raum für Freiheit verspricht. Wir denken, dass ein Ende dieser Diktatur auch im wirtschaftlichen Bereich mehr Handlungsspielraum eröffnen wird. Vielleicht werden wir eine stärkere Arbeiter*innenbewegung bekommen, mit mehr Freiheit sich zu organisieren.

Igor: Alle bisherigen Proteste in Belarus waren, wie wir hier dazu sagen, ziemlich zahnlos. Es waren eher kleine Sachen, wie Applausaktionen, die trotzdem sehr bald von der Bereitschaftspolizei, von OMON, zerschlagen wurden. Und die Leute haben danach nicht weiter gemacht. Das, was in diesem Sommer begann, als erheblicher Widerstand geleistet wurde, ist wirklich etwas Wunderbares für unsere Gesellschaft. Also ist es vielleicht gar nicht so überraschend, dass wir jetzt ein wenig stagnieren, denn das ist etwas wirklich Unerwartetes und bereits ein großer Schritt vorwärts für unsere Gesellschaft.

Ihr meintet, die Proteste gehen in eine neoliberale Richtung. Denkt ihr, es gibt auch Aussicht auf emanzipatorischere Lösungen? Was für Perspektiven seht ihr generell in den Protesten?

Igor: Ich denke die Chance, dass diese Revolution weiter in Richtung einer emanzipatorischen Perspektive geht, ist sehr gering. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie mit diesen neoliberalen Reformen zu Ende geht, aber dennoch wird sie die Plattform schaffen, von der aus anarchistische Ideen weiter verbreitet werden können.

Pjetr: Ich denke auch diese neoliberalen Reformen werden kommen, weil alle großen politischen Akteure dafür sind. Zum Beispiel fördern dies ehemalige Präsidentschaftskandidat*innen. Aber wenn sie an die Macht kommen, dann wegen des Drucks von der Straße, also werden sie uns in Zukunft irgendwie respektieren müssen.

Xenia: Das Wichtigste ist, dass sich das Bewusstsein der Menschen bereits verändert hat. Die Menschen haben erkannt, was sie tun können, was ihre Interessen sind, wie sie sich organisieren und handeln können. Und das ist bereits eine ganz erhebliche Veränderung. Wir werden nicht mehr so leben, wie wir früher gelebt haben.

Gibt es irgendwelche Gruppen oder Personen, die den Protest anführen?

Xenia: Wir haben uns oft einen führungslosen Protest gewünscht, und das haben wir jetzt erreicht. Im Moment ist er sehr selbstorganisiert, die Menschen versammeln sich in den Nachbarschaften und entscheiden selbst, wie sie handeln wollen.

Igor: Das stimmt, aber es gibt Leute, die versuchen, die Proteste anzuführen, zum Beispiel dieser Koordinierungsrat um Tikhanowskaja. Auch Blogger*innen haben ihre eigene Agenda, am populärsten ist Nexta. Aber auch der Telegramkanal der anarchistischen Gruppe Pramen, der im Moment fast 10.000 Abonnent*innen hat, ist sehr beliebt.

Pjetr: Zwischen diesen verschiedenen Oppositionsführer*innen gibt es eine Art Rollenverteilung. Tikhanowskaja und der Koordinationsrat versuchen den politischen Diskurs zu bestimmen, während Blogger*innen wie Nexta und andere die Straßenproteste koordinieren.

Gestern wurden Nexta, die größte Plattform der Proteste, und deren Symbole als extremistisch eingestuft. Warum denkt ihr ist das passiert und wird es Auswirkungen haben?

Xenia: Ich denke, dass sie nicht in der Lage sein werden tatsächlich zu verhindern, dass diese Plattform gelesen wird. Nexta war einer der ersten Blogs, der den Massen beigebracht hat VPNs zu benutzen, also werden die Leute trotzdem Zugang dazu haben. Ich denke, es wird die Leute nur noch mehr davon überzeugen, diese Quelle zu nutzen.

Igor: Das zeigt einmal mehr die ganze Absurdität eines solchen Begriffs wie Extremismus. Zum Beispiel wurde anfangs die Hälfte der anarchistischen Websites auch als extremistisch deklariert. Und okay, jetzt wird Nexta als solche eingestuft. Ich glaube, es war ein weiterer Versuch, jede Art oppositionellen Denkens zu stoppen.

Welche Rolle haben Anarchist*innen in den Protesten? Welche Rolle könnten oder sollten sie eurer Meinung nach in Zukunft übernehmen?

Igor: Ursprünglich war die anarchistische Präsenz ziemlich schwach, würde ich sagen. Wir waren nur einige Bezugsgruppen, die an den Protesten teilnahmen. Wir waren dort, aber ohne eine klare und überzeugende Agenda. Aber dann hat sich das geändert. Jetzt nehmen Anarchist*innen mehr und mehr den Raum ein. Beispielsweise sucht jetzt Nexta die Freundschaft und den Rat von Anarchist*innen.

Xenia: Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese Tendenz noch zunimmt, denn ja, wir werden jetzt irgendwie erwähnt, aber es ist immer noch nicht sehr viel. Es wäre schön, wenn wir als ernstzunehmende politische Kraft wahrgenommen werden.

Pjetr: Interessant ist, dass es Impulse aus der Gesellschaft gibt, die wir hätten vorschlagen können. Zum Beispiel Solidaritätsfonds, Initiativen gegenseitiger Hilfe, Blockade-Taktiken und sogar Barrikaden. All dies hätte von uns kommen können, aber es kam von der Basisbewegung.

