GET POST FORMAT

Die Corona-Pandemie hat auch Gewinner. Biontech zum Beispiel, das Unternehmen, das einen der Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt hat. Die Eigentümer:innen sind so zu Milliardär:innen geworden. Neben der Formel für den Impfstoff greift Biontech für‘s Kohle scheffeln auf bekannte Rezepte zurück: Lobbyismus und untertarifliche Bezahlung.

Bekanntlich hat die Coronapandemie die Umverteilung von unten nach oben noch einmal erheblich beschleunigt. Superreiche wie Amazon-Gründer Jeff Bezos oder der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz haben heute ein paar Milliarden mehr auf dem Konto als vor der Seuche. Natürlich gehört auch die Pharmaindustrie zu den Branchen, die mächtig absahnen. Ganz vorn dabei die Firma Biontech SE aus Mainz. Für das 2008 gegründete und eigentlich in der Krebsforschung tätige Unternehmen war Corona der Jackpot. Uğur Şahin und Özlem Türeci, Gründer:innen und Inhaber:innen von Biontech, setzten bereits im Frühjahr 2020 – also kurz nach Ausbruch der Pandemie – auf die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 und hatte nicht nur pharmazetischen Erfolg. Über Nacht wurde das Paar traumhaft reich.

Die Firma präsentierte im Herbst 2020 einen Corona-Impfstoff, den es in Kooperation mit dem US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer und dem chinesischen Pharmakonzern Fosun – unterstützt mit einigen Millionen aus der Staatskasse – entwickelt hatte. Dass es ein deutsches Unternehmen das erste war, das einen Impfstoff präsentieren konnte, führte zu Extase in der bürgerlichen Öffentlichkeit. „Es ist die deutsche Mondlandung“, harfte die Bild-Zeitung. Für den liberalen, nach Aufstiegsstorys lechzenden Teil der Öffentlichkeit kam noch hinzu, dass Şahin und Türeci türkischstämmig sind und der Vater von Şahin als „Gastarbeiter“ bei Ford am Band stand. Die Begeisterung kannte und kennt keine Grenzen. Im Frühjahr 2021 heftete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Mediziner:innen das Bundesverdienstkreuz ans Revers.

Wichtiger als der Ruhm dürfte dem Paar aber wohl die finanzielle Entwicklung ihres Startups Biontech gewesen sein. Bereits im ersten Halbjahr machte Biontech rund 3,9 Milliarden Euro Gewinn – Gewinn, nicht Umsatz wohlgemerkt. Im Januar 2022 verkündete Şahin, das Unternehmen habe mit dem Impfstoff im Vorjahr einen Umsatz von 16 bis 17 Milliarden gemacht, für das laufende Jahr gehe er von einem ähnlichen Volumen aus. Das Vermögen von Şahin und Türeci erhöhte sich im Handumdrehen auf knapp zwölf Milliarden Euro, wie Medien berichteten. Damit gehören die beiden, gemessen am Forbes-Ranking für 2021, zu den zehn reichsten Menschen in Deutschland.

Dieser Reichtum kommt nicht von ungefähr. Im kapitalistischen Hauen und Stechen ist auch die lebensnotwenige Versorgung mit Medikamenten nur eine Ware, die es gilt möglichst profitabel unter die Leute zu bringen. Und damit die Profite sicher bleiben, wird entsprechend lobbyiert. Vizekanzler Robert Habeck etwa, machte in Bezug auf die Freigabe von Patenten, die Biontech und anderen Pharmakonzerne die Milliarden sichern, eine 180 Grad-Wende. In der Opposition hatte er noch die Freigabe der Impfstoffpatente gefordert, in Regierungsverantwortung, nachdem er mit „Unternehmen noch mal intensiv gesprochen“ habe, diese Position komplett aufgegeben. Das einzige Unternehmen mit dem er gesprochen hatte: Biontech.

Biontech ging in seinem Lobbyismus aber noch einen Schritt weiter. Um der gobal betrachtet krassen Unterversorgung armer Staaten mit Impfstoffen Herr zu werden, hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO in Südafrika ein Konsortium damit beauftragt, einen eigenen Impfstoff herzustellen. Nach Recherchen des British Medicinal Journal versuchte Biontech über die vom Unternehmen finanzierte Stiftung Kenup, diese Initiative zu verhindern, unter Verweis auf das Patentrecht. Stattdessen solle in Ruanda und im Senegal in Containern von Biontech hergestellt werden. Profite für die Mainzer natürlich inklusive.

Und während nach außen die Absatzmärkte gesichert werden, werden nach innen die Beschäftigten gekonnt ausgepresst. Bereits in der Debatte um einen möglichen Staatseinstieg bei Biontech im Februar 2021 hatte die auch für die Pharmaindustrie zuständige Gewerkschaft IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) gemahnt, die Politik müsse Biontech daran erinnern, „dass die Sozialpartnerschaft auch für Start-ups gilt“. Biontech warb damals um weitere Staatsgelder, um die Impfstoff-Produktionskapazitäten rasch auszubauen. Man befürworte diese Förderung, erklärte aus diesem Anlass Roland Strasser, Landesbezirksleiter der IG BCE, plädiere aber zugleich dafür, dass sich auch Biontech zur etablierten Sozialpartnerschaft bekennen. Stattdessen aber würden Gesprächsangebote abgeblockt.

Dass sich bis heute – also nach einem Jahr – an der Misere offenbar nicht wirklich etwas geändert hat, zeigte ein Beitrag, der jüngst in der Tageszeitung junge Welt erschien. Dort hieß es, die IG BCE bemühe sich weiterhin um Zugang zur Biontech-Belegschaft. Gefordert würden Mitbestimmung, Tarifverträge und transparente Gehaltsstrukturen. Biontech habe sich für einen in der Startup-Szene üblichen Weg entschieden: Durch die EU-Rechtsform der SE würden nationalstaatlich verankerte Arbeitsrechte ausgehebelt. Betriebsräte und Tarifverträge versuche man zu verhindern, die Vergütungsstrukturen würden verschleiert. Laut Angaben der Gewerkschaft klagten viele Beschäftigte des Konzerns zudem über eine „Arbeitsbelastung am Anschlag“ und eine „mangelnde Führungskultur“.

Die Forderung der Gewerkschaft: Um die Situation zu verbessern, müsse Biontech als Gegenleistung für die Millionen vom Staat endlich akzeptieren, dass „Sozialpartnerschaft und Tarifverträge im gesamten Unternehmen Standard werden“. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die rheinland-pfälzischen Standorte Mainz und Idar-Oberstein. Denn im zur Erweiterung der Produktionskapazitäten zugekauften Werk im hessischen Marburg gelten alle Mitbestimmungsrechte und der Flächentarifvertrag der Chemieindustrie. Biontech hatte die Anlage im Herbst 2020 von der schweizerischen Novartis AG übernommen – einschließlich der bestehenden Arbeits- und Tarifverträge. Allerdings gibt es auch in Marburg für die rund 100 nach der Übernahme eingestellten Mitarbeiter nur befristete Verträge.

Die IG BCE will, wie junge Welt berichtete, Tarifverträge für alle Beschäftigten an allen Standorten erreichen. Denn vor allem dort, wo diese fehlten, seien die Bedingungen miserabel. Die Gewerkschaft verweist immer wieder darauf, dass Mitbestimmungsrechte und Tarifverträge in der Pharmaindustrie durchaus üblich sind. Kooperationspartner von Biontech wie Pfizer, Sanofi und Bayer seien „alle tarifgebunden und schätzen die Sozialpartnerschaft zur IG BCE“. Es wird sich noch zeigen, ob die Goldgrube Biontech auch ihre Mitarbeiter flächendeckend am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen gewillt ist. Sicher ist aber, dass Biontech den Eigentümer:innen weitere Milliarden in die Taschen spülen wird. Dafür wird auf allen Ebenen gesorgt.

# Titelbild: Neben Milliarden gibt’s auch eine Ehrendoktorwürde. Empfang für Özlem Türeci und Uğur Şahin, im Rathaus Köln und Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

GET POST FORMAT

Pflegebonus und Impfpflicht, Zuckerbrot und Peitsch – die Bundesregierung nimmt Pfleger:innen als Adressat:innen ihrer Politik ins Visier. Wir haben mit Eileen (25), die auf der Intensivstation in einem Berliner Krankenhaus arbeitet darüber, was der viel beschworene Pflegenotstand eigentlich bedeutet, sowie über Pflege in Zeiten von Corona gesprochen.

Du hast ja im April 2020, als die Pandemie richtig losging, direkt nach Abschluss deiner Ausbildung auf der Intensivstation angefangen. Wie war das?

Ich habe als Berufsanfängerin direkt in dem Fachbereich der Intensivstation angefangen. Eigentlich sollte man das mit einer Berufserfahrung von ein bis zwei Jahren machen, aber dadurch, dass der Notstand so hoch war, konnte ich direkt nach der Ausbildung dort anfangen. Das Pensum, das ich zu lernen hatte war enorm hoch, mit Fähigkeiten, die ich in der Ausbildung gar nicht an die Hand bekommen habe. Dazu kam dann noch die Situation mit der Pandemie. Wir waren erst in anderen Räumen, um die Patient:innen zu isolieren, weil gar nicht klar war, wie lange das anhalten wird. Es gab viel extremere Maßnahmen als jetzt um die Pandemie einzudämmen. Das hat sich ein bisschen entspannt; nicht vom Arbeitspensum, sondern von den Maßnahmen, die von den hygienebeauftragten Personen gemacht wurden.

Hast du im Laufe der Pandemie einen Unterschied gemerkt, in der Art und Weise wie Ihr arbeiten musstet?

Auf jeden Fall. Nach zwei Jahren Pandemie sind wir zumindest mit den Arbeitsmaterialien auf einem guten Weg. Es gibt genug FFP2-Masken und Schutzkleidung für die Pflegekräfte. D.h.wir müssen nicht mehr für zwei Dienste die selbe Maske tragen oder den selben Kittel für unterschiedliche Patient:innen. Ein Mindestmaß an Arbeitsschutz ist jetzt gegeben, aber das war nach zehn Monaten in denen wir nicht sicher sein konnten, dass wir genug Schutzkleidung haben. Deswegen sind auch viele Kolleginnen und Kollegen an Corona erkrankt.

Was super traurig ist, ist wie sich das im Zwischenmenschlichen entwickelt hat. Durch die Maske kann man mit Mimik nicht viel ausrichten. Man kann nicht richtig miteinander sprechen, sich nicht richtig sehen, Emotionen und Gefühle ausdrücken. Es ist natürlich essentiell die Masken zu tragen. Aber im Laufe der Pandemie ist die Anonymität größer geworden und dadurch kann man für die Patienten nicht so viel emotionale Arbeit leisten.

Wie ist denn die Situation aktuell bei euch auf der Station?

Es gibt wenige Covidpatient:innen auf der Intensivstation, zumindest bei mir im Krankenhaus. Dafür sind aber die Normalstationen komplett voll. Und die meisten Patient:innen, denen es auf der Intensivstation sehr schlecht geht, haben Vorerkrankungen, konnten sich deshalb vielleicht nicht impfen lassen. Es ist ein ganz anderer Zustand als im letzten Jahr. Das ist zumindest bei mir auf Station so.

Insgesamt haben ja im Laufe der Pandemie viele Leute gekündigt. War das bei euch auch so?

Ja. Konsequenz daraus ist ein noch stärkerer Pflegenotstand. Ich habe einige Kolleg:innen, die vorher Vollzeit gearbeitet haben und jetzt reduziert haben, weil so intensiv im Schichtdienst zu arbeiten nicht mit einem normalen Leben vereinbar ist. Wir werden z.B. sehr oft aus dem Frei geholt. Das kann man sich in einem normalen 9 to 5 Job ja kaum vorstellen. Ich wurde schon sonntags beim Frühstück angerufen wurde, ob ich nicht einspringen und Montag Dienst machen kann. Ich sehe so oft die Telefonnummer vom Krankenhaus auf meinem Handy und will eigentlich gar nicht rangehen; kriege Herzrasen, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich gleich absagen muss. Und das ist ein Stressfaktor unabhängig davon, ob man gerade auf Station ist, oder nicht. Wenn man dann sowieso insgesamt nur acht Tage im Monat frei hat und dann noch zwei Dienste übernommen hat, bleibt nicht viel übrig. Ich selber habe jetzt auch Stunden reduziert und angefangen zu studieren.

Bei uns auf Station haben aber auch einige neue Leute angefangen. Wenn so viele Leute neu auf der Intensivstation anfangen, ist aber auch die Frage, inwieweit wir dem gewachsen sind. Ich z.B. hatte eine Einarbeitung von fünf Wochen, eigentlich ist Vorschrift mindestens zwei Monate. Und das ist auch eingeschränkt worden, damit wir schnell als souveräne Arbeitskraft in den Schichtplan eingeführt werden konnten. Dadurch leidet dann unter Umständen die Arbeitsqualität, was dann der Rest des Teams kompensieren muss. Bei mir hat das auch zu extremer Überforderung geführt. Man wird dann einfach so in diese Ausnahmesituation reingeworfen. Dir bleibt dann nicht so eine richtige Wahl.

Stichwort Pflegenotstand. Was hat das für euch bedeutet?

Dass Leute Überstunden machen, dass Kolleginnen und Kollegen länger arbeiten müssen, dass die körperliche Belastung extrem hoch ist. Patient:innen richtig zu versorgen ist oft nicht möglich. Es ist eher so dass man eine Liste an essentiell notwendigen Dingen abarbeitet, ohne mal nach rechts und links gucken zu können, damit es den Menschen gut geht. Und wenn‘s nur darum geht mal zwei Minuten mit der Person zu sprechen. Der Puls ist die ganze Zeit auf 180. Man versucht jedem die Medikamente zu geben und den Grundbedarf sicherzustellen. Das ist nicht die Art von Pflege, wie ich sie gelernt habe und wie wir arbeiten möchten.

Pflegenotstand ist auch ganz viel Ungewissheit. Dass man zum Dienst kommt und nicht weiß, ob man richtig besetzt ist. Angst davor, dass zu wenig Menschen da sind, um die Patient:innen zu versorgen. Resignation und Unmut. Unterschwellig macht sich auch ein schlechtes Gewissen breit, wenn man krank ist und nicht arbeiten kann, weil man das Gefühl hat, seine Kolleg:innen im Stich zu lassen. Das ist doch eine perfide Vorstellung, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich krank bin, weil es nicht die personellen Möglichkeiten gibt, das zu kompensieren. Auch das ist für mich Pflegenotstand.

„Ich kann meine Arbeit nicht beenden, dann lass ich das für morgen liegen“ – das geht in dem Job nicht. Entweder müssen das dann meine Kolleg:innen machen, oder es wird halt nicht gemacht. Und das ist dann zu Lasten der kranken Personen. Das ist auch eine sehr gefährliche Arbeitsweise.

Meistens geht ja auch alles gut. Aber wir müssen ja auch den schlimmsten Fall vorbereitet sein und nicht hoffen, dass der schlimmste Fall nicht eintritt. Sodass ich dann dastehe und zwei instabile Patient:innen habe, die ich nicht versorgen kann, weil ich nicht genug Hände habe.

Hast du denn den Eindruck, dass sich an den grundlegenden Problemen etwas ändert im Laufe der Pandemie?

Zum einen bin ich dankbar dafür, dass der Pflege so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das hat sehr viel Kraft gegeben. Aber z.B. über den Sommer, als weniger Menschen wegen Corona in den Krankenhäusern waren, habe ich gar keinen Rückhalt gespürt. Es gab ja punktuell den Pflegestreik, wo noch Solidarität da war, aber unser Kampf ist immer nur Thema, wenn der größte Ausnahmezustand erreicht ist. Und das ist unfair, weil unabhängig von der Pandemiesituation, die Situation angespannt und überfordernd ist. Und nicht nur Covidpatient:innen versorgt werden müssen, sondern mit mindestens genau so hohem Aufwand andere Patient:innen, die auf der Intensivstation liegen.

Die Arbeit der Pflege wird wahrscheinlich wieder in den Hintergrund geraten, weil die Pandemie von einigen schon als beendet gefeiert wird und die Kontaktbeschränkungen schrittweise gelockert werden und Krankheit, Pandemie und sterbende Patient:innen das Leben der meisten Menschen in den nächsten Monate nicht mehr dominieren wird.

Und was hältst du von dem angekündigten Pflegebonus?

Den Pflegebonus halte ich für Quatsch. Das ist Symptombehandlung. Weil‘s sich schön anhört, wenn man liest, dass die Pfleger:innen eine Milliarde bekommen. Aber mir ist es egal, wie viele Nullen da sind. Es geht generell um eine bessere Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen. Mehr Zeit, mehr Sicherheit.

Und was ist mit Leuten, die nicht direkt am Krankenbett von Covidpatient:innen arbeiten, aber genauso essentiell für das Gesundheitssystem sind? Was ist mit Leuten in der ambulanten Pflege? Was ist mit Leuten, die in der ersten und zweiten Welle gearbeitet haben, aber danach aufgehört haben? Und einen genauso großen Anteil daran hatten, der Pandemie Herr:in zu werden. Das ist alles gar nicht berücksichtigt. Ich habe das nicht mehr oder weniger verdient als jemand der an einem Bett von einem Krebspatienten steht.

An den Strukturen wird also nichts gemacht, sondern Geld rausgeworfen um die Sache zu beruhigen. Es wird ja auch über eine Impfpflicht diskutiert, insbesondere für Pflegepersonal. Wie siehst du das? Wie wird das bei euch diskutiert?

Ich halt es schon für eine Voraussetzung, dass medizinisches Fachpersonal, welches mit kranken Menschen arbeitet geboostert ist. Denn dass die Impfung mehr als essentiell ist, um die Pandemie einzudämmen, Menschenleben zu retten und uns gegenseitig zu schützen, steht außer Frage.

Ich kenne aber auch einige Menschen, die in der Pflege arbeiten und nicht geimpft sind. Die lieben ihren Job und sind unglaublich gewissenhaft im Umgang mit Patient:innen, wie alle anderen auch. Die würden ihren Job gefährden, bzw. kündigen, wenn die Impfpflicht kommen würde. Das muss man sich mal vorstellen, was da für Prinzipien und Überzeugungen dahinterstehen, das in Kauf zu nehmen. Und ich denke nicht, dass eine Impfpflicht diese Prinzipien aufweichen würde, sondern eher die Situation noch verschärft. Ich denke, dass es mittlerweile nicht mehr irgendeine Angst vor der Wirkung oder Langzeitfolgen ist, die viele davon abhält, sondern eher ein Misstrauen, nach dem Motto „Ich mache nichts wozu ich gezwungen werde“ und „Ich mache nichts was eine Regierung mir sagt, der ich nicht mehr so richtig vertraue“. Es wäre wichtiger gewesen frühzeitig, im Sommer Überzeugungsarbeit zu leisten, aber da war halt Wahlkampf. Und da wurde der Zeitpunkt verpasst und jetzt sind die Fronten verhärtet.

Im Sommer wurde in Berlin gestreikt, hast du daran teilgenommen?

Ich arbeite in einem Klinikum, das von der Kirche getragen wird und wir dürfen nicht streiken, was mehr als frustrierend ist, aber man fügt sich dem. Man erwartet, dass sich dann auch kirchliche Häuser einem Tarifvertrag anpassen, weil sie sonst nicht mehr konkurrenzfähig sind. Verdi hatte dazu aufgerufen, dass Pflegepersonal in der Charité und den Vivantes-Kliniken und dem Facility Managements in den Streik gehen, um zu erreichen, dass bei nicht-Einhaltung der Personaluntergrenzen ein Freizeitanspruch entsteht oder auch Geld gezahlt wird.

Ich habe den Streik und die Demos als sehr motivierend wahrgenommen. Die Solidarität war auf jeden Fall spürbar, auch aus medizinischen Berufen, die nicht aus der Pflege sind. Das sind alles kleine Schritte, von denen ich weiß, dass sie wichtig sind und Kämpfe, die geführt werden müssen, aber es ist wieder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil das ändert nichts daran, dass es zu wenig Pflegekräfte gibt.

Für die Zukunft von der Arbeit in der Pflege, was würdest du dir wünschen?

Die Privatisierung im Gesundheitswesen hat dazu geführt, dass alles immer an Zahlen festgemacht wird und es um Finanzen geht. Es sollte nicht daran bemessen werden, wie viel Geld ein kranker Mensch kostet, um daran festzulegen wie viele Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Ich wünsche mir mehr Zeit für meine Patienten:innen, damit ich sie über das Technische hinaus versorgen kann, weil man in der Ausbildung unglaublich schöne Dinge in der Patientenbegleitung lernt, die komplett in Vergessenheit geraten, weil man dafür keine Zeit hat.

# Titelbild: SnaPsi Сталкер, CC BY-NC-ND 2.0, Intensivstation, Symbolbild

GET POST FORMAT

Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch „Auklärung“ rassistischer „Einzelfälle“, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, wurden Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Sedat Gürbüz von einem Rassisten ermordet. Zwei lange Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt, kurz vor dem 19. Februar 2022, sind die Medien wieder voll mit Beileidsbekundungen und dem Ruf nach mehr Toleranz und “Diversity”. Der Antirassismus (Antira) ist im Mainstream angekommen. Die Antira-Bewegung der letzten Jahrzehnte hat ihn mit Beharrlichkeit und Kraft dorthin geschoben. Das ist aber gleichzeitig Fluch und Segen. Zeit also, die Linse zu schärfen.

Was haben zwei Jahre nach Hanau mit sich gebracht

Seit dem 3. Dezember tagt der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zum 19. Februar. Dort soll eine Aufarbeitung erzwungen und Antworten auf viel zu viele offene Fragen gefunden werden. Fragen, wie zu den Waffenscheinen des Täters, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum respektlosen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach oder zur Rolle des Vaters des Täters. Der Untersuchungsausschuss und der damit angestoßene Aufarbeitungsprozess wurden nur durch die Beharrlichkeit der Angehörigen und Unterstützer*innen erkämpft.

Die Liste der Fälle, die bisher folgenlos blieben, ist immer noch lang. Rassistisches Verhalten der Behörden vor, während und nach der Tat haben keine Konsequenzen gehabt – weder in Polizeibehörden noch beispielsweise im hessischen Innenministerium. 13 Mitglieder der SEK-Einheit, die am Anschlagsort im Einsatz waren, waren Teil einer rechtsradikalen Chatgruppe. Diese SEK-Einheit wurde nach Bekanntwerden aufgelöst, was jedoch nicht bedeutet hat, dass die jeweiligen Polizisten ihren Job los waren.

Im Dezember 2021 hat sich die Generalbundesanwaltschaft mal wieder damit lächerlich gemacht, dass sie die Ermittlungen gegen mögliche Mittäter eingestellt hat. Somit reihen sie Hanau in die unzähligen rassistischen Vorfälle ein, bei denen die Behörden behaupten es handle sich um Einzeltäter, um die strukturelle Dimension von Rassismus auszublenden. Nur so ist es rhetorisch überhaupt möglich Solidarität zu heucheln, ohne sich selbst konsequent in die Verantwortung zu nehmen.

Weiterhin unbekannt ist, wer die Scheiben der Arena Bar zwei Monate nach dem Anschlag eingeschlagen hat. Es gibt auch keine nennenswerten Debatten um die Ignoranz und den Rassismus der sogenannten Mitte: Noch bevor Details zum Anschlag klar waren, mutmaßten einige Medien schon über eine “Milieutat”, die Hanau-Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag wurde unverhältnismäßig kurzfristig vom SPD-Bürgermeister aufgrund der Infektionslage abgesagt und die CDU wünschte sich nicht lange nach dem Anschlag, dass Hanau wieder zur „Normalität“ zurückkehre.

Wo wir zwei Jahre nach Hanau als Bewegung stehen

Die Angehörigen, die Initiative 19. Februar und die Antira-Bewegung haben es geschafft, die Namen und Erinnerungen an Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin in und durch uns weiterleben zu lassen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhats, hat inmitten der Trauer, der Wut und des Schmerzes die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen sich über Generationen und Identitäten hinweg, stehen zusammen und schaffen damit neue Allianzen für den Kampf für ihre gemeinsamen Forderungen. Es sind auch diese gemeinsamen Kämpfe, die die Themen Polizeigewalt, rechte Strukturen in Behörden sowie institutionellem Rassismus immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Politische und gesellschaftliche Debatten zur (De)legitimierung des Verfassungsschutzes und der Abschaffung der Polizei haben es in die breite Öffentlichkeit geschafft, unter anderem durch die starken und abolitionistisch geprägten #BLM-Proteste unserer Schwarzen Geschwister, die aus den USA kamen und auch hier in rassifizierten Communities verbreitet wurden.

Gleichzeitig erleben wir einen sich immer weiter ausbreitenden liberalen Antirassismus, bei dem nicht um materielle Bedingungen, sondern ausschließlich um “Diversity”, Quoten und individuelles Bewusstseinstraining oder Privilegiencheck geht. Selbst die Bundesregierung hat vor etwa einem Jahr einen 89 “starken” Maßnahmenkatalog beschlossen, als “klares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus”. Die Bürger*innen sollen zu “wehrhaften Demokrat*innen” erzogen werden, um so dem Rechtsruck entgegen zu treten. Diese extreme Verharmlosung rechter Gewalt und ihrer Netzwerke zeugt von einer fatalen analytischen Unschärfe, innerhalb dessen struktureller Rassismus und Unterdrückung nicht verstanden werden kann. Infolgedessen laufen antirassistische Kämpfe Gefahr, vom herrschenden System vereinnahmt zu werden.

Mehr als nur Aufklärung 

Gerade beim Attentat in Hanau zeigt sich, wie wenig Menschen wirklich verstanden haben, wenn selbst diejenigen, die politisch für den Anschlag mitverantwortlich sind, unreflektiert zum Gedenken aufrufen. Für sie bedeutet Gedenken ein bloßes Erinnern und einen Kranz niederzulegen. Sie sehen nicht, dass Hanau Ursache einer Klassengesellschaft und eines Systems ist, in dem zwangsläufig ein oben und unten existieren. Hanau steht in einer Kontinuität zum Anwerbeabkommen, zum Asylrechtskompromiss und zum NSU-Komplex. Sie verstehen nicht, dass Hanau nicht als einzelner, abgekoppelter Einzelfall betrachtet werden kann, den es zu “lösen” gilt. Jeder einzelne Fall rassistischer und rechter Gewalt könnte wahrscheinlich umfangreicher aufgeklärt werden, wenn der Wille da wäre – doch selbst wenn, würden zu jedem aufgeklärtem Fall zehn neue dazu kommen.

