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Zu dem aktuellen Krieg Russlands gegen den NATO-Verbündeten Ukraine liest und hört man überall, dass die „diplomatischen Bemühungen“ gescheitert seien, wobei die Kriegsparteien – und machen wir uns nichts vor, Deutschland ist in diesem Konflikt faktisch eine Kriegspartei – sich gegenseitig die Schuld dafür geben. Viele Menschen, die prinzipiell gegen Krieg sind, hoffen und appellieren an die Geschicke der Diplomat:innen. Sie wollen nicht glauben, dass es für die zwischenstaatlichen Probleme keine „diplomatische Lösung“ gab. Warum wurde nicht weiter verhandelt? Hätte man nicht irgendwelche Zugeständnisse machen können?

Auf dem diplomatischen Parkett treffen sich Vertreter:innen von Staaten, deren ökonomisches und militärisches Potential sehr unterschiedlich ist. Sie behandeln sich trotz dieser Machtunterschiede formell als gleichberechtigt, tauschen Höflichkeiten aus und versichern sich gegenseitig zu, ihre Souveränität anzuerkennen. Es sind trotzdem die stärkeren Verhandlungspartner, die am Ende ihren Willen durchsetzen– das können sie, weil sie über Druckmittel ökonomischer und militärischer Art verfügen.

Der Gegenstand des diplomatischen Konflikts zwischen Russland und der NATO, beziehungsweise der EU, war aber eben genau die Frage, wie weit die westlichen Mächte ihren Druck auf Russlands Nachbarn erhöhen und dadurch Russlands Position schwächen dürfen, sprich wer seinen Willen durchsetzen kann. Dadurch, dass die Regierungen vieler Länder östlich der NATO Russland als Gefahr und den Westen als Verbündeten sehen, stieg in der jüngeren Vergangenheit ihre Bereitschaft Reformen – mögen sie noch so schmerzhaft für die Bevölkerung sein – durchzuführen. Russland hingegen spekulierte auf die dadurch wachsende Unzufriedenheit und setzte auf eine zunehmende Destabilisierung. Damit gleicht die Strategie derjenigen des Westens, der das selbe mit jeder ihm nicht genehmen Regierung in der Region macht. Als unzulässige Einmischung angeprangert werden üblicherweise allerdings nur russische Einmischungen.

Russland wiederum eskaliert aktuell in der Ukraine die Situation auf militärischer Ebene, darauf spekulierend, dass sich niemand mit seinem Atompotential anlegen wird. Zumindest was einen direkten, zwischenstaatlichen Krieg angeht, trifft dies auch auf die NATO zu. Es zum einen genug ökonomische Hebel zur Schädigung der russischen Ökonomie und zum anderen die kampfbereiten ukrainischen Kräfte, die beide zusammen ein Eingreifen der NATO nicht nötig machen.

Währen der dem Krieg vorangegangenen Verhandlungen zielte Russland darauf ab, den von der NATO angestoßenen Prozess der Neutralisierung des russischen militärischen Potenzials nicht nur zu stoppen, sondern am besten rückgängig zu machen. Mit der schwächeren Ukraine direkt wollte Russland gar nicht erst verhandeln und verwies wiederum Kiew auf die Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen, mit den Vertreter:innen der „Volksrepubliken“ zu verhandeln. Die abtrünnigen Republiken als gleichberechtigten Verhandlungspartner auf dem diplomatischen Parkett anzuerkennen war wiederum für die Ukraine unmöglich, ohne damit den Souveränitätsanspruch auf das eigene Staatsgebiet aufzugeben.

In den vergangenen acht Jahren, war die Ukraine nach Russland der Staat mit den zweithöchsten Militärausgaben im ganzen postsowjetischen Raum. Die westliche Unterstützung für den Aufbau der ukrainische Streitkräfte führte dazu, dass die russische Verhandlungsposition mit der Zeit zunehmend schwächer wurde. Gleichzeitig sah der Westen natürlich auch keinen Grund, die eigenen Fortschritte beim Einhegen der russischen Ansprüche rückgängig zu machen – denn dies hätte ja gerade die eigene Verhandlungsposition geschwächt. Der Westen hat ja nicht jahrzehntelang an der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entmachtung Russlands gearbeitet, um dann nachzugeben.

Die Ansage westlicher Politiker, Russland sei eine „Regionalmacht“ hält die russische Führung für eine Fehleinschätzung und will qua Gebrauch des eigenen Militärpotenzials, sowie Drucks via Rohstofflieferungen zeigen, dass die Verhandlungspartner es mit einer Weltmacht zu tun haben. Diese grundlegenden gegensätzlichen Interessen trägt Russland nun in der Ukraine aus. Der Westen ist scheinbar bereit, die Kosten der ukrainischen Kriegsführung zu tragen, die Zerstörung von Streitkräften und Infrastruktur der Ukraine durch die russische Invasion treibt diese Kosten in der Höhe. Da aber die ukrainische Staatlichkeit scheinbar doch nicht so fragil ist, wie von Putin erhofft, geht der Westen das Risiko ein, finanziert und rüstet die Ukraine weiter auf, ohne direkt in die Kämpfe einzugreifen. Die Sanktionen, die die russische Wirtschaft ruinieren und das Land in die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit bringen und die Bevölkerung auf Dauer vor eine Versorgungskrise stellen, sind ja auch dazu da, Russland zu Nachgiebigkeit bei Verhandlungen zu bewegen. Hingegen kämen schon direkte Verhandlungen mit Selenskyj für Putin einem Nachgeben gleich und um ihn dazu zu zwingen scheuen westliche Politiker keine Zumutungen für die eigene Bevölkerung, die durch Sanktionen mit hohen Preisen konfrontiert wird.

Kriegerische Handlungen bilden also keinen Gegensatz zu diplomatischen Verhandlung. Die Diplomatie verhindert keineswegs, dass das Gebiet und die Bevölkerung der Ukraine als Material dient, im Konflikt zwischen den führenden kapitalistischen Staaten und den russischen Ambitionen einer dieser führenden Staaten zu werden. Illusionen über den friedlichen Charakter der Austausch von Drohungen sollte sich die Antikriegsbewegung nicht machen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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Die Corona-Pandemie hat auch Gewinner. Biontech zum Beispiel, das Unternehmen, das einen der Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt hat. Die Eigentümer:innen sind so zu Milliardär:innen geworden. Neben der Formel für den Impfstoff greift Biontech für‘s Kohle scheffeln auf bekannte Rezepte zurück: Lobbyismus und untertarifliche Bezahlung.

Bekanntlich hat die Coronapandemie die Umverteilung von unten nach oben noch einmal erheblich beschleunigt. Superreiche wie Amazon-Gründer Jeff Bezos oder der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz haben heute ein paar Milliarden mehr auf dem Konto als vor der Seuche. Natürlich gehört auch die Pharmaindustrie zu den Branchen, die mächtig absahnen. Ganz vorn dabei die Firma Biontech SE aus Mainz. Für das 2008 gegründete und eigentlich in der Krebsforschung tätige Unternehmen war Corona der Jackpot. Uğur Şahin und Özlem Türeci, Gründer:innen und Inhaber:innen von Biontech, setzten bereits im Frühjahr 2020 – also kurz nach Ausbruch der Pandemie – auf die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 und hatte nicht nur pharmazetischen Erfolg. Über Nacht wurde das Paar traumhaft reich.

Die Firma präsentierte im Herbst 2020 einen Corona-Impfstoff, den es in Kooperation mit dem US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer und dem chinesischen Pharmakonzern Fosun – unterstützt mit einigen Millionen aus der Staatskasse – entwickelt hatte. Dass es ein deutsches Unternehmen das erste war, das einen Impfstoff präsentieren konnte, führte zu Extase in der bürgerlichen Öffentlichkeit. „Es ist die deutsche Mondlandung“, harfte die Bild-Zeitung. Für den liberalen, nach Aufstiegsstorys lechzenden Teil der Öffentlichkeit kam noch hinzu, dass Şahin und Türeci türkischstämmig sind und der Vater von Şahin als „Gastarbeiter“ bei Ford am Band stand. Die Begeisterung kannte und kennt keine Grenzen. Im Frühjahr 2021 heftete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Mediziner:innen das Bundesverdienstkreuz ans Revers.

Wichtiger als der Ruhm dürfte dem Paar aber wohl die finanzielle Entwicklung ihres Startups Biontech gewesen sein. Bereits im ersten Halbjahr machte Biontech rund 3,9 Milliarden Euro Gewinn – Gewinn, nicht Umsatz wohlgemerkt. Im Januar 2022 verkündete Şahin, das Unternehmen habe mit dem Impfstoff im Vorjahr einen Umsatz von 16 bis 17 Milliarden gemacht, für das laufende Jahr gehe er von einem ähnlichen Volumen aus. Das Vermögen von Şahin und Türeci erhöhte sich im Handumdrehen auf knapp zwölf Milliarden Euro, wie Medien berichteten. Damit gehören die beiden, gemessen am Forbes-Ranking für 2021, zu den zehn reichsten Menschen in Deutschland.

Dieser Reichtum kommt nicht von ungefähr. Im kapitalistischen Hauen und Stechen ist auch die lebensnotwenige Versorgung mit Medikamenten nur eine Ware, die es gilt möglichst profitabel unter die Leute zu bringen. Und damit die Profite sicher bleiben, wird entsprechend lobbyiert. Vizekanzler Robert Habeck etwa, machte in Bezug auf die Freigabe von Patenten, die Biontech und anderen Pharmakonzerne die Milliarden sichern, eine 180 Grad-Wende. In der Opposition hatte er noch die Freigabe der Impfstoffpatente gefordert, in Regierungsverantwortung, nachdem er mit „Unternehmen noch mal intensiv gesprochen“ habe, diese Position komplett aufgegeben. Das einzige Unternehmen mit dem er gesprochen hatte: Biontech.

Biontech ging in seinem Lobbyismus aber noch einen Schritt weiter. Um der gobal betrachtet krassen Unterversorgung armer Staaten mit Impfstoffen Herr zu werden, hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO in Südafrika ein Konsortium damit beauftragt, einen eigenen Impfstoff herzustellen. Nach Recherchen des British Medicinal Journal versuchte Biontech über die vom Unternehmen finanzierte Stiftung Kenup, diese Initiative zu verhindern, unter Verweis auf das Patentrecht. Stattdessen solle in Ruanda und im Senegal in Containern von Biontech hergestellt werden. Profite für die Mainzer natürlich inklusive.

Und während nach außen die Absatzmärkte gesichert werden, werden nach innen die Beschäftigten gekonnt ausgepresst. Bereits in der Debatte um einen möglichen Staatseinstieg bei Biontech im Februar 2021 hatte die auch für die Pharmaindustrie zuständige Gewerkschaft IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) gemahnt, die Politik müsse Biontech daran erinnern, „dass die Sozialpartnerschaft auch für Start-ups gilt“. Biontech warb damals um weitere Staatsgelder, um die Impfstoff-Produktionskapazitäten rasch auszubauen. Man befürworte diese Förderung, erklärte aus diesem Anlass Roland Strasser, Landesbezirksleiter der IG BCE, plädiere aber zugleich dafür, dass sich auch Biontech zur etablierten Sozialpartnerschaft bekennen. Stattdessen aber würden Gesprächsangebote abgeblockt.

Dass sich bis heute – also nach einem Jahr – an der Misere offenbar nicht wirklich etwas geändert hat, zeigte ein Beitrag, der jüngst in der Tageszeitung junge Welt erschien. Dort hieß es, die IG BCE bemühe sich weiterhin um Zugang zur Biontech-Belegschaft. Gefordert würden Mitbestimmung, Tarifverträge und transparente Gehaltsstrukturen. Biontech habe sich für einen in der Startup-Szene üblichen Weg entschieden: Durch die EU-Rechtsform der SE würden nationalstaatlich verankerte Arbeitsrechte ausgehebelt. Betriebsräte und Tarifverträge versuche man zu verhindern, die Vergütungsstrukturen würden verschleiert. Laut Angaben der Gewerkschaft klagten viele Beschäftigte des Konzerns zudem über eine „Arbeitsbelastung am Anschlag“ und eine „mangelnde Führungskultur“.

Die Forderung der Gewerkschaft: Um die Situation zu verbessern, müsse Biontech als Gegenleistung für die Millionen vom Staat endlich akzeptieren, dass „Sozialpartnerschaft und Tarifverträge im gesamten Unternehmen Standard werden“. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die rheinland-pfälzischen Standorte Mainz und Idar-Oberstein. Denn im zur Erweiterung der Produktionskapazitäten zugekauften Werk im hessischen Marburg gelten alle Mitbestimmungsrechte und der Flächentarifvertrag der Chemieindustrie. Biontech hatte die Anlage im Herbst 2020 von der schweizerischen Novartis AG übernommen – einschließlich der bestehenden Arbeits- und Tarifverträge. Allerdings gibt es auch in Marburg für die rund 100 nach der Übernahme eingestellten Mitarbeiter nur befristete Verträge.

Die IG BCE will, wie junge Welt berichtete, Tarifverträge für alle Beschäftigten an allen Standorten erreichen. Denn vor allem dort, wo diese fehlten, seien die Bedingungen miserabel. Die Gewerkschaft verweist immer wieder darauf, dass Mitbestimmungsrechte und Tarifverträge in der Pharmaindustrie durchaus üblich sind. Kooperationspartner von Biontech wie Pfizer, Sanofi und Bayer seien „alle tarifgebunden und schätzen die Sozialpartnerschaft zur IG BCE“. Es wird sich noch zeigen, ob die Goldgrube Biontech auch ihre Mitarbeiter flächendeckend am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen gewillt ist. Sicher ist aber, dass Biontech den Eigentümer:innen weitere Milliarden in die Taschen spülen wird. Dafür wird auf allen Ebenen gesorgt.

# Titelbild: Neben Milliarden gibt’s auch eine Ehrendoktorwürde. Empfang für Özlem Türeci und Uğur Şahin, im Rathaus Köln und Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten stärken, so zumindest steht es in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition im Bundestag. Dieses Statement ist die Fortsetzung eines Trends, denn seit einigen Jahren schreiben sich Staaten vermehrt Feminismus auf die Fahne. Spätestens 2014 hat ein neues Schlagwort den Weg in den Wortschatz der Herrschenden gefunden: Feministische Außenpolitik. Die damalige schwedische Außenministerin Margot Wallström stellte dieses Konzept vor, das vorgibt, Frauen und Mädchen zu stärken, sie besser in Politik und Friedensverhandlungen einzubinden, und patriarchale und sexualisierte Gewalt zu bekämpfen.

Diese Idee von „Feminist Foreign Policy“, die über die Jahre von immer mehr Staaten aufgegriffen wurde, ist nun auch Teil des Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus FDP, Grünen und SPD, in der mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau die Außenministerin stellt. Im selben Dokument steht neben der Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ von Asylbewerber*innen und der Zusicherung bewaffneter Drohnen an die Bundeswehr auch, was für ein wichtiger NATO-Partner die Türkei sei – trotz „besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen“. Eine interessante Wortwahl, um die zahlreichen Angriffe des türkischen Staates etwa gegen die Frauenrevolution in Rojava, gegen feministische Demos, gegen Zivilist*innen und Genozid-Überlebende in den letzten Jahren zu beschreiben. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Türkei seit Jahren den IS unterstützt, der 2014 in Shingal einen Genozid an Êzîd*innen begangen hat, der vor allem auch ein Feminizid war.

Warum wir das alles erwähnen? Weil Deutschland jährlich Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Türkei liefert. Und weil an diesem Beispiel klar werden sollte, dass Abschiebungen, Aufrüstung, Rüstungsexporte – oder aktuell die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – im Widerspruch zu Frieden und Befreiung stehen.

Wolf im Schafspelz

Eine „feministische“ Außenpolitik scheint dabei an der Oberfläche besser zu sein als eine Außenpolitik, die sich überhaupt nicht mit Themen wie Feminismus auseinandersetzt. Allerdings ist diese subtile Vereinnahmung einer der radikalsten Bewegungen der Welt durch den Staat irreführend und demobilisierend.

Kapitalismus, Ausbeutung, Rassismus, staatliche Gewalt, Repression, koloniale Kontinuitäten – das sind Begriffe, die in den „Feminist Foreign Policy“-Kontexten kaum oder gar nicht vorkommen. Denn der Ansatz ist nicht an der Überwindung dieses Systems interessiert, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und patriarchaler Gewalt basiert. Solche staatlichen Ansätze tragen vielmehr dazu bei, notwendige revolutionäre Forderungen zu verwässern und Kämpfe zu schwächen.

Gleichberechtigung wird in dieser Spielart des liberalen Feminismus im Rahmen von „Repräsentation“ gedacht; dass eine Frau die Außenministerin stellt, wird an sich als Gewinn betrachtet, während die tiefsitzende patriarchale Mentalität in der Gesellschaft und das System selbst kaum in Frage gestellt werden.