Deshalb denke ich, dass dies eine gute Gelegenheit für Anarchist*innen ist, neue Protesttaktiken vorzuschlagen. Dadurch können horizontale Netzwerke geschaffen werden, die für die Zukunft erhalten bleiben.

Igor: Was auch spannend ist, ist das es inzwischen einige Bilder von Anarchist*innen gibt, die fast schon wie ein Mythos sind. Da gibt es zum Beispiel Gerüchte, dass Anarchist*innen alle Proteste koordinieren, dass Anarchist*innen die Barrikaden errichten, dass Anarchist*innen die ganze Zeit in der ersten Reihe stehen. Aber das hat eher wenig mit der Realität zu tun.

Pramen hat ein anarchistisches Programm für die Aufstände in Belarus veröffentlicht. Glaubt ihr, dass es irgendeine Perspektive hat?

Pjetr: Ich habe das Programm mitgeschrieben und denke, man kann es dafür kritisieren, dass es opportunistisch und nicht radikal genug ist. Man kann es auch dafür kritisieren, dass es keine konkreten Vorschläge dafür liefert, was zu tun ist, damit die Revolution siegt. Die Perspektive sehe ich darin, dass es einen Vektor hin zu einer anarchistischen Ausrichtung darstellt.

Was können wir aus diesen Protesten lernen?

Igor: Eine wichtige Lektion der Proteste ist, dass Anarchie auch ohne Anarchist*innen funktioniert. Das weckt große Hoffnung auf weitere Veränderungen.

Pjetr: Uns ist bewusst geworden, dass wir uns besser auf die Revolution vorbereiten müssen. Wir brauchen eine anarchistische Organisation, die nicht nur eine abstrakte Vision hat, sondern auch ein konkretes Programm, mit einer konkreten Vision, welche Veränderungen wir erreichen wollen, wie unsere Gesellschaft organisiert sein soll, und was unser Plan ist, wenn eine Revolution gegen die Diktatur, in der wir leben, stattfindet – ich glaube, wir brauchen mehr gesunden Optimismus.

Was haltet ihr im Hinblick auf internationale Solidarität für notwendig und was wünscht ihr euch?

Xenia: Verschiedene Leute haben uns gefragt, ob wir materielle Unterstützung brauchen, aber im Moment wir können das nicht klar als „schickt uns Geld“, „schickt uns Waffen“ oder „schickt uns Menschen“ formulieren. Für mich ist es einfach wichtig, dass die Menschen ihre Solidarität ausdrücken, dass sie uns Briefe schreiben und fragen, wie sie helfen können. Das ist bereits eine große Hilfe. Außerdem ist es schön wahrgenommen zu werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten.

Pjetr: Ich möchte allen, die diese Zeilen lesen, für ihre moralische Unterstützung danken. Aber auch praktische Solidarität kann etwas bewirken. Es könnte Kampagnen geben, die Druck auf die Regierungen der Länder aufbauen, die die belarussische Revolution nicht unterstützen, oder die dem belarussische Regime sogar aktiv helfen. Da wäre zum Beispiel die Firma Volkswagen, die Profite daraus schlägt, dass die repressiven Institutionen hier in Belarus hauptsächlich ihre Fahrzeuge benutzen. Und auch einige IT-Firmen, wie Synesis, die dem belarussischen Regime Entschlüsselungs-Software zur Verfügung stellen. Auch finanzielle Unterstützung ist willkommen.

Wollt Ihr noch etwas hinzufügen?

Pjetr: Ich möchte vielleicht etwas persönliches sagen. Früher habe ich mir die Revolution als etwas wirklich Schönes und Wunderbares vorgestellt, als eine Art Kreativität der Massen, mit einem Anstieg des sozialen Lebens. Aber jetzt habe ich gemerkt, dass dies auch mit einer Zunahme der Repressionen und der Macht einhergeht. Schließlich scheint es nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Angst zu sein. Wir müssen also noch mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, uns gegenseitig zu unterstützen und uns umeinander zu kümmern.

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Der „Arbeitgeberverband“ der Metallindustrie bläst zur Offensive. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung präsentierte Stefan Wolf, designierter Gesamtmetall-Chef, eine Wunschliste ausgewählter Grausamkeiten. Der Kern: Die Beschäftigten sollen unbezahlt mehr arbeiten. „Mal zwei oder auch mal vier Stunden pro Woche“ kann er sich vorstellen, den Metallarbeiter*innen dieses Landes abzuknöpfen. Die 35-Stunden-Woche sei unzeitgemäß, die Löhne in Deutschland zu hoch.

Er stößt damit in die gleiche Kerbe wie zuvor sein Vorgänger Rainer Dulger. Der Multimillionär und Erbe eines Familienunternehmens beweinte zuerst, dass „es nichts zu verteilen gebe“, weil Corona es der Industrie eben unmöglich mache. Von den Gewerkschaften erwarte er eine Nulllohnrunde – also faktisch schon ob der Inflation eine Reallohnsenkung. Mehr noch aber sei selbst das nur „ein Signal“, denn es gehe um eine Trendwende: „Wir Arbeitgeber predigen seit Jahren, dass zu hohe Lohnkosten und Lohnnebenkosten Konsequenzen haben.“ Auf die Frage, was er Dulger von den Verhandlungsangeboten der Gewerkschaft IG Metall hält, antwortet der Manager mit der üblichen Erpressungsstrategie: „Wer in dieser Lage Arbeit noch teurer macht, als sie ohnehin schon ist, riskiert, dass Firmen auf Dauer Arbeitsplätze ins Ausland verlagern.“

Es geht also – wie immer – um den Standort Deutschland. Der heilige Kral für beide Seiten der „Sozialpartnerschaft“ zu dessen Rettung am Ende die Belegschaften „Zugeständnisse“ machen müssen. Doch wir haben Krise und so verlangt der heilige Standort ganz besondere Opfer.