Wenn wir uns die Geschichte von Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit seitens der Behörden und des Staates bei rechten, antisemitischen und rassistischen Taten anschauen, müssen wir wohl auch beim 19. Februar davon ausgehen, dass er leider nur begrenzt erfolgreich sein wird. Die unzähligen Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex, der Ausschuss zur Anschlagsserie in Neukölln und die zahlreichen Gutachten im Fall Oury Jallohs zeigen zum einen, dass die Verantwortlichen sich gegenseitig in ihren Erzählungen und Schuldabweisungen stützen und schützen werden. Zum anderen haben wir strukturell gesehen nicht viel gewonnen. Natürlich ist es enorm wichtig, die verfügbaren rechtlichen Mittel maximal auszuschöpfen, um die konkreten Täter*innen zu benennen, zur Verantwortung zu ziehen und Netzwerke aufzudecken. Kommt ein Untersuchungsausschuss mit dem nötigen Druck zustande, so ist es ein Etappenerfolg innerhalb des herrschenden Systems und aus Sicht der Angehörigen ein kämpferisches Mittel. Deshalb gebührt ihnen die vollste Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, dass das Zurücktreten von Politiker*in X oder die Versetzung von Beamt*in Y die Revolution herbeiführen wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass das System in sich gut funktioniert und nur hier und da sind noch ein paar Schönheitsfehler durch neues Personal oder Zusatzparagraphen zu beheben. Es kann nicht bei bloßer Aufklärung bleiben. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die rechte Ideologien und Gewalt an den Wurzeln bekämpft – und die sitzen im Herzen des kapitalistischen Systems.

Solange wir in diesem kapitalistischen System leben, werden wir immer wieder konfrontiert sein mit dem Auffliegen von rechten Strukturen innerhalb der Polizei, der Bundeswehr, den Sondereinsatzkommandos und werden hören von Reservisten, die Sprengstoffe horten und Todeslisten führen. Die sogenannte Mitte wird weiterhin nach Abschiebungen von Menschen, die sich „illegal“ hier aufhalten schreien. Die Rechten werden die Erzählung eines „Rassenkrieges“ immer weiterspinnen, bis sie schlussendlich handeln werden. Es werden wieder und wieder Menschen in Gewahrsam zu Tode kommen, ohne jegliche Konsequenzen für die verantwortlichen Polizist*innen. Das EU-Grenzregime wird ungebremst seine Mauern höherziehen und ihre Grenzen “verteidigen”. Und unsere Geschwister im globalen Süden werden Tag für Tag weiter in mörderischen imperialistischen Kriegen um Ressourcen und Macht nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Leben verlieren. 

Diese Normalität rechten Terrors müssen wir bekämpfen. Dabei dürfen wir uns nicht von bürgerlichen Parteien, Politiker*innen oder sonstigen staatlichen Bediensteten vereinnahmen lassen. Denn deren einziger Zweck ist es, eben jenes System und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu schützen. Zwar versuchen sie es durch eine Reform hier und da weniger brutal erscheinen zu lassen, am Grundproblem ändert sich jedoch nichts.

Warum am 19. Februar auf die Straße gehen 

Die Forderungen nach Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen der Angehörigen, Betroffenen und der Initiative 19. Februar gilt es zu unterstützen, wo und wie immer wir können. Gleichzeitig werden wir unser Streben nach radikaler Veränderung der Gesellschaft und Selbstorganisierung weiterverfolgen. Wir vergessen nicht, sondern werden weiterhin all diejenigen anklagen, die für das rassistisches Klima verantwortlich sind, die rechte Strukturen schützen, rechten Terror durch rassistische Politik befeuern sowie den Nährboden für Ausbeutung und Ausgrenzung  füttern. Wir können keine Forderungen an einen Staat stellen, der genau das tut und aktiv daran beteiligt ist, zu vertuschen und zu manipulieren. Wir lassen uns nicht mit leeren Worten und Gesten abspeisen, sondern werden selber machen!

Wir wollen eine Alternative schaffen zu diesem ausbeuterischen, kapitalistischen System, in dem es um Profite statt um Menschenleben geht. Wir wollen kontinuierliche Arbeit in den Nachbarschaften leisten, weiter mit unseren Nachbar*innen in Kontakt treten, zuhören, unsere politischen Visionen teilen und gemeinsam organisieren und umsetzen. Die Verankerung und Bezug zur Nachbarschaft ist besonders wichtig, denn hier wachsen wir auf, haben unsere Beziehungen, Geschichten und führen unsere Kämpfe. Nichtsdestotrotz stehen wir Seite an Seite mit unseren Geschwistern und Genoss*innen im globalen Süden, denn nur der globale Kampf kann eine Befreiung aller sein!

Für den 19. Februar 2022 heißt es, Menschen auf die Straßen zu holen, die tagtäglich erfahren was es heißt, diskriminiert, ausgebeutet und entmenschlicht zu werden. Für viele sitzt die Trauer und die Wut um Hanau, aber auch um unzählige andere Fälle rassistischer Gewalt, immer noch tief. Daher werden wir zur Tatzeit gemeinsam auf den Straßen sein, um kollektive Momente der Trauer, der Wut, der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität zu teilen!

Ajde, alerta, haydi, yallah und bijî Migrantifa!

# Titelbild: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

GET POST FORMAT

Zum Abschied wünschte sich Angela Merkel einen Schlager aus dem Osten – und ein letztes Mal führten Kanzlerin, mediale Öffentlichkeit und leider auch einige Linke das absurde Merkelschauspiel auf. Die Rollen dabei sind inzwischen perfekt einstudiert: Auf der einen Seite steht die Regierungschefin des mächtigsten Landes der mächtigen EU, die bei aller Macht aber so schön bodenständig und unprätentiös auftritt. Auf der anderen sind Leute, die ganz hin und weg sind davon. Entweder sie sind mit Merkels neoliberaler Politik sowieso einverstanden oder aber finden „eigentlich“ Merkels Politik doof, die Person jedoch derart hinreißend sympathisch, dass sie es eben doch nochmal sagen müssen: Wir werden sie vermissen. Danke Merkel.

Diese Unfähigkeit (oder ist es Unwillen?), Form und Inhalt zu trennen und zu priorisieren, ist frustrierend. Aber mit etwas Distanz lässt sich auch sagen: Man kann Merkel Respekt dafür zollen, dass sie es geschafft hat, durch die äußere Form den Inhalt ihrer Politik derart nachrangig werden zu lassen, dass ihn viele – auch Linke – kaum mehr wahrnehmen. Also im Grunde: die Politik zu entpolitisieren und damit die Selbstentwaffnung der kritischen Öffentlichkeit voranzutreiben. Ihrer Nachfolgeregierung, vor allem dem Merkelianer Olaf Scholz, übergibt die Kanzlerin damit ein wertvolles Erbe.

Nicht Schröders Stil, aber seine Politik

Bei ihr selbst war das noch anders: Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder von der SPD, war ein klassischer Großmaul-Politiker, bei dem Form und Inhalt bestens miteinander korrespondierten. Schröder stand für eine Politik, die Arme noch ärmer werden ließ, die zutiefst Arbeiter*innenfeindlich, dafür aber richtig gut fürs deutsche Kapital war. Schröder ließ sich lachend mit Zigarre fotografieren, beschimpfte Arbeitslose, markierte den Macho und am Ende konnte er nicht einmal in Würde abtreten, sondern blamierte sich vor aller Augen am Wahlabend 2005, als er in der Elefantenrunde immer wieder behauptete, auch die nächste Regierung anzuführen, obwohl da schon jede*r wusste, dass er verloren hatte. Danach ging Schröder zu Gazprom. Es passte alles.

Merkel indes pflegte bis zum Ende einen anderen Stil. Sie verhielt sich in den Augen der meisten nicht so großmäulig, arrogant, demonstrativ machthungrig und auf den eigenen Vorteil bedacht wie man es von Spitzenpolitiker*innen gewohnt ist. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch hat sogar recht, wenn er – anlässlich des Zapfenstreiches zu ihren Ehren – sagt, Merkel sei unbestechlich gewesen, weil „zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise materielle Werte Maßstab für ihr Agieren“ gewesen seien. Gemeint ist hier vermutlich: Sie hat sich in ihrem Amt nie selbst bereichert. Das trifft zu – auf Merkel persönlich (auf andere Politiker*innen ihrer Partei, wie wir wissen, nicht) .

Politikerkorruption ist aber nicht der Kern der Politik; die Aufgabe einer Regierung an der Spitze eines mächtigen kapitalistischen, im Fall Deutschlands auch imperialistischen Staates ist es keineswegs, sicherzustellen, dass sich ihre Mitglieder die eigenen Taschen füllen können – das ist, wenn überhaupt, nur willkommene Nebensache. Die vorrangigste Aufgabe einer deutschen Bundesregierung ist es, für optimale Akkumulationsbedingungen für das deutsche Kapital zu sorgen. Bartschs Tweet ist insofern wiederum falsch, als dass für Merkels Politik materielle Werte sehr wohl Maßstab waren. Denn darum, es dem nationalen Kapital so gut es ging zu ermöglichen, sich (Mehr)Wert anzueignen (es zu reinvestieren und so weiter), zielte ihr Regierungshandeln ja sehr oft ab.

Und dafür, diese Politik für das Kapital und gegen die Ausgebeuteten im In- und Ausland umzusetzen, war sie eine wirklich gute Besetzung, gerade wegen ihrer Integrität und Rechtschaffenheit. Allzu korrupte Politiker*innen oder Staatsbedienstete sind eher hinderlich für ein Land, das Supermacht ist und bleiben will; eine in den Augen vieler unbestechliche Kanzlerin, die wirklich daran glaubt, dass es für alle das Beste ist, wenn es „der deutschen Wirtschaft“ gut geht, dagegen Gold wert.

Damit es ihr „gut geht“, war unter anderem wesentlich, das von Schöder hinterlassene Erbe der Agenda 2010 zu erhalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln. Merkel mag einen anderen Stil als ihr Vorgänger gepflegt haben, hat aber dessen Politik konsequent fortgeführt. Präsentiert und dauerhaft vermittelt hat sie das viel weniger ekelhaft und damit unterm Strich besser als etwa Schröder, sogar jenen, die von ihrer Politik nicht profitieren konnten oder unter ihr objektiv litten: Keine habe sich ziviler und ehrlicher präsentiert, resümierten zwei Journalistinnen im RBB-Inforadio zu Merkels Abschied sehr zutreffend, und ergänzten: „Das hat sie wählbar und akzeptabel gemacht für viele.“ Anders als Schröder, der augenscheinlich für Bruch, Kahlschlag und brutalen Umbau stand, stand Merkel für kleine Schritte, dafür, unaufgeregt und „leise“ zu regieren. Das war ungemein effektiv, weil sie so das Programm der Ungleichheit fast immer wie die normalste, oder auch: natürlichste Sache der Welt aussehen ließ.

Gute Merkel, schlechte Regierung

Die mit den Jahren zum Kult gewordene Bildsprache half dabei: Merkel mit eingefrorenem Gesicht beim Karneval, während die Funkemariechen um sie herum springen; Merkel kreischend mit Papageien in Mecklenburg; Merkel beim Einkaufen mit Klopapier im Wagen („wie ein normaler Mensch!!“); zuletzt: Merkel beim Zapfenstreich, die sich Nina Hagen vorspielen lässt. Andere Bilder – Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend Anfang der 1990er Jahre beim Plaudern mit Nazi-Skinheads; Anti-Merkel-Plakate bei Protesten gegen das Spardiktat in Griechenland – konnten dagegen nicht ankommen.

Die Bilder der lebensnahen und uneitlen, der menschlichen Merkel haben außerdem geholfen, zwei weitere bemerkenswerten Trends zu verstärken, die vor allem in den späteren Merkel-Jahren wirkten und wiederum mit Trennung zu tun hatten: Die Trennung Merkels von ihren Minister*innen in der Rezeption des Regierungshandelns sowie die Trennung von Merkel und den Leidtragenden ihrer Politik.

Während beispielsweise Merkels Atem beim Zapfenstreich am Reichstagsufer unter Beobachtung Tausender ergriffener Journalist*innen und Linker gefror, drohen weiterhin Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze zu erfrieren (mehrere haben ihr Leben bereits verloren), also an der östlichen Außengrenze jener Staatengemeinschaft, deren mächtigstes Mitgliedsland die Bundesrepublik Deutschland ist. Die Verweigerung Deutschlands, die Geflüchteten aufzunehmen und die demonstrative Unterstützung Polens folgen der Weigerung, die Geflüchteten aus Moria zu evakuieren, dem EU-Abschottungskurs, dem in den letzten Jahren Tausende an den Außengrenzen sinnlos zum Opfer gefallen sind, dem von Merkel maßgeblich ausgehandelten EU-Türkei-Deal, den unmenschlichen Ankerzentren – die Liste ließe sich fortsetzen.

Doch regelmäßig, ganz so, als sei Merkel losgelöst von ihrem Kabinett und schwebe über den Dingen, nahm die Wut, die sich auf Gestalten wie Horst Seehofer, Julia Klöckner oder Jens Spahn richtete, Merkel explizit aus. Und ähnlich wie die Minister*innen von der Kanzlerin separiert wurden, scheinen auch die Opfer der Politik der vergangenen 16 Jahre gar nichts mehr mit derjenigen zu tun zu haben, die sie maßgeblich lenkte. Bartschs oben zitierte Aussage steht hier auch exemplarisch für eine atemberaubende Empathieverweigerung, die mit dem „Merkel-Kult“ einiger Linker zwangsläufig einhergeht: Obwohl sie genau wissen, was die Merkel-Regierung der griechischen Arbeiter*innenklasse angetan hat, was sich an den Außengrenzen abspielt, wie es Kindern von Hartz-IV-Bezieher*innen geht, was Prekarität mit den Menschen macht… – trotzdem gebührt Merkel ihr Dank, Respekt und ihre Anerkennung.

Rechte Dämonisierung

Das Beschriebene bezieht sich auf die mediale, linke und linksliberale Öffentlichkeit. Ganz rechts sieht es natürlich anders aus: Hier wird Merkel völlig überhöhend und persönlich dämonisiert, vor allem aus rassistischen Beweggründen, wegen der Aufnahme von Geflüchteten im Jahr 2015, eine Portion Sexismus spielt auch eine Rolle. Rechte haben keine Analyse davon, wie der Kapitalismus funktioniert beziehungsweise sind sehr gut mit ihm arrangiert, oft konsequenter als der neoliberalste Neoliberale; ihr Hass richtet sich nach unten oder eben auf Einzelne, die oben sind, es aber aus ihrer Sicht dort falsch machen. Dabei sind einzelne Politiker*innen, selbst wenn sie so mächtig sind wie Merkel, nicht der Skandal, sondern das System, das sie verteidigen und dessen Reproduktion sie dienen.

Das heißt andersherum auch: Klar kann ich als Linke finden, ich wäre lieber mit Merkel als mit Schröder oder Spahn oder Trump in einem Raum eingesperrt (allein schon, da sie wahrscheinlich schön schweigsam ist). Doch 16 Jahre lang Form und Inhalt kaum voneinander unterscheiden zu können und sich im Gegenteil immer weiter in die Form zu verlieben, ist eine schwache Leistung. Mehr noch: Dass nach 16 Jahre Amtszeit „Merkel muss Weg“ ein zu 100 Prozent rechts besetzter Slogan ist und Linke ihn nicht einmal während der schlimmsten Zeiten der Griechenlandkrise riefen, ist – ehrlich gesagt – zum Schämen. Oder, ganz nüchtern betrachtet, einer der größeren Erfolge ihrer Kanzlerinnenschaft. Jetzt ist Merkel weg und was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass das giftige Handeln von Mächtigen auch von vielen Linke allzu gerne bereitwillig geschluckt wird, wenn die Verpackung nur freundlich genug ist.

# Titelbild: pixabay

GET POST FORMAT

Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), einer Veranstaltung, bei der die Bundesbehörde regelmäßig den Diskurs simuliert, aber tatsächlich vor allem ihre Forderung nach mehr Geld und Befugnissen argumentativ absichert. In einem moderierten Gespräch äußerte sich Kahane per Videoschalte zur Zusammenarbeit von Polizei und „Zivilgesellschaft“ – und zwar an der Seite von Thilo Cablitz, dem Pressesprecher der Polizei Berlin. Das zeigt vor allem eines: Die Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) hat keine Berührungsängste, jedenfalls wenn es um die Behörden geht, die in der BRD für Repression und Machtabsicherung zuständig sind.

Nicht nur für diesen Kuschelkurs zieht die in Heidelberg sitzende Stiftung schon seit längerer Zeit Kritik von radikalen Linken auf sich und das durchaus zu Recht. Wie der aktuelle Zoff um einen Tweet von Dan Kedem, einem der Landessprecher der Linksjugend Solid Berlin, erneut gezeigt hat, sind Kahane und ihre Stiftung Teil eines sich linksliberal gebenden Milieus, das tatsächlich staatstragend und systemerhaltend agiert, sich von den Herrschenden für ihre Zwecke einspannen lässt und daher im Ergebnis mehr Schaden anrichtet, als zu helfen.

Die Nähe der AAS zu den Sicherheitsorganen ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Positionierung. Es ist bezeichnend, dass Kahane und ihre Stiftung nicht nur mit der Polizei gut können, sondern auch mit dem Verfassungsschutz keine grundsätzlichen Probleme haben. Mit Stephan J. Kramer sitzt der Chef des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz im Stiftungsrat. Der als Erwachsener zum Judentum konvertierte Kramer war lange Generalsekretär des Zentralrats der Juden, bevor Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei) ihn Ende 2015 an die Spitze seines Verfassungsschutzamtes holte mit dem Ziel, dieses zu „demokratisieren“. Im Stiftungsrat der AAS saß der Jurist schon bevor er den Behördenposten übernahm.
Das hielt diverse antirassistische Initiativen, darunter die Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“, die Opfer des NSU-Terrors unterstützt, im Juli 2016 nicht davon ab, in einer Erklärung Kritik zu üben. Moniert wurde dabei nicht nur das Verbleiben Kramers im Stiftungsrat der AAS, sondern auch ein Auftritt Kahanes bei einem Symposium ostdeutscher Verfassungsschutzämter. Eine Zusammenarbeit mit Geheimdiensten sei „für uns nicht vereinbar mit der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus“, konstatierten die Initiativen. Kahane erklärte damals gegenüber der Zeitung Neues Deutschland, an Kramer festhalten zu wollen. Die AAS werde weiterhin mit Vertreter:innen des Verfassungsschutzes sprechen und versuchen, Reformen durchzusetzen.

Kahanes Äußerungen sind ebenso wie das Vorhaben von Kramer und Bartsch, den Verfassungsschutz „reformieren“ zu wollen, Ausdruck einer Haltung, die mit naiv noch schmeichelhaft umschrieben ist. Da versucht offenbar der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. Diese Haltung ist typisch für das erwähnte sich meist linksliberal gerierende Milieu, das seinen Frieden mit dem System gemacht hat. Weil es von einer tiefer gehenden Analyse der Verhältnisse absieht, unterschätzt es die Macht der Apparate, deren Eigendynamik und schlechten Absichten, glaubt an die „wehrhafte Demokratie“, wie sie der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP gerade postuliert hat.

Die Amadeu Antonio Stiftung ist sozusagen qua Amt zu diesem Glauben und dem Verzicht auf fundierte Kritik verpflichtet. Wer jedes Jahr Millionen vom Staat bekommt, um die „demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“ (Selbstdarstellung), der wird es sich mit diesem Staat nicht verderben wollen. Dass Kahane und die AAS bei den Repressionsbehörden hoch willkommen sind, hat aber noch einen anderen Grund. Leistet die Stiftung doch für die Legitimation der Apparate und dieses Staates unschätzbare Dienste, die weit über den Verzicht auf Fundamentalkritik hinausgeht. Es ist eine Art Ablasshandel oder wie man heute eher sagen würde: ein Win-Win-Geschäft.

Mit den Millionen an Steuergeldern, die an die Stiftung zur Förderung von Projekten überwiesen werden, kauft sich der Staat frei von der Verpflichtung, rechts genauer hinzusehen. Das wird kurzerhand an die AAS und ähnliche Träger delegiert. Zugleich stellen Kahane und ihr Laden den Herrschenden nach der Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ einen Persilschein aus. Und die Amadeu Antonio Stiftung hat ihren Geldgeber:innen noch mehr anzubieten. Sie hetzt gegen alle, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht als bedauerlichen Auswuchs einer ansonsten ganz wunderbaren Ordnung, sondern sie als systemisch, als logische Folge der kapitalistischen Verhältnisse begreifen. Dazu nutzt die Stiftung extensiv den Antisemitismus-Vorwurf, was immer wieder zu Zoff mit radikalen Linken führt.

Kritik an Israel und jegliche Unterstützung für die Palästinenser:innen wird von der AAS in einer besonders penetranten Weise mit Antisemitismus gleichgesetzt. Für die Stellungnahmen von Kahane sind solche Sätze typisch: „Antisemitische Zuschreibungen gegen Israel als jüdischen Staat sind die moderne Form des Antisemitismus, die Rechtsextreme über muslimische Milieus bis hin zur Linken eint. Unter dem Mantel der Israelkritik und des Kapitalismus-Bashings werden Juden zum Opfer von Hass und Gewalt.“

Wer es wagt, diese absurde Darstellung zu kritisieren, findet sich schnell im Mittelpunkt eines Shitstorms wieder. So wurde Dan Kedem von der Linksjugend Solid Berlin, selbst Jude, Mitte November Opfer einer regelrechten Hetzkampagne. Er hatte einen Post retweetet, in der die AAS erklärte, wer sich mit der Forderung nach Freiheit der Palästinenser:innen „from the river to the sea“ gemein mache, fordere die Zerstörung Israels. Als Kommentar schrieb Kedem dazu:

„Amadeu Antonio Stiftung liquidieren!“

Auch wenn das Verb im Zusammenhang mit einer Stiftung deren Auflösung meint, war diese Wortwahl mindestens ungeschickt. Kedem zog den Tweet dann auch schnell zurück und twitterte: „Zur Klarstellung – dieser Tweet war ein Shitpost. Die AAS halte ich für eine problematische Stiftung, die Arbeit leistet, die mich und viele andere linke Juden extrem beeinträchtigt. Wie man das anders lesen kann als „ich finde die AAS doof” ist mir wirklich unerklärlich.“

Diese Entschuldigung bewahrte ihn aber nicht vor der alsbald losgetretenen Kampagne, an der sich auch die Führung des Landesverbandes seiner Partei beteiligte. Die nutzte die Gelegenheit mit Kritik an Kedem und den neuen Sprecher:innenrat von Solid Berlin anzuschließen. Der hatte nämlich zuletzt die „Reformer“ der Berliner Linkspartei und ihre Orientierung auf eine Koalition mit SPD und Grünen massiv von links kritisiert.

Auf der Website klassegegenklasse.org wurde zur Solidarität mit Kedem aufgerufen. Jüdische und migrantische Stimmen würden insbesondere dann diskreditiert, „wenn sie nicht mit der staatstragenden Ideologie einhergehen“, hieß es dort. Stiftungen wie die Amadeu Antonio Stiftung und auch Die Linke stellten sich „hier immer wieder auf die Seite der Kriminalisierung von Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung“. Auch bei Twitter gab es neben Kritik auch Zuspruch für den Berliner Solid-Landessprecher. Die Bewegung „Palästina spricht“ twitterte: „Sie will Aufklärungsarbeit leisten, sich gegen Rassismus einsetzen & eine demokratische Zivilgesellschaft stärken. Doch statt diese Ziele durchzusetzen, bleibt die Amadeu Antonio Stiftung selber lieber unaufgeklärt, verbreitet antipalästinensischen Rassismus & zionistische Propaganda.“ Ein User warf der AAS bei Twitter vor, Menschen, die Kapitalismuskritik üben, als antisemitisch zu framen.

Dass Kahane tatsächlich kein perfides und reaktionäres Argument zu viel ist, wenn es darum geht, linke Kapitalismuskritiker:innen zu diffamieren, hatte sie im Sommer 2017 bewiesen. Im Juli des Jahres, kurz nach dem G-20-Gipfel in Hamburg, fiel sie der Protestbewegung im stiftungseigenen Portal Belltower News in den Rücken. „Linksextremismus ist keine Kinderkrankheit, sondern eine autoritäre, antidemokratische Ideologie“, schrieb sie damals. Dreist reduzierte die Autorin die Kapitalismuskritik auf „Feindseligkeit gegenüber Eliten“, die kein rechts und links kenne, und schlug mühelos die Brücke von dort zum Antisemitismus-Vorwurf: Der sei „das Grundgeräusch des Eliten-Bashings“. Wortreich verteidigte Kahane den Kapitalismus und die Globalisierung.

Fassungslos machen die kritische:n Leser:in folgende Sätze aus dem Beitrag: „Linke kritisieren den Kapitalismus in globalisierter Form grundsätzlich und sehen hier nur Elend und Zerstörung. Ihre Antwort für die Menschen in den Entwicklungsländern: „Lieber arm als ausgebeutet“ oder „lieber authentisch als industrialisiert“ ist ignorant, zynisch und in ihrem Wesen auch rassistisch.“ Diese Linken wollten „den Menschen in der nicht-weißen Welt die Art von Fortschritt vorenthalten, den sie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen“.

Bleibt nur hinzuzufügen: Von Kahane und ihrer Stiftung geht vielleicht mehr Gefahr aus als von denen, die sie angeblich bekämpft, den Rassist:innen und Nazis. Denn sie verwirren die Maßstäbe und entziehen letzten Endes einem entschlossenen Kampf gegen Rechts jede Grundlage. Man kann also davon ausgehen, dass die Amadeu Antonio Stiftung auch unter der „Ampel“-Koalition weiter mit Steuergeldern gemästet wird.

# Titelbild: Kuscheln mit Bullen – Anetta Kahane zusammen mit dem Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA), Foto: BKA

GET POST FORMAT

In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe International, soll sich ab dem 18. November vor Gericht u.a. für Angriffe auf Institutionen des türkischen Staates verantworten. Ein Prozess, der nicht nur von den Schweizer Sicherheitsbehörden forciert wird.
Ein Interview mit der Angeklagten.