Diese oberflächliche Nutzung feministischer Begriffe findet sich auch in den vielen NGO-Strukturen, mit denen westliche Staaten für strategische Zwecke seit Jahrzehnten à la social engineering Zivilgesellschaften im globalen Süden aufbauen wollen. Feministische Aktivist*innen in Ländern wie Afghanistan, Kurdistan und im Irak kritisieren zurecht, dass die unzähligen vom Westen gesponserten „Women’s Empowerment“-Projekte schwach und unkritisch sind. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit Regierungen und staatlich unterstützten Institutionen sind sie nicht nur keine Gefahr für patriarchale Strukturen, sondern eine der vielen Methoden, mit denen radikalere feministische Bewegungen gegen Kolonialismus, Besatzung und Krieg marginalisiert werden.

Diese Entwicklungen hängen mit einem globalen Trend zusammen, nämlich der sogenannten „Feminisierung“ des Sicherheitssektors: Es werden reihenweise staatsnahe und oft von Geheimdiensten informierte wissenschaftliche Arbeiten unter dem Dach „Gender, Peace, Security“ veröffentlicht. Gleichzeitig setzen Staaten, Militärbündnisse wie die NATO und ausbeuterische Konzerne das Thema Gender auf ihre Agenda, ohne dass daraus irgendetwas anderes folgt, als dass Frauen dieselbe patriarchale Politik von eh und je umsetzen sollen. Während in der Geschichte eine Antikriegshaltung eine der wichtigsten Strategien feministischer Bewegungen war, wird es nun als feministisch betrachtet, mehr Frauen in Staatsarmeen zu rekrutieren und mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie über die Bomben entscheiden können, die auf Menschen in verschiedenen Teilen der Welt herabregnen.

Feministische Außenpolitik ist somit eine vom patriarchalen Staatensystem abhängende und im Grunde konservative Methode, mit der die Entpolitisierung Widerstand leistender Bewegungen (z.B. revolutionärer Frauenbewegungen) durch neue Formen der westlichen Hegemonie durch scheinbar progressive Ideale verwirklicht wird.

Diese Entpolitisierung zeigt sich auch in Debatten um die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine. Liberaler Feminismus spricht performativ von Putins „toxischer Männlichkeit“ und „phallisch“ anmutenden Kanonenrohren. Dabei sollte sich Feminist*innen eher die Frage aufdrängen, wie jetzt revolutionäre Bündnisse gegen Krieg, Vertreibung, Militarismus, Imperialismus, sowie sexualisierte und staatliche Gewalt geknüpft werden können. Und das geschieht nicht durch staatliche top-down-Ansätze innerhalb nationaler Grenzen, sondern internationalistisch und durch selbstorganisierte Massen.

Feminismus gegen den Staat

In den vergangenen Jahren haben sich viele feministische Kämpfe ausdrücklich gegen den Staat gerichtet, mit der Begründung, dass der Staat eine Institution ist, die patriarchale Gewalt reproduziert. Staaten behindern aktiv den Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung, indem sie revolutionäre Bewegungen und Aktivist*innen kriminalisieren. In vielen Ländern ist der Staat dabei, existierende Rechte zur körperlichen Selbstbestimmung abzubauen. Und in Lateinamerika und der Karibik etwa wird seitens feministischer Gruppen der Begriff „Feminizid“ als eine Form der patriarchalen Gewalt betrachtet, die explizit durch den Staat ermöglicht und normalisiert wird.

Immer mehr feministische Bewegungen wenden sich aus diesen Gründen von den legalistischen, bürokratischen, reformorientierten Staatsfeminismen ab und wenden sich radikalen, revolutionären, auf Selbstorganisierung basierenden Formen der Politik zu. Diese sind oft lokal und gleichzeitig internationalistisch. In einem kapitalistischen System stehen Profite über Menschenleben. Dabei ist es weitgehend egal, wie ökologisch, wohlwollend oder sogar feministisch sich Regierungen geben. Vergessen werden Frauen und Queers in Knästen und in Kriegsgebieten. Vergessen werden Flüchtende an den EU-Außengrenzen, die voller Gewalt zurückgedrängt und dem Tod überlassen werden. Vergessen werden ausgebeutete Frauen auf der ganzen Welt und insbesondere im globalen Süden. Und – Stichwort „Rückführungsoffensive“ – all jene, die in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und Folter drohen, so wie es bereits die rot-grünen Landesregierungen in den letzten Jahren fleißig gemacht haben.

Feministische Außenpolitik kann sich nicht vom Staat, dem Bruder des Patriarchats, scheiden. Ihre Loyalität gilt der Macht, nicht der Freiheit. Sie hat herzlich wenig mit den vielen feministischen Bewegungen auf den Straßen der Welt zu tun, in denen Menschen tagtäglich ihre Leben riskieren, um sich Patriarchat, Kapitalismus, Polizeigewalt und militärischen Angriffen zu widersetzen. Dies sind zwei unterschiedliche Welten. Feminist*innen sollten sich aktiv dagegen wehren, dass ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Kämpfe durch Begriffe wie feministische Außenpolitik ihrer Bedeutung beraubt und mit Systemen der Gewalt und Ausbeutung vereinbar gemacht werden. Wir verdienen mehr als die rückständigen Ideologien und Methoden, die uns nun durch Staaten als Feminismus angedreht werden.

# Titelbild: Soldatinnen beim feierlichen Gelöbnis 2021, ©Bundeswehr/Sebastian Wilke

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Der bekannteste russische Oppositioneller, Alexei Nawalny meldet sich aus der Gefängnis zum Einmarsch in die Ukraine und wärmt dafür eine Theorie auf, die auch unter Linken beliebt ist. Der Krieg sei doch nur eine Ablenkung von den anderen, „wirklichen“ Problemen:

…Putin geht es um eine Sache: Die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen der Russen abzulenken: die Entwicklung der Wirtschaft, höhere Preise, regierende Rechtlosigkeit. Die Aufmerksamkeit wird stattdessen auf imperialistische Hysterie gelenkt.

Wann haben Sie das letzte Mal Nachrichten im staatlichen Fernsehen geschaut? Ich schaue derzeit nur das, und ich kann Ihnen versichern: Es gibt da keine Nachrichten aus Russland. Es geht nur um die Ukraine, die USA, Europa. Reine Propaganda reicht den senilen Gaunern nicht mehr. Sie wollen Blut. Sie wollen ihre Panzerfiguren über eine Landkarte der Feindseligkeiten fahren lassen.

Dass die russische Propaganda ständig das Bild des krisengeplagten Auslands als Kontrast zum von Erfolg zu Erfolg eilenden eigenen Land bemüht, mag zwar eine richtige Beobachtung sein, aber als Erklärung, warum Russland trotz aller bisherigen Bekundungen doch die Ukraine attackiert taugt es nicht. Dass der Krieg nicht nur Verluste, sondern auch eine ganze Reihe von neuen ökonomischen Problemen mit sich bringt, ist nicht nur der Regierung bewusst, sondern entgeht auch der Bevölkerung nicht. Es ist aber auch nicht so, dass Russland kurz vor Massenprotesten steht und nur noch ein „splendid little war“ den Kreml retten könnte.

Die stetige Osterweiterung der NATO und der EU, die die russische Führung immer wieder vorbringt, sind durchaus real. Russland ist seit über 30 Jahren ein kapitalistisches Land das in der ökonomischen Konkurrenz mit den Siegern des „Kalten Krieges“ nicht gut da steht. Die Teilnahme Russlands am Weltmarkt ist von den führenden westlichen Mächten erwünscht, russischer Erfolg dort jedoch nicht. Im ökonomischen Wettbewerb unterlegen, hat Russland aber noch ein gewaltiges Militärpotenzial, das es gerade dafür einsetzt, denjenigen Staaten, die die Rahmenbedingungen diktieren wollen, Grenzen zu setzen.

Putin teilte in seiner Rede auch unverhohlen mit, dass er nicht warten möchte, bis der Westen die Ukraine weiter als Frontstaat aufrüstet. Später wären die Kosten noch höher, so sein keineswegs geheimes Kalkül. Seine westliche Amtskollegen sagen der Bevölkerung der Ukraine auch klipp und klar, dass es so einiges kosten wird, der russischen Staatsraison Grenzen aufzuzeigen. Den Aufstieg einer Weltmacht zu verhindern, die ökonomisch gar keine ist, aber sich militärisch den Status nimmt , ist innerhalb imperialistischer Konkurrenz der einzig logische Schritt für die USA und ihre europäischen Noch-Verbündeten und zugleich Konkurrenten.

Die „imperialistische Hysterie“ die Nawalny anprangert ist nur eine Folge von dieser imperialistische Konkurrenz, gegen die er als Liberaler eigentlich nichts einzuwenden hat und die er meint mit rein ökonomischen Mitteln gewinnen zu können – so zumindest sein Programm aus der Zeit als er sich noch für‘s Präsidentenamt bewerben wollte, um selber das gleiche Spiel zu spielen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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„Putin ist verrückt“ oder „machthungrig“ sind gängige Erklärungen für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Alexander Amethystow darüber, warum der Krieg kein Betriebsunfall einer ansonsten normal funktionierenden Weltpolitik ist, sondern die Konsequenz imperialistischer Konkurrenz.

Unfassbar: kapitalistische Staatsinteressen führen tatsächlich zum Krieg, wer hätte es gedacht!

Die Welt ist entsetzt: Das größte Land der Welt zieht gegen das zweitgrößte Land Europas in den Krieg! Die Ukraine, die in den letzten Jahren stets beteuert hatte, williger Verbündeter des Westens zu sein, wird von Russland überfallen und erhält vom Westen keine Unterstützung mit Truppen. Einen vollwertiger Krieg mit der Atommacht Russland ist die Ukraine denjenigen, die sie zu einem Frontstaat aufbauten doch nicht wert.

Seit das postsowjetische Russland beschloss als kapitalistischer Staat in der weltweiten Konkurrenz seinen Erfolg zu suchen, pocht es darauf, als eine Weltmacht ernstgenommen zu werden. Doch die wirtschaftlichen „Erfolge“ reichen dafür offensichtlich nicht. Russland fungiert vor allem als Rohstofflieferant für den Westen. Konkurrenten und Geschäftspartner werden vor allem mit militärischem Potenzial zur Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen gezwungen und genau dieses Potenzial versucht die NATO systematisch auszuhebeln. Angesichts der dauerhaften Bemühungen der EU von den russischen Energielieferungen unabhängig zu werden, wird es verständlich, warum die Führung Russlands um den Status ihres Staates in der imperialistischen Konkurrenz so besorgt ist.

Es liegt also nicht daran, dass Putin „verrückt“, „machtbesessen“ oder „Macker“ oder „Gladiator“ ist. Nein, es ist kein Betriebsunfall der Weltpolitik. Und auch die Debatte, welche Interessen Russlands „legitim“ seien, führt nirgendwo hin. Russland möchte Weltmacht sein, die anderen Weltmächte sind der Meinung es braucht keine weitere. Die westlichen Weltmächte stellen Spielregeln auf, Russland möchte Souveränität beweisen, indem es sich nicht einhegen lässt. Einen „Regime change“ in eigenem Interesse durchzusetzen, ist für Moskau der ultimative Beweis dafür, eine souveräne Weltmacht zu sein. Souverän ist, wer über die Souveränität der anderen entscheidet. Dass ist die Lehre, die Putin und Co. aus Jugoslawien, dem Irak, Libyen usw. gezogen haben.

Wer eine Großmacht sein will, darf die Verletzung seiner Interessen nicht hinnehmen. Das wiederholt Putin ständig und verweist auf die Schicksale der Länder, die keine Großmächte sind. Die Russische Führung sieht sämtliche ihrer Ansprüche in Osteuropa übergangen und betrachtet die vollendeten Tatsachen, vor die sie von der EU und der NATO gestellt werden, als die Aberkennung der Bedeutung Russlands in der Staatenkonkurrenz. Daher nimmt Russland sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen.

Der Kreml inszeniert den Einmarsch ganz im Stil seiner westlichen Kontrahenten als eine humanitäre Aktion. Schon im Vorfeld wurde seitens Russland angekündigt: Wenn die ukrainische Regierung ihr Gewaltmonopol über die abtrünnigen Regionen wiederherstellen möchte, sei das ein Kriegsgrund! Entweder muss der ukrainische Staat faktisch zugeben, kein Souverän über sein eigenes Gebiet mehr zu sein, oder seitens Russlands das erleben, was Jugoslawien und Libyen seitens des freien Westens erlebt haben. Denn ein Kampf gegen bewaffnete Insurgenten auf eigenem Gebiet galt im Fall von Gaddafi als „ein Krieg gegen das eigene Volk“. Da kein Staat die Infragestellung des eigenen Gewaltmonopols in Kauf nehmen kann, käme es für die Ukraine dem Verlust der eigenen Souveränität gleich ein solches Diktat anzunehmen.

Russland weiß aus der Erfahrung zweier Tschetschenienkriege, dass in der nationalstaatlichen Logik abtrünnige Gebiete dann als feindliches Gebiet behandelt werden müssen, mit entsprechender Behandlung der Zivilbevölkerung. Bei den ukrainischen Versuchen, die eigenen Souveränität qua Ausnahmezustand durchzusetzen, werden – wie es in NATO-Jargon heißt – „Kollateralschäden“ entstehen, sprich Häuser und Infrastruktur zerstört, Zivilisten verletzt und getötet werden, was Russland „Genozid“ nennt. Das ist ein nicht zu überbietender Vorwurf und seit dem Jugoslawienkrieg ultimative Rechtfertigung für sofortiges Ein – und Angreifen.

Russland hat bereits angekündigt, die „Schuldigen“, sprich ukrainische Politiker und (Para)Militärs zur „Verantwortung zu ziehen“. Natürlich im Namen der Menschenrechte, die Russland einfach durchzusetzen hilft. Mit dieser Argumentation ist Putin nicht etwa bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen – wie man gerade allerorten lesen kann – sondern bei den westlichen Führungsmächten in die Lehre gegangen.

# Titelbild: Nein zum Krieg, sowjetisches Antikriegsposter

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„Was kommt als nächstes?“ – Die Frage mussten sich tausende von FARC-Guerrillakämpfer:innen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Jahr 2016 stellen. In EL Cauca, einer Region, in der die FARC schon immer sehr präsent war, tauschten die Kämpfer:innen ihre Waffen gegen Kameras. Inmitten des Friedensprozesses, als die Augen der Welt auf sie gerichtet waren, beschlossen sie, ihre Sicht der Dinge zu dokumentieren. Zum ersten Mal auf diese Art wird in „Memorias Guerrilleras“ (Guerrilla-Erinnerungen) der kolumbianische Konflikt von denen erzählt, die ihn erlebt haben.

„Der Film wurde von ehemaligen Kämpfern gedreht und geschrieben, was in der Welt ungewöhnlich war“ sagt uns Boris Guevara, ehemaliger Guerrillero der FARC und Schauspieler in Memorias Guerrilleras. Tanja Nijmeijer, die während des Telefongesprächs neben ihm sitzt, fügt hinzu: „Wir hatten das Gefühl, dass es wichtig war, einen Film mit unserer Vision zu produzieren. Was haben wir erlebt? Was haben wir durchgemacht?“

Die Neiderländerin Tanja hat es zu unfreilliger Berühmtheit gebracht, als ihre Tagebücher im kolumbianischen Dschungel gefunden werden, in denen sie ihre Entwicklung einer FARC-Revolutionärin dokumentiert. Sie begleitete die Dreharbeiten und die Ausbildung für das Verfassen von Drehbüchern und Aufnahmen. „Wir lebten in der Übergangszone für die Wiedereingliederung, als uns ein Filmregisseur, Ricardo Coral, besuchte.“

„Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt. – Dreharbeiten über Krieg inmitten der Entwaffnung

Über 50 Jahre lang befand sich die FARC im Krieg mit dem kolumbianischen Staat. Eine lange Zeit, in der viele Dokumentarfilme entstanden. Warum braucht es noch einen Film? Was macht dieser anders? Tanja antwortet darauf: „Normalerweise haben Filme einen Filter. Es gibt viele Dokumentarfilme über die FARC, aber ich denke, die meisten davon wurden von Leuten außerhalb gemacht. Es geht immer durch ihren Filter.“

Tatsächlich belegen mehrere Studien die Propaganda der kolumbianischen Regierung gegen die FARC. Ein Medienkrieg, der die FARC für alles Schlimme im Land verantwortlich macht, und darauf abzielt, die Guerrilla zu einem unpolitischen Subjekt zu machen. Tanja fügt hinzu: „Wir wollten unsere Geschichte erzählen; wir wollten, dass die Leute wissen, warum wir uns der FARC angeschlossen haben. Es wurde so viel über die FARC gesagt, und 80 % davon ist nicht wahr, einfach nicht wahr. Wir hatten ein Leben im Dschungel, ein Leben in der Guerrilla, und wir haben das Recht, auf dieses Leben zurückzublicken und den Menschen zu erzählen, was wir erlebt haben.“

Der Spielfilm erzählt fünf parallele Geschichten aus der Zeit, als die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergab. Der Drehort in El Cauca ist geprägt von kargen Bergen und dichtem Dschungel. Die Menschen, die hier leben, kämpfen mit Armut, Chancenlosigkeit und Gewalt durch rechte Paramilitärs und die Armee. Das führt unweigerlich dazu, dass sich viele den Reihen der Guerrilla anschließen. Eine Storyline befasst sich mit den Gefühlen neuer Mitglieder der FARC: Was bedeutete es, seine Familie zurückzulassen, um in der Guerrilla eine Zukunft zu finden? Eine andere Storyline handelt von Guerrillakämpfer:innen, die mit der Angst und der Ungewissheit der Waffenübergabe an die UNO und dem Ende des Guerrillalebens zurechtkommen müssen.