Die (von anderen, nicht von den Kapitalisten) zu erbringenden Opfer hat der „Arbeitgeberverband“ der Metallbranche in einem Papier festgehalten, das den Titel „Wiederhochfahren und Wiederherstellung -Vorschläge für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise“ trägt. Es beginnt damit, dass die Pandemie genutzt werden soll, um die ohnehin schwachen Vorgaben zum Klimaschutz aufzuweichen: Es sei nötig, dass „auf eine weitere Verschärfung der Kli-maschutzziele, insbesondere durch die EU-Kommission verzichtet wird.“

Im selben Tenor geht es weiter, denn es soll auf sehr vieles „verzichtet“ werden: auf eine Vermögenssteuer, die Erhöhung der Erbschaftssteuer, die Grundrente und eine Reihe von Regelungen zum Schutz von Arbeiter*innen. Auch Leiharbeit und „flexible“ Arbeitsverhältnisse will man nicht beschränkt sehen.

Das Papier ist ein Generalangriff, denn die deutschen Industriefürsten haben sich viel vorgenommen. Die Pandemie soll genutzt werden, um Reallohnsenkungen durchzudrücken und einen Abbau von Rechten der Werktätigen zu beschleunigen, der im Grunde genommen seit Jahrzehnten im Gang ist.

Und so wie es aussieht, könnte zumindest einiges davon Erfolg haben. Von SPD und CDU/CSU ist selbstredend nichts zu erwarten, aber auch die Gewerkschaften haben vielerorts bereits vor der Schlacht die Waffen gestreckt und führen nur noch Defensivkämpfe zum Arbeitsplatzerhalt. Und in den radikaleren Teilen der Linken dieses Landes scheint man dergleichen Attacken erst gar nicht für irgendwas zu halten, was einen selbst betrifft.

Dabei wäre die Vorlage des Klassenfeinds geeignet zur Vereinigung vieler Kämpfe, denn er richtet sich ja gegen verschiedene Teile der Bevölkerung: Die Aufweichung der Klimaziele betrifft schlechthin alle, bewegt aber derzeit die Jüngeren; die Forderung nach noch mehr Altersarmut dagegen betrifft unmittelbar die Älteren. Und die Wünsche nach Lohnkürzungen betreffen nicht nur alle Beschäftigten im Metallsektor, sondern haben generell Signalwirkung. Die Laissez-Faire-Auslegung des Gesundheitsschutzes verstärkt die Pandemie. Und die Ablehnung von Sozial- und Arbeitsstandards in den Lieferketten schreibt das globale Ausbeutungsmodell des deutschen Imperialismus fest.

Die Bosse der Metaller sind insofern ein dankbarer Gegner. Sie sagen offen, was sie wollen. Und es ist nicht schwer zu verstehen, dass es sich gegen die überwiegende Mehrheit der Menschen richtet. Eigentlich eine gute Gelegenheit für eine Gegenoffensive.

# Bildquelle: wikimedia.commons

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In Slowenien finden seit Ende April Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung statt. Das LCM sprach mit Ramona, Anarchistin aus Ljubljana. Im ersten Teil des Interviews geht es darum, wie die Proteste entstanden sind und was die Leute auf die Straße treibt. Im zweiten Teil geht es um Verschwörungstheoretiker*innen, die gelebte Solidarität während der Aktionen und was es bedeutet über Monate hinweg an Massenprotesten beteiligt zu sein.

Slowenien wird im Moment von vielen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen erschüttert, was ist in Ljubljana los?

Die Proteste sind sehr kreativ, und ich denke, sie sind mehr als nur Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Sie richten sich vor allem gegen die autoritäre rechtsaußen-Regierungen, aber auch gegen Militarismus, Kapitalismus, Umweltzerstörung, die rassistische Migrationspolitik usw. Die Proteste nehmen unterschiedliche Formen an, bündeln sich aber meist auf die, seit dem 26. April laufenden, wöchentlichen Freitagsproteste. Es finden viele Aktionen statt: Freitags sind es die riesigen abendlichen Demonstrationen; Dann gibt es kleinere Aktionen, manchmal auch außerhalb der Hauptstadt Ljubljana, wie zum Beispiel am 19. September in Anhovo gegen die Zerstörung der Natur. In den vergangenen Wochen gab es auch regelmäßige Dienstagsaktionen von selbstorganisierten Kulturschaffenden vor dem Kulturministerium. Die Journalisten organisieren sich und hatten auch ihre eigene Demonstration. Die Menschen finden wirklich zusammen, und nach all diesen Monaten gibt es immer noch eine Menge Energie. Sogar während des Sommers kamen die Menschen immer wieder auf die Straße. Die Zahlen gingen zwar zurück, aber es waren nie weniger als 3.000, was für Ljubljana eine Menge für einen selbstorganisierten Protest ist. Ich würde sagen, es ist ganz anders als in den vergangenen Jahren. Wir sind es gewohnt Demonstrationen zu haben, die schneller stattfanden, aber nicht länger als eine Woche oder höchstens ein paar Wochen dauern. Das bedeutet, dass sich das Terrain des Kampfes verändert. Wir müssen uns auf lang anhaltende Proteste einstellen, was an sich schon bedeutet, dass wir auch unsere Strategien anpassen müssen.