Erst einmal viel Kraft für den nun beginnenden Prozess gegen dich. Was wird dort eigentlich verhandelt?

Es geht hauptsächlich um zwei Sachen: Ein Angriff mit Pyrotechnik gegen das türkische Generalkonsulat in Zürich im Winter 2017 und verschiedene Delikte während Mobilisierungen in Zürich während des Covid-Lockdowns im Frühling 2020. Der Prozess findet vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona statt, weil beim Angriff gegen das Konsulat sog. „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtungen“ zum Einsatz kamen, bei denen jeweils der Bund die Ermittlungen und Strafverfolgung übernimmt.

In welchem Kontext fanden die Angriffe auf türk. Institutionen statt?

Der Angriff auf das türkische Generalkonsulat fand zeitgleich mit dem „World Economic Forum“ in Davos statt, dem jährlichen internationalen Stelldichein der Herrschenden. Damals waren hochrangige Minister der AKP in den Bündner Bergen zu Besuch, um ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu pflegen und sich grünes Licht für ihre Angriffskriege bei den anwesenden imperialistischen Kräften zu holen – wie ein Jahr später gegen Afrin.

Welche Rolle spielt der türkische Staat bei diesem Prozess?

Der türkische Staat ist die treibende Kraft in diesem Verfahren. Er hielt über seine diplomatischen Vertreter_innen in der Schweiz den Druck im Verfahren stets aufrecht: Angesichts der kümmerlichen Beweislage bezüglich dem Angriff gegen das türkische Generalkonsulat versuchte die Bundesanwaltschaft mehrfach diesen Teil des Verfahrens einzustellen. Stets intervenierte die türkische Diplomatie, um eine solche Einstellung zu verhindern.

Derlei Interventionen sind kein Alleinstellungsmerkmal des Prozesses gegen mich oder andere Genossen und Genossinnen. Vielmehr ist allgemein zu beobachten, dass Versuche der Kriminalisierung der praktischen internationalen Solidarität in Westeuropa eine Front des türkischen Staats in ihrem Krieg niedriger Intensität gegen die kurdisch-türkische Linke ist. Wir verweisen dazu auf die Erklärung der Roten Hilfe International, welche diese Zusammenhänge ausführlich beleuchtet – der Prozess zielt auf Andi, bedeutet aber einen Angriff auf Rojava.

Was bedeutet dieser Prozess der Klassenjustiz für die revolutionären Kräfte in der Schweiz?

Hier könnte man zwei Sachen ansprechen. Erstens: Getroffene Hunde bellen – die Angriffe gegen die Institutionen des türkischen Staats treffen ins Schwarze, provozieren große Reaktionen. Wieso? Weil es ihren Nimbus der Macht durchbricht, weil es ihre Propaganda als hohl entlarvt, weil es aufzeigt, dass die Front jene, die gegen ihre Politik stehen, breit ist.

Zweitens: Die Dinge sind volatiler als man denkt – entsprechend die Reaktion des bürgerlichen Staats in der Covid-Pandemie. Die Widersprüche spitzen sich weltweit zu einer historischen politischen Krise zu, das ist nicht nur in der Schweiz so. Darin ist der Ausbau von Instrumenten zur präventiven Aufstandbekämpfung – wie Staatsschutz, Polizei, Militär – nur ein Ausdruck. Diese «Brüche» sollten wir als Linke genau verfolgen, antizipieren und unsere Strategien entsprechend ausrichten.

Wie ist eure Prozessstrategie?

Es ist klar, dass dieser Prozess ein politischer Prozess ist – die Konfrontation vor den Schranken der Klassenjustiz beschränkt sich nicht auf eine juristische Ebene, sondern ist hochpolitisch. Mit der Kampagne zum Prozess wollen wir diesem Charakter Rechnung tragen – wir kehren den Spieß um und richten den Angriff auf den Kapitalismus, den schweizer und den türkischen Staat! Dazu gehört zum Beispiel die Vertiefung der internationalen Solidarität mit Rojava – nicht nur angesichts der aktuellen akuten Bedrohung eines neuen Angriffskriegs in Nordostsyrien durch das türkische Militär oder der Giftgaseinsätze in den nordirakischen Bergen, wo die freien Berge der PKK-Guerilla liegen, sondern auch angesichts der Bedeutung des revolutionären Prozesses in Rojava, welcher seit bald zehn Jahren weltweit ausstrahlt und die revolutionäre Linke inspiriert.

Dazu gehört auch die konsequente Kritik des bürgerlichen Staats als Herrschafts- und Gewaltinstrument der bürgerlichen Klasse, dessen Charakter im Umgang mit der Covid-Pandemie für viele fassbar wird – ihrem Schutz der Interessen des Kapitals stellen wir den selbstorganisierten Schutz der Menschen gegenüber, also ein System, in dem der Schutz des schwächsten Gliedes der Gesellschaft im Zentrum, steht oder wo die schwächeren Länder und Kontinente durch die reicheren in den Zentren solidarisch getragen werden. Eine Gesellschaftsformation, in der wir die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Dazu haben wir jeweils inhaltliche Veranstaltungen organisiert, zudem treffen laufend Solidaritätsaktionen ein, die auf unserer Homepage gesammelt werden.

Was sind eurer Meinung nach die Aufgaben der revolutionären Kräfte in Europa im Bezug auf die internationalen Kämpfe, beispielsweise in Kurdistan? Wie ist das jeweilige Verhältnis und welche Aufgaben resultieren daraus für euch?

Wenn wir den großen geostrategischen Kontext mit all seinen Widersprüchen und kriegerischen Auseinandersetzung betrachten und darin wiederum die Rolle der sich entwickelnden reaktionären, faschistischen Strömungen, anschauen, dann erkennen wir ohne Zweifel, dass in der historischen Phase von «Sozialismus oder Barbarei» alle revolutionären Kräfte sich zwingend einheitlicher und geschlossener positionierend aufstellen müssen. Es geht darum, die Einheit ins Zentrum zu setzen und den objektiven Bedingungen wie auch subjektiven Ungleichzeitigkeiten Rechnung tragend, einen internationalen strategischen Strang zu entwickeln. In diesem Strang lässt sich der revolutionäre Prozess im eigenen Land mit solchen wie in Kurdistan dialektisch aufeinander beziehen und sich auch hier konkret niederschlagen. Bestimmt ist davon ein Teil auch der sich ausbreitende türkische Faschismus. Kampagnen wie #riseup4rojava oder #fight4rojava sind Ansätze dazu.

Die letzten Worte gehören dir.

Lasst uns uns gemeinsam gegenüber den konterrevolutionären Angriffen auf alles, was sich in diesem und anderen Kontexten entwickelt, aufstellen, vereint den Spieß umdrehen und unsere internationalen Prozesse verstärken.

GET POST FORMAT

Nach den erneuten wilden Streiks beim Lieferdienst Gorillas Anfang Oktober, folgte eine Welle der Entlassungen. Diese werden mittlerweile größtenteils als widerrechtlich angesehen. Über diese illegalen Kündigungen, die schlechte Einstellung der Unternehmensführung gegenüber ihren Arbeiter:innen, sowie die Notwendigkeit zur Organisierung und die Frage nach der Legalität wilder Streiks in Deutschland haben wir uns mit Felix unterhalten.

Hallo. Kannst du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Felix. Ich wurde unrechtmäßig von Gorillas entlassen und habe im Schöneberger Warehouse gearbeitet, das ist eines der Lager, in denen wir gestreikt haben. Und ich bin auch im Gorillas Workers Collective.

Seit wann bist du Teil davon? 

Ähm, seit April.

Seitdem ist eine Menge passiert, es gab neue Streiks, erst kürzlich.

Ja, wir scherzen, dass dies die dritte Welle ist.

Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen, was momentan bei Gorillas passiert?

Bei den letzten Streiks hat das Unternehmen seine eigene Darstellung der Ereignisse veröffentlicht und im Grunde genommen davon gesprochen, dass die streikenden Arbeitnehmer:innen „nicht glücklich“ seien. Dabei bedienen sie sich der immer gleichen Sprache, die in solchen Start ups verwendet wird. Und uns wurde versucht uns Angst zu machen. Einige der streikenden Arbeiter:innen wurden entlassen, andere nicht. Es ist verwirrend, wenn nicht alle Arbeiter:innen, die entlassen wurden, gestreikt haben. Einige von ihnen waren sogar krankgeschrieben. Und andere Kolleg:innen, die gestreikt haben, wurden wiederum nicht entlassen oder illegal gekündigt. Gorillas macht weiter wie bisher und versucht, bei den anstehenden Betriebsratswahlen in den Wahlvorstand einzugreifen. Einige Arbeiter:innen, die wieder eingestellt wurden, mussten dafür sozusagen vor dem Unternehmen in die Knie gehen.

Was ist die Strategie des Workers Collective oder, sagen wir, der organisierten Arbeiter:innen im Allgemeinen, um sich gegen die Maßnahmen des Unternehmens oder auch gegen diese Narrative zu wehren?

Das Kollektiv hat die Aktionen unterstützt und es gab Leute, die Teil des Kollektivs waren, die auch gestreikt haben, aber ich würde eher über die Strategie der Arbeiter:innen in diesen Warehouses reden. Ich kann über Schöneberg und ein bisschen auch das Warehouse im Bergmannkiez sprechen. Wir müssen die Verbindung zu diesen Arbeiter:innen aufrechterhalten, auch wenn einige von ihnen das Unternehmen verlassen haben. Ich meine, viele Leute haben jetzt Angst, (illegal) entlassen zu werden, deshalb ist es ein bisschen schwieriger, sich zu organisieren. Ich denke, es gibt einen Punkt, an dem die Angst in gewisser Weise auch die Wut darüber überwiegt, dass das Unternehmen eine Reihe von Kolleg:innen gefeuert hat. Es gab auch Forderungen innerhalb der Streiks. Bei Gesprächen mit der Geschäftsführung wurde gesagt, dass diese bald erfüllt werden würden. Aber wir haben immer gesagt, dass das falsche Versprechungen sind. Gorillas hat monatelang Dinge versprochen. Seit dem letzten Streik und seit den Streiks davor. Sie haben uns Dinge versprochen, die nicht eingetroffen sind, stattdessen ist es nur noch schlimmer geworden. 

Inwiefern schlimmer?

Es ging unter anderem um die Qualität der Fahrräder und der Rucksäcke. Die Arbeiter:innen bekommen durch das Gewicht der Taschen chronische Rückenschmerzen. Die Manager haben uns – neben anderen Versprechungen – auch gesagt, dass wir bald neue Fahrräder bekommen und dass diese angeblich nur für die Lagerhäuser bestimmt sind. Es ist schon zu diversen Unfällen gekommen: Die Fahrräder gehen kaputt oder funktionieren nicht, so dass die Arbeiter:innen gefährdet sind. Und ich spreche aus der Sicht eines Riders. Diese Dinger kommen in das Warehouse und funktionieren nicht, dadurch passieren immer wieder Unfälle und es wird trotzdem nichts für die Sicherheit der Arbeiter:innen getan. 
Auch verschiedene Dinge bei der Schichtplanung, die sich ändern sollten, sind immer noch nicht umgesetzt.

Im Grunde wurden also keine eurer Forderungen erfüllt.

Nein. 

Du hast eben bereits über illegale Kündigungen gesprochen. Kannst du uns erklären, warum diese aus deiner Sicht illegal sind?

Sie sind illegal, weil viele von uns, mich eingeschlossen, nur Anrufe bekommen haben. Und technisch gesehen ist man erst entlassen, wenn man eine schriftliche Kündigung erhält. So lange kann man weiter arbeiten. Aber viele von uns haben diesen Anruf bekommen und dann wurden im Grunde alle unsere Schichten aus der App gelöscht, die wir benutzen, um uns ein- und auszutragen oder um zu wissen, wann unsere nächsten Schichten sind. Außerdem gab es verschiedene Dinge in den Kündigungen selbst, die nicht korrekt waren – sei es, dass sie nicht richtig unterschrieben oder Namen falsch geschrieben waren. 
Ich denke aber, das ist nicht unbedingt die Antwort auf deine Frage. Es gibt auch eine Menge Diskussionen, ob wilde Streiks legal oder illegal sind. Aber es ist eigentlich eine Grauzone. Es ist nicht legal, denn es gibt kein Gesetz darüber. Aber es ist auch nicht illegal. In Deutschland hat man das Recht zu streiken, wenn eine Gewerkschaft zum Streik aufruft. Aber im EU-Recht heißt es, dass die Arbeitnehmer:innen auch ein Streikrecht haben, wenn das nicht der Fall ist. Es geht also auch um die Frage, ob man das deutsche Recht dem EU-Recht unter- oder überordnet. 
Deshalb bereiten einige Arbeiter:innen wie ich Gerichtsprozesse vor, um wilde Streiks in Deutschland zu legalisieren. Wir wollen das bis vor den Europäischen Gerichtshof bringen. 

Wir haben gerade über die rechtlichen Strategien gesprochen, um mit diesen Kündigungen umzugehen. Was sind die politischen Strategien?

Es gibt Wut und Frustration und es gibt auch diese Angst, die ich schon angesprochen hatte. Wir sprechen über prekäre Arbeitnehmer:innen. Nicht nur wegen des Jobs an sich, sondern auch, weil viele von ihnen Angst haben, ihn zu verlieren. Sie müssen für ihre eigene Unterkunft und Verpflegung aufkommen und manchmal auch noch Geld nach Hause schicken. Und vielleicht ist der Job bei Gorillas nicht ihr Einziger. Auch die Beziehungen der Menschen zu Leuten in Machtpositionen sind verschieden, weil wir aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Man kann die Leute nicht dazu zwingen, zu streiken oder weiter zu streiken, aber es gibt immer noch die Möglichkeit, sich zu organisieren. So läuft das immer. Es gibt Streiks und dann werden die Probleme nicht gelöst. Deshalb ist es so wichtig, dass die Beschäftigten zusammenhalten und sich weiter organisieren. Auch wenn es auf einer kleineren Ebene ist als das, was Anfang Oktober in meinem Warehouse passiert ist. 
Aber mit dem kommenden Winter und wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern, wird sich das fortsetzen und wiederholen, und die Beschäftigten organisieren sich immer mehr, wie man sehen kann. Vor zwei Wochen wurden mindestens vier Warehouses zu verschiedenen Zeiten bestreikt. Es breitet sich aus. 

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast!

GET POST FORMAT

Mit der Rechtsstaatlichkeit ist das so eine Sache. Meistens wird sie bemüht, wenn irgendwo eine Mülltonne brennt oder sonst irgend etwas passiert, das dem einen oder der anderen rechten Politiker:in nicht in die Agenda passt. Zuletzt verkündete der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) angesichts der Räumung des Köpi-Wagenplatzes: „Rechtsstaatlichkeit ist ein hohes Gut und muss sich immer durchsetzen.“ Eine ebenso beliebte Floskel ist auch die „Härte des Rechtsstaates“, mit der dem aktuell ausgemachten Feindbild begegnet werden soll. Gemeinsam haben diese Beschwörungen, dass die, die sie äußern, an Rechtsstaatlichkeit appellieren, aber eigentlich meinen, dass Justiz und Polizei besagtem Feindbild mal ordentlich auf den Deckel geben sollen. Mehr Rechtsstaatlichkeit heißt dabei also eigentlich einfach mehr Polizei und mehr repressive Gesetze.

Das eigentlich Rechtsstaatsprinzip zu bemühen, ist dabei aber eigentlich etwas anderes: Staat und Bürger müssen sich Gesetzen unterwerfen, sind vor den Gesetzen gleich und sollen innerhalb des durch die Gesetze vorgegeben Rahmens handeln. Das heißt ein Rechtsstaat ist eigentlich einer, in dem sich auch der Staat an seine eigenen Gesetze hält.

Die Realität sieht jedoch anders aus. Im Fall des Köpi-Wagenplatzes lief das Ganze nämlich folgendermaßen: Der dubiose Investor Siegfried Nehls kaufte über ein Geflecht von Briefkastenfirmen das Gelände, auf dem der Köpi-Wagenplatz stand. Um kurz vor Ablauf der Baugenehmigung noch schnell mit dem Bau beginnen zu können, ließ er angeblich von einem der Geschäftsführer eine Prozessvollmacht unterschreiben. Nur ist die Unterschrift einem Schriftgutachten zufolge aller Wahrscheinlichkeit nach gefälscht. Den Geschäftsführer hat niemand jemals gesehen. Die formalen Voraussetzungen für das Führen des Räumungsprozesses, eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung des Eigentümervertreters, waren also von Anfang an gar nicht erfüllt. Rechtsstaatlich höchst fragwürdig das alles.

Dem Gericht war das egal. Irgendjemand hat eine Vollmacht unterschrieben, um 50 Menschen obdachlos zu machen. Diese bereitete den Weg für die ach so rechtsstaatliche Polizei, die dann in einem gigantischen Einsatz von 3.500 Beamt:innen am Freitag Vormittag die Räumung durchführte.

Würden Justiz und Polizei sich an ihre angeblichen rechtsstaatlich Prinzipien halten, hätte dies nicht passieren dürfen. Dasselbe gilt für die ganze Posse um die Rigaer94, bei der ein Anwalt – entgegen sämtlicher bisheriger höchstrichterlichen Entscheidungen – vom Berliner Kammergericht als Eigentümervertreter anerkannt wird. Von der vermeintlichen Rechtsstaatlichkeit polizeilicher Prügelorgien und Morde müssen wir gar nicht erst reden. Wenn es Kapitalinteressen dient, oder es Staatsdiener:innen in der Arbeit für diese Interessen behindert, wird im Zweifel auf Recht und Gesetz geschissen. Die Rechtsstaatlichkeit, die Geisel bemüht ist ein Witz.

Dabei ist das eigentliche Problem mit all dem Gerede eigentlich ein ganz anderes: Selbst wenn Vertretungsvollmacht und all der legale Kram in Ordnung sein sollten, was sagt es über einen Rechtsstaat aus, in dem wir uns alle an Gesetze halten sollen, aber diese Gesetze nur unsere eigene Unterdrückung festschreiben? Was bringt es den Geräumten, und allen Zwangsgeräumten überhaupt, theoretisch mit Hilfe tausender Polizist:innen ihr Recht auf Eigentum schützen lassen zu können, wenn sie niemals welches haben werden? Wie sehr ist ein:e Investor:in vom Verbot unter Brücken zu schlafen betroffen? Das Recht, das der Rechtsstaat durchsetzt, ist das Recht der herrschenden Klasse.

Wenn als Antwort auf die Räumung des Köpi-Wagenplatzes Mülleimer und Autos in Flammen aufgehen, Fensterscheiben zu Bruch gehen und Steine fliegen, dann ist das also vielleicht nicht rechtsststaatlich, aber ganz sicher legitim. Denn mit diesem Rechtsstaat, mit diesen Gesetzen und Gerichten, mit dieser Polizei, die nur die Herrschenden vor den Beherrschten schützt, ist sowieso kein Blumentopf zu gewinnen.

# Titelbild: PM-Cheung, Fronttranspi der Demo zur Räumung des Köpi-Wagenplatzes

GET POST FORMAT

Betriebsratswahlen 2022. Warum sie gerade jetzt wichtig sind. (Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 5)

„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.“ Dieser Spruch war Ende der 1980er Jahre auf WG-Kühlschränken, Häuser- und Toilettenwänden zu lesen. Was heute als abgedroschene Phrase gelten darf und spätestens seit den erdrutschartigen Erfolgen der AfD selbst von eingefleischten Anarch@s überdacht werden musste, kommentierte vor allem den fabelhaften Aufstieg der Grünen seit 1980 bei gleichzeitigem Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit. Der Spruch bezog sich auch generell auf Parlamentswahlen in westlichen Industrienationen.

Betriebsräte hatte damals wie heute niemand als Faktor auf dem Schirm. Sie galten bestenfalls als langweilig, bürokratisch, verfilzt… Doch das sollten wir überdenken! Die nächsten Betriebsratswahlen stehen vom 1. März bis 31. Mai 2022 an. Betriebsratsgründungen können zwar jederzeit erfolgen, existierende Gremien wählen alle vier Jahre bundesweit in diesem Zeitfenster. Jetzt sollten Wahllisten vorbereitet werden.

Dysfunktionale Demokratien und Massenverblödung

Bleiben wir noch kurz bei Parlamentswahlen. Heute wissen wir dank der USA und Donald Trump, aber auch anhand jüngster Vorgänge in anderen dysfunktionalen „westlichen“ Demokratien wie Brasilien, Bolivien, dass Wahlen nicht gleich verboten werden müssen, wenn sie etwas zu ändern drohen. Die Methoden, sie unschädlich zu machen, sind wesentlich vielfältiger und raffinierter: Wahlen können untergraben, manipuliert, gezielt delegitimiert, nicht anerkannt werden. Wahlen können durch Inhaftierung oder gerichtliche Absetzung der gegnerischen Spitzenkandidaten (Lula, Evo Morales) gewonnen werden. Wahlen werden beeinflusst durch manipulativen Zuschnitt der Stimmbezirke (englisches Fachwort: Gerrymandering), durch gezieltes Abhalten bestimmter Wählergruppen (Schwarze in den Südstaaten) oder durch deren systematische Demoralisierung, Desinformation und Verblödung.

Vielleicht ändern Parlamentswahlen damals wie heute tatsächlich nichts am Kern des Übels, also den Eigentums- und Besitzverhältnissen – wo doch selbst ein bescheidener Berliner Mietendeckel vom Verfassungsgericht kassiert wird.

In Bezug auf Betriebsratswahlen gilt der Umkehrschluss: Sie sind gefürchtet,
a) weil hier tatsächliche Macht in einer überschaubaren Einheit entsteht,
b) weil diese Macht von gewählten Personen aus dem Kreis der Ausgebeuteten ausgeübt wird.

Betriebsratswahlen werden zwar nicht verboten, aber vom Staat auch nicht durchgesetzt und konsequent verteidigt, sondern durch einen professionelle Dienstleistungssektor aus Jurist:innen, Berater*innen und PR-Profis mit Methoden sabotiert, die auf der betrieblichen Ebene den oben aufgezählten parlamentarischen Wahlmanipulationen ähneln.

Betriebsratswahlen werden keineswegs flächendeckend, regulär und selbstverständlich abgehalten – entgegen geltender Gesetze. Laut einer repräsentativen Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB, einer Tochter der Bundesagentur für Arbeit) gibt es in nur 9 Prozent der wahlberechtigten Betriebe (mit mindestens fünf Beschäftigten) einen Betriebsrat. Das ist an sich ein Skandal. In jeder Schulklasse werden ab der Grundschule Klassensprecher:innen gewählt, in jeder Kommune und gibt es Stadträte. Bei genauer Betrachtung stellen wir fest: Es gibt noch nicht einmal Zahlen! Niemand weiß, wie viele Betriebsräte überhaupt existieren. Aber wir dürfen vermuten, dass selbst 1978, in der Zeit der größten Machtentfaltung der westlichen Arbeiterklasse (laut der Zeitschrift Wildcat) Betriebsräte nie flächendeckend und in sämtlichen Industrien verbreitet waren.

Warum sind Betriebsräte so gefürchtet?

Ein Betriebsrat schränkt die unternehmerische Willkür bei Einstellung und Entlassungen ebenso ein wie bei Überstunden, Dienstplänen, Urlaubsvergabe, tariflicher Eingruppierung und willkürlicher Ungleichbehandlung. Der Betriebsrat schafft Transparenz über Auftragslage, Geldflüsse, geplante Manöver des Managements; er ist die einzige wirklich effektive Kontrollinstanz für geltende Gesetze, Vorschriften und Verordnungen etwa zu Arbeitsschutz, Arbeitszeiten etc. Der Betriebsrat ist der zentrale Brückenkopf für Gewerkschaften und sozialistische Organisationen. Der Betriebsrat ist nicht kündbar – theoretisch, denn um Kündigungen zu fabrizieren und Betriebsratsmitglieder zu zermürben, werden Union Buster angeheuert. Und nur wo ein Betriebsrat existiert, können Gewerkschafter:innen offen und ohne Angst vor Kündigung im Betrieb auftreten.

Genau deshalb ist die Betriebsratswahl seit der Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes am 13. Januar 1920 ein Stiefkind der Demokratie und ein blinder Fleck des Rechtsstaats geblieben. Die SPD ließ zur Verabschiedung das größte deutsche Massaker an Demonstrant:innen der deutschen Geschichte zu. 42 Personen starben im Kugelhagel, als die mit Rechtsextremen durchsetze paramilitärische „Sicherheitspolizei“ (SIPO) angeblich zum Schutz des Reichstags mit Maschinengewehren in eine Menge von 100.000 Berliner Arbeiter:innen ballerte. Das Betriebsrätegesetz und das spätere Betriebsverfassungsgesetz sind Resultate eines unerklärten Bürgerkriegs. Wesentliche Teile des Unternehmerlagers haben Betriebsräte nie oder nur zähneknirschend und vorübergehend akzeptiert. Staatsanwaltschaften und Gesetzgeber behandeln die Straftat Betriebsratsbehinderung (§119 BetrVG) als Kavaliersdelikt. Tatsächlich ist sie mit dem selben Strafmaß bewehrt wie Beleidigung, Höchststrafe ist ein Jahr Gefängnis.

Kritik von links und rechts

Auf rechtsextremer Seite ist hingegen eine ideologische Mutation passiert: Galten Betriebsräte früher als Schande für die deutsche Industrie und als Verstoß gegen das Führerprinzip, die nach der Machtübernahme der Faschisten 1933 sofort liquidiert wurden, so bereiten sich diverse Schattierungen von AfD und Pegida längst intensiv darauf vor, sich über Betriebsratsmandate dauerhaft in Belegschaften zu verankern. Dass diese Strategie durchaus erfolgreich sein könnte, zeigen Wahlerfolge des „Zentrum-Automobil“ bei Daimler und BMW.