Boris Guevara erzählt am Telefon: „Der Film wurde aufgenommen, als wir unsere Waffen abgaben. Er basiert auf der Realität, auf dem, was wir in diesem Moment fühlten. Für die meisten Menschen war es ein beängstigender Moment, denn unsere Waffen bedeuteten unser Leben. Sie wurden benutzt, um unser Leben zu verteidigen. Es war nicht leicht, sie an die Vereinten Nationen zu übergeben. Viele fragten sich: Was wird mit uns geschehen? Ich denke, der Film spiegelte diesen Moment des Zweifels und der Angst perfekt wieder. „

Der Film ist in vielerlei Hinsicht der erste seiner Art, den man als fiktive Autobiografie bezeichnen kann. Es gibt wenige vergleichbare Beispiele für die Drehbedingungen und das Team, das hinter der Produktion steht. Vom Guerrillakämpfer zum Schauspieler, mehr oder weniger über Nacht. Wie ist das möglich? Boris antwortet: „Wir haben ein Casting unter den 400 Menschen gemacht, die in der Zone leben, und die Leute mussten einfach so tun, als wären sie sie selbst, und Geschichten aus ihrem eigenen Leben aufschreiben. Man brauchte nicht viel Fachwissen, um ein Schauspieler zu sein, denn sie waren einfach sie selbst.“

Die Produktion hat ein Budget von nur 15.000.000 kolumbianischen Pesos, umgerechnet etwa 3303 Euro. In dem gesamten Produktionsteam sind nur acht Professionelle. Das bedeutete viel und schnelles Arbeiten: „Wir hatten nur einen Monat Zeit für die Aufnahmen, also mussten wir Tag und Nacht aufnehmen. Wir waren also ständig am Arbeiten.“

Die Dreharbeiten fanden während eines Abrüstungsprozesses statt. Tatsächlich wurden anfangs die echten Waffen der FARC als Requisiten verwendet. Doch dann wurden sie, wie im Friedensvertrag vorgeschrieben, der UNO übergeben. Mehr als 8000 Waffen und etwa 1,3 Millionen Kugeln Munition. Boris Guevara sagt uns, dass dies die größte Herausforderung für die Produktion war. Leute aus dem Camp werden in die Städte geschickt, um Waffenattrappen als Requisiten zu kaufen. Doch damit sind nicht alle Probleme gelöst. Der Friedensvertrag ist von der UNO an strenge Bedingungen geknüpft; die Guerrillakämpfer:innen dürfen ihre Lager nicht einmal ohne Waffen verlassen.

Boris erzählt uns, dass die UNO eigentlich nie von der Produktion des Films gewusst hat: „Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt.“ Er erzählt uns von der Aufnahme einer Szene, bei der es riskant wird: „Wir haben eine Szene aufgenommen, in der einige Guerrillakämpfer einen Zivilisten treffen, dann kamen einige Bauern vorbei und sahen die bewaffnete Gruppe. Daraufhin riefen sie die UNO an, um ihnen mitzuteilen, dass eine bewaffnete Gruppe anwesend war. Wir mussten also schnell ins Lager zurückkehren und uns normal verhalten. Die Vereinten Nationen fragten, was los sei, und wir antworteten: „Hier ist nichts los. Wir waren alle innerhalb des Camp. Nichts passiert.“ Tanja und Boris lachen, als sie das am Telefon erzählen. „Es gab einen Moment, in dem das ein heikles Thema war, aber der ist schon vorbei, also können wir darüber reden“, sagte Boris.

Das Filmkollektiv trägt den Namen eines ihrer ermordeten Genossen, David Marin, Schauspieler bei Memorias Guerrilleras. Er wurde im Juni 2019 getötet und erlebt die Veröffentlichung des Films nicht mehr. Er war lange Mitglied der FARC, davor der kolumbianischen kommunistischen Jugendorganisation, und ein einflussreicher sozialer Führer. Boris beschreibt ihn als einen „geborenen Anführer“. „Es ist nicht ganz klar, warum er getötet wurde. Er wurde in einer komplexen Zone getötet.“ In der FARC ist es seit langem Tradition, dass Fronten oder Projekte den Namen ihrer gefallenen Kameraden annehmen.

„Als der Film aufgenommen wurde, waren bereits einige Ex-Kämpfer ermordet worden. Gleichzeitig gab es viele Attentate auf soziale Führungspersönlichkeiten.“ Seit dem Friedensabkommen werden mehr als 300 ehemalige FARC-Kämpfer:innen getötet. Meistens ist es schwierig, die Motive für die Morde zu verstehen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es sich um rechte paramilitärische Strukturen handelt, die sich die Verwundbarkeit durch die Entwaffnung zunutze machen.

Der Friedensprozess ohne Frieden – Rückblick auf Befürchtungen die sich bewahrheitet haben

Es ist unmöglich, über den Film zu sprechen, ohne auch über Politik zu sprechen. Der Film spricht aus der Perspektive eines sehr jungen Friedensvertrags. Heute ist er über fünf Jahre alt. Viele der Zweifel und Zukunftsängste, die im Film angesprochen werden, haben sich bewahrheitet. Der ehemalige Optimismus wird von der existierenden Gewalt überschattet. Tanja und Boris sind Teil der Friedensdelegation gewesen, die über vier Jahre lang mit der kolumbianischen Regierung auf Havanna verhandelt hat. Der Friedensvertrag soll einen der langwierigsten bewaffneten Kämpfe der Welt beenden. Das war die Idee auf dem Papier.

Boris erzählt, dass nur fünf Prozent des 310-seitigen Friedensvertrags umgesetzt worden sind. „Was wir uns vor fünf Jahren erträumt haben, ist heute eine traurige Realität der Nicht-Umsetzung“ sagt er. In der Tat hat sich sehr wenig entwickelt, einiges sogar ins Negative. Während beispielsweise die extreme Armut im Jahr 2019 noch 9,6 Prozent ausmacht, liegt sie 2020 bei über 15 Prozent. Mittlerweile gelten 42,5 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung als arm.

2016 wird der Friedensvertrag von der Santos Regierung unterschrieben, welche von Tanja als „inkompetent und langsam“ bei der Umsetzung des Vertrages beschrieben wird. Aktuell ist Iván Duque Präsident, der einer sehr rechten Partei angehört, die bei ihrem Wahlsieg angekündigt hatte, den Friedensvertrag in Stücke zu reißen. Tanja und Boris hoffen auf zumindest einige Änderungen von der neuen Regierung nach den kommenden Wahlen. „Wir haben sehr gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen und mit den rechten Parteien zu konkurrieren.“ – erzählt Boris am Telefon.

Tanja beschreibt es so: „Viele Dinge wurden nicht umgesetzt. Sie haben wirklich versucht, das Friedensabkommen in Stücke zu reißen. Es gibt immer noch Armut. Kolumbien ist immer noch ein sehr ungleiches Land und eine Klassengesellschaft. Das ist es, was wir jeden Tag erleben. Für die meisten von uns ist es ein ständiger Kampf. Wir sind in eine Gesellschaft integriert, die sich nicht wirklich verändert hat. – Ich denke, es ist wichtig, der Welt zu zeigen, dass der Konflikt nicht vorbei ist, und dass die Umsetzung sehr wichtig ist.“

Der kolumbianische Konflikt ist trotz des Friedensvertrags noch nicht beendet. Er ist ein andauernder Prozess, der immer komplexer wird und sich tendenziell verschärft. Das Filmkollektiv will ihn weiterhin dokumentieren. Trotz der schwierigen Situation blickt das Kollektiv David Marin nach vorne; es gibt bereits Pläne für Memorias Guerrilleras II. „Leider ist es in Kolumbien schwierig, einen Film zu machen. Es gibt keine Mittel, die Regierung unterstützt die Filmindustrie nicht sehr gerne. Wir sind also auf der Suche nach einer Finanzierung. – Es hängt vor allem davon ab, dass die Leute den Film kaufen und ihn sich ansehen. Es ist also aus vielen Gründen wichtig für uns, dass die Leute den Film sehen. „

# Memorias Guerrilleras lässt sich auf der Plattform für memoriasguerrilleras.indyon.tv für 5 Euro mieten. 30 Prozent des Geldes geht an die Ex-Kombattanten, die in dem Film geschauspielert haben. 70 Prozent geht in die Produktion von Memorias Guerrilleras II. Der Film ist mit englischen Untertiteln verfügbar.

# Alle Bilder: Memorias Guerrileras

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Zwei Jahre nach den rassistischen Morden von Hanau scheinen sich alle einig zu sein: Rassismus ist ein Problem, der Anschlag muss aufgeklärt werden. Die Migrantifa Berlin mit einem Gastbeitrag darüber, warum antirassistische Lippenbekenntnisse angesichts des strukturellen Rassismus, der sich durch „Auklärung“ rassistischer „Einzelfälle“, Rechtssprechung und Politik zieht, bei weitem nicht genug sind.

Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, wurden Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Sedat Gürbüz von einem Rassisten ermordet. Zwei lange Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt, kurz vor dem 19. Februar 2022, sind die Medien wieder voll mit Beileidsbekundungen und dem Ruf nach mehr Toleranz und “Diversity”. Der Antirassismus (Antira) ist im Mainstream angekommen. Die Antira-Bewegung der letzten Jahrzehnte hat ihn mit Beharrlichkeit und Kraft dorthin geschoben. Das ist aber gleichzeitig Fluch und Segen. Zeit also, die Linse zu schärfen.

Was haben zwei Jahre nach Hanau mit sich gebracht

Seit dem 3. Dezember tagt der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zum 19. Februar. Dort soll eine Aufarbeitung erzwungen und Antworten auf viel zu viele offene Fragen gefunden werden. Fragen, wie zu den Waffenscheinen des Täters, zur Nichterreichbarkeit des Notrufs, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, zu den ungeklärten Umständen am Täterhaus, zum respektlosen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach oder zur Rolle des Vaters des Täters. Der Untersuchungsausschuss und der damit angestoßene Aufarbeitungsprozess wurden nur durch die Beharrlichkeit der Angehörigen und Unterstützer*innen erkämpft.

Die Liste der Fälle, die bisher folgenlos blieben, ist immer noch lang. Rassistisches Verhalten der Behörden vor, während und nach der Tat haben keine Konsequenzen gehabt – weder in Polizeibehörden noch beispielsweise im hessischen Innenministerium. 13 Mitglieder der SEK-Einheit, die am Anschlagsort im Einsatz waren, waren Teil einer rechtsradikalen Chatgruppe. Diese SEK-Einheit wurde nach Bekanntwerden aufgelöst, was jedoch nicht bedeutet hat, dass die jeweiligen Polizisten ihren Job los waren.

Im Dezember 2021 hat sich die Generalbundesanwaltschaft mal wieder damit lächerlich gemacht, dass sie die Ermittlungen gegen mögliche Mittäter eingestellt hat. Somit reihen sie Hanau in die unzähligen rassistischen Vorfälle ein, bei denen die Behörden behaupten es handle sich um Einzeltäter, um die strukturelle Dimension von Rassismus auszublenden. Nur so ist es rhetorisch überhaupt möglich Solidarität zu heucheln, ohne sich selbst konsequent in die Verantwortung zu nehmen.

Weiterhin unbekannt ist, wer die Scheiben der Arena Bar zwei Monate nach dem Anschlag eingeschlagen hat. Es gibt auch keine nennenswerten Debatten um die Ignoranz und den Rassismus der sogenannten Mitte: Noch bevor Details zum Anschlag klar waren, mutmaßten einige Medien schon über eine “Milieutat”, die Hanau-Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag wurde unverhältnismäßig kurzfristig vom SPD-Bürgermeister aufgrund der Infektionslage abgesagt und die CDU wünschte sich nicht lange nach dem Anschlag, dass Hanau wieder zur „Normalität“ zurückkehre.

Wo wir zwei Jahre nach Hanau als Bewegung stehen

Die Angehörigen, die Initiative 19. Februar und die Antira-Bewegung haben es geschafft, die Namen und Erinnerungen an Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin in und durch uns weiterleben zu lassen. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhats, hat inmitten der Trauer, der Wut und des Schmerzes die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vernetzen sich über Generationen und Identitäten hinweg, stehen zusammen und schaffen damit neue Allianzen für den Kampf für ihre gemeinsamen Forderungen. Es sind auch diese gemeinsamen Kämpfe, die die Themen Polizeigewalt, rechte Strukturen in Behörden sowie institutionellem Rassismus immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Politische und gesellschaftliche Debatten zur (De)legitimierung des Verfassungsschutzes und der Abschaffung der Polizei haben es in die breite Öffentlichkeit geschafft, unter anderem durch die starken und abolitionistisch geprägten #BLM-Proteste unserer Schwarzen Geschwister, die aus den USA kamen und auch hier in rassifizierten Communities verbreitet wurden.

Gleichzeitig erleben wir einen sich immer weiter ausbreitenden liberalen Antirassismus, bei dem nicht um materielle Bedingungen, sondern ausschließlich um “Diversity”, Quoten und individuelles Bewusstseinstraining oder Privilegiencheck geht. Selbst die Bundesregierung hat vor etwa einem Jahr einen 89 “starken” Maßnahmenkatalog beschlossen, als “klares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus”. Die Bürger*innen sollen zu “wehrhaften Demokrat*innen” erzogen werden, um so dem Rechtsruck entgegen zu treten. Diese extreme Verharmlosung rechter Gewalt und ihrer Netzwerke zeugt von einer fatalen analytischen Unschärfe, innerhalb dessen struktureller Rassismus und Unterdrückung nicht verstanden werden kann. Infolgedessen laufen antirassistische Kämpfe Gefahr, vom herrschenden System vereinnahmt zu werden.

Mehr als nur Aufklärung 

Gerade beim Attentat in Hanau zeigt sich, wie wenig Menschen wirklich verstanden haben, wenn selbst diejenigen, die politisch für den Anschlag mitverantwortlich sind, unreflektiert zum Gedenken aufrufen. Für sie bedeutet Gedenken ein bloßes Erinnern und einen Kranz niederzulegen. Sie sehen nicht, dass Hanau Ursache einer Klassengesellschaft und eines Systems ist, in dem zwangsläufig ein oben und unten existieren. Hanau steht in einer Kontinuität zum Anwerbeabkommen, zum Asylrechtskompromiss und zum NSU-Komplex. Sie verstehen nicht, dass Hanau nicht als einzelner, abgekoppelter Einzelfall betrachtet werden kann, den es zu “lösen” gilt. Jeder einzelne Fall rassistischer und rechter Gewalt könnte wahrscheinlich umfangreicher aufgeklärt werden, wenn der Wille da wäre – doch selbst wenn, würden zu jedem aufgeklärtem Fall zehn neue dazu kommen.

Wenn wir uns die Geschichte von Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit seitens der Behörden und des Staates bei rechten, antisemitischen und rassistischen Taten anschauen, müssen wir wohl auch beim 19. Februar davon ausgehen, dass er leider nur begrenzt erfolgreich sein wird. Die unzähligen Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex, der Ausschuss zur Anschlagsserie in Neukölln und die zahlreichen Gutachten im Fall Oury Jallohs zeigen zum einen, dass die Verantwortlichen sich gegenseitig in ihren Erzählungen und Schuldabweisungen stützen und schützen werden. Zum anderen haben wir strukturell gesehen nicht viel gewonnen. Natürlich ist es enorm wichtig, die verfügbaren rechtlichen Mittel maximal auszuschöpfen, um die konkreten Täter*innen zu benennen, zur Verantwortung zu ziehen und Netzwerke aufzudecken. Kommt ein Untersuchungsausschuss mit dem nötigen Druck zustande, so ist es ein Etappenerfolg innerhalb des herrschenden Systems und aus Sicht der Angehörigen ein kämpferisches Mittel. Deshalb gebührt ihnen die vollste Solidarität und Unterstützung in ihrem Kampf um Aufklärung, Gerechtigkeit, Erinnerung und Konsequenzen.