Wie hat das alles angefangen?

Wir sind jetzt ja schon im fünften Monat des Protests. Am 12. März verhängte Slowenien wegen Covid19 den Pandemiestatus. Noch in derselben Nacht übernahm Janez Janša die Regierung und wurde Premierminister, nachdem der ehemalige Premierminister Marjan Šarec zurücktrat. Janša ist ein rechtsextremer Politiker, dem Verbindungen zum Waffenhandel in den Balkankriegen in den 1990er Jahren nachgesagt werden. Er war auch der Premierminister, als 2012/2013 der große, sechs Monate andauernde Aufstand stattfand. Damals musste er unter dem Druck der Proteste zurücktreten. So begann der Pandemiezustand bei uns: Mit einem rechtsextremen Ministerpräsidenten und vielen Fragen, wie man sich als soziale Bewegung in einer Situation, in der Kollektivität verboten ist, organisieren kann.

Es gab auch eine verpflichtende Quarantäne mit all den damit verbundenen Problemen und dem Slogan #stayathome: Dadurch gab es die Gefahr, dass diese Zuhause das Zuhause zu einem Schauplatz patriarchaler Gewalt werden, und patriarchale Werte gestärkt werden. Es wurde viel gegen Dating, gegen Geselligkeit, geredet. Im Prinzip wurde die Idee propagiert, dass der einzig sichere Ort die Familie sei, ohne darüber zu sprechen, was in den Familien passiert, die nicht bilderbuchmäßig sind, wo es zum Beispiel viel häusliche Gewalt gibt. In dem Diskurs wurden auch „die Anderen“, sprich Migrant*innen als schmutzig, gefährlich und als Krankheitsträger dargestellt. Wir wussten, dass diese Quarantäne nur denjenigen zur Verfügung steht, die sie sich leisten können, weil viele Menschen einfach nicht zu Hause bleiben können. Entweder, weil sie infolge der Gentrifizierung kein Zuhause haben und im Allgemeinen auf der Verliererseite der kapitalistischen Ausbeutung stehen, und natürlich, weil viele Menschen in der Industrie oder in Lieferdiensten und Geschäften dazu gezwungen sind, weiter zu arbeiten, damit andere Menschen zu Hause bleiben können.

Wie seid Ihr als Radikale oder Antiautoritäre damit umgegangen?

Für die Bewegung war es eine Herausforderung, eine sichere Umgebung für die Proteste und uns selbst zu schaffen. Gleichzeitig mussten wir Wege finden, um zu vermitteln, dass es einen Unterschied gibt zwischen Maßnahmen gegen die Pandemie und Maßnahmen, die einfach ein Ausdruck des Autoritarismus sind, der mit Janša an die Regierung gekommen ist. Was passierte, war, dass die Mauern der Stadt sofort mit Slogans gegen autoritäre Maßnahmen bedeckt waren, die als Covid19-Maßnahmen maskiert waren – Slogans wie „Lasst uns die Regierung unter Quarantäne stellen, nicht das Volk“ oder „Lasst uns die Regierung in die Fabriken und die Arbeiter in Sicherheit bringen“. Viele Menschen protestierten auch individuell, wie z.B. mit dem Aufstellen von Kreuzen auf dem Platz vor dem Parlament in 1,5 Meter Abstand, dem Markieren eines sicheren Weges für die Menschen, die sich versammelten, oder ähnliche aktivistische und künstlerische Interventionen in der Stadt.

Und abgesehen von Graffiti?

Am 26. April haben wir, über 25 antiautoritäre Gruppen, beschlossen, zu Fahrraddemonstrationen auf den Straßen aufzurufen. Wir haben diesen alten Trick aus der Antiglobalisierungsbewegung auspackt, obwohl wir alle vor 20 Jahren dieser Taktik sehr kritisch gegenüberstanden, weil sie uns nicht militant oder subversiv genug war. Aber in einer Situation, in der die Menschen Angst hatten, ihre Wohnungen zu verlassen, geschweige denn mit jemandem zusammen zu sein, der nicht zu ihrer unmittelbaren Familie gehört, dachten wir, dass dies den Menschen ein Gefühl der Sicherheit geben würde; dass sie sich nicht anstecken würden, weil es eine gewisse physische Distanz zulässt, die während des Protests eine sichere Umgebung schuf. Wir haben uns auch gefreut, dass wir uns vermummen konnten, und sich niemand wirklich darum schert.(lacht)

Wie ist es ausgegangen?

Wir dachten, dass vielleicht 40-50 Personen zu dieser Demo kommen würden. Aber schon bei der ersten Demonstration waren wir 500. Es ist wichtig, den Kontext zu verstehen: Das war vor der Ermordung von George Floyd bevor alles in die Luft gegangen ist.

500 klingt nach nicht viel…

Man muss diese Zahlen im Kontext sehen: In Slowenien gibt es 2 Millionen Menschen, in Ljubljana sind es 350.000, und wenn selbstorganisierte Demonstrationen 1000 Menschen auf die Straße locken, ist es ein Erfolg. Wenn es zwischen 2.000 und 3.000 Menschen sind, ist es die größte Sache überhaupt. Unter solchen Umständen 500 Leute auf der Straßen zu haben, war riesig. Wir merkten sofort, dass das der Moment ist, und begannen mit der vollen Mobilisierung für den 1. Mai, und es explodierte. Es waren zwischen 10.000 und 15.000 Menschen mit Fahrrädern auf den Straßen, viele neue Leute schlossen sich an, Demonstrationen fanden in anderen Städten des Landes statt. Und obwohl die Demonstrationen zu dieser Zeit nicht sehr militant waren, machte schon die bloße Tatsache, dass wir gegen die Anordnungen der Regierung da waren, einen Konflikt daraus, einfach indem wir als ein Kollektiv da waren.