Die radikale Linke der 1970er Jahre hat Betriebsräte zu großen Teilen abgelehnt und oft aus guten Gründen und schlechten Erfahrungen regelrecht verabscheut. In einem Nachruf auf den jüngst verstorbenen Wortführer des Kölner Ford-Streiks 1973, Baha Targün,lesen wir, warum. Denn der Ford-Betriebsrat beteiligte sich federführend an der Niederschlagung des „Türken-Streiks“: „Mit Gebrüll stürmte die Polizei den Betrieb. Mit dabei: Werkschutz, angeheuerte rechtsradikale Schläger, Gewerkschaftsfunktionäre, Meister, Vorarbeiter. BahaTargün wurde schwer verletzt. Die Werksleitung bedankte sich nach dem Streik öffentlich für den ‚persönlichen Einsatz der Betriebsräte unter der Führung des Betriebsratsvorsitzenden‘.“

Die Betriebsratsfürsten der Großkonzerne waren Teil eines fest verwobenen Filzes aus SPD-Apparastschiks, Gewerkschaftsbonzen, Seitenwechslern aus den Gewerkschaften ins Management, Aufsichtsratspöstchen, fetten Abfindungen, Vergünstigungen wie Dienstwagen und Lustreisen, vermutlich auch inklusive knallharter Bestechung und Korruption. Rund um Betriebsräte hat sich eine regelrechte Industrie aus Anwält:innen und Schulungsunternehmen gebildet. Betriebsräte lassen sich regelmäßig in 4-Sterne-Sporthotels schulen, all-inclusive versteht sich. Das alles war richtig und ist es zum Teil immer noch.

Zuletzt hat etwa der Prozess um massive Betriebsratsbegünstigung, Korruption und Veruntreuung bei VW, der leider mit Freisprüchen für das Management endete, für schlechte Presse von Betriebsräten gesorgt. Und dieser Prozess zeigt nur die Spitze eines Eisbergs, der immer noch ziemlich massiv ist.

Allerdings haben sich sich die Vorzeichen geändert. Der Eisberg schmilzt. Und wird vom Management in den vergangenen 40 Jahren gezielt abgeschmolzen. Auch wenn die Börsennachrichten im Ersten und das Handelsblatt einen anderen Anschein erwecken: Die deutsche Wirtschaft besteht nicht mehr aus DAX-Konzernen und Industrie-Giganten. Auslagerungen, gezielte Aufspaltungen der integrierten Großunternehmen nach Vorbild von Ford haben eine immer kleinteilige Produktionslandschaft entstehen lassen. Ein Betriebsrat bei H&M oder einem Bremsscheibenhersteller der Autoindustrie ist nicht zu vergleichen mit den Betriebsratsfürstentümern bei VW. Zudem sind ehemalige Giganten wie ThyssenKrupp, AEG oder General Electric längst Geschichte.

Wenn wir von direkter Demokratie sprechen, dann sind die bunten, alternativen Listen, die ab den 1970er Jahren zu Betriebsratswahlen antraten – und in denen sich jene Radikalinskis sammelten, die damals routinemäßig wegen „Unvereinbarkeit“ aus DGB-Gewerkschaften ausgeschlossenen wurden – sogar Vorboten der Grün-Alternativen Listen auf kommunaler Ebene gewesen. Und sie enthalten Restbestände und deutliche Spurenelemente der gescheiterten sozialistischen deutschen Räterepublik von 1918.

Wenn diese Wahlen unwichtig wären, würden sie nicht so massiv behindert.

Für Betriebsräte gilt also der Umkehrschluss der alten Sponti-Weisheit. Daraus folgt der Appell sich jetzt ernsthaft Gedanken über eine Kandidatur und eine Wahlliste zu machen. Diese kann unabhängig, bunt und alternativ sein oder in enger Abstimmung mit einer Gewerkschaft und ihrem Vertrauensleute-Körper aufgestellt werden. Was besser ist, muss im konkreten Fall abgewogen und entschieden werden.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 2 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Beide beraten aktive Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen. Ihr erreicht sie unter kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Betriebsrat der Zeche Mansfeld 1951, wikimedia commons, CC BY-SA 3.0

GET POST FORMAT

„No Pasaran“ steht auf dem Banner, welches über der Tür an der Glasfassade hängt. Ca. 40 Menschen stehen herum und unterhalten sich, malen weitere Banner. Auch einige Journalist:innen sind da und führen Interviews. Plötzlich bildet sich eine Menschentraube vor der Tür. Zwei Männer, welche von sich behaupten Rider – Lieferfahrer zu sein, wollen das Gebäude betreten, werden jedoch daran gehindert. Denn das Gorillas-Lager im Kaiserkorso 154 in Tempelhof wird seit Freitag morgen bestreikt. Und auch die Beschäftigten in Schöneberg und Gesundbrunnen, sowie kurzzeitig aus Mitte, haben sich angeschlossen. Mittlerweile gibt es einen Aufruf unter #StartUpsideDown Fotos seines umgedrehten Fahrrads zu posten, um Solidarität auszudrücken.

Es ist nicht das erste Mal, dass die schlechten und unsicheren Arbeitsbedingungen bei dem Lieferdienst in der Öffentlichkeit stehen. Als im Juni diesen Jahres einer der Fahrer ohne Vorwarnung gekündigt wurde, legten viele seiner Kolleg:innen die Arbeit nieder. Und es wurden immer mehr. Seitdem häufen sich die Erfahrungsberichte über nicht oder zu spät gezahlte Löhne, unsichere Anstellungsverhältnisse und schlechtes Equipment. Geändert hat sich aber nichts. Gleichzeitig birgt die Dynamik des wilden Streiks aber auch eine Chance, Arbeitskämpfe in Zukunft wieder spontaner und selbstorganisiert stattfinden zu lassen. Das Gorillas Workers Collective zeigt, wie es gehen kann.

Fährt man zu einem der Streikposten und spricht mit den Menschen dort, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie prekär Arbeitsbedingungen sein müssen, um sich in einen Ausstand ohne gewerkschaftliche Organisierung oder Lohnfortzahlung zu begeben. An allem scheint es zu mangeln – und das, obwohl das Start-up anfangs von Investor:innen mit Geld überschüttet wurde. Der Zustand der Fahrräder ist oft schlecht und das nötige Werkzeug nicht immer vorhanden. Die bereitgestellten Helme werden teilweise nach Unfällen nicht ausgetauscht, sondern einfach wieder zum Equipment für die nächste Person gelegt. Schichtpläne werden nicht rechtzeitig an die Arbeiter:innen ausgegeben – und das bei ständig wechselnden Arbeitszeiten und damit auch einer unterschiedlichen Anzahl an Wochenstunden, was das eigene Leben maximal unplanbar macht. Besonders, da die Beschäftigten noch nicht einmal nach ihren Kapazitäten gefragt werden.

Doch nicht nur bei den Arbeitsbedingungen ist Gorillas arbeiter:innenfeindlich. Auch ihre Lohnauszahlungen müssen die Mitarbeiter:innen selbst überprüfen um sicherzustellen, dass sie das ihnen zustehende Gehalt ausgezahlt bekommen. Und zwar pünktlich. Dafür stehen ihnen ihre Lohnzettel nicht immer zur Verfügung, es muss mehrmals nachgefragt werden, warum das Geld noch nicht auf dem Konto ist, immer wieder bekommen die Angestellten zu hören, dass dies nur ein Versehen sei. Auch ihr Trinkgeld zählen die Rider lieber selbst nach, da auch hier der Verdacht besteht, dass dieses in einigen Fällen nicht regulär ausgezahlt wurde. Ordentlich viel Mehrarbeit also. Und das bei einem Stundenlohn von gerade einmal 10,50€.

Ein Rider erzählt, dass er seit Dezember 2020 bei Gorillas arbeitet. Zunächst im Warenhaus, dann auf dem Fahrrad. Laut seiner Aussage stehen ihm aus seinen ersten beiden Monaten immer noch circa 400 Euro Gehalt zu und auch seine letzte Auszahlung ist schon eine Woche überfällig. Er berichtet, dass er sich bereits Geld bei seiner Familie und Freunden leihen musste, um pünktlich die Miete zu überweisen. Und, dass er vor zwei Tagen noch nicht einmal die drei Euro hatte, um mit der Bahn zu seiner Arbeit bei Gorillas zu fahren.

Auch die Anstellungsverhältnisse sind prekär: Aktuell findet vor dem Berliner Arbeitsgericht eine Auseinandersetzung um die Entfristung der Verträge von circa 2.000 Beschäftigten von Gorillas statt. Die entsprechende Kampagne dazu wurde am 21. August vom Gorillas Workers Collective veröffentlicht, da ein Großteil der Verträge auf ein Jahr befristet sind, manche von ihnen sogar kürzer. Allein sechs Monate befinden sich die Angestellten in der Probezeit, immer wieder gibt es Berichte, dass Menschen ohne weitere Begründung kurz vor Ende der Probezeit gekündigt wurden. Das macht Arbeitskampf schwierig. Und es sorgt zusammen mit den anderen schlechten Arbeitsbedingungen dafür, dass dem Start-up in Berlin immer weniger Faher:innen für immer mehr Bestellungen zur Verfügung stehen. Das Werbeversprechen der Firma, dass alles in 10 Minuten geliefert wird, kann so nur noch eingehalten werden, wenn die Rider zu viele Waren in die Rucksäcke packen und sich den Rücken kaputt arbeiten.

Angesichts dieser Schilderungen sollte Gorillas froh sein, dass ihre Angestellten nur streiken, anstatt sich dafür zu entscheiden alle gleichzeitig zu kündigen. Denn so viele überschüssige und austauschbare Arbeitskraft im Niedriglohnsektor der Kapitalismus auch braucht, so viele neue Lieferdienste gibt es mittlerweile. Aber zum Glück auch Menschen, die erkennen, dass immer irgendwer bei einer solchen Firma wird arbeiten müssen und die sich für ihre Rechte einsetzen.

Die zwei Männer, die den Streikposten passieren wollten, waren übrigens keine Rider, sondern arbeiteten für das Management. Trotzdem zeigte die Situation, dass keine Streikbrecher:innen geduldet werden – „No Pasaran“ eben.

GET POST FORMAT

(Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 4)

Nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler.

Alte Kalenderweisheit

Das Ausscheiden gehört zu einem normalen Entwicklungsprozess, wir können Titel nicht herbeireden.

Jogi Löw nach Halbfinal-Niederlage bei der EM 2012

Für eine gewisse Zeit im April 2021 blickte die Weltöffentlichkeit auf den US-Bundesstaat Alabama und wartete gespannt auf den Ausgang der Wahlen zur Anerkennung der Einzelhandels, Großhandels- und Kaufhausgewerkschaft RWDSU im Amazon-Lager BHM1 in Bessemer, einem Vorort von Birmingham. Dass sie weltweite Aufmerksamkeit für einen demokratischen Wahlkampf am Arbeitsplatz erzeugen konnte, war womöglich der größte Verdienst der RWDSU in dieser Schlacht, die mit einer vernichtenden Niederlage endete. Manche meinen, dass die Niederlage bereits zu Beginn feststand und anhand der Ausgangslage unvermeidlich war. Dieser Artikel fasst Union-Busting-Maßnahmen und mögliche Lehren zusammen.

Denn Amazon hasst Gewerkschaften und bekämpft sie systematisch. Der Online-Gigant ist mit rund 500.000 Beschäftigten inzwischen hinter Walmart der zweitgrößte Arbeitgeber der USA. Ein Erfolg der Gewerkschaften wäre dort die erste erfolgreiche Organisierung bei Amazon gewesen. Die Wahl in Alabama sollte für die Gewerkschaftsbewegung der Startschuss für die Organisierung bei Amazon werden. Viele sahen gar eine Art Zeitenwende herannahen, nachdem vorangegangenen Sieg der Demokraten in der US-Präsidentschaftswahl, der ebenfalls über eine siegreiche Moblisierung der schwarzen Wählerschaft im Swing-State Alabama lief. Da auch bei Amazon in Alabama überwiegend Afro-Amerikaner_innen arbeiteten, glaubte man an einen positiven Trend.

Extrem erfolgreiches Union Busting

Amazon setzte alle Hebel in Bewegung und engagierte neben hausinternen Stabstellen, die mit Militärs, Psychologen, PR-Spezialisten und Geheimdienstler_innen gespickt sind, mit Morgan Lewis die wohl berüchtigste Union Busting-Kanzlei der USA ein, um den Aufmüpfigen im Betrieb eine Lektion zu erteilen. Es wurde eine verheerende Klatsche, ein Knock-down. Von 5.800 Wahlberechtigten gaben nur 3.041 ihre Stimme ab: 1.798 gegen die Gewerkschaft, nur 738 dafür, 505 Stimmen wurden angefochten, 400 davon von Amazon — mit meist lächerlichen Gründen, wie Gewerkschaftsboss Stuart Appelbaum lamentiert. Doch selbst wenn wir wir die angefochtenen Stimmen komplett für die RWDSU gewertet werden würden, was unrealistisch wäre, so hätten nur 21 Prozent der Wahlberechtigten für die Gewerkschaft gestimmt. An zweifelsfrei gezählten, unangefochtenen Stimmen waren es nur 13 Prozent. Ein Desaster.

Management nimmt Rache: Arbeitshetze und Zen-Kabinen

Wie vernichtend die Niederlage war, zeigt sich auch an den Folgen. Der Arbeitsdruck stieg weiter. Die fast lückenlose Überwachung, Kontrolle und Bestrafung waren ein wesentlicher Grund, warum sich ein Kern von Amazon-Malocher_innen bei der RWDSU gemeldet hatte und um Hilfe bat. Das berüchtigte „time off task“-Kontroll-System (TOT) misst angeblich „verschwendete Arbeitszeit“, schlägt laut Berichten aber auch an, wenn es Lieferengpässe und daher nichts zu tun gab. Wer zu viel TOT anhäuft, „erhält Warnungen und wird gekündigt“, referiert netzpolitik.org eine Studie des Open Markets Institute. Beschäftigte beschreiben den psychologischen Effekt dieser Maßnahme als schwelende Dauerpanik bei der Arbeit. Ein Armband soll außerdem sicherstellen, dass bei Beschäftigten jeder einzelne Handgriff in die richtige Richtung geht. Wenn nicht, vibriert das Kontrollbändchen.

Die Arbeiter_innen versprachen sich von ihrer Gewerkschaft eine reale Verbesserung. Nach deren Niederlage wurde der Druck offenbar zusätzlich erhöht.

Was nutzt ein Sieg, der keine Früchte trägt?

Die Aufmüpfigen sollen die Knute spüren. Am 6. Mai starb ein Amazon-Arbeiter im Lager nach einem Kreislaufkollaps.1 Sein Name – und das zeigt die Dimension der Niederlage vielleicht am Deutlichsten – ist bis heute öffentlich unbekannt. Die Deutungshoheit liegt wieder ganz beim Management und der Amazon-PR. Der Gipfel des Zynismus: Um auf beständige Kritik am Arbeitsdruck und signifikant hohen Unfall- und Krankheitszahlen zu reagieren, stellte Amazon „Achtsamkeitskabinen“ in der Größe von Dixie-Klos in den Lagern auf, die –– kein Scherz! – AmaZen heißen. Dort könenn die Arbeiter_innen verschiedene Arten von beruhigender Musik wählen, um sich zu entspannen. Gleichzeitig leakte die investigative Plattform The Intercept, interne Anweisungen, dass Beutel mit „menschlichen Fäkalien“ im Lager nicht geduldet würden. Im Klartext: Der Arbeitsdruck durch die TOT-Erfassung war so hoch, dass keine Zeit blieb aufs Klo zu gehen. Womöglich wurde auch in der AmaZen-Bude zu beruhigender Musik „einer abgeseilt“.

Der Sieg hat viele Mütter und Väter, so heißt es. Wenn Du gewinnst kommen sie alle und wollen Dir auf die Schultern klopfen. Die Niederlage ruft hingegen Schlauberger, Nörgler, Gegner_innen im eigenen Lager und solche auf den Plan, die es ja immer schon gesagt und besser gewusst haben. Hätten die Verantwortlichen nur früher auf sie gehört! Hätten sie nur mehr Geld für die richtige Beratung und das richtige Coaching ausgegeben!

Das Geschäft dieser Dienstleister ist eigentlich ganz simpel: Ratschläge müssen nur vielschichtig, anspruchsvoll und kompliziert genug zu erfüllen sein, dann behalten die Ratgeber_innen am Ende immer Recht.

Andererseits lohnen sich Niederlagen womöglich besser, um zu lernen, als Siege. Denn der Sieg verleitet dazu, dass die zu Grunde liegende Methode verabsolutiert und stetig wiederholt wird. Ferner lernen auch unsere Gegner_innen aus ihren Niederlagen und setzen alles daran, eine Wiederholung in Zukunft zu verhindern.

Eingesetzte Union Busting-Methoden:

  • Verpflichtende Belgeschaftsversammlungen (Mandatory Meetings) während der Arbeitszeit sind das wirksamste Mittel, um betriebliche Organisierung zu sabotieren. Interessant ist, dass Amazon einerseits die „verschwendete Arbeitszeit“ sekundengenau misst und sanktioniert, für propagandistische Belegschaftsversammlungen aber viel Zeit und Energie übrigt hatte. Die US-Gewerkschaftsbewegung kämpft seit den 1960er-Jahren für gleichberechtigten Zugang zu Belegschaftsversammlungen oder für ein Verbot dieser Methode.
  • Das Management nutzt alle zur Verfügung stehenden Mittel bis hin zu Details: Die Verkehrsampeln vor dem Lager wurden so geschaltet, dass Organizer auf der Straße weniger Möglichkeit hatten, Pendler anzusprechen.
  • Höherer Lohn als in anderen Amazon-Lagern
  • Zuckerbrot und Peitsche. Hier: Versprechungen und Drohungen.

Geschichte wird von Siegern geschrieben…

.. und wer siegen will muss Geschichten schreiben. Und sie glaubhaft vertreten. Es siegt, wer in der Lage ist Narrative durchsetzen. Amazon bediente folgende Erzählmuster aus dem Drehbuch des Union Busting:

  • Wir haben verstanden. Wir haben Fehler gemacht, aber wir bessern uns. Wir sehen jetzt eure Anliegen und werden uns darum kümmern.
  • Unsere Tür steht immer offen. Wir haben ein offenes Ohr. Wozu braucht ihr eine Gewerkschaft?
  • Wir bezahlen 15$ pro Stunde. Das ist mehr als ihr anderswo kriegt. (Und mehr als in anderen Amazon-Lagern).
  • Wenn die Gewerkschaft kommt, habt ihr weniger Geld. Weil ihr hohe Gewerkschaftsbeiträge zahlen müsst. (Und weil wir vielleicht den Lohn absenken.)
  • Wir schikanieren, mobben, versetzen, feuern Kolleg_innen, einfach weil sie es nicht besser verdient haben (und weil wir es können). Wollt ihr dasselbe Schicksal erleiden?
  • Angedeutete Konsequenzen (unterschwellig): Wir machen den Laden dicht, wenn ihr nicht spurt. Koste es, was es wolle.

Gelernte Lektionen: Erkenntnisse aus der Niederlage

  • Der ökonomische, betriebliche Kampf folgt anderen Gesetzen als der politische. Beide sind kaum vergleichbar.
  • Es gibt keine historische Mission, keine Zeitenwende, keinen „Genossen Trend“ und kein Momentum, das Dir den Sieg bringt. (Zumindest darfst Du nicht damit rechnen.) Das ist im Betrieb fast alles Bullshit. Vergiss linke, sozialistische, historische Mythen und Versprechungen. Dass Martin Luther King einst in Birmingham heroische Schlachten ausfocht, dass Joe Bidens Wahlkampfteam in Alabama ein wichtiger Sieg gelang, interessiert am Arbeitsplatz im Ernstfall nicht.
  • Vergiss die ganze angebliche Vorherbestimmung des Bewusstseins, der Stimmung durch Hautfarbe, Ethnie, Arbeiterklasse. Am Ende zählen Brot und Butter. Oder Autos, Wohnzimmergarnituren, Jahresurlaub und Krankenversicherungen. Was gibt es real zu gewinnen, was zu verlieren? Wen kenne ich, wem kann ich vertrauen?
  • Halte Dich an die Fakten: Zahlen, Erfahrungen, gesicherte Erkenntnisse.
  • Du musst mit 75% Unterstützung in der Belegschaft in den offenen Konflikt einstiegen. Durch Union Busting (Propaganda, Zermürbung, Feuern, Neueinstellungen) kann das Management 20-25% Deiner Basis wegrasieren. Wenn Du nur mit 30-40% einsteigst, wie es die RSWDU machte, hast Du verloren, bevor die Schlacht beginnt.
  • Die Basis und Stabilität der Unterstützung muss vorab in Test-Verfahren gemessen werden: Wie beteiligt sich die Belegschaft an niederschwelligen Aktionen und solchen, die Mut erfordern?
  • „Die erste Schlacht muss gewonnen werden.“ (Mao Tse Tung) Gute Vorbereitung ist alles. Solange der Sieg nicht einigermaßen sicher ist, musst Du im Verborgenen organisieren und Netzwerke bilden. Das kann lange dauern. Geduld ist gefragt.
  • Deine glaubhafte Erzählung muss sein: Die Organisierung sind die Beschäftigten, sie kommt aus dem Betrieb. Nicht: Die Gewerkschaft kommt von außen und macht etwas für die Beschäftigten. Ein Organisierungskomitee aus echten Arbeiter_innen ist Dreh- und Angelpunkt des Sieges.
  • Der Sieg muss am Boden errungen werden nicht in der Luft. Auf den Betrieb übertragen: Das Organisierungskomitee muss im Betrieb in jeder Abteilung und in jeder Gruppierung vertreten sein. Bombardierung von oben bzw. von außen durch Medien, Öffentlichkeit, Aktionen vor den Werkstoren kann allenfalls ein Support sein.
  • Es gibt einen Kipppunkt: Irgendwann haben die Kollgen vom gesamten Konflikt und seinen ständigen News, Aufrgeungen etc. einfach die Schnauze voll. Die Union Buster wissen das und dröhnen die Belegschaft gezielt zu.
  • Auch solidarischer Support und kritische Medienpräsenz (Bombardierung) können überhand nehmen und die gesamte Belegschaft gewaltig nerven. Es gilt zu dosieren und den richtigen Rhythmus zu finden.
  • Die Organisierung muss in der Gegend verankert sein, in der der Betrieb liegt. In Birmingham gab es nur Black Lives Matter und sozialistische Gruppen, wobei letztere in den konservativen Südstaaten eine Randgruppe darstellten. Die Gewerkschaft selbst kam aus den Nordstaaten. Der wichtigste Rückhalt in dieser religiösen Gegend sind Kirchen und Gemeinden. Es gilt, diese Communities in relevanter Zahl hinter sich zu bekommen, ebenso über Vereine, Bürgerinitiativen etc.
  • Wenn die Beschäftigten sich nicht trauen, offen und offensiv aufzutreten –– etwa mit Buttons, Stickern, Kundgebungen – sondern sich aus Angst vor Kündigung, Mobbing etc. ängstlich im Schützengraben wegducken, ist der Kampf bereits verloren.
  • Eine hohe Fluktuation (viele Neueinstellungenen und Abgänge) im Betrieb kann Fluch und Segen sein – in Bessemer sind es 100% pro Jahr, d.h. niemand hält die Arbeit hier auf Dauer aus. Du musst als Organisierungskommittee also immer wieder von vorn anfangen. Du kannst es aber auch immer wieder versuchen.
  • In Betriebe mit hoher Fluktuation kannst Du leicht einsickern. Du kannst dort selbst eine Weile arbeiten und Leute animieren, dort anzufangen. Warum machen das so wenige Gewerkschaften? Warum sickert die RWSDU nicht selbst mit Organizern dort ein, anstatt ehemalige Malocher_innen einer Hühnerfabrik anzuheuern, die vor dem Amazon-Werkstor Flugblätter verteilen?

Grenzen des Organizing?

Die verheerende Niederlage bei Amazon in Alabama wirft die Frage auf, was das professionelle Organizing insgesamt Wert ist, das sich in den USA seit 40 Jahren zu einer gewerkschaftsnahen Sub-Unternehmer und Dienstleistungsindustrie heraus gebildet hat. Insbesondere weil diese Sozialtechniken, die nah am Direktmarketing, Fundraising und Kundenakquise gebaut sind seit 20 Jahren von IG Metall und Ver.di adaptiert werden und insbesondere trotzkistischen und anderen Uni-Linken temporäre Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Die US-Profi-Organiziern Jane McAlevey, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem VSA-Verlag seit drei Jahren zu einer Art Guru aufgebaut wurde, meint, die entwickelten Methoden seien von der RWSDU lediglich falsch und inkonsequent angewandt worden. Dafür spricht in der Tat einiges, anderes spricht dafür, das professionelle Organizing der DGB-Gewerkschaftsapparate und ihrer US-Vorbilder wesentlich kritischer zu betrachten als bisher.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 3 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Die beiden beraten Betriebsgruppen, Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen.

Wir freuen uns über Resonanz: Anregungen, Hinweise, Nachfragen und Diskussionen! Mailt an: kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Workers at Amazon’s Shakopee, Minnesota, fulfillment center walked out in a December 2018 protest. Credit: Fibonacci Blue, CC BY 2.0.


GET POST FORMAT

Schon als sich vor einiger Zeit abzeichnete, dass die Lokführergewerkschaft GDL demnächst zu einem Streik aufrufen würde, hätte man drauf wetten können, was geschehen würde – dass die Konzernmedien im Verein mit den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern einen Propagandakrieg gegen die GDL und vor allem ihren Vorsitzenden Claus Weselsky anzetteln. Schon beim Bahnstreik im Herbst 2014 war Weselky von der Bild-Zeitung und anderen Medien in einer Art verteufelt worden, die an den Stil des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“ erinnerte. Das Boulevardblatt hält sich beim aktuellen Streik, den die GDL am 11. August begann, anscheinend eher zurück, zumindest was den Gewerkschaftsführer angeht. Dafür hauen andere Medien umso mehr drauf.

Eine kleine Auswahl von Schlagzeilen: „Claus Weselky – der selbsternannte Robin Hood der Eisenbahner“ (Badische Zeitung), „Wie ein Popstar lässt sich der GDL-Chef von seinen Lokführern feiern“ (Redaktionsnetzwerk Deutschland), „Bühne frei für den Gruppen-Egoisten Weselsky“ (Handelsblatt), „GDL-Chef Weselsky hat jedes Maß verloren“ (Tagesspiegel). Auch das reichweitenstarke Portal ntv.de reihte sich in den Chor ein, mit einem Kommentar unter der Überschrift „Claus Weselky – der Überlebenskampf eines Egomanen“. Hier und bei den anderen Leitmedien wird ein Streik, der bei einer Urabstimmung mit 95 Prozent der Stimmen beschlossen worden ist, auf eine perfide Weise personalisiert. Und ebenso perfide ist, wie mit Verdrehungen und Halbwahrheiten gearbeitet wird, um die Motive und Ursachen dieses Arbeitskampfes in den Schmutz zu ziehen.