Wir dürfen jedoch nicht glauben, dass das Zurücktreten von Politiker*in X oder die Versetzung von Beamt*in Y die Revolution herbeiführen wird. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass das System in sich gut funktioniert und nur hier und da sind noch ein paar Schönheitsfehler durch neues Personal oder Zusatzparagraphen zu beheben. Es kann nicht bei bloßer Aufklärung bleiben. Wir müssen für eine Gesellschaft kämpfen, die rechte Ideologien und Gewalt an den Wurzeln bekämpft – und die sitzen im Herzen des kapitalistischen Systems.

Solange wir in diesem kapitalistischen System leben, werden wir immer wieder konfrontiert sein mit dem Auffliegen von rechten Strukturen innerhalb der Polizei, der Bundeswehr, den Sondereinsatzkommandos und werden hören von Reservisten, die Sprengstoffe horten und Todeslisten führen. Die sogenannte Mitte wird weiterhin nach Abschiebungen von Menschen, die sich „illegal“ hier aufhalten schreien. Die Rechten werden die Erzählung eines „Rassenkrieges“ immer weiterspinnen, bis sie schlussendlich handeln werden. Es werden wieder und wieder Menschen in Gewahrsam zu Tode kommen, ohne jegliche Konsequenzen für die verantwortlichen Polizist*innen. Das EU-Grenzregime wird ungebremst seine Mauern höherziehen und ihre Grenzen “verteidigen”. Und unsere Geschwister im globalen Süden werden Tag für Tag weiter in mörderischen imperialistischen Kriegen um Ressourcen und Macht nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Leben verlieren. 

Diese Normalität rechten Terrors müssen wir bekämpfen. Dabei dürfen wir uns nicht von bürgerlichen Parteien, Politiker*innen oder sonstigen staatlichen Bediensteten vereinnahmen lassen. Denn deren einziger Zweck ist es, eben jenes System und den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten zu schützen. Zwar versuchen sie es durch eine Reform hier und da weniger brutal erscheinen zu lassen, am Grundproblem ändert sich jedoch nichts.

Warum am 19. Februar auf die Straße gehen 

Die Forderungen nach Aufklärung, Erinnerung, Gerechtigkeit und Konsequenzen der Angehörigen, Betroffenen und der Initiative 19. Februar gilt es zu unterstützen, wo und wie immer wir können. Gleichzeitig werden wir unser Streben nach radikaler Veränderung der Gesellschaft und Selbstorganisierung weiterverfolgen. Wir vergessen nicht, sondern werden weiterhin all diejenigen anklagen, die für das rassistisches Klima verantwortlich sind, die rechte Strukturen schützen, rechten Terror durch rassistische Politik befeuern sowie den Nährboden für Ausbeutung und Ausgrenzung  füttern. Wir können keine Forderungen an einen Staat stellen, der genau das tut und aktiv daran beteiligt ist, zu vertuschen und zu manipulieren. Wir lassen uns nicht mit leeren Worten und Gesten abspeisen, sondern werden selber machen!

Wir wollen eine Alternative schaffen zu diesem ausbeuterischen, kapitalistischen System, in dem es um Profite statt um Menschenleben geht. Wir wollen kontinuierliche Arbeit in den Nachbarschaften leisten, weiter mit unseren Nachbar*innen in Kontakt treten, zuhören, unsere politischen Visionen teilen und gemeinsam organisieren und umsetzen. Die Verankerung und Bezug zur Nachbarschaft ist besonders wichtig, denn hier wachsen wir auf, haben unsere Beziehungen, Geschichten und führen unsere Kämpfe. Nichtsdestotrotz stehen wir Seite an Seite mit unseren Geschwistern und Genoss*innen im globalen Süden, denn nur der globale Kampf kann eine Befreiung aller sein!

Für den 19. Februar 2022 heißt es, Menschen auf die Straßen zu holen, die tagtäglich erfahren was es heißt, diskriminiert, ausgebeutet und entmenschlicht zu werden. Für viele sitzt die Trauer und die Wut um Hanau, aber auch um unzählige andere Fälle rassistischer Gewalt, immer noch tief. Daher werden wir zur Tatzeit gemeinsam auf den Straßen sein, um kollektive Momente der Trauer, der Wut, der Hoffnung, des Widerstands und der Solidarität zu teilen!

Ajde, alerta, haydi, yallah und bijî Migrantifa!

# Titelbild: neukoellnbild / Umbruch Bildarchiv

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2022 wird, glaubt man den Kommentatoren aus Handel, Industrie und Forschung, ein Jahr der „Knappheit“. Die Engpässe in globalen Lieferketten werden bleiben, mit „einer schnellen Entspannung sei nicht zu rechnen“, warnt der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm. Die Stockungen betreffen alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens, von Rohstoffen über Halbfrabrikate bis zu Lebensmitteln. Die Lieferengpässe seien in Deutschland inzwischen „Alltag“, erklärt auch REWE-Chefmanager Lionel Souque. „In vielen Wochen werden zurzeit von der Industrie weniger als 90 Prozent der bestellten Lebensmittel geliefert. Das ist völlig ungewöhnlich und teilweise inakzeptabel“, sagte er.

Die Krise in den Lieferketten macht sichtbar, was in Zeiten des reibungslosen Ablaufes im Hintergrund bleibt. Die meisten Waren, die in den westlichen Zentren des Kapitalismus konsumiert werden, haben weite Reisen zurückgelegt. Der Kaffee aus Brasilien, die T-Shirts aus Bangladesch, die Schuhe aus der Dominikanischen Republik, die Smartphones aus China und Indien, die Auto-Bestandteile aus Südafrika – sie alle sind fester Bestandteil eines Systems, in dem sich die herrschenden Klassen einiger weniger Nationen die Arbeitskraft und Ressourcen des gesamten Planeten aneignen.

Die Internationalisierung der Produktion in weltumspannenden Warenketten hat spätestens seit den 1980er-Jahren zu einer neuen Phase in dem geführt, was marxistische Theoretiker:innen seit der Wende zum 20. Jahrhundert „Imperialismus“ nannten. Viel deutschsprachige Literatur gibt es leider zur neueren Imperialismusforschung nicht. Deshalb soll es im folgenden um einige Bücher internationaler Marxist:innen gehen, die genau hier ansetzen und Imperialismusanalysen entwickeln, die in erster Linie von dieser globalen Produktionsweise ausgehen: John Smith („Imperialism in the twenty-first century. Globalization, Super-Exploitation and Capitalism‘s Final Crisis“) und Intan Suwandi („Value Chains. The New Economic Imperialism“) kommen aus dem Umfeld der Zeitschrift „monthly review“, für die einst Albert Einstein sein Essay „Why Socialsm?“ schrieb und die später einflussreiche Antiimperialist:innen wie Samir Amin hervorbrachte. Torkil Lauesen („The Global Perspective. Reflections on Imperialsm and Resistance“) war Mitglied der antiimperialistischen militanten Gruppe „Blekingegade-Bande“,die aus einer maoistischen Tradition kommend spektakuläre Überfälle in Dänemark durchführte, deren Erlös an Befreiungsbewegungen im Trikont ging.

John Smith: Imperialism in the Twenty First Century, New York 2016

Imperialismus und Globale Warenketten

Im alltäglichen Sprachgebrauch findet „Imperialismus“ statt, wenn eine Nation sich militärisch auf das Territorium einer anderen Nation ausdehnen will. Auch für Marxist:innen spielte Krieg stets eine wichtige Rolle für den Imperialismusbegriff – allerdings als Symptom, nicht als erstes Wesensmerkmal. „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“, formulierte einst der französische Sozialist Jean Jaures. Und Revolutionär:innen wie Rosa Luxemburg, W.I. Lenin oder Nikolaj Ivanovic Bucharin ging es in erster Linie darum, zu verstehen, wie die Wolke beschaffen ist, dass sie überhaupt zum Regen führt.

Würde man eine möglichst kurze „Definition“ von Imperialismus in dieser Tradition geben wollen, bietet sich eine Formulierung an, die John Smith kürzlich in einem Interview gebraucht hat: „Die konziseste und konkreteste Definition von Imperialismus, die mir in den Sinn kommt, ist die Unterordnung der gesamten Welt unter die Interessen der herrschenden kapitalistischen Klassen aus einer Hand voll Unterdrückernationen.“

Bleibt diese Formulierung zwar für alle Phasen des Imperialismus gleich, so änderten sich seit Lenins Zeiten doch auch fundamentale Eigenschaften des Systems, wie sich die in den imperialistischen Nationen ihre Basis habenden herrschenden Klassen den aus aller Welt abgeschöpften Surplus aneignen. Seit der formalen Dekolinialisierung hat sich die globale Arbeitsteilung drastisch verändert.

Als die beiden Ökonomen Hans Wolfgang Singer und Raul Prebisch im Jahr 1949 ihre These entwickelten, dass die Verschlechterung der „terms of trade“ für die abhängigen Nationen aus dem Umstand resultieren, dass sie vor allem Rohstoffe und Agrargüter in den Weltmarkt einbrachten, konnte man noch die Hoffnung hegen, eine nachholende Industrialisierung würde diese Länder aus dem Joch der „Unterentwicklung“ befreien. Doch diese ist zumindest in einigen Ländern der Peripherie längst eingetreten – und dennoch blieb der Globale Süden abhängig, „unterentwickelt“ und verarmt. Woran liegt das?

John Smith und Intant Suwandi sehen den wesentlichen Punkt in der gegenwärtigen imperialistischen Produktionsweise in Globalen Warenketten, deren Knotenpunkte dazu dienen, dem Proletariat im Globalen Süden per „Super-Exploitation“ Mehrwert abzupressen und ihn in die Zentren zu schaffen. In diesen Zentren sind es einige Zehntausend Mulitnationaler Konzerne, die an der Spitze der jeweiligen Ketten von Zulieferern stehen und die direkt – per Ausländische Direktinvestition – oder indirekt – per amrs lenght contracts – bestimmen, was, wie und wieviel produziert wird.

Am „unteren“ Ende der Warenketten stehen die bis aufs Blut ausgebeuteten Arbeiter:innen der Peripherie, die in endlosen Schichten zu niedrigsten Löhnen in den Produktionsablauf eingespeist werden, die Sweatshops der Textilfabrikanten genauso wie die Assembly Lines der Smartphone-Hersteller. Am oberen Ende die Eigentümer und das Management der Multis samt ihrer Marketing-, Forschungs- und Brandingabteilungen in den imperialistischen Zentren.

Globale Warenketten

„Outsourcing“ und „Offshoring“ sind – diese These ist der Kern der Theorien von Suwandi und Smith – Symptome der Suche nach billigeren Lohnstückkosten. Diese Ausnutzung der „Arbitrage“ von Arbeitskosten (global labor arbitrage) motiviert die Verlagerung großer Teile der Produktion aus den Zentren in ausgewählte Länder der Peripherie. Der „fundamentale Treiber und Formgeber der Globalisierung“ sei die „global labor arbitrage, die Ersetzung von Arbeitern mit relativ hohen Löhnen in imperialistischen Zentren durch Niedriglohnarbeiter in China, Bangladesch und anderen Nationen des Globalen Südens“, konstatiert Smith (S188). Die marxistische Theorie müsse auf diese Neuerung mit einer „Werttheorie des Imperialismus“ antworten, die in Rechnung stellt, dass zusätzlich der beiden von Marx ausführlich analysierten Arten der Erhöhung des relativen und absoluten Mehrwerts auch eine dritte, vom Autor des Kapital angedeutete Form der Maximierung der Mehrwertrate eine immer größere Rolle spielt, die auf „Überausbeutung“ basiert – dem Versuch des Kapitals, die Ware Arbeitskraft unter ihren Wert zu drücken.

Smith und Suwandi wissen, dass es gegen diese Theorie in den früheren Auseinandersetzungen zwischen Dependenztheorie und „orthodoxem“ Marxismus gewichtige werttheoretische Einwände gab. Doch es gelingt ihnen, sie sowohl auf Basis der Marxschen Theorie wie auch empirisch zu widerlegen – insbesondere die alte Mär, dass der Lohnunterschied zwischen Zentrum und Peripherie schlichtweg die Widerspiegelung von unterschiedlichen Produktivitätsniveaus sei. „Die deutlich höheren Ausbeutungsraten der Arbeiter im Globalen Süden haben nicht einfach mit niedrigen Löhnen zu tun, sondern auch mit dem Fakt, dass die Lohnunterschiede zwischen Nord und Süd größer sind als die Unterschiede in der Produktivität“, so Suwandi (S.59).

Smith verabschiedet sich aber zugleich auch von Vorstellungen, der Werttransfer ließe sich ausschließlich als „Monopolrente“ begreifen – viel mehr gehe es um ein „Konzept, dass das ökonomisch wesentliche – Monopolkapitalismus – mit dem politisch Wesentlichen – der Teilung der Erde in unterdrückte und Unterdrückernationen – vereint und beides in Begriffen der von Marx in seinem Hauptwerk Das Kapital entwickelten Werttheorie erklären vermag.“

Den Transfer von Mehrwert dabei tatsächlich empirisch nachzuverfolgen, ist nicht immer einfach: Die Rahmentheorien von bürgerlichen Statistiken taugen dazu nur beschränkt. Das „Bruttoinlandsprodukt“ etwa, so bemängeln beide Autor:innen, sei etwa keineswegs ein zureichender Maßstab der produktiven Leistungen einer Volkswirtschaft. Es bezeichne in Wahrheit nicht „value added“, sondern eher schon „value captured“, sei also eher ein Indikator dafür, wie viel Wert in einer Nation angeeignet, nicht produziert werde. Sieht man sich etwa die – gut erforschte – Wertkette eines Nokia-Smartphones an, so erscheint der überwiegende Teil von „value added“ als Leistung des Mutterkonzerns – und damit des Landes, in dem sich dessen Firmensitz befindet -, selbst wenn die Teile und die Endproduktion des physischen Geräts „Smartphone“ in Asien oder anderswo stattfinden.

Die Werttransfers sind zudem nicht immer offen sichtbar. Werden bei ausländischen Direktinvestitionen die Profite zumindest teilweise noch ausweisbar ins Mutterland rückgeführt, so bleiben bei „arms length contracts“ die Ausbeutungs- und Machtverhältnisse hinter Ketten von Äquivalententausch unsichtbar. Gerade diese allerdings werden in den Produktionsketten immer relevanter: Apple produziert kein Iphone selbst, Nike keinen Schuh. Das machen Zulieferer, die im Konkurrenzkampf um die Gnade der Multis ihre Arbeiter:innen so preiswert wir möglich auf den Weltmarkt werfen.

Instan Suwandi: Global Value Chains, New York 2019

Globale Klasse, gespaltene Klasse

Die Notwendigkeit einer „Werttheorie des Imperialismus“ ist angesichts der globalen Klassenrealität keine theoretische Spielerei. Das Gros des Industrieproletariats lebt schon heute in den Nationen des Globalen Südens. Rechnet man die im „informellen Sektor“, der globalen „Slum-Ökonomie“, dahindarbenden, aber oft genug in die Wertketten des Kapitals eingebundenen Proletarier:innen sowie die Kleinbäuer:innen dazu, sehen wir eine aus Milliarden Menschen bestehende Masse unter der Knute des Imperialismus.

Ohne eine internationale Verbindung von deren Kämpfen mit denen in den Metropolen wird keine Befreiung möglich sein. Doch der Haken ist: Die Interessen dieser Teile der Klasse und zumindest der „privilegierteren“ Schicht von Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren sind nicht einfach deckungsgleich. Schon Lenin sprach von einer „kleinen Schicht“ der „Arbeiteraristokratie“ in den entwickelten imperialistischen Zentren, die von „ihrem“ nationalen Kapital mit Krümeln gefüttert werden, um den nationalen Klassenfrieden gegen den äußeren und inneren Feind zu sichern. Diese Arbeiteraristokratie bildete die potentielle soziale Basis von Opportunismus und Sozialchauvinismus, modern gesprochen: Der „Sozialpartnerschaft“ für den kapitalistischen Standort.

Torkil Lauesen und die aus dem „Kommunistischen Arbeitskreis“ in Dänemark hervorgegangene Theorietradition des „Schmarotzerstaats“ überspitzten nun in den 1970er-Jahren diese These im Eindruck der Nachkriegsphase des Klassenkompromisses bis zu der Schlussfolgerung: Eigentlich sind in den Metropolen gar keine revolutionären Klassenkämpfe mehr möglich oder zu erwarten, solange nicht der stetige Zufluss von Monopolprofiten aus dem Trikont abgerissen ist. Ergo: Die Praxis verschob sich von lokalen Kämpfen zu Unterstützungsaktionen für Kämpfe anderswo.