Was ist es, das die Menschen auf die Straße treibt? Sind es die Maßnahmen der Regierung? Ist es die Angst vor der Wirtschaftskrise?

Ich denke, es ist die Tatsache, dass wir während des Aufstands von 2012 und 2013 wirklich die Idee etabliert haben, dass man Politikern nicht trauen kann, weil sie gegen die Interessen der Menschen arbeiten. Und auch wenn sich damals die sozialen Unruhen gelegt haben und die Eliten eine Person geopfert haben, um sich als Ganzes zu erhalten, glaube ich, dass diese Regierung bei ihrem Amtsantritt wenig Vertrauen hatte. Deshalb wurden Maßnahmen, die ja auch in anderen Ländern ergriffen wurden, als eine Art Trick angesehen, den die Regierung benutzte. Die Leute sind skeptisch, denn sie haben sehr strenge Sparmaßnahmen erlebt, eine ideologische Übernahme des Wohlfahrtsstaates. Sie rechnen mit der Privatisierung des Bildungswesens und der öffentlichen Gesundheit. Sie rechnen mit Einschnitten in die Sozialstaatsstrukturen. Und sie erwarten, dass diese Regierung bald ideologische Themen wie das Recht auf Verhütung und Abtreibung in Angriff nehmen wird. Dazu kam die Tatsache, dass es offensichtlich war, dass die Regierung versuchte, einige Maßnahmen einzuführen, die nichts mit der Pandemie zu tun hatten, sondern damit, Dissens in der Gesellschaft zu verhindern. Zum Beispiel wollte die Regierung diese Pandemie sofort mit militärischer Gewalt bekämpfen, indem sie dem Militär Autorität über die Zivilbevölkerung gab. All dies und die Angst vor dem, was noch kommen wird, wie eine Wirtschaftskrise, hat die Menschen auf die Straße gelockt.

# Titelbild: Črt Piksi, Demo in LJubljana „Gemeinsam gegen Nationalismus – für Würde und eine bessere Welt“

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“Tötet sie!” rief einer der Anwohner eines bürgerlichen Viertels aus seinem Fenster, weitere Nachbar*innen klatschten Beifall und ermunterten die Polizei, die Gilets Jaunes (Gelbwesten) durch die Straßen zu jagen. Eine Szene, die zeigt, wie polarisiert die französische Gesellschaft fast zwei Jahre nach dem Beginn des Aufstands der Gilets Jaunes ist. Die Metropolregion Paris ist sowieso streng nach den Klassen geteilt: In der Peripherie — den Banlieues — leben die Arbeiter*innen und Armen der Gesellschaft. Innerhalb der Stadtgrenzen von Paris und besonders im 8. und 16. Arrondissement (franz. für Bezirk) leben die reichen Bourgeois innerhalb ihrer Luxuswohnungen. Die Gilets Jaunes suchen sich mit Absicht diese schicken Bezirke für ihre Demonstrationen aus, um ihren Protest hör- und sichtbar zu machen — und auch, um die Bourgeois zu erschrecken.

Und so verwundert es nicht, dass sie auch am 12. September auf dem Champs-Élysées demonstrieren wollten. Dort und drumherum fanden die berühmten Straßenschlachten auf dem Höhepunkt der Bewegung der Gilets Jaunes statt. Seit März 2019 allerdings werden alle Demonstration um die Prachtstraße und die Oberschichtsbezirke drum herum verboten und in eine Sperrzone mit enorm viel Polizeipräsenz verwandelt. Am 12. September selbst hatten sich sie Luxusboutiquen schon einen Tag zuvor aus Angst vor Zerstörungen verbarrikadiert. Sogar das Tragen einer gelben Weste scheint dort untersagt worden zu sein: Schon um 8 Uhr morgens wurde eine Person mit gelber Weste verhaftet. Die Gilets Jaunes, sie haben sich zweifellos in das Gedächtnis der Herrschenden eingebrannt.

Eine neue Episode

Frankreich im September 2020 ist ein Land, das seit 2016 von einer Intensivierung der Klassenkämpfe erschüttert wird und wohl inmitten einer zweiten Welle von tausenden Corona-Neuinfektionen steht. Im Frühjahr hatte die Covid19-Pandemie das Land völlig unvorbereitet und dementsprechend hart getroffen. Aktuell gelten weiterhin harte Regeln, die mit der Eindämmung des Virus gerechtfertigt werden: So muss im öffentlichen Raum immer eine Maske getragen werden, wer das nicht tut riskiert ein Bußgeld von 135 Euro. Während die respressiven Maßnahmen verschärft werden, wird an der Gesundheitsinfrstruktur, die im Frühjahr heillos überlastet war wenig geändert. Die Zahl der Intensivbetten etwa ist nach wie vor niedrig und wurde seit Beginn der Pandemie nicht erhöht.

Von der neuerlichen Explosion an Neueinfektionen ist besonders die Region um Marseille getroffen. Dort gibt es pro 100.000 Einwohnenden 312 Neuinfektionen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt diese Zeit bundesweit bei 12,8 Neuinfektionen. Es ist also nicht auszuschließen, dass sich Frankreich am Anfang einer zweiten Welle befindet. Nichtsdestotrotz wird schon jetzt seitens der Regierung ein erneuerter Lockdown ausgeschlossen, da die Wirtschaft das nicht verkraften würde. Um sagenhafte 9,5 Prozent sank das BIP des Landes im Vergleich zum Vorjahr. Damit ist die Kontraktion mehr als doppelt so groß wie bei Deutschland oder selbst dem weltweiten Durchschnitt von 4,5 Prozent.