Es lässt sich wieder gut erkennen, wie auch in diesem Fall fast alle bürgerlichen Leitmedien einem Argumentationsmuster folgen, als wäre dieses von den Herrschenden als Parole ausgegeben worden – ob es der NDR-Reporter ist, der zwei Minuten aus dem Hamburger Hauptbahnhof vom Streik berichtet, oder der politische Kommentator in der FAZ. Diese Argumentation lautet, etwas zugespitzt zusammengefasst, folgendermaßen: Denen geht es gar nicht in erster Linie ums Geld, sondern das ist ein Machtkampf mit der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, denn die GDL und vor allem Weselky wollten nur ihren Einfluss vergrößern. Bei ntv.de klingt das so: „Denn im Konflikt geht es ihnen vorrangig gar nicht um Tarifergebnisse. Es geht ihnen in erster Linie darum, den eigenen Einfluss im Konzern zu vergrößern und der viel größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG möglichst viele Mitglieder abzujagen. Und deshalb eskaliert Weselsky schnell maximal.“

Das schreibt ein gewisser Jan Gänger, Leiter des Wirtschaftsressorts bei ntv.de, der sich als folgsamer Laufbursche des Kapitals erweist. Er erwähnt immerhin noch, dass ein Hintergrund des Streiks auch das Tarifeinheitsgesetz (TEG) ist, das im Frühjahr 2015 im Bundestag von der großen Koalition aus Union und Sozialdemokraten durchgeboxt wurde, nicht zufällig unmittelbar nach dem Bahnstreik vom Herbst 2014. Es schreibt vor, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag mit der Gewerkschaft gilt, die unter den Beschäftigten die meisten Mitglieder hat. Gänger findet dieses Gesetz ganz großartig, da es „einen Überbietungswettbewerb von Gewerkschaften und die Spaltung einer Belegschaft verhindern“ solle. Eine kühne Behauptung.

Wozu das Gesetz tatsächlich dient, hat der Verkehrsexperte Winfried Wolf auf der von ihm verantworteten Plattform Streikzeitung in einem Kommentar am 10. August auf den Punkt gebracht. Das TEG laufe darauf hinaus, schreibt er, „dass den sogenannten kleinen – und oft kämpferischen – Spartengewerkschaften (wie GDL, Marburger Bund, Cockpit) der Spielraum massiv verkleinert, wenn nicht ihre Existenz bedroht wird“. Es sei völlig offen, was der Begriff „Betrieb“, in dem laut TEG nur noch ein Tarifvertrag gültig sein soll und dann eben derjenige der relativ größten Gewerkschaft, konkret bedeute. Auch welches die relativ größte Gewerkschaft ist, sei nicht eindeutig definiert. Dies alles öffne „für Manipulationen Tür und Tor“, so Wolf.

Es liegt also auf der Hand, dass das TEG den Herrschenden vor allem dabei hilft, unbequeme Gewerkschaften platt zu machen. Wolf ist daher zuzustimmen, wenn er schreibt, dass der GDL-Streik „für alle gewerkschaftlich Aktiven und für die Linke von enormer Bedeutung“ sei. Im übrigen bezeichnet er ihn auch als „sozial gerechtfertigt“. Entgegen den Aussagen der Bahnvorstände Richard Lutz, Martin Seiler und Ronald Pofalla fordere die GDL „exakt das, was im Frühjahr 2021 im Verdi-Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst beschlossen wurde“. Und das sei „gerade mal Lohnausgleich und eine gewisse Anerkennung für das Den-Kopf-Hinhalten in der Pandemie“.

Während aktuell gegen Claus Weselky und die GDL auf allen Kanälen Stimmung gemacht wird, löste die Meldung des Spiegel vom April, dass rund 70 Vorstände und Geschäftsführer von Bahn-Tochterunternehmen auf der Auszahlung großer Teile ihrer Prämien beharren, obwohl zugleich Gleisarbeiter vor dem Hintergrund der Pandemie zurückstecken müssen, kaum Empörung aus. Da war bei ntv.de & Co. nichts zu lesen von Profitgier der Egomanen in den Vorstandsetagen und dergleichen. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing – diese Devise ist den Lohnschreibern der bürgerlichen Medien in Fleisch und Blut übergegangen.

# Titelbild: Maryellen McFadden Poster The first Soviet freight train engine 1921 Andrei Shelutto designer. Theme of poster is Soviet Industrial design between 1920 and 1930. CC by-nc-nd/2.0/

GET POST FORMAT

Weitgehend ignoriert von den Mainstream Medien aber auch einer linken Öffentlichkeit finden seit mehr als 10 Tagen erneute Großdemonstrationen in mehreren Städten im Südwesten Irans statt. Aktueller Auslöser der Massenproteste ist eine akute (Trink-)Wasserknappheit infolge der katastrophalen Staudammpolitik der iranischen Regierung sowie andauernde Stromausfälle in der Region. Die Antwort der Regierung auf die Proteste der Bevölkerung ist wie immer äußerst brutal. Inzwischen wurde in der gesamten Region massiv Militär aufgefahren, mehr als neun Demonstranten wurden von den Sicherheitskräften getötet und viele verhaftet.

Die Proteste finden vor allem nahe der irakischen Grenze statt, in der Provinz Khuzestan, deren Süden überwiegend von der arabischen Minderheit im Iran bewohnt wird. Die iranische Regierung führt seit Jahrzehnten eine gezielte Vertreibungs- und Verarmungspolitik gegen die arabische Minderheit durch, die sich nicht in die nationalistische Staatslogik einbinden lässt und für ihr Recht auf kulturelle Selbstbestimmung kämpft. Denn anders als das nationalistische Staatsnarrativ glauben lassen möchte, gehört ein Großteil der Bevölkerung des Iran unterschiedlichen ethnischen Minderheiten an, wie z.B. Aserbaidschaner*innen, Kurd*innen, Lor*innen, Araber*innen, Balutsch*innen, Turkmen*innen, Afghan*innen etc. Bereits während der iranischen Revolution hatten linke Bewegungen in der Region einen großen Einfluss und auch während der letzten Massenproteste 2018 und 2019 fanden in vielen Städten in Khuzestan große Demonstrationen statt.

Für das Regime geht es um den ungehinderten Zugriff auf und die Kontrolle über die Öl- und Gasindustrie in der Provinz, denn ca. 90% der iranischen Öl- und Gasproduktion stammen aus Khuzestan und 8 % der weltweiten Ölreserven liegen dort. In den letzten 40 Jahren hat das iranische Regime mit einem erzwungenen Bevölkerungsaustausch versucht, die Provinz zu „iranisieren“. Dabei wurden mehr als 200.000 Hektar Land von arabischen Kleinbäuer*innen beschlagnahmt und auf persische Siedler*innen übertragen. Auch Arbeitsplätze in der Öl- und Gasindustrie, der Verwaltung oder dem Dienstleistungssektor sind der persischen Bevölkerung vorbehalten. Viele grundlegende Rechte werden de arabischen Bevölkerung verwehrt, die Provinz befindet sich seit Jahren in einem militärischen Ausnahmezustand.

Neben der Öl- und Gasindustrie gibt es kaum andere Industrien in der Provinz, die vom Irak-Iran-Krieg am meisten betroffen war und in großen Teilen zerstört wurde. Bis heute sind die Folgen des Krieges deutlich zu sehen, ein Wiederaufbau ist nicht in Sicht. Der Großteil der arabischen Bevölkerung lebt vor allem von Subsistenzlandwirtschaft und Tierzucht. Die ökologischen Bedingungen in der Region sind für sie ein wichtiger Faktor, um zu Überleben.

Ähnlich wie die türkische Regierung hat auch der Iran in den letzten Jahrzehnten riesige Staudamm- und Flussumleitungsprojekte geplant und umgesetzt. Laut der Zeitung Resalat wurden an den Flüssen Khuzestans und deren Zuflüssen insgesamt 170 Dämme errichtet. Laut den Informationen der Regierung sind noch mehr als 150 Staudammbau- und Wasserumleitungsprojekte in Planung, viele davon an den Flüssen, die durch Khuzestan fileßen. Ziel ist es, Wasser für die Industrien und das Agrobusiness in anderen Provinzen zur Verfügung zu stellen und der militärisch-ökonomischen Elite des Landes ein lukratives Geschäft einzubringen. Inzwischen zählt der Iran nach China zum zweitgrößten Staudammbauer der Welt. Neben Staudämmen wurden auch zahlreiche Flüsse aus der Region umgeleitet, um Wasser in andere iranische Provinzen zu transportieren. Durch die Flussumleitungen und Staudämme wurden nicht nur tausende von Dörfern überflutet und die Bewohner*innen vertrieben, sondern auch das natürliche Ökosystem der Region nachhaltig zerstört. Viele der Flüsse und Seen in der Region sind inzwischen ausgetrocknet, viele der Kleinbäuer*innen können ihre Felder nicht mehr ausreichend bewässern, ganze Tierherden sind verdurstet. Die Staudamm- und Wasserpolitik führt zu einer künstlich erzeugten Dürre und verschärft die Auswirkungen des Klimawandels auf die Region massiv.

Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen systematischen Diskriminierung, der staatlich produzierten Armut sowie Vertreibungs- und Wasserpolitik lieferte eine akute (Trink-) Wasserknappheit sowie in deren Folge zahlreiche Stromausfälle den aktuellen Anlass für den Ausbruch der Massenproteste. Seit etwa 10 Tagen gehen in fast allen Städten, Dörfern und Gemeinden der Provinz jeden Abend Tausende von Menschen auf die Straßen. Sie fordern nicht nur konkrete Veränderungen ihrer Lebenssituation, sondern vielfach auch ein Ende der Diktatur. Besonders ist diesmal, dass sich sowohl die Arbeiter*innen der Öl- und Gasindustrie solidarisieren, die sich selbst seit mehr als fünf Wochen im Streik befinden, als auch die Bevölkerung in anderen Regionen des Landes, darunter auch Städte, die vorwiegend von der Minderheit der Loren bewohnt werden. In der Vergangenheit war das Verhältnis zwischen arabischer Minderheit und Loren geprägt von Konflikten und Auseinandersetzungen. Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen seitens der lorischen Bevölkerung stellen deshalb eine neue Qualität der Proteste dar. Ebenso wie Solidaritätsdemonstrationen in anderen Großstädten wie z.B. in Tabriz, der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan oder in Teheran. Die Erfahrungen der Niederschlagung der Massenproteste in den letzten Jahren, sowie die zunehmend geteilte Erfahrung von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen infolge der neoliberalen Politik und Naturzerstörung haben dazu geführt, dass innerhalb der Bevölkerung ein neues Bewusstsein entstanden ist, dass trotz aller Unterschiede nur ein gemeinsamer Kampf gegen das Regime Erfolg haben kann. Für die Fortsetzung der aktuellen Aufstände spielt auch die weitere Entwicklung der Kämpfe der Arbeiter*innen eine wichtige Rolle. Sollten sich solidarische Streiks ausweiten und irgendwann in einen Generalstreik münden, wäre dies ein wichtiger Schritt, um die jahrelange Sackgasse der Repression zu überwinden, in die die Massenproteste bisher gemündet sind.

Die Antwort des Regimes auf die Proteste folgt immer dem üblichen Muster: Leugnung, Kriminalisierung und massive Repression. Als die ersten Videos über die Demonstrationen in Khuzestan auftauchten, behauptete die Regierung noch, diese seien gefälscht. Als die Proteste unübersehbar wurden, räumte sie Probleme bei der Wasser- und Stromversorgung ein, beschuldigte die Demonstrant*innen jedoch, von ausländischen Mächten gelenkt zu sein und dem Iran schaden zu wollen bzw. Separationsbestrebungen zu verfolgen. Gleichzeitig wurde die Militärpräsenz massiv ausgeweitet und die Protestierenden mit aller Brutalität angegriffen. Dabei wird auch – wie bereits in den Massenprotesten von 2018 und 2019 – mit scharfer Munition auf die Protestierenden geschossen, viele Demonstrant*innen wurden teils schwer verletzt, mehrere getötet. Um die Verbreitung von Aufnahmen der Proteste im Internet zu verhindern und die Kommunikationskanäle zu unterbrechen, wurde zudem das Internet und Mobilfunknetz tagelang ausgeschaltet. Auch wurden viele Demonstrant*innen festgenommen, u.a. auch aus Krankenhäusern heraus, die verletzte Demonstrant*innen wegen notwendiger Behandlungen aufgesucht hatten. Im Internet kursieren deshalb zunehmend Anleitungen, wie Schussverletzungen oder andere Wunden eigenhändig zu operieren sind, um eine ärztliche Behandlung in Krankenhäusern vermeiden zu können. Bei der Repression gegen die eigene Bevölkerung benutzt das Regime neben Waffen auch modernste Überwachungstechnologien, die es unter anderem auch von deutschen Unternehmen erhält. Nach der Grünen Bewegung von 2009 wurde etwa bekannt, dass Siemens

Überwachungstechnologie an den Iran geliefert hat. Neuerdings wird die Teilnahme an Demonstrantionen mithilfe einer neuen Technologie ausgewertet, die auf der Analyse von Chips basiert, die sich z.B. auf EC-Karten befinden.

Die aktuellen Proteste in Khuzestan und in manchen Nachbarprovinzen reihen sich ein in eine Serie von Massenprotesten und Streikwellen, die in immer kürzeren Abständen im Iran ausbrechen. Anders als es das Regime (und ein Teil der anti-imperialistischen Linken) darstellen, sind sie weniger die Folge ausländischer Provokationen, sondern vielmehr die Konsequenz der jahrzehntelangen ultra-neoliberalen Politik des Regimes, die zu einer Verarmung breiter Teile der Bevölkerung im Iran geführt hat. Arbeitslosigkeit und extrem prekäre Arbeitsverhältnisse sind an der Tagesordnung, aktive Arbeitsaktivist*innen werden ebenso brutal verfolgt, verhaftet und hingerichtet, wie Teilnehmer*innen der Massenproteste. Da die einzige Antwort des Regimes die brutale Niederschlagung und Unterdrückung jeglicher widerständiger Tendenzen ist, werden sich die vielfältigen Krisen im Iran auch in Zukunft weiter zuspitzen und weitere Massenproteste zur Folge haben. Umso wichtiger ist es, dass linke Bewegungen hierzulande, eine klare Position zu den Protesten im Iran entwickeln und sich mit ihnen solidarisieren. Dazu gehört zu allererst, das Schweigen zu brechen und den Protestierenden und ihren Kämpfen hierzulande eine Stimme und Öffentlichkeit zu geben. Gleichzeitig ist es wichtig, die Rolle der bundesdeutschen Politik sowie deutscher Unternehmen bei der Unterstützung des iranischen Regimes und seines Repressionsapparates sichtbar zu machen und anzugreifen.

In den Mainstream Medien findet sich vor allem Kritik an den autoritären und patriarchalen Aspekten der Diktatur im Iran. Die katastrophalen Auswirkungen der neoliberalen Politik, sowie die zahlreichen Streiks und Massenproteste dagegen werden weitaus weniger thematisiert. Das ist was die herrschende Politik angeht nicht weiter verwunderlich. Kritisch ist jedoch, dass selbst in Teilen der linken Bewegung eine Solidarisierung mit den Protestierenden ausbleibt – sowohl teilweise seitens der iranischen Linken als auch der nicht-iranischen Linken weltweit. Grund dafür ist ein Imperialismusverständnis, dass ausschließlich auf der Ebene der Staaten ansetzt und diese schematisch in imperialistische und anti-imperialistische Kräfte unterteilt. Der Iran wird darin zu einer anti-imperialistischen Macht gegen den US-Imperialismus stilisiert und jegliche Proteste innerhalb des Irans auf Systemchange Bestrebungen der USA reduziert. Diese Logik führt letztlich dazu, dass selbst Teile der iranischen Linken in der aktuellen Situation das iranische Regime unterstützen und ihrer Interpretation folgen, die Niederschlagung der Massenproteste sei eine notwendige Verteidigung gegen den US-Imperialismus. Dass der Iran selbst eine imperialistische Politik im Mittleren und Nahen Osten verfolgt und mit aller Brutalität die herrschenden kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen gegen die eigene Gesellschaft durch- und umsetzt, bleibt in dieser Lesart nachranging, ebenso wie der notwendige Widerstand der Bevölkerung gegen die unerträglichen alltäglichen Zustände.

Wir halten eine Unterstützung des iranischen Regimes und eine Entsolidarisierung mit den Protesten der Bevölkerung für fatal und das zugrundeliegende Imperialismus-Verständnis für zu verkürzt. Letzteres trennt antiimperialistische Kämpfe von antikapitalistischen und landet dadurch notgedrungen in der Geopolitk und somit in der nationalen Falle. Auch wenn es Bestrebungen der USA und anderer Mächte gibt, den Iran von innen heraus zu destabilisieren, so können die Massenproteste der letzten Jahre nicht darauf reduziert und ihr emanzipatorisches Potential nicht verleugnet werden. Aus unserer Perspektive kann weder das blutige iranische Regime, noch die blutige US-Interventionspolitik eine Alternative bilden, sondern nur das Potential, dass aus einer Bewegung von unten erwachsen kann. Denn die Entstehung von revolutionärer Subjektivität ist ein Kampfprozess von unten. Insofern sollte der revolutionäre Charakter eines Aufstandes vorwiegend anhand seines Potentials beurteilt werden, Menschen verändern und beeinflussen zu können und nicht anhand der unmittelbaren Auswirkungen auf die Strukturen der etablierten Ordnung. Umso wichtiger ist es, dass gerade iranische Linke die Massenproteste und Aufstände aktiv unterstützen und in den Diskurs intervenieren, um die emanzipatorischen Stimmen und Kräfte zu stärken. Die Massenproteste im Irak von 2019 bis heute haben gezeigt, dass auf vielen der Demonstrationen gegen das irakische Regime der Slogan „Weder der Iran, noch die USA“ gerufen wurde. Diese Tendenzen finden sich auch in den Aufständen im Iran, denn die Erfahrungen mit den US-Interventionen im Irak und in Afghanistan sind auch der Bevölkerung im Iran im Bewusstsein und stärken Positionen die eine emanzipatorische Alternative fordern.

Der Nahe Osten befindet sich in einer multiplen Krise infolge der zunehmenden Militarisierung, den Auswirkungen des Klimawandels und der imperialistischen, neoliberalen und naturzerstörerischen Politik der regionalen und globalen Mächte. Der Iran gilt als wichtiger Akteur in der Region. Wachsende Proteste und Streiks im Iran sind deshalb auch ein wichtiges Moment, um andere Menschen im Nahen Osten zu inspirieren und zu ermutigen, für ihre Interessen einzutreten und solidarisch für eine andere Gesellschaft zu kämpfen.

Unsere Solidarität ist deshalb bei den Demonstrant*innen und streikenden Arbeiter*innen im Iran!
Lasst uns den Kampf internationalisieren!
Lasst uns die Hoffnung internationalisieren!

# Text: kollektiv aus Bremen
# Titelbild: Federation of Anarchism Era, Poster in der Provinz Fars „Khuzestan ist nicht allein“

GET POST FORMAT

150 Jahre §218“ – oder auch 150 Jahre Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Der „Abtreibungsparagraph“ 218, der dieses Jahr sein unrühmliches Jubiläum feiert, hat zwei Weltkriege und den deutschen Faschismus unbeschadet überstanden. Die Ursprünge dieses Gesetzes sind aber noch älter und sind Teil einer Politik gegen die körperliche Selbstbestimmung im Dienste der Logik des Kapitalismus.

„Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, so lautet der erste Satz des §218 StGB. Diese Kriminalisierung von Abtreibungen wird zwar durch den seit 1974 bestehenden mehrfach reformierten §218a aufgeweicht, Probleme haben ungewollt Schwangere trotzdem. Straffrei bleiben Schwangerschaftsabbrüche, wenn die schwangere Person in Folge sexualisierter Gewalt schwanger geworden ist, wenn die Gesundheit der schwangeren Person bedroht ist, oder unter der Bedingung, dass die schwangere Person den Abbruch innerhalb der ersten 12 Wochen nach einer sogenannten „Schwangerschaftskonfliktberatung“ sowie einer dreitägiger „Bedenkzeit“ durchführen lässt.

Die Beratung bei letzterer Ausnahme dient laut Strafgesetzbuch „dem Schutz des ungeborenen Lebens“ sowie dazu, „die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen“. Bei geringem oder keinem Einkommen muss außerdem ein Antrag für die Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt werden, wo die eigene finanzielle Situation offengelegt werden muss. Ein weiterer Schritt, der sich in Deutschland zunehmend schwierig gestaltet, ist die Suche nach Gynäkolog*innen, die Schwangerschaftsabbrüche überhaupt durchführen. In den letzten Jahren wurden Ärzt*innen, die auf ihrer Webseite darüber informierten, dass bzw. mit welchen Methoden sie Abtreibungen vornehmen, immer wieder kriminalisiert und von Fundamentalist*innen und Rechten bedroht. Folgerichtig sinkt die Anzahl der Praxen, die überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführen drastisch. Laut der Initiative Mehr als du denkst – Weniger als du denkst hat sich die Anzahl in Deutschland in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert. In Köln zum Beispiel, einer Stadt mit mehr als einer Millionen Einwohner*innen, gibt es offiziell nur noch vier Einrichtungen, in Münster und Tübingen jeweils nur eine, in Regensburg sogar gar keine.

Selbst wenn eine Praxis gefunden ist und der in manchen Fällen entwürdigende Beratungsprozess überstanden ist, sehen sich ungewollt Schwangere oft unzähligen teils aggressiven Anschuldigungen und Verurteilungen aus der Gesellschaft ausgesetzt. Wenn man Glück hat vielleicht nicht im eigenen Umfeld, spätestens aber im Internet. Auf hilfreiche Plattformen wie z.B. die queer-feministischen Verzeichnisse gynformation oder queermed verweisen Suchmaschinen leider auf den hinteren Plätzen. Stattdessen landen ungewollt Schwangere nicht selten auf Webseiten und Foren, in denen versucht wird, sie mit Bildern und Anschuldigungen dazu zu drängen von einem Abbruch abzusehen und ins Gewissen zu reden.

Die Probleme der rechtlichen und gesellschaftlichen (Nicht-)Akzeptanz von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland sind vielfältig und zumindest in liberalen Kreisen bekannt. Was aber in vielen der aktuellen Diskussionen untergeht oder teilweise gar nicht vorkommt ist eine antikapitalistische Perspektive, bzw. eine Analyse dessen, was Klasse mit Abtreibungen und mit sexueller, reproduktiver und körperlicher Selbstbestimmung zu tun hat. Dazu lohnt sich ein Blick in die Geschichte.

Viele der Ursprünge patriarchaler Kontrolle über Sexualität und Reproduktion und Antworten auf die Frage, wie das mit Kapitalismus zusammenhängt, liegen in den religiösen und politischen Entwicklungen im Europa der frühen Neuzeit. Im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert und später dem Beginn des Kapitalismus verfestigten sich auch bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen, Sexualität und Ehe. Die Ehe wurde insbesondere von den protestantischen Kirchen zunehmend als universales Ideal für ein frommes Leben für alle beworben, und eine dementsprechende Sexualmoral und Familienpolitik entstand. Klöster, für Frauen die nahezu einzige gesellschaftlich akzeptierte Option neben dem Heiraten, wurden in protestantischen Gebieten teilweise gewaltsam aufgelöst. Schließlich sei die Bestimmung von Frauen nicht das enthaltsame Leben als Nonne, sondern Kinder zu gebären. Auch wenn sie sich „müde und zuletzt todt tragen“, schrieb damals Martin Luther höchstpersönlich, „das schadet nichts, laß’ sie nur todt tragen, darumb sind sie da“.

Sämtliche nicht-eheliche, nicht-monogame und nicht-heterosexuelle Formen von Sexualität wurden im Zuge dessen geächtet und verfolgt. Davon waren am meisten arme Frauen betroffen. Unter den Vagabund*innen und Bettler*innen, die zuvor aufgrund gewaltsamer Landenteignung vertrieben wurden und verarmten, waren viele Frauen, die als Tänzerinnen oder Prostituierte arbeiteten und als solche kriminalisiert wurden. August Bebel schrieb über die Zeit der Reformation: Den öffentlichen Frauenhäusern wurde der Krieg erklärt, sie wurden als ‚Höhlen des Satans‘ geschlossen, die Prostituierten als ‚Töchter des Teufels‘ verfolgt, und jede Frau, die einen ‚Fehltritt‘ beging, nach wie vor als Aushund aller Schlechtigkeit an den Pranger gestellt.“

Daneben stieg auch die Kontrolle und Verfolgung von Hebammen und Schwangeren, die abtrieben bzw. Abtreibungen durchführten, rasant an. Neben Hexerei wurde der angebliche „Kindsmord“ zu dem Verbrechen, für das Frauen im 16. und 17. Jahrhundert am häufigsten verfolgt und verurteilt wurden. Diese verstärkte Kriminalisierungspolitik traf nicht nur die ärmsten Schichten und Frauen am Stärksten, sondern war wie gemacht für den entstehenden Kapitalismus, der nach Arbeitskräften dürstete. Der französische Staatstheoretiker und Merkantilist Jean Bodin zum Beispiel verteufelte Frauen in seinen Werken nicht nur aufs Übelste, sondern betonte auch immer wieder die Notwendigkeit der Reproduktion von Arbeitskräften, weshalb er vorschlug, Frauen sollten mindestens fünf Kinder gebären und dass der Staat die Pflicht habe, jene „teuflischen Kräfte“ zu vernichten, die angeblich Empfängnis und Geburt sabotierten. Damit meinte er in erster Linie Hexen: ab Mitte des 16. Jahrhunderts begann auch die Hochphase der Hexenverfolgung, welcher insbesondere ärmere Frauen zum Opfer fielen.

Der Beginn des Kapitalismus wurde begleitet von dieser patriarchalen Politik, die die Körper von Frauen kontrollieren und disziplinieren wollte, die in der Literatur und nach dem herrschenden Frauenbild dieser Zeit überwiegend als gefährliche und unberechenbare Wesen dargestellt wurden, die man zähmen müsse.