In seinem aktuellen Buch vertritt Lauesen diese These nicht mehr in dieser Form, bleibt aber bei der Betonung der Relevanz, die „Arbeiteraristokratie“ in die aktuellen Klassenanalysen einzubeziehen: „Eine Reihe von Faktoren binden die Interessen der Arbeiterklassen des Nordens an die des Globalen Kapitals. Die Superprofite der transnationalen Konzerne aus Investitionen im Globalen Süden ermöglichen es ihnen, relativ hohe Löhne im Globalen Norden zu zahlen, die Arbeiter dort mit einer signifikanten Kaufkraft ausstattet. (…) Gleichzeitig halten die Niedriglöhne des Globalen Südens die Preise für Konsumgüter relativ niedrig.“ Wenngleich Lauesen auch eingesteht, dass sich seit der Aufkündigung des Klassenfriedens durch die „neoliberale“ Offensive auch in den Metropolen die Kämpfe verschärfen, bleibt er bei der These: Die aus dem globalen System der Ausbeutung entspringenden Profite sind die Bedingung der Möglichkeit, sich einen (relativen) Klassenfrieden in den imperialistischen Metropolen zu erkaufen.

Notwendiger Antiimperialismus

Aus einer einigermaßen ausgearbeiteten Theorie des Imperialismus erwächst auch die Möglichkeit, die gängigen Debatten des „progressiven Neoliberalismus“ besser einzuordnen und die bürgerlichen Spielarten von Antirassismus und Feminismus besser von den proletarischen zu unterscheiden.

So spielen etwa nationale Grenzen eine zentrale Rolle in der Theorie der „global labor arbitrage“. Sie sind jene Schranke, die die überausgebeutete Klasse nicht überschreiten kann : „Während die Arbeitskraft nach wie vor durch das Migrationsregime in nationale Grenzen eingeschlossen ist, können das globale Kapital und die Waren sich weitaus freier bewegen – zunehmend noch durch die in den vergangenen Jahren durchgesetzte Liberalisierung des Handels“, schreibt Suwandi (S53). Die Grenzen sind so eingerichtet, dass sie die große Masse des globalen Proletariats da halten, wo es „hingehört“ und damit die Möglichkeit der höheren Mehrwertraten in der Peripherie garantieren. Gleichzeitig sind sie aber durchlässig genug, um billigere, migrantische Arbeitskraft (so weit sie nötig ist) in die Metropolen durchzulassen. Die Millionen „undocumented workers“ in den USA spielen dabei genauso eine wichtige Rolle für das imperialistische Geschäftsmodell wie die immer Wanderarbeiter aus Osteuropa und die immer noch deutlich schlechter verdienenden Arbeiter:innen mit „Migrationshintergrund“ in Deutschland. Die systematische Abwertung des Werts der Ware Arbeitskraft im Hinblick auf „migrantische“ Werktätige oder das Proletariat in der Peripherie bildet zugleich die Grundlage des Rassismus – und nicht der „schlechte Charakter“ von ungebildeten Weißen in den Zentren, wie ein auf völlige Individualisierung angelegter bürgerlicher Antirassismus meint.

Torkil Lauesen, The Global Perspective, Montreal 2018

Weiters zeigt sich in den Globalen Warenketten in bestimmten Sektoren – ganz deutlich in der Textilindustrie, aber auch in vielen „Exportproduktionszonen“ generell – ein überwiegender Anteil von Frauen, die noch schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen und einer Reihe zusätzlicher Belastungen – von familiären oder kulturellen Verpflichtungen bis sexualisierter Gewalt – ausgesetzt sind. Die Auslagerung der sozialen Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft in weitere Familienzusammenhänge gehört genauso in diesen Bereich wie das internationale „gender pay gap“ und das Problem der Kinderarbeit. Auch hier ist es eine Frage des Klassenstandpunkts: Sind die Textilarbeiter:innen in Bangladesch ein Bezugspunkt feministischer Kämpfe oder die Girlboss-Stars des Westens, die ihre Modekollektionen in Bangladesch nähen lassen?

Die Ausarbeitung einer antiimperalistischen Theorie auf Grundlage des Marxismus ist aber vor allem in einer Hinsicht zentral: Wer sich als Sozialist:innen in der Klassenfrage ausschließlich auf den Bezugsrahmen der „eignen“ Arbeiterklasse innerhalb der nationalen Grenzen stellt, landet in den imperialistischen Metropolen nahezu automatisch bei Opportunismus und Sozialchauvinismus. In den Worten Lenins: „Die ökonomische Grundlage des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und dieselbe: die Interessen einer ganz geringfügigen Schicht von privilegierten Arbeitern und Kleinbürgern, die ihre privilegierte Stellung, ihr ‚Recht‘ auf Brocken vom Tische der Bourgeoisie verteidigen, auf Brocken von den Profiten, die ‚ihre‘ nationale Bourgeoisie durch die Ausplünderung fremder Nationen, durch die Vorteile ihrer Großmachtstellung usw. einstreicht.“Und dieser Standpunkt führt unweigerlich zum Verrat der Interessen des gesamten Proletariats.

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„Endlich ist ein Arzt im Amt“ zitiert der Spiegel einen Intensivmediziner über die Ernennung Karl Lauterbachs zum Gesundheitsminister. Auch sonst ist der neue Ministerposten des talkshow-erprobten Fliegenträgers allerorten Thema. Das ansonsten eher wenig Beachtung findende Amt hat durch die Corona-Pandemie eine seltene Wichtigkeit bekommen. Es ist zwar nicht schwer, nach dem Totalversagen des Pharmalobbyisten Jens Spahn im Amt gut auszusehen. Trotzdem sind die Erwartungen an Lauterbach hoch. Die Hoffnung ist, dass er – der Mediziner –als Gesundheits- und Twitterexperte endlich Lösungen liefern wird für die Coronapandemie. Denn er ist ja Experte.

Diese Hoffnungen, die von der bürgerlichen Öffentlichkeit auf den Arzt Lauterbach gesetzt werden, sind symptomatisch für ein grundlegendes Problem beim Verständnis der Pandemie. Corona wird als rein technisches, naturwissenschaftliches Problem betrachtet, dass es sodann mit den Mitteln der Naturwissenschaften technokratisch zu lösen gilt. So betrachtet erscheint es nur logisch, dass der neoliberale Arzt Lauterbach für seinen neuen Job die perfekte Besetzung ist. Oder um es mit der Tagesschau zu sagen : „In der Pandemie ist die Sehnsucht nach einem Technokraten wie Scholz, der alles geräuschlos regelt, sicherlich groß.“ Das gilt dann wohl auch für den Gesundheitsminister.

Die Ursachen der Pandemie

Der Fehler in der Analyse liegt aber schon in der Betrachtung der Pandemie an sich.

Im ideologisch verstellten Blick der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die Pandemie eine plötzliche Naturkatastrophe, die völlig unverhofft von außen über die Welt einbricht. Doch das Virus kommt keineswegs aus heiterem Himmel. Bereits 2008 wurde festgestellt, dass die Anzahl an Ausbrüchen „neuer Infektionskrankheiten“ stetig zunimmt. Schon vor Corona haben uns SARS, MERS, Vogelgrippe, Ebola und so weiter durch das 21. Jahrhundert begleitet. Covid-19 ist also nur der vorläufige Höhepunkt einer sich stetig verschärfenden Entwicklung, die schon seit Jahrzehnten stattfindet.

Dabei ist der Zusammenhang mit der zerstörerischen Ausdehnung des Kapitalismus bis in die letzten, noch nicht in die Wertschöpfungsketten intergrierten Ecken der Welt offensichtlich, wird aber von profitorientierter Seite geflissentlich ignoriert.

Das Überspringen von Krankheitserregern von Tieren auf Menschen (wie bei Corona und den oben beschriebenen Krankheiten passiert) wird mit jedem Quadratmeter Land, den sich die kapitalistische Maschinerie einverleibt, wahrscheinlicher. „Die Öffnung der Wälder für globale Kapitalströme stellt an sich bereits eine Hauptursache für alle diese Krankheiten dar“, schreibt etwa Andreas Malm in seinem Buch Klima|x. Und – Überraschung – es sind Profitinteressen aus dem globalen Norden, welche in Form von Palmöl, Rindfleisch, Sojabohnen und Holzprodukten für den Export, diese Öffnung vorantreiben. Und das auf Kosten indigener Gemeinschaften und des globalen Proletariats, mit tödlichen pandemischen Folgen für die ganze Welt. Die Pandemie ist also nicht einfach eine Naturkatastrophe, sondern – genau wie die Klimakatastrophe auch – eine Folge des sich immer weiter ausbreitenden dabei Mensch und Natur vernichtenden Kapitalismus.

Imperiale Konkurrenz aller Orten

„In jeder Krise steckt auch eine Chance“ – das gilt auch für die Coronapandemie. Nicht für die mehr als fünf Millionen Toten im Zusammenhang mit dieser, nicht für die Arbeiter*innen in der Gesundheitsindustrie; Aber für die Pharmakonzerne. Und Deutschland hat da einen nationalen Champion: BionTech. Das Unternehmen, welches in Zusammenarbeit mit dem US-Pharmariesen Pfizer den auf der mRNA-Technologie basierenden Impfstoff Cominarty produziert und allein 2021 17 Milliarden € Gewinn gemacht hat.

Das Geschäftsmodell von BionTech und Co ist aber bedroht: Die massigen Gewinne basieren auf Patenten, die BionTech hält, und die es dem Unternehmen erst möglich machen mit jeder verimpften Dosis ordentlich Profit zu machen. Aus technischer Sicht würde es selbstverständlich Sinn machen, diese Patente freizugeben, das fordern nicht nur verrückteLinksradikale, sondern sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO.

BionTech muss sich aber trotzdem keine Sorgen machen, in absehbarer Zeit wegen ausbleibender Gewinne Konkurs anzumelden, denn es hat starke Partner:innen. Angela Merkel, die effizient-bodenständige Interessenvertreterin des deutschen Kapitals und ihre Bundesregierung blockierten wo sie gehen und stehen Inititiativen, welche die Freigabe der Patente fordern. Dabei wird kaum versteckt, dass es darum geht, die Profite der (deutschen) Pharmaunternehmen zu sichern: Die Welt werde auch in Zukunft darauf angewiesen sein, dass Impfstoffe entwickelt würden und das ginge nur, wenn der Schutz des geistigen Eigentum gewahrt bleibe, so Merkel im Vorfeld des G7-Gipfels im Frühjahr 2021. Erfolgreiche Forschung – 

so die Vorstellung – passiere nur, wenn dabei irgendjemand in Deutschland einen Reibach machen kann.

Angela Merkel erklärte auch, dass ein weiterer Grund für die Verweigerung der Patentfreigabe sei, dass das Wissen über mRNA-Technologie an China abfließen könnte. Hier wird deutlich: Sich gegen die imperialistische Konkurrenz zu behaupten hat für die Technokrat:innen in der Bunderegierung absoluten Vorrang. 

Vorrang vor dem zumindest erklärten Ziel, möglichst vielen Menschen weltweit den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen. Vorrang davor, die Ausweitung und Eskalation der Pandemie zu verhindern. Die Entstehung der Omikron-Variante des Covid-19-Virus (wie auch schon die Entstehung der bereits grassierenden Delta-Variante), ist schließlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ein erheblicher Teil der Menschheit eben keinen Zugang zu Imfpstoffen hat. Den Expert:innen sei Dank.

Pflege und die Krankenhäuser

Ein weiteres immer wieder diskutiertes Problem in der Pandemie ist die Auslastung der Krankenhäuser, bzw. die Überlastung der Arbeiter:innen im Gesundheitssektor. Zu Recht kündigen immer mehr Beschäftigte angesichts der schlechten Bezahlung und der miserablen Arbeitsbedingungen, die sich durch Corona noch weiter verschärft haben. Das Problem liegt aber auch hier nicht einfach in der Pandemie. 

Schon der „Normalzustand“ ist in den zu Gesundheitsfabriken umfunktionierten Krankenhäusern in Deutschland für die Arbeiter:innen katastrophal. Die dem Profitstreben unterworfenen Krankenhauskonzerne machen das, was die kapitalistische Logik von ihnen fordert: Möglichst viel Geld. Das heißt, es gilt das Personal möglichst effizient einzusetzen, sprich, möglichst viel Arbeit mit möglichst wenig Arbeiter:innen und Lohnkosten erledigen zu lassen. Das war auch schon vor der Pandemie so: „Oft muss man im Alltag 110% geben, um den Patienten irgendwie gerecht zu werden. Man verzichtet auf seine Pause, hat acht Stunden nichts getrunken und war nicht einmal auf Toilette.“

Die Situation in den Krankenhäusern ist genausowenig eine Naturkatastrophe, wie die Entstehung der Pandemie oder die Verweigerung der Patentfreigabe. Das Elend der Arbeiter:innen und die dysfunktionale Gesundheitsversorgung sind Folgen der neoliberalen Umgestaltung des Gesundheitssektors, in dem die Daseinsfürsorge für Klinikonzerne geöffnet wurde, die eben nicht die Gesundheit ihrer Patient:innen zum Ziel haben, sondern mit der Behandlung von Kranken Profite machen. Die Entscheidung dazu wurde bewusst von der Politik gefällt. Genau genommen von der Gesundheitsministerin in der Ära Schröder, Ulla Schidt (SPD). Fleißig beraten wurde sie dabei von diversen Expert:innen, allen voran– ihr habt‘s erraten – Karl Lauterbach. 

Und jetzt?

Was wird der Experte Lauterbach angesichts dieser politischen Probleme und Entscheidungen wohl tun? Wird er die von ihm vorangetriebene Neoliberalisierung des Gesundheitssektor umkehren? Wird er den deutschen Imperialismus über den Haufen werfen? Wird er auch nur einen Schritt dafür tun, dass die immer weiter fortschreitende Zerstörung des Planeten und damit auch die Begünstigung von weiteren Pandemien verhindert wird? Wohl kaum.

Die vermeintliche technische Lösung für die Pandemie, die personifiziert in Form von Lauterbach, dem Mediziner, präsentiert wird, kann mehr schlecht als recht verstecken, dass es innerhalb der imperialen Logik keinen Ausweg gibt; wenn nicht aus dieser Pandemie, dann aus der nächsten. Lauterbach, Scholz, Baerbock, Lindner und wie sie alle heißen, werden weder die Ursachen der Pandemie angehen, noch die Auswirkungen in einer Weise bearbeiten, die im Interesse der Bevölkerung ist, sondern weiter Kapitalinteressen bedienen. Wenn dabei ein bisschen ImpfSchutz für die europäische Bevölkerung abfällt ist das okay, denn Hauptinteresse bleibt, die hiesige Profitmaschine am Laufen zu halten.

„Um das Coronavirus tatsächlich zu besiegen und uns zu erholen, müssen wir verhindern, dass Pandemien wie diese jemals wieder geschehen,“ hat der britsche Premierminister Boris Johnson während des G7-Gipfels im Juni erklärt. Damit hat er Recht. Doch auch er wird sich nicht an einer tatsächlichen Lösung des Problems beteiligen. Denn die notwendigen Schritte dafür werden nicht im technokratischen Kleinklein der neoliberalen Elendsverwaltung eingeleitet. Sondern nur, wenn Charaktere wie eben Johnson, Scholz und Merkel mit ihrer Politik Geschichte sind. Mit ihnen wird es nur ein weiter so, tiefer ins Elend des pandemiegeplagten, imperialistischen Kapitalismus geben. Da hilft auch kein „Experte“ Lauterbach.

#Foto: Wikimedia Commons

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Zum Abschied wünschte sich Angela Merkel einen Schlager aus dem Osten – und ein letztes Mal führten Kanzlerin, mediale Öffentlichkeit und leider auch einige Linke das absurde Merkelschauspiel auf. Die Rollen dabei sind inzwischen perfekt einstudiert: Auf der einen Seite steht die Regierungschefin des mächtigsten Landes der mächtigen EU, die bei aller Macht aber so schön bodenständig und unprätentiös auftritt. Auf der anderen sind Leute, die ganz hin und weg sind davon. Entweder sie sind mit Merkels neoliberaler Politik sowieso einverstanden oder aber finden „eigentlich“ Merkels Politik doof, die Person jedoch derart hinreißend sympathisch, dass sie es eben doch nochmal sagen müssen: Wir werden sie vermissen. Danke Merkel.