Diese äußerst delikate Krisenlage in einem Land mit 9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze führt dazu, dass die Lösung seitens der herrschenden Klasse in Massenentlassungen und Werkschließungen besteht. Dabei trifft es nicht nur die Produktion, wie beim Reifenhersteller Bridgestone, wo in Béthune ein Werk mit 863 Mitarbeitenden geschlossen wurde; selbst bei der Supermarktkette Auchan soll es zu 1.475 Entlassungen kommen. Während Bridgestone der Primus unter den Reifenherstellern ist und rund 27 Milliarden US-Dollar Umsatz macht, gehört Auchan der sechstreichsten Familie Frankreichs um Patron Gérard Mulliez mit einem Vermögen von 26 Milliarden Euro.

Diese zwei ausgesuchten Beispiele zeigen, dass die Arbeiter*innenklasse mit weiteren Angriffen auf ihre Arbeits- und Lebensbedingungen rechnen muss. Eine der bekanntesten Figuren der Gelbwesten, Jerome Rodrigues sagte dazu: “Es kommt eine neue Krise auf uns zu und es ist sicher, dass sie uns Elend bringen wird.” Die neue Mobilisierung der Gilets Jaunes, die bei weitem nicht nur in Paris, sondern auch in anderen Städten wie Nantes, Rennes, Marseille oder Lyon zusammenkamen, griff diese Themen auf und verband sie mit dem anhaltenden Thema der Polizeirepression und -gewalt: In Toulouse wurde jegliche Demo verboten; in Paris kam es immer wieder zu Einkesselungen, die teilweise stundenlang andauerten und auch Journalist*innen betrafen.

Die größte Gewerkschaft im Land, die CGT griff dabei in ihrer Mobilisierung am 17. September nur die sozioökonomischen Aspekte auf und rief zu Streiks und Demonstrationen auf. Diese „Aktionstage” folgen allerdings einer symbolischen Routine. Die Beteiligung an den Streiks fällt sehr gering aus und die Demonstrationen selbst können zwar durchaus groß sein, aber nicht militant und sind vollkommen von der Gewerkschaftsbürokratie kontrolliert. Es sind die immer gleichen Demorouten und Parolen, sodass jegliche Spontaneität schon im Voraus abgewürgt wird.

Sogar der Staatssekretär im Verkehrsministerium, Jean-Baptiste Djebbari, sprach abfällig von einem „Gewohnheitsstreik“ und versicherte, dass der Streik keine Auswirkungen haben würde. Dabei ist es klar, dass die „Wut unter den Arbeiter*innen zunimmt“, wie es der CGT-Sekretär Laurent Brun ausdrückte. Die Frage ist aber, was die Gewerkschaften machen, um diese Wut zu organisieren.

Die Winterstreiks 2019/20 gegen die geplante Rentenreform, die das Renteneintrittsalter faktisch auf 64 Jahre anhob, zeigten, dass langanhaltende Streiks möglich sind. Diese müssen aber unbedingt auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt werden, damit sie nicht isoliert bleiben und angesichts großer Lohneinbußen der Streikenden (in Frankreich gibt es kein Streikgeld) irgendwann abgebrochen werden müssen. Die Bereitschaft, diese Kämpfe zu führen ist unter den Arbeiter*innen auf jeden Fall da. Denn wie es ein kämpferischer Gewerkschafter und Arbeiter von Bridgestone ausdrückte, “sind wir bereit und in der Lage, Reifen herzustellen und den französischen und europäischen Markt zu beliefern — ohne die Chefs!”

#Titelbild: GrandCelinien – (G. A.) / CC-BY-SA-3.0

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Mit dem Text „Die beste Entschwörung ist Klassenkampf“ vom Mai 2020, übt Daniel Kulla lieber Ideologiekritik und gibt Impulse für die Aushebelung des Konkurrenzverhältnisses durch Klassenkampf – auch mit dem Mittel der Verschwörung. Das Interview knüpft an diesen und den Text „Blame the Game – Das System ist keine Verschwörung“ des Roten Aufbau Hamburg an. Lea Matika in einem Interview mit Daniel Kulla über Fehler im (nicht nur antisemitischen) Verschwörungsdiskurs, (innerlinke) Konkurrenzverhältnisse und den vergessenen Klassenkampf.

Du sprichst in deinem Text von „der Hufeisenbastelei“ der Linken. Wo liegen die konkreten Fehler im linken Umgang mit Verschwörungstheorien und -theoretikern?

Der Mainstreamdiskurs versucht, das Thema so einzugrenzen, als gäbe es auf der einen Seite die FDGO und auf der anderen das Aluhut-Universum. So werden die Zusammenhänge mit den alltagsideologischen Auffassungen verwischt. Der Fehler beginnt da, wo Linke dieses Mainstream-Ding mitmachen. Wo sie einerseits meinen, sich bekennen zu müssen, dieser Verblendung nicht aufgesessen zu sein und sich andererseits aktiv am Pathologisierungsdiskurs beteiligen. Die Frage, warum Linke so anfällig für „Verschwörungstheorien“ seien, ist ja schon falsch gestellt. Nicht, dass es das gar nicht gäbe, aber im Grunde kam das gerade zuletzt überwiegend von rechts bzw. aus dem liberalkonservativen Spektrum. Warum also sich selbst bezichtigen? Man kann darüber reden, wo Anschlüsse passieren, klar.