Versuche seitens des Staates, Körper und Sexualität zu kontrollieren, hat es seither immer gegeben. Die beschriebenen Entwicklungen in der frühen Neuzeit sind keine isolierten historischen Ereignisse, sondern haben maßgeblich die darauffolgenden Jahrhunderte geprägt. Auch im kolonialen Raum konnten europäische Kolonialisten diese tief misogyne und patriarchale Ordnung „exportieren“ und etablieren.

Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung ist und bleibt also eine Frage der Verhältnisse, in denen wir leben. Wer am Ende abtreiben kann ist nämlich auch eine Klassenfrage: Während über lange Zeit etwa Wohlhabende wenigstens unter einigermaßen sicheren Bedingungen abtreiben konnten, blieb ärmeren Schwangeren oft nur der illegale Eingriff, der mitunter lebensgefährlich sein konnte. So bekämpften in Deutschland lange Zeit vor allem Kommunist*innen und Sozialist*innen den „Klassenparagraphen“ 218. Legal waren Schwangerschaftsabbrüche später in der DDR, wo ab Beginn der 1970er Jahre auch die Pille kostenlos zur Verfügung stand.

Heute wird Arbeiter*innenfamilien, Migrant*innen und von Rassismus Betroffenen über Schwangerschaftsabbrüche hinaus auch insgesamt die Fähigkeit zur reproduktiven Selbstbestimmung und Verantwortung abgesprochen, zum Beispiel in Form des typischen Vorwurfs, Migrant*innen würden „zu viele Kinder“ bekommen, die sie dann angeblich nicht richtig erziehen und aufziehen könnten. Auch die Figur der „Teeniemutter“, wie sie oft im Fernsehen dargestellt ist, hat oft eine sichtbar klassistische Rahmung. Während über sie der moralische Zeigefinger erhoben wird, bleibt Selbstbestimmung etwas, was vor allem Privilegierten und Besitzenden vergönnt bleibt.

Von wirklicher Selbstbestimmung für alle sind wir aktuell also weit entfernt. Die Forderung „My Body My Choice“ im radikalen Sinne des Wortes umzusetzen, ist im bestehenden System in vielerlei Hinsicht unmöglich. Ein System, das ausbeutet, kriminalisiert, stigmatisiert, beschämt, pathologisiert, einsperrt und abschiebt steht grundsätzlich im Widerspruch zu körperlicher Selbstbestimmung. Diese Tatsache müssen wir uns bei allen feministischen Kämpfen vor Augen halten. Und aus klassenkämpferischer Perspektive wiederum müssen wir uns mit Blick auf die Geschichte vor Augen halten, dass Themen wie das Recht auf sichere und kostenlose Abtreibungen oder zum Beispiel auch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung für trans, inter und nicht-binäre Personen Bestandteil antikapitalistischer Kämpfe sind und sein müssen.

Körperliche, reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung ist nämlich niemals eine rein individuelle Frage. Damit allen Menschen kostenlose, sichere Verhütung zur Verfügung steht und das Wissen darüber allen Menschen bedingungslos zugänglich gemacht wird; damit Menschen selbst darüber entscheiden können, wie sie sich körperlich und geschlechtlich identifizieren und ausdrücken, ohne schikaniert, erniedrigt und eingeschüchtert zu werden; und damit Eingriffe wie Schwangerschaftsabbrüche legal, sicher, kostenlos und vor allem auch entstigmatisiert sind, braucht es eine ganz andere gesellschaftliche Basis, die nicht auf Ausbeutung, Individualismus und Vereinzelung, sondern auf Kollektivität und gegenseitiger Unterstützung beruht. Eine Zerschlagung patriarchaler und kapitalistischer Verhältnisse ist dafür unabdingbar.

# Titelbild: Gemeinfrei, Hexenverbrennung 1555

GET POST FORMAT

Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den raschen Aufstieg seines Unicorns zu einer Milliardenbewertung freuen kann. Für die tausenden im Unternehmen angestellten Arbeiter:innen dagegen werden mies bezahlt, stehen unter einem enormen Druck und sehen sich sexualisierten oder rassistischen Übergriffen von Vorgesetzten ausgesetzt. Nach der Kündigung eines Kollegen entwickelte sich deshalb in dem Unternehmen ein breiter Arbeitskampf auf vielen Ebenen, der bis dato andauert. Wir haben mit Yasha, Rider bei Gorillas in Berlin und Mit-Initiator des Betriebsrats, über den Arbeitsalltag und das Unternehmen gesprochen.

Kannst du uns am Anfang ein wenig über dich erzählen? Wie lange arbeitest du schon bei Gorillas?

Ich arbeite seit Januar als Rider bei Gorillas. Ich bin 28 Jahre alt und mache nebenbei meinen Master. Ich habe auch als Übersetzer gearbeitet, aber ich brauchte einen Job mit Sozialversicherung. In der Pandemie habe ich mich dann überall beworben, hier wurde ich genommen.

Ist das generell ein Ding bei Gorillas, dass viele studieren und den Job nebenbei machen wie du?

Eigentlich nicht. Ich denke, es ist abhängig von den Herkunftsländern. Die meisten, die aus Südostasien kommen, die studieren. Aber es gibt viele mit europäischen Pässen, die aber aus Südamerika kommen. Und die sind oft nur zum arbeiten hier. Vielleicht wollen sie in der Zukunft studieren, aber aktuell geht es ihnen darum, Geld zu verdienen, ein bisschen was an die Familien zu schicken.

Mein Eindruck wäre, die Belegschaft ist vorwiegend migrantisch. Ist das so?

Ja, natürlich. Deutsche haben wir, würde ich sagen, so vier auf hundert Fahrer.

Gibt es Herkunftsländer, die besonders stark vertreten sind?

Argentinien und Chile sind ganz vorne mit dabei. Einige sind aus Nordamerika, wie ich. Türkei ist repräsentiert, Südostasien ist auch gut mit dabei.

Die aktuelle Welle des Arbeitskampfes begann mit der Kündigung eines Kollegen. Aber die Kritik und Forderungen der Fahrer:innen gehen ja über den konkreten Fall hinaus. Worum geht es euch bei dem Protest?

Wahrscheinlich besteht da kein Zusammenhang, aber die Kündigung passierte direkt in der Woche, nachdem wir eine große Betriebsversammlung von 200 Arbeiter:innen durchgeführt haben. Dort haben wir den Wahlvorstand für einen Betriebsrat gewählt. Und da wollte auch das Management teilnehmen. Sie haben sehr viel Druck gemacht und wollten sich durch die Hintertür da reinschmuggeln. Im Nachhinein haben sie auch eine Mail geschickt und drohten gerichtlich gegen den Betriebsrat vorzugehen – was sie allerdings nicht gemacht haben.

Fünf Tage später kam die Kündigung dieses Kollegen. Er war am Ende der Probezeit und hatte in seinem Warenhaus die beste Leistung. Nicht dass das für uns ausschlaggebend wäre, aber es macht die Kündigung noch fragwürdiger. Es gab keinen richtigen Grund, niemand konnte das nachvollziehen und das hat die Leute empört.

Und natürlich, das knüpfte dann schon an die ganzen anderen Probleme an. Es gab schon im Januar einen offenen Brief, im Februar gab es auch schon mal Streiks. Und seitdem haben sich auch nochmal viele Sachen verschlechtert. Zum Beispiel haben sie die Körbe von den Fahrrädern abgenommen, sodass die Leute die Ware tatsächlich auf dem Rücken tragen müssen. Sie planten, die Pausen unbezahlt zu machen – ob sie das wirklich gemacht haben, wissen wir nicht, wir sehen das erst mit dem kommenden Gehalt.

Dazu gibt es ungleiche Entlohnung. Leute, die vergangenen Oktober angefangen haben, hatten die Möglichkeit nach einer bestimmten Stundenzahl eine Lohnerhöhung auf 12 Euro zu bekommen. Die, die später angefangen haben, haben diese Möglichkeit nicht und sind bei 10,50 Euro.

10,50 ist extrem niedrig …

Ja alles hier ist niedrig, 12 Euro sind ja auch niedrig. Aber dass es zusätzlich noch ungleichen Lohn für dieselbe Arbeit ist, ist natürlich noch schlimmer. Gegen die Niedrigkeit des Lohns müssen wir langfristig kämpfen, aber diese Ungleichheit kann vielleicht der Betriebsrat sogar kurzfristig lösen.

Dazu kommen viele Geschichten von sexueller Belästigung und rassistischem Verhalten durch Vorgesetzte. Das Unternehmen ignoriert das. Beförderungen in eine höhere Stelle sind extrem abhängig von Nepotismus. Einen transparenten Prozess gibt es nicht. Du musst mit deinem Vorgesetzten befreundet sein, auf dieselben Partys gehen, dann kriegst du eine Beförderung.

Wie ist der Betrieb aufgebaut? Ganz unten sind Rider, ganz oben wahrscheinlich der CEO. Wie siehts dazwischen aus?

Ganz unten sind die Rider. Ganz oben – keine Ahnung. Da gibts viele, es ist sehr hierarchisch aufgebaut. Wie das genau aussieht, ist für uns nicht transparent. Wir haben irgendwelche „rider Ops“, „rider supervisors“ oder „rider captains“, die haben da jetzt auch die Namen geändert, es gibt wohl auch irgendwas wie einen „rider champion“, keine Ahnung, was das sein soll.

Fahren diese Vorarbeiter auch selber Touren?

Wenn es Engpässe gibt, dann schon, aber nicht im Normalfall. Sie sind zur Kontrolle der Arbeiter:innen da und sie sind für die Fahrräder verantwortlich, die Ausrüstung, die Pausenzeiten. Seit einiger Zeit haben sie auch den Auftrag, uns offizielle Mahnungen zu geben – nach zwei Mahnungen ist man raus. Ähnlich wie bei Amazon sind sie auch dafür verantwortlich, den eigenen Vorgesetzten die Namen der Personen weiterzuleiten, die politisch aktiv sind. Wie ihr Verhältnis zu den Arbeiter:innen ist, ist von Warenhaus zu Warenhaus unterschiedlich. Hier ist ein ganz gutes Verhältnis, in anderen Standorten waren die Beziehungen zu den Vorgesetzten wirklich schlecht.

Neben den Riders und ihren Vorgesetzten gibt es auch noch Pickers und Inventory, Arbeiter:innen, die für die Zusammenstellung der Bestellungen zuständig sind. Auch die haben noch einen Supervisor, der für sie verantwortlich ist. Und dann jeweils einen Warehouse-Manager, der sitzt zwei Stunden pro Tag hier rum. Keine Ahnung, was er macht. Und über dem gibts keine Ahnung wie viele Positionen, aber die sieht man normalerweise nicht.

Das heisst, den CEO Kağan Sümer sieht man im Arbeitsalltag eher nicht.

Ne, nie gesehen. Also vor zwei Wochen haben wir ihn mal bei einem Protest gesehen, aber ansonsten nie.

Wie viel Arbeiter:innen hat Gorillas in Berlin insgesamt?

Wenn wir nur die Arbeiter:innen zählen, würde ich sagen, um die 2000. Es ist eine Schätzung, ganz so klar ist das nicht. Es gibt auch viele von Leiharbeitsfirmen wie Zenjob, die mal einen Tag hier arbeiten.

Wie viele erreicht ihr mit euren Forderungen?

Interessante Frage. Wir haben ein Netzwerk aufgezogen mit Kolleg:innen aus anderen Städten Deutschlands, den Niederlanden und London. Wir haben also auch Leute erreicht weit über Berlin hinaus, Leipzig, Köln, Hamburg, Groningen, Amsterdam. In Berlin haben wir die größte Basis.

Kannst du ein bisschen über deinen Arbeitsalltag erzählen. Das ganze Konzept klingt für mich nach der Garantie für einen Scheissjob. Irgendwer ruft an, bestellt ein Brötchen und dieses Unternehmen garantiert, dass die knapp über Mindestlohn bezahlten Fahrer:innen das innerhalb von zehn Minuten vorbei bringen. Ist das nicht schon auf Stress angelegt?

Ja. Allerdings hängen diese zehn Minuten immer vom Vorgesetzten ab, ob das durchgesetzt wird oder nicht. Ich habe in den ersten Wochen richtig viel Druck auf mich selbst gemacht, das rechtzeitig zu liefern. Dann habe ich kapiert, dass das nicht so wichtig ist. Ich fahre, wie ich will und halte an jeder roten Ampel. Und niemand mault mich deshalb an. Das geht. Aber es gibt Leute, für die ist dieser Job viel wichtiger als für mich. Und die sind immer unter Druck. Und da gibt es Kündigungen und keiner kriegt es mit, weil sie sich nicht mit den Kolleg:innen vernetzt haben. Alle, die hier länger arbeiten, sagen, dass sich der Arbeitsalltag nochmal verschlechtert hat und viele Kolleg:innen verschwunden sind, gekündigt wurden oder gekündigt haben.

Und klar gibt‘s Leute, die wollen aufsteigen. Die machen dann richtig viel Druck auf sich selbst. Und es gibt eine Statistiken, die erfassen, wie viele Bestellungen man an einem Tag gemacht hat, wer der Schnellste war. In manchen Warenhäusern haben sie Tabellen, da wird der beste Picker, der schnellste Rider ausgeschrieben und die anderen, die weiter unten in der Liste sind, müssen dann den Grund hinschreiben, warum sie nicht so viel geschafft haben. Das ist aber abhängig von den lokalen Leitungen.

Also wenn man einen „guten“ Vorarbeiter hat, dann ist die Lage erträglicher …

Was ist ein guter Vorarbeiter? Das sind die, die auf unserer Seite sind. Das gibt‘s tatsächlich, aber es sind nicht viele. Die stecken uns Informationen aus Managementkanälen. Es gibt auch Leute da oben, die uns unterstützen, die das aber nicht öffentlich machen, weil sie den Job nicht verlieren wollen. Und die sind schon gefährlich für die Firma, weil es kommt dadurch viel Scheisse raus.

Wie würdest du die Unternehmenkultur beschreiben? Weil von aussen sieht das wirklich aus wie der Prototyp so einer irren Start-up-Kultur.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass das für unseren CEO so eine Lockerroom-Kultur hier ist. Es gibt auch viel so Macho-Gehabe. Es gibt Warehouses, da haben erleben Frauen Situationen, dass Vorgesetzte sie in die Wangen kneifen zur Begrüßung. Es gibt ein Warenhaus, wenn die nicht genügend Rider haben, rufen sie in anderen Standorten an und fordern ausschließlich weibliche Fahrerinnen an. Die Vorgesetzten da belästigen diese Frauen, rufen sie an und fragen so: Hey, wo bist du, willst du heute Abend was mit mir machen? Diese Erfahrungen kann man sich auf der Instagram-Seite GorillasRiderLife ansehen.

Hat das Management bislang irgendwelche Zugeständnisse gemacht?

Kleinigkeiten, wie das zum Beispiel die Regenausrüstung gewaschen wurde oder wir neue Regen-Ponchos bekommen haben. Aber von den 19 Forderungen, die wir haben, ist bislang keine erfüllt worden. Nicht alle sind kurzfristig zu erfüllen. Aber manche sind sehr dringend. Zum Beispiel Fahrräder, die nicht alle drei Tage kaputt gehen. Alleine in diesem Warehouse gab es in letzter Zeit vier Arbeitsunfälle, einige davon mit Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Einige der Forderungen könnte das Management leicht erfüllen: Ein oder zweimal die Woche eine halbe Stunde Treffen der Arbeiter:innen. Aber auch auf sowas wird überhaupt nicht reagiert. Oder in Sachen Arbeitsschutz: Wir haben in einer Sicherheitsschulung gelernt, dass das Maximalgewicht unserer Rucksäcke zehn Kilo nicht übersteigen soll. Das wird immer noch überschritten. Oder Schuhe, Sommerjacken und so weiter – diese Ausrüstung müssten sie eigentlich stellen. Arbeitshandys zum Beispiel – wir benutzen immer noch unsere privaten Handys. Die Kunden können uns auch nach der Schicht erreichen und belästigen, das ist schon mehrmals passiert. Da gibt es keinen Datenschutz.

Vor einigen Wochen hatten wir erkämpft, dass sie uns zusicherten, ausstehende Löhne zu bezahlen, aber auch das haben sie nicht bei allen gemacht. Wir haben das dann recherchiert und an die Medien geschickt.

Zum Abschluss: Welche Form von externer Unterstützung wünscht ihr euch?

Das ist eine schwere Frage, wir haben darüber keine einheitliche Meinung. Wir haben diese Solidaritätskampagne, in deren Rahmen man Geld spenden kann. Gut wäre auch unabhängige Solidaritätsaktionen durchzuführen, die den Kampf sichtbar machen. Und dass die Arbeiter:innen sehen, es gibt Unterstützung aus der Öffentlichkeit. Damit man sieht, es handelt sich nicht nur um eine kleine radikale Gruppe – das ist ja die Lüge des Managements.

Außerdem rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen auf, die wir ankündigen. Aber da ist es wichtig, dass sich Externe eher im Hintergrund halten und sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Arbeiter:innen eine Versammlung haben, sollte man sich, wenn man von außen kommt, lieber ein bisschen zurückhalten, statt sich als Arbeiter:in auszugeben. Ansonsten: Alle Aktionen, die nicht falsch sind, sind gut. Vielleicht gibt‘s da ja auch noch mehr als mit jetzt einfallen.

Ruft ihr eigentlich zu einem Boykott auf oder ist das kontraproduktiv?

Wir wollen selbst keinen machen. Aber wir sind hier ja angestellt, wir kriegen Stundenlohn, keine Pauschale pro Bestellung. Deswegen ist es mir persönlich scheissegal. Aber wenn man schon da bestellt, dann kommt den Fahrer:innen wenigstens entgegen, weil in den 5. Stock Hinterhaus in zehn Minuten Lieferzeit ist schwierig. Und Trinkgeld in bar, nicht über die Online-App.

# Titelbild: Gorillas Workers Collective

GET POST FORMAT

Sollte noch irgend jemand daran gezweifelt haben, dann haben CDU und CSU vor einigen Tagen klar gestellt, für wen sie Politik machen. Sie sind die Parteien des Kapitals, die Handlanger der Konzerne, der Industrie, die Sachverwalter der Besitzenden. Das 140-seitige Bundestagswahlprogramm, das die Unionsparteien vor einigen Tagen präsentiert haben, hat das noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Für klar denkende Zeitgenossen ist die Stoßrichtung dieses Programms sicher keine Überraschung – überraschen konnte allein, wie dreist und deutlich es die Ignoranz von Laschet, Söder & Co. gegenüber den Problemen unserer Zeit und ihre Funktion als Anwalt des Kapitals zum Ausdruck bringt.

In den bürgerlichen Medien gab und gibt es durchaus eine Menge Kritik an dem Papier, sogar von der staatstragenden Zeit, was sicher etwas heißen soll. Dabei machen sich die journalistischen Kritiker zu Recht schon über den Titel des Programms „Für Stabilität und Erneuerung“ lustig, der tatsächlich so aufregend ist wie eine Rede von Armin Laschet. Aber zum Lachen ist das Ganze ansonsten eigentlich nicht, denn da zu befürchten ist, dass CDU und CSU auch die nächste Bundesregierung anführen werden, verheißt das Programm nichts Gutes für das untere Drittel der Gesellschaft, vor allem aber für die Marginalisierten in diesem Land.

Dieses Wahlprogramm ist vor allem eine Verbeugung vor all denen, die ihre Schäflein ohnehin im Trockenen haben – eine Zusicherung: „Keine Angst, wir nehmen Euch nichts! Wir erhöhen Eure Steuern nicht und Ihr dürft weiter über die Autobahnen rasen.“ Vermögenssteuer, Vermögensabgabe, Erhöhung der Hartz-4-Regelsätze und dergleichen, für die Union ist all das Teufelszeug, Forderungen sozialistischer Gleichmacher. Sie wollen nach der Bundestagswahl da weitermachen, wo sie in der Coronakrise angefangen haben: die Industrie und die Besitzenden pempern bis der Arzt kommt. Die Zeche der Krise bezahlen sollen die breite Masse und die Marginalisierten. Da auch die Schuldenbremse nach dem Willen von CDU und CSU wieder eingesetzt werden soll, läuft das auf einen Sozialabbau ungeahnten Ausmaßes hinaus.

Ebenso unfassbar wie diese sozialpolitische Ignoranz ist die Positionierung zur Klimapolitik im Programm, die schon einer Leugnung des Klimawandels gleichkommt. Dieser wird unter ferner liefen abgehandelt. Und natürlich müssen wir uns keine Sorgen machen: Der Markt regelt auch das, das scheinen diese durchgeknallten Unionspolitiker allen Ernstes zu glauben. Das berühmte Cover des Supertramp-Albums „Crisis? What Crisis?“ von 1975 mit dem Mann im Liegestuhl vor rauchenden Industrieschloten – dieses Bild gehört vorn auf das Wahlprogramm der Union. Keines illustriert besser, was drin steht.

#Titelbild: A. Laschet: Dirk Vorderstraße/CC BY 2.0; M. Söder Gemeinfrei, Supertramp Album Cover/ Foto Privat; Montage LCM

GET POST FORMAT

Es ist ja immer noch Kapitalismus und wenn wir in dem überleben wollen, müssen wir die Waren erwerben, derer es dazu bedarf. Dazu brauchen wir Geld. Und wer nicht über den Segen eines reichen Elternhauses verfügt, wird früher oder später in die Welt der Lohnarbeit eintreten. Das gilt sehr allgemein und doch ist genau dieser Bereich des eigenen Arbeitslebens einer, der in der hiesigen radikalen und autonomen Linken eigentlich so gut wie nie eine politische Rolle spielt. „Das Private ist Politisch“ gilt offenbar für diesen an sich schon politischen Part des sogenannten Privatlebens kaum. Arbeit ist Arbeit. Politik findet nach Feierabend statt und dreht sich meistens auch um ganz andere Themen.

Das hat weitreichende Auswirkungen, denn die je individuellen Strategien im Umgang mit diesem riesigen blinden Fleck sind auch für Organisationen nicht leicht zu verdauen. Karrierismus ist eine beliebte Strategie: Wenn man schon nichts dran ändern kann, dass man Geld verdienen muss, dann möchte man schon bitte recht viel davon. Und da die im Vergleich zur Normalbevölkerung überproportional studentische und gut vernetzte urbane Linke hier auch Möglichkeiten ohne Ende hat – von der Mitarbeiterstelle beim MdB deiner Wahl über die Funktionärsposten in Stiftungen und Gewerkschaften bis zu dann schon ganz „unpolitischen“ (einer muss es ja machen) Leitungsfunktionen in Bürokratie, Medienzirkus oder bei Konzernen -, lockt der Aufstieg. Irgendeine Scham muss man nicht empfinden, denn wenn man nicht gerade Bulle wird, interessiert es eigentlich keinen, was man arbeitstechnisch so macht. Es ist Privatsache.

Nun besteht auch die außerparlamentarische Linke nicht zu 100 Prozent aus aufstiegswilligen Karrierist:innen, wahrscheinlich nicht einmal mehrheitlich. Aber auch dem Rest, der unterbezahlt und ausgepowert vor sich hin malocht, bleibt nicht viel anzufangen mit diesem Schicksal. Auf einem durchschnittlichen Plenum sitzen dann vielleicht ein:e Erzieher:in, ein:e Handwerker:in, fünf Student:innen und drei Erwerbslose. Dass mehrere Leute aus einem Betrieb zufällig auch in der selben Gruppe sind, ist eher selten. Man verbannt daher den Bereich, der einen Großteil der eigenen Lebenszeit einnimmt, aus dem eigenen Aktivismus und kümmert sich lieber um andere wichtige Themen. Im Betrieb erzählt man am Besten gar nicht, dass man Kommunist:in, Anarchist:in oder sonstwas ist, das gibt nur Stress.

Das Ergebnis ist eine radikale Linke, die sich zwar (zurecht natürlich) mit internationalen und gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt, aber keine Kraft in der Arbeiter:innenklasse hat, die trotz aller Unkenrufe nun mal die breiteste soziale Klasse mit gemeinsamen Interessen auch in diesem Land ist. Dass dann gelegentlich Bücher und Artikel erscheinen, die beschwören, wie unendlich wichtig die Klassenfrage ist, ändert daran auch nichts, denn die zirkulieren sehr selten in Belegschaften als Pausenlektüre.

Ein Banner zu malen, śich vor einen Betrieb stellen, wenn da mal was geht, und sich solidarischen zeigen, ist da uniroisch schon besser als nichts. Es ersetzt aber nicht, als Gleiche:r unter Gleichen in einem Betrieb mit den eigenen Kolleg:innen zu diskutieren, für die eigene Weltanschauung zu werben und der meistens ohnehin schon vorhandenen Wut eine Richtung zu geben.

Im richtigen Betrieb ist das deutlich einfacher als man gemeinhin denkt. Als ich nach einem halben Leben in freiwilliger postakademischer Prekarisierung endlich eine Umschulung in einen normalen Handwerksberuf gemacht hatte, war ich erstmal überrascht, wie wenig an der Mär dran ist, die Klasse sei „unpolitisch“. Im Schnitt waren alle Gespräche politischer als in der „politischen Szene“, wenn auch nicht immer „politisch korrekt“. Und die Frontlinien waren, zumindest in Großbetrieben, auch immer recht klar. Auch, wenn die Kolleg:innen oft (berechtigte) Angst haben, zu kämpfen, dass man vom Chef über den Tisch gezogen wird und der Vorarbeiter ein Arschloch ist, das wissen die meisten, das braucht keiner erklären. Dazu kommt, dass unter Kolleg:innen oft – trotz aller Spaltungslinien und Konkurrenzverhältnisse innerhalb der Klasse – ein Vertrauensverhältnis da ist, das ansonsten nicht gegeben ist. Es ist etwas anderes, ob ich acht, zehn, zwölf Stunden am Tag mit den anderen gemeinsam dieselbe Scheisse durchstehe, oder ob ich auf der Straße Wildfremde anquatsche.

„Revolutionäre Arbeit soll nicht in dem Freiraum stattfinden, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb“, schrieb Berni Kelb in seiner „Betriebsfibel“. Die Lage ist dafür schon deshalb nicht schlecht, weil ohnehin viele Belegschaften kämpfen – von den Lieferfahrer:innen über die Pflege, von Logistik bis Metall-Industrie.