Diese Unfähigkeit (oder ist es Unwillen?), Form und Inhalt zu trennen und zu priorisieren, ist frustrierend. Aber mit etwas Distanz lässt sich auch sagen: Man kann Merkel Respekt dafür zollen, dass sie es geschafft hat, durch die äußere Form den Inhalt ihrer Politik derart nachrangig werden zu lassen, dass ihn viele – auch Linke – kaum mehr wahrnehmen. Also im Grunde: die Politik zu entpolitisieren und damit die Selbstentwaffnung der kritischen Öffentlichkeit voranzutreiben. Ihrer Nachfolgeregierung, vor allem dem Merkelianer Olaf Scholz, übergibt die Kanzlerin damit ein wertvolles Erbe.

Nicht Schröders Stil, aber seine Politik

Bei ihr selbst war das noch anders: Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder von der SPD, war ein klassischer Großmaul-Politiker, bei dem Form und Inhalt bestens miteinander korrespondierten. Schröder stand für eine Politik, die Arme noch ärmer werden ließ, die zutiefst Arbeiter*innenfeindlich, dafür aber richtig gut fürs deutsche Kapital war. Schröder ließ sich lachend mit Zigarre fotografieren, beschimpfte Arbeitslose, markierte den Macho und am Ende konnte er nicht einmal in Würde abtreten, sondern blamierte sich vor aller Augen am Wahlabend 2005, als er in der Elefantenrunde immer wieder behauptete, auch die nächste Regierung anzuführen, obwohl da schon jede*r wusste, dass er verloren hatte. Danach ging Schröder zu Gazprom. Es passte alles.

Merkel indes pflegte bis zum Ende einen anderen Stil. Sie verhielt sich in den Augen der meisten nicht so großmäulig, arrogant, demonstrativ machthungrig und auf den eigenen Vorteil bedacht wie man es von Spitzenpolitiker*innen gewohnt ist. Linksfraktionschef Dietmar Bartsch hat sogar recht, wenn er – anlässlich des Zapfenstreiches zu ihren Ehren – sagt, Merkel sei unbestechlich gewesen, weil „zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise materielle Werte Maßstab für ihr Agieren“ gewesen seien. Gemeint ist hier vermutlich: Sie hat sich in ihrem Amt nie selbst bereichert. Das trifft zu – auf Merkel persönlich (auf andere Politiker*innen ihrer Partei, wie wir wissen, nicht) .

Politikerkorruption ist aber nicht der Kern der Politik; die Aufgabe einer Regierung an der Spitze eines mächtigen kapitalistischen, im Fall Deutschlands auch imperialistischen Staates ist es keineswegs, sicherzustellen, dass sich ihre Mitglieder die eigenen Taschen füllen können – das ist, wenn überhaupt, nur willkommene Nebensache. Die vorrangigste Aufgabe einer deutschen Bundesregierung ist es, für optimale Akkumulationsbedingungen für das deutsche Kapital zu sorgen. Bartschs Tweet ist insofern wiederum falsch, als dass für Merkels Politik materielle Werte sehr wohl Maßstab waren. Denn darum, es dem nationalen Kapital so gut es ging zu ermöglichen, sich (Mehr)Wert anzueignen (es zu reinvestieren und so weiter), zielte ihr Regierungshandeln ja sehr oft ab.

Und dafür, diese Politik für das Kapital und gegen die Ausgebeuteten im In- und Ausland umzusetzen, war sie eine wirklich gute Besetzung, gerade wegen ihrer Integrität und Rechtschaffenheit. Allzu korrupte Politiker*innen oder Staatsbedienstete sind eher hinderlich für ein Land, das Supermacht ist und bleiben will; eine in den Augen vieler unbestechliche Kanzlerin, die wirklich daran glaubt, dass es für alle das Beste ist, wenn es „der deutschen Wirtschaft“ gut geht, dagegen Gold wert.

Damit es ihr „gut geht“, war unter anderem wesentlich, das von Schöder hinterlassene Erbe der Agenda 2010 zu erhalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln. Merkel mag einen anderen Stil als ihr Vorgänger gepflegt haben, hat aber dessen Politik konsequent fortgeführt. Präsentiert und dauerhaft vermittelt hat sie das viel weniger ekelhaft und damit unterm Strich besser als etwa Schröder, sogar jenen, die von ihrer Politik nicht profitieren konnten oder unter ihr objektiv litten: Keine habe sich ziviler und ehrlicher präsentiert, resümierten zwei Journalistinnen im RBB-Inforadio zu Merkels Abschied sehr zutreffend, und ergänzten: „Das hat sie wählbar und akzeptabel gemacht für viele.“ Anders als Schröder, der augenscheinlich für Bruch, Kahlschlag und brutalen Umbau stand, stand Merkel für kleine Schritte, dafür, unaufgeregt und „leise“ zu regieren. Das war ungemein effektiv, weil sie so das Programm der Ungleichheit fast immer wie die normalste, oder auch: natürlichste Sache der Welt aussehen ließ.

Gute Merkel, schlechte Regierung

Die mit den Jahren zum Kult gewordene Bildsprache half dabei: Merkel mit eingefrorenem Gesicht beim Karneval, während die Funkemariechen um sie herum springen; Merkel kreischend mit Papageien in Mecklenburg; Merkel beim Einkaufen mit Klopapier im Wagen („wie ein normaler Mensch!!“); zuletzt: Merkel beim Zapfenstreich, die sich Nina Hagen vorspielen lässt. Andere Bilder – Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend Anfang der 1990er Jahre beim Plaudern mit Nazi-Skinheads; Anti-Merkel-Plakate bei Protesten gegen das Spardiktat in Griechenland – konnten dagegen nicht ankommen.

Die Bilder der lebensnahen und uneitlen, der menschlichen Merkel haben außerdem geholfen, zwei weitere bemerkenswerten Trends zu verstärken, die vor allem in den späteren Merkel-Jahren wirkten und wiederum mit Trennung zu tun hatten: Die Trennung Merkels von ihren Minister*innen in der Rezeption des Regierungshandelns sowie die Trennung von Merkel und den Leidtragenden ihrer Politik.

Während beispielsweise Merkels Atem beim Zapfenstreich am Reichstagsufer unter Beobachtung Tausender ergriffener Journalist*innen und Linker gefror, drohen weiterhin Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze zu erfrieren (mehrere haben ihr Leben bereits verloren), also an der östlichen Außengrenze jener Staatengemeinschaft, deren mächtigstes Mitgliedsland die Bundesrepublik Deutschland ist. Die Verweigerung Deutschlands, die Geflüchteten aufzunehmen und die demonstrative Unterstützung Polens folgen der Weigerung, die Geflüchteten aus Moria zu evakuieren, dem EU-Abschottungskurs, dem in den letzten Jahren Tausende an den Außengrenzen sinnlos zum Opfer gefallen sind, dem von Merkel maßgeblich ausgehandelten EU-Türkei-Deal, den unmenschlichen Ankerzentren – die Liste ließe sich fortsetzen.

Doch regelmäßig, ganz so, als sei Merkel losgelöst von ihrem Kabinett und schwebe über den Dingen, nahm die Wut, die sich auf Gestalten wie Horst Seehofer, Julia Klöckner oder Jens Spahn richtete, Merkel explizit aus. Und ähnlich wie die Minister*innen von der Kanzlerin separiert wurden, scheinen auch die Opfer der Politik der vergangenen 16 Jahre gar nichts mehr mit derjenigen zu tun zu haben, die sie maßgeblich lenkte. Bartschs oben zitierte Aussage steht hier auch exemplarisch für eine atemberaubende Empathieverweigerung, die mit dem „Merkel-Kult“ einiger Linker zwangsläufig einhergeht: Obwohl sie genau wissen, was die Merkel-Regierung der griechischen Arbeiter*innenklasse angetan hat, was sich an den Außengrenzen abspielt, wie es Kindern von Hartz-IV-Bezieher*innen geht, was Prekarität mit den Menschen macht… – trotzdem gebührt Merkel ihr Dank, Respekt und ihre Anerkennung.

Rechte Dämonisierung

Das Beschriebene bezieht sich auf die mediale, linke und linksliberale Öffentlichkeit. Ganz rechts sieht es natürlich anders aus: Hier wird Merkel völlig überhöhend und persönlich dämonisiert, vor allem aus rassistischen Beweggründen, wegen der Aufnahme von Geflüchteten im Jahr 2015, eine Portion Sexismus spielt auch eine Rolle. Rechte haben keine Analyse davon, wie der Kapitalismus funktioniert beziehungsweise sind sehr gut mit ihm arrangiert, oft konsequenter als der neoliberalste Neoliberale; ihr Hass richtet sich nach unten oder eben auf Einzelne, die oben sind, es aber aus ihrer Sicht dort falsch machen. Dabei sind einzelne Politiker*innen, selbst wenn sie so mächtig sind wie Merkel, nicht der Skandal, sondern das System, das sie verteidigen und dessen Reproduktion sie dienen.

Das heißt andersherum auch: Klar kann ich als Linke finden, ich wäre lieber mit Merkel als mit Schröder oder Spahn oder Trump in einem Raum eingesperrt (allein schon, da sie wahrscheinlich schön schweigsam ist). Doch 16 Jahre lang Form und Inhalt kaum voneinander unterscheiden zu können und sich im Gegenteil immer weiter in die Form zu verlieben, ist eine schwache Leistung. Mehr noch: Dass nach 16 Jahre Amtszeit „Merkel muss Weg“ ein zu 100 Prozent rechts besetzter Slogan ist und Linke ihn nicht einmal während der schlimmsten Zeiten der Griechenlandkrise riefen, ist – ehrlich gesagt – zum Schämen. Oder, ganz nüchtern betrachtet, einer der größeren Erfolge ihrer Kanzlerinnenschaft. Jetzt ist Merkel weg und was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass das giftige Handeln von Mächtigen auch von vielen Linke allzu gerne bereitwillig geschluckt wird, wenn die Verpackung nur freundlich genug ist.

# Titelbild: pixabay

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24. November 2016: Vor genau fünf Jahren unterzeichnete der kolumbianische Staat ein Dokument, welches einen 50 Jahre langen aufständischen Bürgerkrieg beenden sollte. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, besser bekannt als FARC-EP, setzten sich mit ihren jahrzehntelangen Feinden zusammen an den Verhandlungstisch.

Während 7.000 Guerrilerxs der FARC-Guerilla ihre Waffen in der aufrichtigen Hoffnung auf Frieden abgaben, hatte der Staat seine ganz eigene Motivation. Die kolumbianische Elite erkannte: Ein Krieg gegen Kommunisten ist schlecht fürs Geschäft.

Das Abkommen machte den Menschen Hoffnung auf Frieden und Wandel, gleichzeitig badete sich der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos im Rampenlicht der internationalen Presse; Santos wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Jetzt, 2021, ist am vergangenen Montag der UN-Generalsekretär im Land eingetroffen, um sich mit den Opfern des bewaffneten Konfliktes, Regierungsdelegierten und ehemaligen hochrangigen Führern der FARC-EP zu treffen. Am Mittwoch, dem 24. November, dem fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensabkommens, wird es einen großen Festakt geben. Was genau gefeiert wird ist unklar, denn Frieden gibt es in Kolumbien keinen.

Im Jahr 2016 war die FARC-EP bereit, ihre Waffen abzugeben. Jetzt werden unbewaffnete, ehemalige FARC-Veteranen erschossen. Systematische Morde an ehemaligen FARC-Guerilleros erschüttern das Land. Wenn der derzeitige Trend der gezielten Tötungen anhält, werden etwa 1.600 ehemalige FARC-Gueriller@s bis Ende 2024 ermordet werden, teilte das kolumbianische Tribunal für Übergangsjustiz am 28. April 2021 mit. Bereits jetzt wurden seit dem Friedensvertrag über 260 ehemalige FARC Mitglieder ermordet. Ehemalige FARC-EP-Gueriller@s fürchten um ihr Leben, während die Überzeugung, dass das so genannte Friedensabkommen auf einer Illusion beruht, immer mehr an Popularität gewinnt.

Nicht alle fügen sich diesem Schicksal. Der bittere Verrat am Friedensvertrag seitens des Staates war für viele ehemalige Mitglieder, Kommandeur:innen und Gueriller@s der FARC-EP und der mit ihrem verbundenen Kommunistischen klandestinen Partei Kolumbiens (PCCC) der Anlass, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Derzeit sind die Strukturen der „neuen“ FARC-EP landesweit in 138 Gemeinden präsent, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr, in dem der Friedensprozess zwischen der „alten“ FARC-EP und der kolumbianischen Regierung abgeschlossen wurde.

Tausende zerrissen den Vertrag in zwei Teile und griffen wieder zu den Waffen. Die „Partei der Rose“, die legale Partei aus ehemaligen FARC Mitgliedern, verlor viele ihrer Mitglieder. Die einflussreichsten FARC-Kommandeure Jesus Santrich und Iván Márquez kehrten in die Berge zurück, um die Gründung der FARC-EP bekannt zu geben: Die Zweite Marquetalia. Fast täglich gibt es Gefechte. Frieden in Kolumbien eine Illusion.

Frieden gibt es in dem Land schon allein deswegen keinen, weil die FARC und der Staat nicht die einzigen Parteien im Krieg sind, und rechte Paramilitärs, die für die überwiegende Anzahl an politischen Morden verantwortlich sind, Kartelle und der Staat selbst immer noch einen bewaffneten Kampf gegeneinander und das Volk führen. Wie instabil der Status Quo aktuell ist, wurde während des Nationalstreiks 2021 und dem anschließenden Volksaufstand als Reaktion auf Polizei- und paramilitärischer Gewalt deutlich. Mindestens 84 Menschen wurden getötet, über 1.790 verwundet und 3.274 verhaftet. Dazu kommen 106 geschlechtsspezifische Gewaltakte.

Der Besuch von dem UN-Generalsekräter António Guterres findet inmitten einer Welle der Gewalt statt. Allein 2021 wurden  mehr als 150 Aktivisten und seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1270 sozialen Aktivisten ermordet. In Kolumbien gibt es das Sprichwort: „Es ist weniger gefährlich in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen.“ Die kolumbianische Bevölkerung und vor allem die Revolutionäre Bewegung ist sich bewusst, dass über die verfaulte bürgerliche Demokratie die korrupte Herrschaft der Oligarchen nicht überwunden werden kann. Aus diesem Grund sind die einzigen konstanten Kriegsparteien in dem über 50 Jahre dauernden Bürgerkrieg die Kommunistischen Guerilla und der Staat. 

# Titelbild: Juan Manuel Santos, ehem. Präsident von Kolumbien und Rodrigo Londoño Echeverri, alias «Timoleón Jiménez“ von den FARC, 2016

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Die Deutsche Bahn erhöht (mal wieder) die Preise. Warum die Bahnpolitik einer Verkehrswende und dem Kampf gegen die Klimakrise zuwiderläuft. 

Mit der deutlichsten Erhöhung der Preise (+1,9%) im Fernverkehr seit 2012 wird das Bahnfahren in Deutschland ab Dezember diesen Jahres wieder einmal unattraktiver. Der Konzern kommentiert jedoch: „Im langfristigen Vergleich bleibt Bahnfahren weiter günstig.“ Bahnfahrende in Deutschland wissen, dass das völliger Quatsch ist. Kaum eine Strecke ist mit dem Auto, dem Bus oder dem Flugzeug nicht günstiger und schneller zu bestreiten als mit dem Zug. Dieser bietet so gut wie keine Vorteile für die Reisenden, abgesehen vom guten Gefühl möglichst ökologisch zu reisen. Und selbst das verschwimmt bei genauerem Hinsehen deutlich. Aber beginnen wir etwas weiter vorn.



Bahnreform – Der Anfang vom Ende

1994 tritt das Eisenbahnneuordnungsgesetz in Kraft, allgemein besser bekannt als „Bahnreform“. Dazu gehörte die Ausgliederung der Deutschen Bahn AG als privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des Bundes. Arno Luik beschreibt in seinem Buch „Schaden in der Oberleitung“ die Folgen dieser Reform eindrücklich. (https://www.westendverlag.de/buch/schaden-in-der-oberleitung/ ) Der Staatskonzern agierte von da an wie ein privates Unternehmen: Schlechterer Service, höhere Kosten, Einsparungen an jeder Ecke, sowie Entlassungen und Kürzungen auf der einen und fette Boni auf der anderen Seite. Insgesamt steigerte sich das Gehalt der Bahnchefs von 1991 bis 2017 um 2000% und der Sanierungsstau wuchs auf 57 Milliarden Euro an.