Das grundsätzliche Problem ist doch aber dort, wo die Linke als Teil des Konkurrenzbetriebs auch zu sich selbst in Konkurrenz tritt. Und wo sie aufhört zu fragen, was stimmt und was getan werden kann, sondern wo es nur darum geht, die anderen zu widerlegen und sich daran abzuarbeiten, damit man kurzzeitig mal gewinnt. Dazu eignet sich auch der Verschwörungsdikurs. Es wäre schön, über diese Dinge hinauszukommen –was nicht heißen soll, alle Gräben zuzuschütten, und nichts mehr auszutragen, im Gegenteil. Aber diese Abgrenzungs- und Bezichtigungstendenzen stehen dem im Weg. Und diese Luxustrategie kann sich die Linke gar nicht leisten.

Es ist zu forschen, wo das herkommt und was getan werden kann, wie tief das sitzt, wie viele das betrifft und wo die Übergänge sind, und es nicht bei solchen Säuberungsmomenten zu belassen, wie jemanden aus seiner Freundesliste zu löschen. Das geht manchmal nicht anders, aber es ist weniger ein Grund zu triumphieren, es ist eher traurig, dass man nicht mehr zusammenkommt.

Welche Funktion haben denn Verschwörungstheorien, speziell auch in der Krise, die ja keineswegs ein temporärer Ausnahmezustand ist, die einem friedlichen Normalzustand gegenüber steht, sondern bestehende Ungerechtigkeit und Ungleichheit verschärft?

In meinem Vortrag zum Thema habe ich aufgehört zu viel vorauszusetzen, da eine Vermittlung dieser Grundlagen kaum stattfindet. Auch in der Konkurrenzpraxis der Linken will niemand zugeben, Dinge nicht zu wissen, und so wird aufgehört, darüber zu reden. Also fange ich auch ganz grundsätzlich an: Was ist Ideologie und warum gibt es die überhaupt? Warum glauben Menschen Dinge, die nicht stimmen? Was haben sie davon?

Das hat grundsätzlich mit Herrschaft zu tun, dem großen Widerspruch in der Welt; etwas, das sich von Anfang an legitimieren muss, weil Menschen eigentlich Herrschaft nicht brauchen. Ideologie ist die Erzählung von Herrschaft über sich selbst, mit der sie versucht sich zu legitimieren. Und da fungiert als Haupterzählung, dass diese Herrschaft nicht so schlimm sei wie die anderen. Im modernen Diskurs haben wir die kapitalistischen Nationalstaaten, die sich in dieser Form vergleichen. Untereinander und natürlich auch mit verschiedenen historischen Herrschaften, die irgendwann schon mal falsch waren und denen man jetzt überlegen ist.

Diese Normalerzählung ist stets am Wirken. Die Menschen, die beherrscht und ausgebeutet werden, übersetzen das für sich und befinden sich ja auch in einer ähnlichen Konkurrenz, nämlich in Statuskonkurrenz und eben der ökonomischen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Da bedarf es einer Fremdabwertung, um sich aufzuwerten. Wer andere als doof überführen kann, gilt ja als schlau.

Diese Erzählung kriegt ständig Risse und geht nicht mehr auf für die Leute, weil Krise ist oder die sich mal wieder verschärft. Auch auf der individuellen Ebene macht sich das bei den Leuten bemerkbar, wenn der Deal mit dem Idealstaat nicht mehr aufgeht und man denkt: „Na, ob ich meine Rente wirklich noch kriege?“. Wenn ich nun an dieser Stelle Herrschaft nicht infrage stelle und mich mit anderen gegen sie zusammentue, dann gibt es den Impuls, den Realstaat an diese Idealstaatsvorstellung anzupassen. Notfalls gewaltsam: Also die Vorfahrt für die „Tüchtigen“ wieder durchzusetzen.

Man repariert also den Riss im eigenen Weltbild bzw. der ideologischen Haupterzählung. Dafür ist die Unterstellung einer übermächtigen Verschwörung einfach das allerbeste Mittel, also quasi der Joker. Eine Instanz, die alles kann, alles weiß, wunderbare Fähigkeiten besitzt, und eine optimale Projektionsfläche für alle möglichen Zuschreibungen bietet. Die Leute damit überführen zu wollen, dass das verrückt ist, geht voll daran vorbei. Das ist ja gerade die Leistung, keine eigene Ideologie sondern Reparaturprogramm für sie zu sein; eine wunderbare Erklärung für das Unverständliche. Und in dem Moment, wo sich jemand selbst davon überzeugen kann, stehen die Chancen nicht schlecht, dass andere das ähnlich sehen und übernehmen. Zusätzlich kann sich als Mahner und potentieller Retter der Noch-Nicht-Geretteten inszeniert werden, was Status verspricht oder auch reales Einkommen generieren kann.

Wie passen die vorherrschenden antisemitischen Denkmuster im Verschwörungsdiskurs mit einer Selbstinszenierung als ‚die neuen Juden‘ zusammen, wie man es bei Corona-Verschwörungsgläubigen sehen konnte, die sich Davidsterne mit der Aufschrift ‚ungeimpft‘ anheften?

Auf Deutschland bezogen gehe ich davon aus, dass ein Großteil dieses Verschwörungsdiskurses antisemitisch funktioniert – es ist aber nicht zwangsläufig so. Bis der moderne Antisemitismus entstanden ist, funktionierte der Weltverschwörungsdiskurs fast hundert Jahre ohne spezifische Rolle für die Juden. Da wird manchmal eine gedankliche Abkürzung gemacht, dass das beides in eins fallen würde. Der moderne Antisemitismus kommt ohne Verschwörungserzählung nicht aus, aber umgekehrt stimmt das nicht wirklich.