Der erste Schritt für die außerparlamentarische Linke zu einem Schritt in diese Tür wäre, sich zu erinnern, dass die Art und Weise, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen, natürlich keine „Privatsache“ ist, sondern im Zentrum auch unserer politischen Betätigung stehen sollte.

Für diejenigen, die ohnehin schon malochen, heisst das, die Kolleg:innen als politische Subjekte zu begreifen, ordentlich Rabatz im Betrieb zu machen und die Genoss:innen in der Politgruppe außerhalb dazu zu bewegen, das zu unterstützen. Für die anderen würde das wiederum heissen: Sich das eigene Arbeitsleben so zu gestalten, dass man auch Aussicht darauf hat, mit anderen Kolleg:innen in Kontakt zu kommen, die man organisieren will. Sich zu überlegen? Ist die Arbeit, der ich nachgehe, denn eigentlich geeignet, andere Kolleg:innen zu organisieren? Alleine am Schreibtisch in der akademischen Dauerprekarisierung dahinsiechend oder als heranwachsende:r Chef:in mit BWL-Master wird man wahrscheinlich weniger Aussicht auf kollektive Aktion der Klasse haben als auf Station im Krankenhaus, im Tiefbau oder als Fahrradkurier:in.

# Bildquelle: https://www.peoplesworld.org/article/pw-readers-speak-tariffs-vs-international-working-class-solidarity/

GET POST FORMAT

Race- und Klassenfragen sind zwar verschränkt, sollten aber auch unabhängig voneinander betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der jüngst intensiv geführten identitätspolitischen Kontroversen wird folgend anhand a) der Debatten um Haupt- und Nebenwidersprüche und des neuen Buches von Sahra Wagenknecht; b) eines Vergleichs zwischen versklavten Schwarzen auf den US-amerikanischen Plantagen und weißen britischen TextilarbeiterInnen des 19. Jahrhunderts; c) der Rolle des euro-amerikanischen Kolonialismus, Imperialismus und ihren nichtweißen NutznießerInnen und KollaborateurInnen sowie d) den jetzigen Arbeitsbeziehungen und sozioökonomischen Verhältnissen im Kapitalismus diskutiert

Zahlreiche liberale und politisch rechts zu verortende JournalistInnen und AkademikerInnen bedienten sich zuletzt – v.a. unter dem Deckmantel des liberalen Universalismus – der zum Kampfbegriff avancierten Schablone „linker Identitätspolitik“. Meistens, um ihre Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber institutioneller Diskriminierung und Formen der Unterdrückung, die aus sozialer Ungleichheit, Rassismus und patriarchalen Strukturen resultieren, unverblümt zur Schau zu stellen. Unter Missachtung der bestehenden Faktenlage, bagatellisieren sie die Existenz von strukturellem Rassismus, rassistischen Morddrohungen, physischer Gewalt gegen und die Ermordung von People of Color (PoC), Frauen, LGBTQ+ Personen, Obdachlosen und AntifaschistInnen. Zusätzlich erkennen sie die Notwendigkeit von geschützten Räumen sowie sozialer Mobilität für diskriminierte Gruppen und subalterne Klassen nicht an. Stattdessen beschwören sie die vermeintlichen Gefahren der „woken Cancel Culture“, der „feministischen Sprachpolizei“ und der gefährlich überbordenden „PoC-Mobs“.

Auch in linken Kreisen gab es in den letzten Jahren vermehrt hitzige Debatten darüber, ob Klassen- gegenüber Race– und/oder Geschlechterfragen der Vorrang eingeräumt werden sollten. Orthodoxe Linke vertreten nicht selten die Meinung, dass die Kategorie der Klasse den Hauptwiderspruch darstellen würde, da sie über Partikularinteressen und unterschiedliche Identitätsgruppen hinausgehe. Heterodoxe Linke hingegen messen Race– und Geschlechterfragen oftmals die größere Bedeutung bei und lehnen die Vorstellung ab, dass diese Kategorien lediglich Nebenwidersprüche seien.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die Gegenüberstellung von Klasse und Race/Herkunft ist in Sahra Wagenknechts jüngst erschienenem Buch Die Selbstgerechten (2021) zu finden. Darin wettert sie gegen die linksliberale „Lifestyle-Linke“, deren Identitätspolitik angeblich darauf hinausläuft, „das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden.“ (S. 102). Gleichzeitig bleibt sie selbst jedoch ebenfalls der Identitätspolitik verhaftet ohne es aber als solche kenntlich zu machen. Sie stellt nämlich einer nicht klar definierten Gemeinschaft – die v.a. daraus besteht, dass sie deutsche Kultur, Bräuche und Traditionen vertritt – Menschen gegenüber, die „nicht dazugehören“. Linksidentitär wird es besonders dann, wenn sie die eher bildungsfernen Unterschichten (mit deutschem Pass oder zumindest gesichertem Aufenthaltsstatus), deren Interessen sie vorgibt zu vertreten, den gebildeten „Lifestyle-Linken“ sowie „Zuwanderern“ (ohne dauerhaften/gesicherten Aufenthaltsstatus) gegenüberstellt. In der Tat ruft sie dazu auf, die Interessen der einheimischen Geringverdienenden als das wesentliche Grundproblem zu betrachten. Sie behauptet aber, dass dies nur möglich wäre, wenn die Einwanderung begrenzt werden würde, da Migration maßgeblich für das Lohndumping verantwortlich sei. Die Bedürfnisse und Kämpfe von MigrantInnen und Geflüchteten werden dadurch zu einem Sekundarproblem degradiert. Für Wagenknecht sind letztere scheinbar nur Zahlen, deren Anstieg eingeschränkt werden müsse, um die ihrer Meinung nach berechtigten Ängste vor der Immigration und den wirtschaftlichen Folgen für die deutsche Kerngemeinschaft zu minimieren. Die „Zuwanderer“ wären ohnehin in ihren Heimatländern besser aufgehoben, ohne dass Wagenknecht dabei auch nur den geringsten Anschein macht sich in diese Menschen hineinzuversetzen, um ihre konkreten Flucht- und Auswanderungsmotive besser verstehen zu können. Ihr Verständnis für besorgte BürgerInnen einerseits und die Empathielosigkeit gegenüber in Deutschland lebenden Geflüchteten und MigrantInnen (insbesondere denjenigen, die nicht aufgrund von politischer Verfolgung oder Kriegen geflohen sind) andererseits sind jedenfalls frappierend. Ferner ist es – selbst aus einer einigermaßen progressiven sozialdemokratischen Logik heraus – äußerst problematisch, dass sie denkt, es sei angemessener die Einwanderung einzudämmen und politisch praktikabler die Fluchtursachen zu bekämpfen als gesetzlich höhere Löhne flächendeckend durchzusetzen, von denen ja schließlich alle Arbeitenden in Deutschland bis zu einem gewissen Grad profitieren würden.

Die Beziehungen zwischen Klasse, Race und Geschlecht sind auf jeden Fall weitaus komplizierter, komplexer und dynamischer, als es eine einfache Gegenüberstellung darzulegen vermag, und hängen darüber hinaus zu einem entscheidenden Maße vom spezifischen räumlich-zeitlichen Kontext ab, in dem sie Verwendung finden. Es wäre daher vielleicht lehrreich einen historischen Exkurs vorzunehmen und einen vergleichenden Blick auf zwei der am meisten ausgebeuteten Gruppen der atlantischen Welt vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu werfen: die versklavten schwarzen ArbeiterInnen der amerikanischen Plantagenwirtschaft und die LohnarbeiterInnen der englischen Textilfabriken. Versklavte Menschen wurden zunächst zu Eigentum degradiert und der Verkauf an europäische SklavenhalterInnen setzte sie einer Ware gleich. Im Anschluss daran wurden sie zu elementaren Bestandteilen der Produktivkräfte von PlantagenbesitzerInnen. In Zeiten hohen Arbeitskräftebedarfs und geringen SklavInnennangebots war ihr Leben im monetären Sinne wertvoller als das vieler mittelloser, weißer LohnarbeiterInnen. Während Versklavte im 19. Jahrhundert oft versichert waren (ähnlich wie andere Kapitalanlagen) und genug zu essen hatten, um nicht zu verhungern, waren sie gesetzlich gesprochen tot, d.h. vollkommen rechtlos und daher horrender physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt, von der weiße ArbeiterInnen i.d.R. verschont blieben.

Im Gegensatz dazu war es nicht ungewöhnlich, dass die, auch als „LohnsklavInnen“ bezeichneten, ArbeiterInnen der frühen Industrialisierungsphase Großbritanniens, v.a. Frauen und Kinder, länger arbeiten mussten und auch häufiger an Unterernährung starben als ihre de facto und de jure versklavten amerikanischen Pendants jener Zeit. Gleichzeitig waren weiße, britische Männer (und in begrenztem Maße auch Frauen) rechtlich freie Personen, die – zumindest theoretisch – ihre Arbeitskraft verkaufen konnten, an wen sie wollten. Eines ist allerdings klar: Im 19. Jahrhundert wurden sowohl den meisten karibischen und US-amerikanischen Versklavten als auch den britischen LohnarbeiterInnen grundlegende Rechte verwehrt. Trotz offensichtlicher Unterschiede hatten versklavte Menschen im US-amerikanischen Süden und „LohnsklavInnen“ in den Baumwollspinnereien von Lancashire mehr gemeinsam als mit den einheimischen Eliten, weißen HerrInnen und Kapitalisten, die sie beherrschten, unterdrückten und, wie im Falle der Sklaventreiber, verkauften.

Zur gleichen Zeit gab es – obwohl die überwiegende Mehrheit der PlantagenbesitzerInnen weiß waren – auch freie PoC (gens de couleur libres) und schwarze Sklavenhalter in der Karibik, wie zum Beispiel im späten 18. Jahrhundert auf Saint-Domingue (heute Haiti). Westafrikanische Eliten erzielten ebenfalls hohe Gewinne durch den Verkauf versklavter Menschen an europäische Sklavenhändler. Unumstritten ist jedoch, dass Euro-AmerikanerInnen zu den unangefochtenen HerrscherInnen des globalen 19. Jahrhunderts avancierten und ganze Erdteile durch koloniale Unterwerfung gewaltsam ausbeuteten. Wichtige Teile der zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert akkumulierten euro-amerikanischen Reichtümer entsprangen der Anwendung roher Gewalt; der Versklavung von 12 Millionen AfrikanerInnen während des transatlantischen Sklavenhandels, der Ausrottung indigener Völker, der kolonialen Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen sowie aus neokolonialen Kriegen. Obwohl Regime-Change-Operationen in Ländern wie Afghanistan (seit 2001), Irak (2003-2011), Libyen (2011) und Mali (2013) die Staatsverschuldung in die Höhe trieben, generierten sie gleichzeitig enorme Profite für den militärisch-industriellen-Komplex, v.a. in den USA.

Parallel dazu machten asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Königshäuser, Adlige, Politiker, Kapitalisten und andere Eliten, einschließlich der „Kompradoren-Bourgeoisien“, zur selben Zeit ein Vermögen durch Steuererhebung, Handel, Produktion, den Verkauf von natürlichen Ressourcen und die Umwandlung von Menschen in Eigentum. Sie lebten ein bequemes und luxuriöses Leben auf Kosten ihrer überwiegend armen und unterdrückten Untertanen. Darüber sollte ferner nicht vergessen werden, dass die Kolonisierung und imperialistische Ausbeutung Indiens, Westasiens, Afrikas und Lateinamerikas auch durch die Zusammenarbeit mit den lokalen euro-amerikanischen KollaborateurInnen ermöglicht wurde.

Nun zurück zur Gegenwart. Heute besteht ein überproportional großer Anteil der „gering qualifizierten“ euro-amerikanischen ArbeiterInnen aus Nichtweißen und Geflüchteten. Sie arbeiten auf Baustellen, als zeitlich befristete landwirtschaftliche LohnarbeiterInnen, in Geschäften und Supermärkten, als Pflegekräfte, KrankenpflegerInnen, Reinigungskräfte, im Transportwesen und Lieferservice, in Fabriken und in der Fleisch- und Lagerindustrie. Sie bilden den Löwenanteil der „essentiellen Arbeitskräfte“. Obwohl sie unentbehrlich sind, so sind sie doch austauschbar und obendrein gehören sie zu den mit am schwersten von der grassierenden Covid-19-Pandemie Betroffenen. Viele dieser ArbeiterInnen, die in prekären Arbeitsverhältnissen schuften und trotz zunehmender Arbeitszeiten kaum über die Runden kommen, veranschaulichen die Überschneidungen von Klasse und Race/Herkunft.

Abgesehen von den Niedriglöhnen wird ein großer Anteil der „essentiellen Arbeitskräfte“ massiv überwacht und erniedrigt. So riskieren Amazon-Angestellte beispielsweise ihre Anstellung, wenn sie Pausen einlegen um auf die Toilette zu gehen, während migrantische Zeitarbeitskräfte, die in der Landwirtschaft oder der Fleischindustrie arbeiten, in besonders miserablen und überfüllten Wohnverhältnissen leben müssen. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass Amazon im Dezember 2020 einen Landkreis in Alabama (USA) dazu veranlasste, die Ampelschaltung vor ihrem Warenhaus so zu verändern, dass gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen nicht mehr genug Zeit hatten andere ArbeiterInnen anzuwerben, während sie an der Ampel warteten.

Selbst (oder sollte man nicht viel eher sagen gerade) in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland arbeiten über 20% der Beschäftigten im Niedriglohnsektor – davon etwa 40% MigrantInnen und PoC. „Hochqualifizierte“ ArbeitnehmerInnen sind allerdings ebenso von der allgegenwärtigen Sparpolitik betroffen, die im Laufe der letzten 40 Jahre immer stärker um sich gegriffen hat. Es ist keine Ausnahme, dass ein/e angehende/r PsychotherapeutIn nach sechs Jahren Studium, während der Ausbildung ca. 240€ im Monat verdient und Lehrbeauftragte an Universitäten und Hochschulen einen Stundenlohn von etwa 20€ und oftmals sogar nur 3€ beziehen (ohne Zulagen für Vor- und Nachbereitungen der Seminare). Auch in den USA sind außerordentliche Dozierende auf dem Vormarsch und machen ca. 75% der akademischen Belegschaft aus. Sie erhalten zwischen 20.000$ und 25.000$ pro Jahr und müssen ihr Einkommen nicht selten durch Nebentätigkeiten aufstocken, um überleben zu können.

Gleichzeitig gibt es sowohl im „Globalen Norden“ als auch im „Globalen Süden“ eine verhältnismäßig kleine, aber dennoch beachtliche Anzahl von gutsituierten PoC der Mittel- und Oberschicht. Ihnen geht es wirtschaftlich besser als großen Teilen der weißen ArbeiterInnenklasse Euro-Amerikas, die zunehmend der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, v.a. seitdem die industrielle Produktion verstärkt nach Asien ausgelagert wurde. Darüber hinaus zeigen der wirtschaftliche Aufstieg und die Kapitalinvestitionen Japans, Südkoreas, Chinas, Indiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens in den USA, Europa, Lateinamerika und Afrika, dass die Antagonismen zwischen der „entwickelten“ und der „sich entwickelnden“ Welt nur eine Seite der Medaille aufzuzeigen vermag. In diesem spezifischen Zusammenhang ist die Aussage des Historikers C.L.R. James aus dem Jahr 1938 erwähnenswert – auch wenn er m. E. das Ausmaß von Rassifizierungsprozessen wohl deutlich unterschätzte: „In der Politik ist die Racefrage der Klassenfrage untergeordnet, und den Imperialismus [ausschließlich] in Race-Begriffen zu denken, ist verhängnisvoll. Aber den Racefaktor als bloße Nebensächlichkeit zu vernachlässigen, ist ein Fehler, der nur weniger schwer wiegt, als ihn zum wesentlichen Moment zu erklären.“

Bis zu einem gewissen Grad werden als weiß gelesene Non-Citizens (d.h. „AusländerInnen“ oder geflüchtete Menschen ohne Bürgerrechte) aus den Peripherien (z.B. Osteuropa und Südamerika) stärker diskriminiert als nichtweiße StaatsbürgerInnen, einschließlich schwarzer und anderer nichtweißer Menschen mit Pässen aus den USA oder europäischen Staaten. Diese weiß gelesenen ImmigrantInnen sind mehr oder weniger Teil der überwiegend nichtweißen und immer weiter ansteigenden globalen Reservearmee illegalisierter Arbeitskräfte. Im Jahr 2020 betrug die Zahl der Zwangsvertriebenen weltweit über 80 Millionen Menschen. Im Westen schuften Geflüchtete beispielsweise auf Baustellen oder als ZwangsarbeiterInnen (z.B. in der Prostitution) und werden, falls ihnen der ohnehin schon dürftige Arbeitslohn nicht vorenthalten wird, meistens mit Hungerlöhnen abgespeist. Um ein anderes Beispiel zu nennen: in Frankreich vermieten einige von Lohnkürzungen betroffene Fahrradkuriere multinationaler Essenslieferketten wie Uber Eats und Deliveroo ihre Arbeits-App-Accounts an „illegale“ Geflüchtete, die nicht selten noch minderjährig sind. Im Gegenzug erhalten sie 30 bis 50% der auf Stücklohn beruhenden Lieferserviceerträge.

Auf der anderen Seite sind jene nichtweißen euro-amerikanischen Minderheiten, die ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besitzen – auch wenn sie wohlhabend und hochqualifiziert sind – derzeit immer öfter faschistischen Mobs, rassistischer Gewalt und Terrorismus ausgesetzt. Seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten, wurden sie zudem Opfer heftiger Polizeigewalt, systematischem Racial Profiling und struktureller Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt; eine Normalität, die weißen euro-amerikanischen Bevölkerungsgruppen heutzutage zumeist erspart bleibt. Tatsächlich laufen schwarze Menschen in den USA permanent Gefahr, von der Polizei verhaftet oder getötet zu werden, mehr oder weniger unabhängig von ihrem Status und Einkommen (wobei Geld und Macht sicherlich dazu beitragen, diese Gefahren zu mindern).

Die verschiedenen globalen Nationalbourgeoisien haben oft ähnliche Interessen. Abgesehen von den „ArbeiterInnenaristokratien“ gilt dies auch für weite Teile der internationalen ArbeiterInnenklasse. Daher ist Solidarität unter PoC kein Wert an sich, sondern hängt sehr stark vom jeweiligen Kontext ab. In der Tat sind, könnten und sollten weiße Menschen aus der ArbeiterInnenklasse als potentielle Verbündete für alle Arten von emanzipatorischen Bewegungen betrachtet werden, vorausgesetzt, sie sind nicht rassistisch, frauenfeindlich usw. und auch zur Kooperation bereit. Im Gegensatz dazu versteht es sich von selbst, dass nichtweiße KriegsverbrecherInnen, Diktatoren, autoritäre HerrscherInnen und kapitalistische MilliardärInnen – die sich allesamt auf Kosten ihrer ausgebeuteten und unterdrückten Bevölkerungen und ArbeiterInnen bereichern und ermächtigen – niemals Teil einer genuin progressiven Allianz sein können.

Kurz gesagt, das Verstehen der tiefgreifenden Beziehung zwischen Race, Klasse und Geschlecht ist ein kompliziertes Unterfangen. Obwohl diese Kategorien in einem Netz intersektionaler Beziehungen miteinander verwoben sind, sollten sie ebenso unabhängig voneinander, d.h. aus sich selbst heraus verstanden werden. Einerseits scheint es unwahrscheinlich, dass die Rassifizierung und strukturelle Diskriminierung schwarzer und anderer nichtweißer Menschen signifikant abnehmen wird, solange die gegenwärtigen kapitalistischen sozioökonomischen Strukturen und Herrschaftsverhältnisse bestehen bleiben. Andererseits führen Empowerment und die Verbesserung der Lebensbedingungen von PoC nicht automatisch zu weniger Rassismus, da rassistische Ideologien nicht auf rein materialistischer Basis erklärt werden können. Gleichzeitig können sich die unterprivilegierten Klassen in der „entwickelten Welt“ nicht nachhaltig emanzipieren, wenn die Mehrzahl der Menschen auf unserem Planeten in Fesseln lebt. Karl Marx brachte 1866 dieses dialektische Verhältnis von Klasse und Race prägnant auf den Punkt, als er schrieb: „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“

# Titelbild: Sowjetisch-chinesisches Propagandaplakat zur Stärkung der Kooperation der beiden Staaten, Ausschnitt

GET POST FORMAT

Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier, Teil 2 hier)

Was die Umweltkrise auf unserem Planeten angeht, hebt ihr die entscheidende Bedeutung von Murray Bookchins Konzept der Sozialen Ökologie hervor. Warum seht ihr darin einen Schlüssel zur Lösung unserer ökologischen Probleme?

Ich denke, dass die Soziale Ökologie so wichtig ist, weil sie wirklich den Kern trifft, um den es bei unserer ökologischen Krise und dem Klimawandel geht. Natürlich ist klar, dass eine handvoll Öl- und Gasfirmen den Klimawandel antreiben und dass Privateigentum, Privatisierung und Kapital im Allgemeinen das Problem sind. Aber ich denke, dass Soziale Ökologie hier wirklich an die Wurzeln geht: Weil Menschen eine hierarchische Perspektive auf die Phänomene in der Welt haben, werden auch ihre sozialen Beziehungen zueinander hierarchisch sein. Und das projizieren sie wiederum auf die nicht-menschliche Natur. Nicht-menschliche Natur ist übrigens ein sehr wichtiger Begriff. Denn auch wir Menschen sind Natur, wie Tiere und Organismen auch. Wie Bookchin sagt: Menschen sind die bewusste Natur selbst.

Wir müssen also herausfinden, was uns dazu bringt, unsere Umwelt so zu behandeln. Es ist nicht nur die Existenz von Kapital. Menschen haben das Land und nicht-menschliche Spezies schon vor dem Kapitalismus ausgebeutet. Und Soziale Ökologie hilft dabei, die eigentliche Ursache davon zu finden. Man will ja auch keine Ärztin, die nur Symptome behandelt, sondern eine, die die hinter den Symptomen steckende Krankheit behandelt. Und diese dahintersteckenden Krankheiten sind Herrschaft und die hierarchische Ordnung aller existierenden Phänomene. Und ihre Symptome sind Kapitalismus, Privateigentum, Rassismus, Gender-Hass, Krieg und all das.

Außerdem beinhaltet die Soziale Ökologie eine sehr starke Kritik an klassischem Umweltschutz. Denn Soziale Ökologie ist etwas anderes. Umweltschutz betrachtet nur Teilprobleme und betreibt keine Systemanalyse. Umweltschützer*innen sehen sich nur die Phänomene an und wollen natürlich etwas gegen sie tun. Aber sie verbinden sie nicht mit den Konzernen, dem Nationalstaat und der hierarchischen Mentalität und Epistemologie. Sie kommen somit nicht zu den zugrundeliegenden Ursachen und was dabei herauskommt sind »umweltfreundliche Unternehmen«.

Erst neulich hat Luisa Neubauer, eine FFF-Aktivistin, an einer Videokonferenz der NATO teilgenommen und ihnen erklärt, wie sie CO2-neutral werden können.

Ja, und dann haben wir ein grünes Militär (lacht). Lass uns dominieren und ausbeuten, aber lass es uns grün und umweltbewusst machen. Es ist genau diese Art von Wahnsinn! Der Direktor der CIA unter der Biden-Administration ist ein Schwarzer Mann. Als ob es das besser machen würde! Es nimmt wirklich einen Level von Absurdität an! Und sowas kann sogar eine Art ökofaschistische Pipeline sein, die zu einer Verstärkung von Sozialdarwinusmus führen kann, was wiederum bis zur Eugenik führen kann: »Hey, lass uns doch Bevölkerungskontrolle betreiben!« Davor und vor dem Umweltbewusstsein der Nationalstaaten und Regierungen müssen wir auf der Hut sein! Deshalb ist Soziale Ökologie so wichtig. Sie verbindet das Ökologische mit dem Politischen, dem Sozialen und dem Ökonomischen.

In der ersten Episode eures Podcasts 1000 Cuts sprecht ihr von der Hyper-Individualisitischen Ideologie in unserer Gesellschaft und überall um uns herum. Wo siehst du Möglichkeiten, Menschen aus ihrer Atomisierung herauszuholen?

Ich denke, dass diese Art von Hyper-Individualismus und Unglücklichsein tatsächlich ein logisches Nebenprodukt des Lebens in einer hierarchischen Klassen- und Konsumgesellschaft ist. Aber es liegt eine große Leere darin, sich nur auf sich selbst zu fokussieren. In Wahrheit kommt so viel unserer Freude von Dingen außerhalb von uns selbst!

Und manchmal braucht es echte Tragödien wie den Tod von George Floyd, möge er in Liebe ruhen, um Menschen aufzuwecken und zu radikalisieren. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, zum Beispiel in Korea und Deutschland. So viele Leute mit so verschiedenen Hintergründen unterstützen #BlackLivesMatter! Das macht mich wirklich emotional und es zeigt die tiefsitzende Solidarität in Menschen, die unter all diesen, durch unsere aktuelle Gesellschaft verursachten, Lagen von Verzweiflung begraben ist. Aber wir sind dazu fähig, frei zu sein!

Und dabei geht es nicht nur darum, abstrakte gesellschaftliche Herrschaft und Unterdrückung zu überwinden. Sondern darum, frei zu sein von Mangel an materiellen Notwendigkeiten. Einen großen Teil unseres Lebens im Kapitalismus verbringen wir damit, für Unternehmen zu schuften, ohne dass sich unsere Arbeit verbunden zu etwas sinnvollem, lebensbejahenden anfühlt. Das ist was Marx Entfremdung oder entfremdete Arbeit nennt. Und das alles, um erfundenes Zeug namens Geld zu bekommen und sich davon die Erfüllung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse, wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf zu erkaufen. Stattdessen könnten wir in einer Gesellschaft leben, die den Menschen zur Verfügung stellt, was sie zum Leben brauchen: Nahrung, Kleidung, eine Unterkunft und so weiter. Den Menschen das zu geben, würde bedeuten, dass die Gemeinschaft eine echte Verantwortung gegenüber dem Individuum hätte. Und ich denke, wir haben diese Verantwortung und dieses Verständnis verloren.