Die Chefs der Deutschen Bahn kamen seit der Reform 1994 fast ausnahmslos aus der Auto- oder Luftfahrtindustrie. Viele von ihnen wechselten nach ihrer Tätigkeit bei der Bahn auch wieder dorthin zurück, weshalb Vermutungen, dass die Bahn im Namen der deutschen Autoindustrie bewusst zugrunde gerichtet wurde, nicht unlogisch erscheinen. Wer das für unrealistisch hält, der sei an die „General Motors Streetcar Conspiracy“ erinnert: Zwischen 1930 und 1960 kauften US-Autofirmen unter der Führung von General Motors Bahnunternehmen in den ganzen USA auf, um den Bahnverkehr stillzulegen und ihn durch Autos zu ersetzen. Mit Erfolg.

Beispielhaft für die stümperhafte Führung des deutschen Konzerns steht Hartmut Mehdorn, der breitspurig erklärte, Bahnfahren über vier Stunden sei „eine Tortur“ und wenn er persönlich von Berlin nach München müsse, nehme er meist das Flugzeug. Passend dazu orderte er dann auch 500 Dienstwagen für die Bahn-Führungskräfte. Auch er arbeitete zuvor für Airbus und Lufthansa, und kehrte nach seiner Zeit bei der Bahn dorthin zurück: Erst zur Fluglinie Air Berlin und dann zum Flughafen BER.

In den fast 30 Jahren seit der Bahnreform wurde aus der Deutschen Bahn außerdem ein weltweit aktiver Logistikkonzern. Über die Hälfte ihres Umsatzes macht das Unternehmen mittlerweile im Ausland, weitere knapp 50% mit Geschäften, die mit Bahnfahren nichts zu tun haben. Bevor Hartmut Mehdorn im Jahr 1999 die Zügel bei der Bahn in die Hand nahm, wurden mehr als 95% der Umsätze im Inland und mehr als 90% mit Bahnfahren erwirtschaftet. Heute besteht die Bahn AG hingegen aus einem Konglomerat von knapp 1000 Firmen und ist in über 130 Ländern aktiv. Die wirre Firmenstruktur mit acht Töchterfirmen, hat auch ganz praktische Auswirkungen für Bahnfahrende: Fällt beispielsweise bei der Tochterfirma DB Fernverkehr eine Lok aus, kann diese nicht durch eine nebenan abgestellte Lok ersetzt werden, wenn diese DB Regio gehört. 


Die Bahn wird international tätig

Im Jahr 2002 ging es dann so richtig los mit der Welteroberung, als die Bahn den Logistik-Konzern Schenker für 2,5 Milliarden € aufkaufte. Hinzu kamen weitere Übernahmen, beispielweise in den Niederlanden und Dänemark, sowie eines US-Logistik-Konzerns.

Nachdem Hartmut Mehdorn wegen einer Spitzelaffäre gehen musste – nicht ohne eine saftige Abfindung zu kassieren – führte Rüdiger Grube aus dem Hause Daimler seine Weltmachtsfantasien fort.

Vor mittlerweile zehn Jahren kaufte die Bahn das britische Busunternehmen Arriva für knapp 3 Milliarden Euro und wurde so zum größten Busbetreiber in Europa. Während man es hierzulande nicht schafft, einen funktionierenden Bahnverkehr aufrecht zu erhalten, treibt man auf dem ganzen Globus die wildesten Geschäfte: Wein- und Minenlogistik in Australien, E-Car-Sharing in Kopenhagen, Krankentransporte in Großbritannien, Busse in Kroatien, Portugal, Polen, Dänemark und Spanien, Transport von See- und Luftfracht auf der ganzen Welt. Ganz aktuell beteiligt sie sich an einem skandalösen Vorhaben, dem sogenannten „Tren Maya“ in Mexiko. Da mit diesem Projekt die Zerstörung der letzten Regenwälder Mexikos, Vertreibung und Missachtung der Rechte der indigenen Bevölkerung, eine Militarisierung der Region und die geopolitische Funktion einer „Migrant:innen-Sperre“ einhergeht, sagt Dr. Sergio P. Díaz, der das Projekt als Forscher an der Universität Campeche seit Jahren vor Ort beobachtet und dessen geopolitische Dimension untersucht, im Interview mit dem Ya-Basta-Netz: „Der größte Fehler besteht darin, den „Maya Zug“ nur als Zug zu betrachten.“


Die Bahn als lukratives Sprungbrett

In den 24 Jahren der beiden Amtszeiten von Mehdorn und Grube haben sie es geschafft 18 Milliarden € Schulden anzuhäufen und dennoch Abfindungen in Höhe von rund 9 Millionen zu kassieren. Besonders frech: Rüdiger Grube arbeitete im Jahr 2017 genau 30 Tage bevor er fristlos kündigte. Für diesen Zeitraum erhielt er eine stolze Abfindung von 2,3 Millionen Euro – ungefähr 76.000€ pro Tag. Nach seiner Bahnkarriere besetzte er Posten im Aufsichtsrat von Bombardier, einem Konzern, der unter anderem Züge baut, und als Berater für die Tunnelbaufirma Herrenknecht. Das ist besonders brisant, da diese satte Profite an Stuttgart21 macht. Einem Bauprojekt, das bekanntermaßen einzig und allein den involvierten Firmen, Unternehmern und Investoren nützt. Die alt-bekannte „revolving-door“-Politik. 


Kaputtgespart

In dieser Zeit wurde die Bahn regelrecht kaputtgespart. Weichen, Schwellen, Abstell- und Ausweichgleise wurden abgebaut, Stellwerke geschlossen, unzählige Kilometer Gleise stillgelegt, Personal entlassen, an der Wartung gespart, auf Verschleiß gefahren. Ebenso rigoros spart die Deutsche Bahn an Lärmschutzmaßnahmen. Im oberen Mittelrheintal beispielsweise zerstört der Güterzugverkehr die landschaftliche Idylle. Die Liste ließe sich beinahe ewig fortführen, ja selbst Lautsprecherdurchsagen zur Vorsicht bei vorbeifahrenden Zügen wurden aus Kostengründen abgeschafft. Auch an der Sicherheit der Fahrgäste wird gespart. Das Eisenbahnbundesamt wies den Konzern in dutzenden von amtlichen Bescheiden an, „notwendige Reparaturen“ vorzunehmen, um „Gefahren für Leib und Leben“ abzuwenden. Da allerdings im Bahngesetz von 1993 festgeschrieben ist, dass die Bahn für Reparaturen aufkommen muss, der Bund jedoch Neuanschaffungen bezahlt, lässt die Deutsche Bahn vieles einfach verrotten, bis es neu gebaut werden muss. Dass sie bei Neubauten auch noch Geld für die „Planungsaufsicht“ einstreicht, macht das Ganze für die Deutsche Bahn noch lukrativer. So steht der Konzern mittlerweile fast schon symbolisch für prahlerische Riesenprojekte, bei deren genauerer Betrachtung sich Sinn- und Zweckhaftigkeit meist nicht erschließen. So wie die neue ICE-Strecke zwischen München und Berlin, die schon bei ihrer Jungfernfahrt mit 2 Stunden Verspätung glänzte. Bei der Fertigstellung hatten sich die Kosten auf 10 Milliarden Euro verdoppelt, wobei der Staat immer wieder einsprang und im internationalen Vergleich beeindruckt eine Fahrtzeit von 4 Stunden (plus den einzuplanenden Verspätungen) absolut nicht. Für eine ähnliche Entfernung z.B. von Barcelona nach Madrid braucht der Schnellzug dort nur zweieinhalb Stunden.

Seit Mehdorns Amtsantritt hat die Deutsche Bahn rund 2500 Bahnhöfe verkauft, besonders im Osten wurden viele von ihnen dicht gemacht. All diese Bahnhöfe hat die Deutsche Bahn nicht selbst gebaut oder finanziert, dennoch fließt der Erlös ausschließlich in den Konzern. 1994 war die Bahn neben der Kirche und dem Fürsten Fritz von Thun und Taxis im Besitz des größten Immobilien- und Grundstückseigentums Deutschlands. Auch viele dieser Grundstücke wurden für den schnellen Profit verscherbelt. Oft werden diese vom Staat gekauft, wie beispielsweise der Bahnhof Altona. Die Kommunen bezahlen also Unsummen an die Deutsche Bahn für Eigentum, das dem Unternehmen von der Allgemeinheit geschenkt wurde.

Und auch das Streckennetz in Deutschland ist skandalös schlecht ausgebaut. Nicht nur, dass es im Jahr 2019 um gerade einmal sechs Kilometer erweitert wurde, auch werden immer mehr Regionen vom Fernverkehr abgekoppelt. Über 100 Städte, darunter Potsdam, Krefeld, Trier oder Bayreuth – und damit knapp 17 Millionen Menschen – sind von diesen Sparmaßnahmen betroffen. Viele von ihnen werden auf das Auto umgestiegen sein.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Bahn sich lieber auf profitable Prestige-Projekte konzentriert, als tatsächlich eine funktionierende Infrastruktur für die breite Bevölkerung zu betreiben.


Güterverkehr


Auch beim Güterverkehr, der in Sachen Verkehrswende eine immense Rolle spielt, macht die Bahn alles erdenklich mögliche falsch. Während in den letzten 2 Jahrzehnten das Straßennetz in Deutschland um knapp 300.000 Kilometer gewachsen ist, wurde das Schienennetz um mehr als 20% zurückgebaut. Auch die Gleisanschlüsse für die Industrie werden immer weniger, was dazu führt, dass diese beim Transport auf die Straße umsteigen. Beispielhaft hierfür steht die Abschaffung der Postzüge im Jahr 1997 durch Heinz Dürr, Ex Daimler-Vorstandsmitglied. Die Deutsche Post AG schaffte sich damals 6000 neue LKW an. Natürlich von Daimler. Pro Kilometer stößt ein LKW viermal so viele Klimagase aus wie ein Güterzug, der aber die Transportkapazität von 40 LKW’s hat. Ein umweltpolitischer Wahnsinn.

Dabei gibt sich die Bahn gern als umweltfreundliche Alternative zum Auto oder zum Flugzeug und wirbt damit, dass der Fernverkehr komplett mit Ökostrom fahre. Allerdings ist der Fernverkehr die kleinste Sparte im Konzern und dieser „Ökostrom“ kann durchaus auch aus einem Atomkraftwerk kommen. Am AKW Neckarwestheim, einem uralten Meiler, besitzt die Deutsche Bahn sogar Anteile. Hinzu kommt, dass nicht einmal 60% des Schienennetzes elektrifiziert sind – fast 2500 Triebwagen und Lokomotiven mit Dieselmotoren gehören noch zur DB-Flotte. Fast die Hälfte des Bahnstroms kommen aus Kohle- oder Atomkraftwerken. Außerdem ist der Konzern der größte Einzelverbraucher von Glyphosat in Deutschland. Rund 65 Tonnen werden jährlich versprüht um Unkraut im Schotterbett zu bekämpfen. Ein großes Problem stellen auch die vielen Tunnel dar. Nicht nur, da sich beim Durchfahren durch den höheren Luftwiderstand der Energieverbrauch verdoppelt, vor allem im Bau benötigen sie riesige Mengen an Stahl und Beton. Dabei sind die Zement- und Stahlindustrie für knapp 20% der von den Menschen produzierten Klimagase verantwortlich.


Immer schlechter, immer teurer

Unzählige Skandale und einzelne Themen könnte man noch anführen und kritisieren. Aber kommen wir noch einmal auf das Preissystem der Deutschen Bahn zurück. Da gibt es Sparpreise, Sommerpreise, Supersparpreise, Sparangebote, Spartickets, normale Tickets und vieles mehr. Zwischen 1993 und 2018 sind die Fahrpreise im Bahnverkehr um gut 80% gestiegen, während die allgemeine Teuerungsrate gerade mal bei knapp 40% lag. Durch die erneute Preissteigerung wird das im europaweiten Vergleich in Deutschland ohnehin schon teure Bahnfahren noch unerschwinglicher.

Eine echte Umstellung wäre zwar möglich, würde aber auch echten Willen zur Verkehrswende verlangen. Mal angenommen, der im Jahr 2017 von der Deutschen Bahn alleine im Personenverkehr erwirtschaftete Gewinn von 14 Milliarden Euro, sowie der deutsche Haushaltsüberschuss von 62 Milliarden Euro wären investiert worden: Dann hätten alle in diesem Jahr gekauften Tickets stattdessen verschenkt werden können, ohne dass dies wirtschaftliche Probleme mit sich bringt. Mit den übrigbleibenden Milliarden könnte man die Streckennetze ausbauen, neue Züge anschaffen und Mitarbeiter:innen anstellen, sowie fair bezahlen. Angesichts der Klimakrise wäre das das Mindeste, doch nichts davon geschieht. Die Autolobby und ihre Funktionäre werden weiter hofiert und eine echte Verkehrswende dadurch auf absehbare Zeit nahezu unmöglich gemacht. 

Wir sind gefragt: Verkehrswende bleibt Handarbeit!

#Titelbild: David Abadia on unsplash

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Am Sonntag den 24. Oktober erreichte die türkische Lira ein Rekordtief und mit Bange beobachtete die Bevölkerung des Landes wie ihre wirtschaftliche Situation sich wieder ein Stück weiter verschlimmerte. Aber nicht allen geht es so – für viele andere ist der politisch-mediale Apparat des faschistischen türkischen Staates nämlich wieder so effektiv, dass kaum eine Minute bleibt, um an Inflation und eine horrende Suizidrate aufgrund von Armut im Land zu denken, denn die weitere rechtsnationalistische Sau muss durch das Land gejagt werden. So wurden kürzlich beispielsweise Verfahren und sogar sofortige Abschiebebefehle gegen mehrere syrische Flüchtende ausgesprochen, die „provokativ“ Bananen auf social media aßen, nachdem sich ein türkischer Bürger auf Social Media darüber beschwerte, dass die durchschnittliche türkische Person sich diese im Gegensatz zu den Geflüchteten nicht leisten könne. In Denizli beging wieder einmal ein Mann einen Femizid an seiner Ex-Freundin und wieder einmal wird in den Kommentarspalten darüber diskutiert, was die Frau alles gemacht haben muss, um den Mann so provoziert zu haben. Und schließlich beschloss das türkische Parlament öffentlichkeitswirksam, dass sowohl die militärischen Einsätze in Syrien als auch im Irak um zwei Jahre verlängert werden sollen – gemeint ist natürlich der vermeintliche Krieg gegen die PKK. Wieso man sich Bananen nicht leisten können sollte, wieso FLINTA* Personen täglich sterben müssen, wieso das kurdische Volk bei jeder noch so kleinen Gelegenheit vernichtet werden muss, das fragen sich die wenigsten in einem Land, wo vor allem eins intersektional ist: Das Elend und die Krisen.

Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass in Konsequenz dieser parlamentarischen Entscheidung eine größere neue Militäroffensive in Rojava von Seiten der Türkei ansteht. Genau wie bei den Operationen Euphrates Shield 2016/2017, Olive Branch 2018 (bekannter als der Krieg um Afrin) und Peace Spring (eine böswillige Untertreibung der ethnischen Säuberungskampagne zwischen Girespi und Serekaniye im Herbst 2019) werden sowohl türkische Luftkräfte, türkische Spezialkräfte am Boden und eine Horde an islamistischen Schergen der SNA (Syrian National Army, ehemals bekannt unter FSA/TFSA) mobilisiert. Dabei ist man sich nach wie vor nicht zu schade vormalige IS oder al-Kaida Kräfte mit einzubinden, wie der Sprecher des SDF Medienzentrums, Farhad Shami, feststellt.

Diesmal sieht es so aus, als würde die Türkei weiter ihrem Projekt nachkommen, die Verbindung zwischen den größeren Gebieten Rojavas zu kappen, wie auch schon zuvor geschehen. Afrin konnte die Türkei erfolgreich durch die Operation Euphrates Shield isolieren, um sich so auf die Einnahme des Gebiets vorzubereiten. Und auch der Vorstoß in Girespi und Serekaniye im Jahr 2019 lief vor allem darauf hinaus, das Gebiet bis zum M4 Highway (der Schnellstraße, die alle wichtigen Städte entlang der syrisch-türkischen Grenze verbindet) einzunehmen. Damals musste die türkische Armee den Highway nach einigen Wochen wieder freigeben, weil auch alle anderen Kräfte, unter anderem die russischen und US-amerikanischen, über diesen verkehrten. Doch ein strategisches Auge hat der NATO-Partner weiterhin darauf geworfen – besonders auf die am Highway gelegene Stadt Ain Issa, die südwestlich vom durch die Türkei besetzten Girespi (arabisch: Tel Abiyad) liegt.

In Ain Issa sammeln sich mitunter einige der wichtigsten Strukturen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und wer etwa vom Nordosten also von Qamishlo oder Heseke nach Kobani will, muss durch diese Stadt hindurch. Man kann also davon ausgehen, dass die nächste größere türkische Operation genau dieses tendenziell abgehängte Glied Rojavas einnehmen und vor allem Kobani isolieren will – ein militärischer und vor allem symbolischer Vorstoß, der ohne Gleichen wäre. 