Diese Mustererkennungsgeschichte die dann anläuft, nach dem Motto „Oh guck, eine Krake! – das muss Antisemitismus sein!“, greift unter Umständen daneben. Wie lässt sich denn Herrschaft durch Institutionen, deren Macht in mehrere Länder reinreicht wie z.B. die EU, sonst darstellen? Das ist trotzdem als Hinweis ernst zu nehmen, aber wie argumentieren die Leute denn sonst, die so etwas benutzen? Man kann die ja erstmal warnen, was sie da möglicherweise mit transportieren, statt „Ertappt!“ zu schreien. Da wird es sich teilweise zu einfach gemacht.

Die Selbstinszenierung als die „neuen Juden“ ist teilweise auch so ein Joker im Diskurs. Denn das ist etabliert als das Schlimmste, was irgendwann mal passiert ist – und wenn ich mich maximal selbst viktimisieren will, ist das halt erste Wahl. Viele sind natürlich schon antisemitisch motiviert. Aber ob jetzt alle Leute, die damit rumlaufen, diesem Diskurs so aufsitzen, wäre erstmal zu prüfen. Dass es darauf oft hinausläuft und auch immer wieder diese mörderische Konsequenz hat, ist unbestritten, aber analytisch war mir das manchmal zu bequem, da es nicht die Grundlagen angreift, sondern eher wieder auf diese Abgrenzung und Selbstaufwertung durch Expertentum aus ist – und das macht meiner Meinung nach die Waffe stumpf. Ideologiekritik sollte einfach treffen, sonst verspielt sie ihre Glaubwürdigkeit.

Hast du noch was anzumerken?

Ich würd gern was zum Text des Roten Aufbau Hamburg sagen. Darin heißt es, Kapitalismus sei keine Verschwörung – und das stimmt natürlich. Der kapitalistische Normalbetrieb findet in aller Öffentlichkeit statt und ist nicht verborgen. Aber: Zu seiner Aufrechterhaltung und Ausweitung werden ständig Verschwörungen gebildet. Es ist unter Herrschaftsbedingungen normal, dass es Verschwörungen gibt und es wäre naiv, anzunehmen, dass Verschwörungen keine Rolle spielten. An anderer Stelle wurde geschrieben, dass die Reichen ja auch in Konkurrenz zu einander stünden und sich deshalb nicht verschwören würden – die stehen natürlich in Konkurrenz, aber sie schließen sich auch zusammen.

Es steht zwar im Text, dass wir um Wohnung, Intimbeziehung, Lebensmittel, usw. konkurrieren

– aber fehlt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren. Da fehlt der Zusammenschluss im Klassenkampf, durch den die Konkurrenz ja tatsächlich ausgehebelt werden kann. Und das wäre auch der Schritt raus aus der Ideologie. Ideologie ist nicht nur Manipulation, sondern sie entsteht ständig aus der Konkurrenz – und kann genau da umgedreht werden! Denn wenn ich mit Ideologie die Konkurrenz normalerweise reproduziere, ist das Konkurrenzbedürfnis in dem Moment, wo sich Leute egalitär zusammentun, um zu streiken oder zu besetzen, aufgeknackt. Dann geht es darum, eine Erzählung zu entwickeln, in der man sich gegenseitig nicht mehr abwertet.

Das fand ich eine Auslassung an der Stelle. Denn wenn ich nicht über die Verschwörung der anderen reden will, dann rede ich auch nicht von der Verschwörung von unserer Seite, die es ja eigentlich ist: Was es oft für ein Theater ist, in einem Betrieb einen Betriebsrat zu haben! Das wird ja auch nicht offen gemacht. Man spricht sich erstmal ab, fühlt vor bei den Kollegen, vielleicht auch außerhalb der Arbeit – so funktioniert ja Verschwörung: über den öffentlichen, klar abgesteckten Rahmen hinaus zu gucken, was durchgesetzt werden kann. Wer sich aber auf den Normaldiskurs einlässt, schlägt sich selber dieses Mittel aus der Hand.

Diese Leerstelle, zwar über ökonomische Verhältnisse zu reden, aber nicht über Klassenkampf, ist auch eine begriffliche. „Klasse“ ruft halt dieses „der Mann mit Helm im Betrieb“-Bild auf. Ich schlage „Arbeitskräfte“ vor, das ist genderneutral und fasst es sehr weit; also wer lebt davon, dass jemand in der Familie oder Lebensgemeinschaft versucht seine Arbeitskraft zu verkaufen, egal, wie gut bezahlt oder legal, und wer hat so das gemeinsame Interesse, dass der eigene Lebensunterhalt für die andere Seite niedrig zu haltende Kosten sind – das ist alles die Klasse. Und alles weitere muss im Klassenkampf ermittelt werden. Wer auf welcher Seite steht, wird sich dann zeigen und kann sich in fortgesetzten Kämpfen immer wieder verschieben.

Und ich bin dafür, immer Forschung und Geschichte im Blick zu behalten und nach Bedürfnissen und Fähigkeiten unserer Spezies außerhalb von Herrschaft zu schauen. Wenn sich eine Annahme als falsch herausstelt, ist das zu inkooperieren – wir machen doch keine Religion.

# Lea Matika ist Journalistin und Künstlerin in Leipzig.

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