Tragödien wie beispielsweise die Corona-Pandemie haben den Menschen das eklatante Versagen des Nationalstaates gezeigt, insbesondere hier in den USA. Wir gehen eben immer voran! (lacht). Und ich denke, dass der Anarchismus, was das angeht bestätigt wurde. Denn er zeigt diese Versäumnisse des Nationalstaates und des bürokratischen Systems mit allen seinen Verwaltungswegen, Befehlsketten, Ämtern und Behörden auf. Anarchist*innen haben nichts gegen Struktur und Ordnung. Aber Bürokratie macht Dinge langsam, verkompliziert sie und entfremdet Menschen von der Entscheidungsfindung.

Auch wenn es manchmal sehr gute Gründe gibt, das teilweise zu ignorieren, schränkt die Pandemie die Linke zur Zeit darin ein, was sie im öffentlichen Raum tun kann. Aber was derzeit alle machen können, ist das persönliche Umfeld zu radikalisieren. Was hälst du von diesem Ansatz als politisches Instrument?

Ich denke, er ist zentral, aber kann auch hart sein. Die meisten Menschen, auch unter den geliebten Menschen, die einem nahestehen, sind keine Marxist*innen, Sozialist*innen oder Anarchist*innen und betreiben keine systemische Analyse. Und auch das ist ein Nebenprodukt des Lebens in einer hierarchischen Klassengesellschaft. Wenn die Menschen eine derartige Analyse betreiben würden, würden sie sehen, dass die Umwelt nicht immer so gewesen ist, sondern, dass sie eine in der Menschheitsgeschichte relativ neue Konstruktion ist. Und dann würden sie nicht mehr gehorchen und den Regeln folgen. Sie wüssten dann, dass das alles Bullshit ist und dass wir alles abreißen und neue Systeme aufbauen können, die effizienter, funktionaler, ethischer und humaner sind.

Deshalb wird das kapitalistische System immer ein stark individualistisches Denken fördern, das sich auf Persönlichkeiten fokussiert, anstatt ein systemisches Denken zu fördern, dass sich auf Institutionen und Strukturen konzentriert. Man sieht das gut, wenn man sich die Morde an Mr. Floyd und an Menschen vor ihm wie Ahmaud Arbery oder Breonna Taylor sowie die globale Institution der Polizei ansieht. Es zeigt einem, dass die Polizei selbst das Problem ist und nicht die Individuen, aus denen sie besteht. Aber wenn man solche Unterhaltungen mit Menschen im eigenen Umfeld führt, dann bekommt man Antworten wie: »Naja, aber ich kenne diese eine Person und er ist ein Cop und er ist wirklich ein guter Mensch.« Aber es ist mir scheißegal, ob dein Onkel ein guter Mensch mit Dienstmarke ist. Das ändert nichts an dem Fakt, dass Cop-Familien wesentlich höhere Raten von häuslicher Gewalt und Drogensucht haben oder dass Polizist*innen regelmäßig Menschen vergewaltigen. Und die Institution der Polizei ist noch nicht einmal effizient! Wir haben hier eine Chance von 40 Prozent, dass ein Mordfall ungelöst bleibt. Die Institution funktioniert einfach nicht.

Aber man muss diese Gespräche trotzdem führen, denn man weiß nie, was bei Menschen hängen bleibt. Freunde von mir, die nichts gegen den Kapitalismus hatten, die liberale oder sogar teilweise konservative Ansichten hatten, haben wirklich angefangen, sich zu ändern und Dinge zu hinterfragen. Warum kommen zum Beispiel prominente und reiche Menschen an Corona-Impfungen während normale, hart arbeitende und gute Menschen aus der Arbeiter*innenklasse keine bekommen, sondern stattdessen in Scharen sterben? Sie beginnen also die Hierarchien und Klassenteilung zu hinterfragen. Andere Menschen mit denen wir reden werden dickköpfig sein. Aber einige erkennen, sobald sie die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten einmal sehen, dass wahr ist, was wir sagen.

Ich beobachte, wie Menschen sich radikalisieren und ich versuche, einige meiner Freund*innen zu radikalisieren. Zum Beispiel versuche ich eine mexikanische Freundin dazu zu bringen, etwas von den Zapatistas aus Chiapas zu lesen! Sie sind, wie die Menschen in Rojava, ein Leuchtfeuer für die Welt. Ich denke also, dass man das Persönliche politisch machen muss, insbesondere als Schwarze oder BIPoC Person. Denn die Menschen am unteren Ende der rassistischen globalen Hierarchie werden die ersten sein, die den Schmerz spüren und die leiden, wenn es um Rassismus, um Sexismus, um Klimawandel und allgemein um die Art geht, in der das Kapital und der Neoliberalismus unsere Leben misshandeln. Wir müssen diese Gespräche also definitiv in unseren Communities führen.

Dasselbe gilt aber auch für weiße Menschen! Als die dominante Kraft weltweit, die vom globalen Projekt der weißen Vorherrschaft proftitiert, müssen auch sie diese Unterhaltungen führen. Sie müssen sich dazu entscheiden, diese schwierigen Unterhaltungen am Esstisch zu führen: »Opa, es ist einfach keine gute Idee, rassistisch zu sein, das bringt’s einfach nicht!« Das gleiche gilt auch für mich als Schwarzen Mann. Ich muss mich anders verhalten und ich muss mit anderen Männern darüber sprechen, Misogynie, Homophobie und Transphobie zu beenden. Also ja, wir müssen wirklich anfangen das Persönliche zum Politischen zu machen.

Gibt es noch etwas, das du gerne hinzufügen oder hervorheben möchtest?

Wir haben ja schon über vieles gesprochen, aber um das Interview positiv zu beenden, würde ich gerne hinzufügen: Erlaubt euch nicht, in Verzeiflung, Depressionen oder Angst zu versinken. Macht wirklich alles, das euch im aktuellen Moment Freude, Hoffnung und Positivität bringt. Dann lasst euch davon antreiben, rafft euch auf, geht raus und organisiert euch mit den Menschen in eurer Community! Denn, um den großen Mr. Rogers zu zitieren: »Sucht immer nach den Helfer*innen!« Die Dinge können düster und dunkel erscheinen. Aber sucht immer nach den Helfer*innen und versucht selbst welche zu werden!

Und eine weitere Sache, die ich den Menschen gerne sagen würde ist: Habt keine Angst davor, euch gegenseitig zu helfen oder Hilfe anzunehmen! Erst kürzlich haben meine Familie und ich sehr von gegenseitiger Hilfe profitiert. Wir hatten mit dem Kälteeinbruch zu kämpfen und einer meiner Genossen hat uns mit Wasser zum Trinken oder zum Spülen der Toilette ausgeholfen. Ein anderes Beispiel ist eine Mutual-Aid-Gruppe hier in Houston, die uns ein Rohrstück organisiert hat, das schwierig zu bekommen war, das wir aber gebraucht haben, da eines unserer Rohre geplatzt war. Also genau sowas! Habt keine Angst davor, in die Community zu gehen und Hilfe anzubieten und anzunehmen. Habt keine Angst davor, euch mit Leuten, die anders sind als ihr, zu organisieren und gemeinsam Strategien zu entwickeln, um uns verdammt nochmal endlich zu befreien! Tut also alles, um euch mit Freude zu wappnen. Dann nutzt diese Freude, eure eigene Stärke und Autonomie und verändert euer Leben und das Leben der Menschen um euch herum.

Ich bin wirklich froh, dass ich diese Frage gestellt habe. Ich denke, das ist eine sehr schöne Antwort. Meine letzte Frage ist: Was können wir hier tun, um euren Kampf zu unterstützen?

Dinge wie dieses Interview unterstützen uns wirklich. Sprecht mit uns, teilt unser Bildungsmaterial. Es ist auch immer gut uns einzuladen, um über Politik und die Frage, was wir tun sollten, zu sprechen. Außerdem ist es möglich Zeit oder Ressourcen für die Dinge, die wir hier machen zu spenden. Und wir haben Twitter, Insta und einen Podcast, der wirklich zugänglich ist.

Aber das Wichtigste, was die deutsche Linke tun kann ist, diese Ideen, Strategien und Ressourcen zu nehmen und sie an ihren eigenen Kontext anzupassen. Fangt an, den Scheiß dort anzugehen, wo ihr eben seid, in Berlin, Köln oder wo auch immer. Denn es geht nicht darum, dass BSA der Shit ist. Es geht darum, dass die Linke der Shit ist, sodass wir alle befreit werden können. Genau darum geht’s am Ende!

GET POST FORMAT

Seit etwas mehr als zwei Jahren existieren die Black Socialists in America (BSA) und machen mit einer klassenorientierten, strömungsübergreifenden Propaganda von sich reden. Unser Autor Paul Sommer hat in einem ausführlichen Gespräch mit Demetrius, Mitlied der BSA und Co-Host des Podcasts „1000 cuts“, über die Lage in den USA, die Notwendigkeit einer Schwarzen Organisierung und die Perspektiven der Revolutionär:innen im Herz der Bestie gesprochen. (Teil 2 von 3, Teil 1 findet ihr hier)

Erst kürzlich habt ihr umfangreiche Kernprinzipien veröffentlicht, die euren politischen Standpunkt und euren Aktionsplan beschreiben. Was waren eure Gründe dafür?

Eine Organisation wie die unsere muss sich im Klaren über ihre Überzeugungen, ihre Ideologie und ihre Praxis sein. Aber viele linke Gruppen sind in dieser Hinsicht auf eine gefährliche Art sehr vage. Sie haben Mitglieder mit Ideologien, die letztlich im Widerspruch zueinander stehen. Überzeugte Campist*innen (Antiimperialist:innen, die zu Fans jener Staaten werden, die gegen die USA stehen, etwa Russland, Iran, etc., d.Red.) passen nicht besonders gut zu internationalistischen oder interkommunalistischen Tendenzen in der selben Organisation.

Ein weiterer Grund ist, dass wir viel politische Bildung betreiben. Und die Überzeugungen vieler Menschen sind nicht schlüssig, sie sind einfach von verschiedenen Personen aufgeschnapptes Geschwafel. Deshalb ist es uns so wichtig, dass wir so detaillierte Kernprinzipien haben, die auch auf Nuancen und Details eingehen. Denn so wissen die Leute wirklich, was unsere Theorie und vor allem unsere Praxis ist. Denn viele Linke sind vage und opportunistisch und wollen nur Leute anwerben, egal wer kommt. Aber darum geht es uns nicht. Wir sind keine Massenpartei, sondern eher eine Katalysator-Organisation. Wir sind da, um Leute zu unterstützen und sie dazu anzuspornen, selbst loszugehen und vor Ort auf direktdemokratische und autonome Art auf einen Systemwandel hinzuarbeiten. Man muss ehrlich sein in Bezug auf die eigenen Überzeugungen. Und auch wenn das beängstigend sein kann und verwundbar macht, wird es Leute geben, die einen respektieren, weil sie wissen wer man ist und weil man zu den eigenen Prinzipien steht. Man ist nicht Wischiwaschi.

Das erste, was ihr in euren Prinzipien schreibt, ist, dass ihr Wissenschaftliche Sozialist*innen seid. Warum sind euch die Prinzipien und Methoden des Wissenschaftlichen Sozialismus so wichtig?

Als ich gerade angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, hat ein Genosse zu mir gesagt, dass Wissenschaftlicher Sozialismus den Unterschied ausmacht zwischen Linken, die etwas auf die Reihe bekommen und denen, die es nicht tun. Er war da sehr direkt, aber es ist die Wahrheit. Eine zutiefst von wissenschaftlicher Methodik geprägte Ideologie ist der einzig richtige Weg. Dabei dürfen wir jedoch nicht in Szientismus verfallen, also die Ansicht, dass menschliches Wissen ausschließlich durch wissenschaftliche Methodik erlangt werden kann. Wir müssen bei unserer Analyse von Systemen und Strukturen der Herrschaft und Ausbeutung materiell und empirisch sein. In Bezug darauf, wie unsere Welt zustande gekommen ist und wie sie aussieht, können wir uns nicht in idealistische Phantasien zurückziehen.

Außerdem ist es wichtig, dass unsere sozialistische Theorie und Praxis auf Geschichte, Anthropologie, Psychologie, Physik, Biologie und so weiter basiert. Wir können nicht wie rechte Libertäre sein, die den Markt auf antike, vorschriftliche Völker projizieren. Als ob es den Markt schon immer gegeben hätte. In seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre sagt der große David Graeber, möge er in Liebe ruhen: »Das ist Bullshit!« Es ist also sehr wichtig, von diesen wissenschaftlichen Forschungsfeldern auszugehen und zu versuchen, empirisch zu sein.

Schauen wir zum Beispiel die Propaganda gegen die menschliche Natur an, der wir in der hierarchischen Klassengesellschaft unterworfen sind. Menschen seien von Natur aus konkurrenzorientiert und gewalttätig und könnten niemals sich selbst überlassen werden, weil das nur Chaos gäbe. Wenn man sich aber die tatsächlichen soziologischen und anthropolgischen Belege ansieht, wie Kropotkin vor langer Zeit oder Rutger Bregman in seinem jüngsten Buch Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit, dann sind Menschen sehr viel besser als behauptet. Rebecca Solnit hat in ihrem Buch A Paradise built in Hell darüber gesprochen, wie Menschen in Katastrophenszenarien zusammenkommen und kooperieren. Und ich habe das hier in Houston, Texas während dem Hurrikan oder auch dem jüngsten Kälteeinbruch gesehen: So viel gegenseitige Hilfe!

Außerdem gibt es noch das Buch Tribe von Sebastian Junger, in dem er aufzeigt, wie Menschen evolutionär dazu gemacht sind, in Gruppen zu leben, in einer Gemeinschaft zu sein. Diese Propaganda, dass Menschen Monster sind und bla bla bla, die aus der sozialdarwinistisch beeinflussten Wissenschaft kommt, rechtfertigt im Grunde nur Hierarchien und Paternalismus. Die These von denen ist: Weil ihr Idioten euch nicht selbst regieren könnt, braucht ihr eine Daddy-Figur, die euch sagt, was zu tun ist.

Und schließlich hilft uns eine wissenschaftlich-sozialistische Perspektive auch dabei, unsere jetzigen Verhältnisse zu betrachten und zu sehen, dass es diese ganzen Strukturen und Mechanismen nicht immer gegeben hat. Und eben weil es sie in der Vergangenheit nicht immer gegeben hat, können wir dafür sorgen, dass diese Scheiße auch in Zukunft wieder verschwindet.

Später fügt ihr hinzu, dass ihr euch keinen, wie ihr es nennt, »Markennamen« wie Anarchist*in,Trotzkist*in oder Marxist*in-Leninist*in geben wollt. Was waren eure Gedanken dahinter?

Ich denke, dass es für uns sehr wichtig ist, nicht sektiererisch zu sein. Wenn man sich diese gesamte Marxismus-gegen-Anarchismus-Debatte ansieht, die bis heute weitergeht, dann muss man manchmal einfach auf diese Bezeichnungen verzichten, weil mit ihnen so viel Geschichte und Ballast verbunden ist. Man würde nur den gleichen alten Kampf wiederholen und zur Zeit der ersten Internationalen und dem Streit zwischen Bakunin und Marx zurückgehen. Wenn man aber wirklich auf die Ideologien achtet, stellt man fest, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als manche denken. Dieser ganze Streit und das Drama führen zu nichts. Es gibt also Momente, in denen wir auf solche Labels und Identitäten verzichten müssen. Auch wenn wir als Organisation fest an Identität, speziell als Schwarze Menschen, glauben. Bezeichnungen haben natürlich ihren Sinn. Dinge brauchen Namen, um sie zu verstehen und zu kategorisieren. Aber gleichzeitig verfängt man sich schnell darin und schaut nicht mehr empirisch, wie die Dinge konkret funktionieren. Aber wir müssen empirisch sein. Deshalb ist es für uns so wichtig, nicht sektiererisch zu sein. Es wird sowieso zum Vorschein kommen, wofür wir stehen

Manche Leute sind auch überrascht, wenn wir etwas von Anarchist*innen aus Japan posten. Oder wenn wir nicht nur Zeug von Marx, sondern auch von Bakunin und Kropotkin posten. Aber wir sind von Bookchin geprägt und er ist von Marx und Kropotkin geprägt. Es ist also wichtig, flexibel zu sein. Denn unabhängig von den jeweiligen Tendenzen vieler Denker*innen gibt es immer einige Stücke Wissen und Wahrheit, die man aus ihrer Analyse, Geschichte und Praxis ziehen kann. Also lest Marx! Aber lest auch Kropotkin und Kuwasi Balagoon oder Ashanti Alston. Lest sie alle! Seid selbst dazu bereit, Werke von Autoritären zu lesen! Lest Lenin, lest Mao! Aber immer mit einem kritischen Auge.

Ihr hebt auch die Wichtigkeit von dezentralen und direkt-demokratischen Strukturen hervor, um, wie ihr es nennt »echte Demokratie« aufzubauen. Eure Strategie dazu hat drei Pfeiler: Teilnahme am politischen Prozess, direkte Aktion sowie den Aufbau von Dual Power. Kannst du erklären, warum ihr diese drei gewählt habt und warum sie so wichtig sind?

Ich denke, es ist mittlerweile Common-Sense, dass es wichtig ist, sich in den politischen Prozess einzubringen und die eigene Umgebung zu verändern. Und ich meine damit nicht, sich auf nationaler Ebene zu engagieren, sondern auf lokaler Ebene, wo man eben ist. Aber selbstverständlich haben wir auch sehr ernste Bedenken in Bezug auf die repräsentative Demokratie, denn es handelt sich dabei nicht um echte Demokratie. Echte Demokratie ist direkte, wirklich kommunale Konsensbildung.

Das Zweite ist die direkte Aktion. Dazu gehören Proteste, Demonstrationen und Streiks. Wobei Streiks wiederum mit Dual Power zusammenhängen. Denn beim Durchführen bestimmter Streiks oder sogar eines Generalstreiks ist es gut, wenn man bereits eine alternative Infrastruktur aufgebaut hat, auf die sich die Streikenden verlassen können. Und auch wenn die Linke ernsthafte Kritikpunkte an Gewerkschaften hat, müssen die Menschen sich in diese Organisationen der direkten Aktion einbringen.

Und dann Dual Power: Das ist die Schaffung von neuer Infrastruktur und neuen Systemen, die nach anderen Logiken als denen des Staates oder des Kapitals funktionieren. Die nicht hierarchisch sind und wirklich eine Gegenmacht zu Staat und Kapital aufbauen können. Ich rede hier von Worker-Self-Directed-Enterprises und Arbeiter*innen-Kooperativen, Community-Land-Trusts und solchen Dingen. Es ist auch wichtig, andere, nicht-hierarchische Beziehungen zueinander zu haben, die nicht auf rassistischer Engstirnigkeit, Genderhass, Hass auf andere Religionen oder Ähnlichem basieren. Unsere Zusammenarbeit mit Cooperation Jackson ist ein gutes Beispiel für den Aufbau von Dual Power. Genau wie sie kann man dort aufstehen, wo man lebt und auf tatsächliche Systemveränderung drängen.

Ich denke, dass hier auch Selbstverteidigung ein wichtiger Aspekt ist. Öcalan sagt dazu beispielsweise, dass diese Verteidigung nicht nur militärisch sondern auch idelologisch wichtig ist.

Ja, obwohl das Projekt in Rojava nicht perfekt ist, kein Projekt kann unter diesen Bedingungen perfekt sein, ist es ein Leuchtfeuer für die ganze Welt. Es ist ein multi-ethnisches, multi-nationales und internationalistisches Projekt. Es ist offen und Menschen können sich in die Gemeinschaft einbringen. Aber für sie ist es auch zentral, die Möglichkeiten zu haben, sich und ihr wunderbares Projekt zu verteidigen. Ich denke also, dass Rojava ein großartiges Beispiel dafür ist. Lang lebe Rojava!

Ihr betont wiederholt, dass sich diese direkt-demokratischen und nicht-hierarchischen Prinzipien auch in eurer Organisation wiederspiegeln müssen. Aus diesem Grund lehnt ihr charismatische Führungsfiguren und Avantgardismus ab. Es wird aber immer Menschen geben, die sich mehr in den Kampf einbringen als andere. Und Anarchist*innen neigen historisch dazu, in diesem Punkt sowie im Hinblick auf das Übernehmen von Macht naiv zu sein. Ein gutes Beispiel ist hier die Spanische Revolution. Was ist in Bezug auf diese Kritikpunkte euer Ansatz?

Ich denke, dass es aus diesen Gründen wichtig ist, Anararchist*innen zu haben, die auf die Geschichte schauen und versuchen, daraus zu lernen. Menschen wie Bookchin kritisieren genau das und versuchen aus den Niederlagen unserer anarchistischen Vorgänger*innen zu lernen.

Wir Anarchist*innen und staatskritische Linke, ich spreche hier für mich und nicht für die ganze Organisation, müssen einen besseren Diskurs über den Machtbegriff führen. Was meinen wir, wenn wir Macht sagen? Wie sieht sie aus? Anarchist*innen sind nicht daran interessiert, die Macht dort zu ergreifen, wo sie aktuell ist, sondern fordern sie heraus. Wir wollen eine neue Form der Macht kultivieren, die von unten nach oben funktioniert. Eine Macht, die direkt von der Arbeiterklasse, den Armen, den Unterdrücken und den historisch marginalisierten Gruppen dieser Welt ausgeht. Wohingegen Autoritäre versuchen, die bereits existierenden, hierarchischen Strukturen und Herrschaftssysteme an sich zu reißen, um sie für ihre vermeintlich »befreienden« Ziele zu nutzen. Diejenigen, die in der Vergangenheit versucht haben, die Macht an der Spitze zu kontrollieren oder zu zügeln, wurden letztendlich von der Logik dieser Macht absorbiert, transformiert oder zerstört. Daher liegt der Schlüssel für uns darin, eine neue Macht an der Basis aufzubauen, die die Logik der Macht von Staat und Kapital untergräbt. Wir wollen diese Strukturen durch den Aufbau von Macht von unten überflüssig machen, die auf direkter Demokratie anstelle von Hierarchie, Bürokratie und Autoritarismus basiert.

Und in Bezug auf den ersten Punkt müssen wir die Welt, in der wir leben wollen, bereits andeuten. Wir wollen eine nicht-hierarchische Welt. Wir müssen diesen Samen also bereits in unseren Bewegungen und Organisationen pflanzen und keimen lassen. Deshalb brauchen wir keine Parteien, sondern Kollektive, die direktdemokratisch und autonom sind und versuchen, die Menschen zu ermutigen statt sie zu entmutigen.

Ein wichtiger Grund für uns, mit diesem Paternalismus zu brechen, liegt darin, dass wir uns die Geschichte der Black Panther Party ansehen. Und Figuren wie Huey P. Newton, David Hilliard oder Fred Hampton, so brilliant sie waren, hatten einfach zu viel Macht und Autorität in der Partei. Wenn man sich die Analysen von Personen wie Lorenzo Ervin oder Russel Maroon Shoatz ansieht, dann argumentieren sie, dass eben diese hierarchische Struktur der Black Panther Party das war, was sie für Unterwanderung und Zerschlagung durch den Staat anfällig gemacht hat. Auch Donald Cox hat Held*innenverehrung, Paternalismus und dem Warten auf Erlöserfiguren sehr gut analysiert. Wir müssen einsehen, dass diese Herangehensweise es einfach nicht bringt. Wir sollten in unseren Bewegungen nicht die selben Systeme der Herrschaft replizieren, die wir bekämpfen.

Ich spreche hier aus einer spezifisch Schwarzen und New-Afrikan Perspektive. Schaut euch den revolutionären Nationalismus und Pan-Afrikaische Revolutionär*innen wie Thomas Sankara oder Kwame Nkrumah an. Viele von ihnen waren brilliant, aber eben auch autoritär und sie waren auf verschiedene Arten repressiv. Trotzdem werden sie in der revolutionären Schwarzen Linken verehrt und idealisiert, ohne auf die von ihnen unterstützte staatliche Repression zu schauen. Das selbe gilt für Kuba, Che und Fidel, so großartig sie auch waren. Ich denke also, dass es wichtig ist, diesen paternalistischen Einstellungen zu brechen und zu zeigen, dass die wahren Held*innen nicht diese revolutionären Figuren sondern die Menschen vor Ort sind, die die tägliche Organisationsarbeit leisten. Diejenigen, die man nicht sieht und deren Namen man nicht hört. Und sie wollen noch nicht einmal, dass sie gesehen und ihre Namen gehört werden. Denn was viel wichtiger ist ist die Arbeit, die uns dabei hilft, die Freiheit zu gewinnen.

# Titelbild: Arbeiterkooperative Cooperation Jackson

Artikel

12 ... 24 von 1360 gefundene Artikel

Die Corona-Pandemie hat auch Gewinner. Biontech zum Beispiel, das Unternehmen, das einen der Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt hat. Die […]

Pflegebonus und Impfpflicht, Zuckerbrot und Peitsch – die Bundesregierung nimmt Pfleger:innen als Adressat:innen ihrer Politik ins Visier. Wir haben mit […]

Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag […]

Zum Abschied wünschte sich Angela Merkel einen Schlager aus dem Osten – und ein letztes Mal führten Kanzlerin, mediale Öffentlichkeit […]

Anetta Kahane ist bei den Sicherheitskräften des Landes ein gern gesehener Gast. So referierte sie Mitte November bei der Herbsttagung […]

In der Schweiz beginnt ein großer politischer Prozess. Andrea, Kommunistin, Mitglied des Revolutionären Aufbaus Schweiz und Sekretärin der Roten Hilfe […]

Nach den erneuten wilden Streiks beim Lieferdienst Gorillas Anfang Oktober, folgte eine Welle der Entlassungen. Diese werden mittlerweile größtenteils als […]

Mit der Rechtsstaatlichkeit ist das so eine Sache. Meistens wird sie bemüht, wenn irgendwo eine Mülltonne brennt oder sonst irgend […]

Betriebsratswahlen 2022. Warum sie gerade jetzt wichtig sind. (Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil […]

„No Pasaran“ steht auf dem Banner, welches über der Tür an der Glasfassade hängt. Ca. 40 Menschen stehen herum und […]

(Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 4) Nur wer nichts macht, macht auch keine […]

Schon als sich vor einiger Zeit abzeichnete, dass die Lokführergewerkschaft GDL demnächst zu einem Streik aufrufen würde, hätte man drauf […]