In der Region Kurdistan (KRI) im Irak, wo der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung allerhöchstens zum Eklat von Gare führte, konnte hingegen noch kein symbolischer Sieg errungen werden, der ausreichend von den eigenen Krisen ablenken könnte. Während die Türkei mit allen Mitteln die gesamte Grenzregion zwischen dem Irak bzw. der KRI und der Türkei mit Drohnen und Giftgas bombardiert und ganze Waldflächen rodet, fliegt sie mittlerweile bis in das östlich von Kirkuk gelegene Chamchamal Drohnenangriffe gegen vermeintliche PKK-Stellungen. Besonders zugute kommt der Türkei eine schwache PUK – Jene Partei, welche im Osten der KRI das Sagen hat und durch interne Machtkonflikte enorm an Kraft verlor. Der bis dato mächtigste Mann der PUK, Lahur Sheikh Jangi, der als im weitesten Sinne als PKK-freundlich gilt, wurde infolge dieser Auseinandersetzungen seines Amtes enthoben. Zwischenzeitlich war sogar die Rede davon, ihn des Landes zu verweisen. Kurz nach diesen schicksalshaften Tagen hagelte es in der sonst sicheren und eher links eingestellten Stadt Sulaimaniya Kugeln. Mehrere PKK-Kader wurden getötet, darunter Yasin Bulut. Die türkischen NATO-Truppen bombardieren in Südkurdistan also weiterhin so gut wie alle Gebiete und dank dem erneuten Parlamentsmandat ist kein Ende dieser Kampfhandlungen in Sicht. Besonders makaber in diesem Kontext: Nur wenige Tage nach der Entscheidung des türkischen Parlaments postet die Twitter-Seite der NATO einen Ehrentweet an den NATO-Alliierten Türkei um mit ihnen den Nationalfeiertag zu zelebrieren. 

Wie gegen Ende des Jahres die Sicherheitslage der Kurd*innen im Irak aussehen wird, ist absolut unklar. Denn bis auf Weiteres sollen alle US-Truppen das Land verlassen, wie Präsident Biden schon im Juli nach Absprache mit Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ankündigte. Das irakische politische Establishment hat wiederholt keinerlei Einspruch gegen das kilometerweite Eindringen der Türkei geäußert und mit einem Ende der US-Präsenz und somit einem Vorteil für den Iran und iranische Milizen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Region Kurdistan von freundlichen Kräften umzingelt und besetzt sein wird. Ein Szenario, in dem die KRI weiter von türkischen NATO-Drohnen bombardiert und gleichzeitig von iranischen Raketen angegriffen wird, ist nicht besonders unwahrscheinlich. Es zeichnet sich ab, dass 2022 das Jahr des Überlebenskampfes der Region Kurdistan wird. Dafür sprechen nicht zuletzt die Rekordzahlen an flüchtenden Kurd*innen aus der KRI, die vor allem gerade an der polnisch-belarussischen Grenze feststecken. Denn zwischen der Korruption von KDP und PUK sowie dem fortwährenden Vernichtungskrieg der Türkei bleibt für die Zivilbevölkerung kaum eine Alternative. Und so nehmen viele eher den Tod auf der Fluchtroute in Kauf, als weiter dort im Elend zu leben.

An der vermutlich künftigen Koalition der Bundesregierung ist allerdings nur ihre Farbkombination pro-kurdisch, denn zum Thema Türkeipolitik hüllt man sich in Ampelkreisen in Schweigen. Nachdem Erdogan fast ohne Konsequenzen die Ausweisung verschiedener Botschafter*innen, unter anderem des Deutschen, verlangte und auch dies in Deutschland höchstens Mahnungen zur Besonnenheit hervorgerufen hat, gab es keinerlei weitere Statements zum Kameraden vom Bosporus. Gerade in bei SPD und Grünen begnügt man sich damit, politisch akzeptierte Oppositionelle wie Can Dündar oder Osman Kavala mit Phrasen  – oder mit einem netten Abendessen, wenn sie denn nun frei sind – zu beehren, anstatt sich wirklich zur Vernichtungspolitik der Türkei gegen Kurd*innen oder Armenier*innen zu positionieren. Man feiert 60 Jahre Gastarbeiter*innenabkommen, aber schweigt zur allgegenwärtigen Kriminalisierung kurdisch-linker und türkisch-linker Organisationen in Deutschland.

Vielleicht eint das Deutschland und die Türkei also am meisten: Während ökonomische Krisen, fundamentale Verteilungsfragen, tägliche Femizide und vieles mehr die Systemfrage hervorrufen sollten, vergnügt man sich lieber mit besonders emotionalisierten und symbolischen Debatten. So kann man leider davon ausgehen, dass die sich anbahnende neue Militäroffensive nicht die geringsten Reaktionen in den Kreisen des deutschen politischen Establishments auslösen wird. So wenig man mit diesen rechnen kann, so wenig sollten sie ein Standard politischen Handelns sein. Die nächsten Monate müssen vor allem dafür genutzt werden auf allen Ebenen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der NATO in Kurdistan – an allen Fronten – zu leisten. Sowohl in Südkurdistan als auch in Rojava geht es um nichts weniger, als um den Überlebenskampf der einzigen existierenden kurdischen Autonomieregionen – ihnen und vor allem ihrer Bevölkerung sollte nichts als grenzenlose Solidarität gelten.

#Bildquelle: ANF

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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

#Bildquelle: ANF

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oder: Was macht(e) die Bundeswehr in Afghanistan

Gastbeitrag von Antimilitaristischen Gruppen aus Berlin

Dies ist kein Beitrag über die Bundeswehr im Auslandseinsatz generell. Die Bundeswehr sammelt seit spätestens 1993 in Somalia erste Kriegserfahrungen, mit dem Einsatz in Jugoslawien wurde 1999 erstmals wieder Krieg – wenn auch noch nicht so bezeichnet – von deutschem Boden aus geführt. Dies ist ein Text über den bislang längsten und umfangreichsten Bundeswehreinsatz, der 2001 begann und erst vor wenigen Wochen mit viel Ach und Krach beendet wurde.

Nach den Anschlägen 2001 in New York und Washington wurde als erste Vergeltungsmaßnahme der Nato-Bündnisfall ausgerufen. Die Anschläge wurden als Angriff auf ein Mitglied der Kriegsallianz gewertet und damit als Angriff auf alle verstanden. Dies stellte für die westliche Militärbündnisgeschichte eine Zäsur dar. Kurz darauf machten sich die westlichen Bündnismächte auf, Afghanistan – das als Hort des Terrorismus auserkoren wurde – mit Krieg und Besatzung zu überziehen. Ein ähnliches Szenario wiederholte sich 2003 im Irak. Nur diesmal nicht vom Nato-Bündnisfall gedeckt, sondern von einer „Koalition der Willigen“ vollzogen und ohne direkte deutsche Beteiligung.

Dass die Bundesrepublik als Nato-Mitglied ihre Bündnispflichten erfüllen musste, war nicht der Grund für die Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Es war vielmehr eine willkommene Gelegenheit, die Bühne der global player auch im Tarnfleckoutfit zu betreten, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Deshalb schickte sich die Propagandamaschine an, die noch nicht vollends an Kriegseinsätze gewöhnte bundesdeutsche Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, dass Krieg führen ein gängiges Mittel deutscher Außenpolitik ist. Und wie schon 1999 begann der Kriegseinsatz der Bundeswehr 2001 mit einer Lüge. Anders als damals wurden aber nicht Hufeisenpläne und konzentrationslagerähnliche Zustände erfunden, sondern von einem humanitären Einsatz zum Schutz der Frauen und zum Bohren von Brunnen schwadroniert. Zehn Jahre nach Kriegsbeginn wurde zu diesem Zweck sogar die bundesdeutsche Entwicklungshilfe militarisiert. Ehemals zivilen Entwicklungshilfeeinrichtungen wurden zur GIZ GmbH – der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit – fusioniert. Sie soll sicherstellen, dass bundesdeutsche Mittel nur dann vergeben werden, wenn damit eine Kooperationsvereinbarung mit der Bundeswehr im Einsatz einhergeht. Dies alles nur, um die eigentlichen Kriegsgründe zu verschleiern: Die Freude darüber, die erste größere Nebenrolle mit Aussicht auf weitere Engagements im Theater der kriegsführenden Nationen zu spielen.  Gleichzeitig auch Bereitschaft dafür zu zeigen, zur Sicherung der eigenen Interessen auch militärisch einzustehen.

Wer anderes behauptet, dem konnte diese Behauptung Kopf und Kragen kosten – mustergültig durchexerziert am am Beispiel des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Dieser hatte sich im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio erdreistet, eine Wahrheit gelassen auszusprechen. „[… E]in Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“ Kurz gesagt: Krieg führen, damit es der deutschen Wirtschaft gut geht. Für diese einfache Wahrheit schien die bundesdeutsche Öffentlichkeit noch nicht bereit, dafür die Suche nach einem neuen Bundespräsidenten.

Doch bereits im März 2010 hatte der ehemalige Gebirgsjäger und damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg davon gesprochen, dass Mensch bei dem, was die Bundeswehr in Afghanistan mache, durchaus „umgangsprachlich“ von Krieg reden könne. Und das nachdem sein Amtsvorgänger Franz Josef Jung zurückgetreten war. Grund für den Rücktritt war die Bombardierung zweier Tanklastzüge nahe Kunduz. Auf Befehl von Oberst Klein wurden bei diesem ersten Kriegsverbrechen seit dem 2. Weltkrieg 142 Zivilisten ermordet.

Vielleicht läuteten nach diesem Tabubruch von zu Guttenberg bei Köhler die Glocken. Vielleicht dachte er sich, wenn jetzt schon in der Bundeswehr-Einsatz ein Stückchen weiter ins rechte Licht gerückt werden kann, wieso dann nicht auch gleich den eigentlichen Grund klar und deutlich benennen. Wir werden es nie erfahren. Wessen wir uns aber sicher sein können, ist, dass bei ähnlichen Fauxpas weiterhin Politiker*innen-Köpfe unter das Schafott der öffentlichen Meinung gelegt werden würden. Das Gegenteil kann gerne bewiesen werden: Als Anlässe schlagen wir z. B. die Entsendung der Fregatte Bayern ins Südchinesische Meer oder die seit zwei Jahren stattfindenden Defender-Europe-Manöver vor.

Dass aber auch der Kriegsminister zu Guttenberg bald ins Straucheln kam und letztendlich gefallen ist, ist ein Treppenwitz der Geschichte. Das lag aber nicht an dem feinen Näschen des ehemaligen Elitesoldaten für kriegerische Angelegenheiten. Immerhin kam seine Äußerung nur wenige Tage vor dem sog. Karfreitagsgefecht 2010. Diese erste länger anhaltenden Kampfhandlung unter deutscher Beteiligung brachte der bundesdeutschen Öffentlichkeit bei, dass Bundeswehrsoldaten nicht nur in der Lage sind, andere zu töten, sondern auch, getötet zu werden. Zu Guttenberg ist darüber gestolpert, weil rauskam, dass er bei seiner Doktorarbeit beschissen hatte. Und ein Kriegsminister, der sich bei Lügen erwischen lässt, ist für den Job nicht zu gebrauchen. Es sei denn, er lügt im Sinne der politischen Propaganda

Aber lange Rede, kurzer Sinn: Aus bundesdeutscher Perspektive ging es in Afghanistan nie darum, Freiheit and democracy nach Afghanistan zu bringen. Spätestens nach der Halbzeit des Einsatzes war klar, dass sog. Entwicklungshilfe, Brunnenbohren und Schulen bauen und all die anderen Elemente dieser Aufstansbekämpungsstrategie in Afghanistan nicht fruchten würde. Deshalb wurde ab 2014 auch der ISAF-Einsatz beendet und von der Mission Resolute Support, die den Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte zum Ziel hatte, gestartet. Im April 2021 wurde bekannt, dass auch dieser Einsatz beendet wird und alle westlichen Truppen bis September abgezogen werden und das Land seinem Schicksal überlassen wird.

Dass durch den Abzug der Truppen kurz- bis mittelfristig die Taliban wieder an die Macht kommen würden, war allen klar. Denn niemand hat ernsthaft damit gerechnet, dass es gelungen wäre, eine Demokratie nach westlichem Vorbild in Afghanistan zu etablieren. Dies zeigen schon die verschiedensten Beispiele aus der Kolonialgeschichte, die bis heute auch die verschiedenen Geschichten von wirtschaftlicher Unsicherheit, kriegerischen Auseinandersetzungen, von Flucht und Vertreibung prägen. Ein Vorhaben wie in Afghanistan konnte nicht klappen. Und wir unterstellen den verantwortlichen Planer*innen, dass ihnen das auch sehr schnell bewusst gewesen sein muss. Deshalb offenbaren die Bilder der verzweifelten Menschen am Flughafen in Kabul, die in die Besatzer ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben gesetzt haben, die grausame Perfidie des Krieges aufs Neue. Es ging nie um die Interessen der Menschen in Afghanistan, sondern immer nur um die Interessen der verschiedenen Akteure im Theater dieses Krieges. Dass die Grausamkeit der westlichen Akteure nun tatsächlich soweit reicht, dass nur unter großem Murren und Bohei dazu bereit sind, Menschen, die während der Besatzungszeit mit ihnen kollaboriert haben, Asyl zu gewähren, ist dennoch erschreckend. Statt dessen droht die derzeitige Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer offen damit, künftige Einsätze in Afghanistan, sollte es sie jemals geben, nur noch aufs Brunnenbauen zu beschränken. Gleichzeitig wird aus dem Entwicklungshilfeministerium versprochen ihre Unterstützungsleistungen einzustellen. Wer jetzt denkt, wieder an den Anfang des Textes gerutscht zu sein, irrt sich. Wie die Geschichte weiterginge, sollte es tatsächlich soweit kommen wie angedroht, dürfte sich aber dennoch dort nachlesen lassen.

Aus dem Schock der Bilder vom Kabuler Flughafen heraus, ist es nur allzu verständlich, die sofortige Evakuierung aller Menschen zu fordern. Es ist der Ausdruck eines mitmenschlichen Gefühls, nach Möglichkeit andere Menschen aus lebensgefährlichen Situationen zu helfen. Es ist ein Appell an die Vernunft, die das Menschenrecht auf Asyl einräumt. Es ist aber auch ein Ausdruck der Verzweiflung, Forderungen an diejenigen zu richten, die die Misere maßgeblich verursacht haben.

Einzelne Stimmen aus Afghanistan – die der RAWA (Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans), der Solidaritätspartei und von Malalai Joya – haben immer gefordert, diese Besatzung sofort wieder zu beenden. Denn eine „Befreiung“ von Taliban und Warlords durch Krieg und Besatzung kann keine Befreiung sein, die ihren Namen verdient. Diese Einschätzung hat sich bewahrheitet. Gleichzeitig haben sie an uns gerichtet appelliert, den Krieg in Afghanistan dort zu beenden, wo er begann: vor unserer Haustür. Dieser Forderung sind wir bis dato nicht nachgekommen, sollten sie aber auch angesichts der Bilder aus Afghanistan nicht vergessen.

Die Grausamkeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung lassen sich mittel- und langfristig nicht durch Evakuierungsmaßnahmen lösen. Schon gar nicht, wenn sich die Appelle an diejenigen richten, die die Lage verursacht haben. Einigen wenigen mag dadurch geholfen werden, das Problem als solches wird aber nicht gelöst. Die Kunst besteht darin, nicht so zynisch zu werden wie diejenigen, die für die Misere verantwortlich sind. Wir sollten aber aber auch nicht vergessen, dass es Dinge gibt, die wir tun können, die über kurzfristige Forderungskataloge hinausreichen.

Denn die Zeit wird kommen, in der Afghanistan nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Vielleicht ist es dann an der Zeit, die Evakuierung der Menschen aus Mali zu fordern. Oder aus Somalia. Oder aus dem Libanon. Oder von irgendwo sonst, wo die Bundeswehr prominent ihren Kriegseinsatz beendet.

Oder wir fassen uns ein Herz und packen das Übel an der Wurzel. Eine bessere Welt für Alle ist nur möglich ohne Bundeswehr. Sollte der verschobene Große Zapfenstreich zum Ende des Afghanistaneinsatzes noch nachgeholt werden, sind wir gefordert, dieses widerliche Militärspektakel nicht unkommentiert geschehen zu lassen. Aber auch darüber hinaus, sollten wir jede Angriffsfläche nutzen, die sich uns bietet, um der Bundeswehr ein für alle Mal den Gar aus zu machen. Vom Werbeplakat an an der Bahnhaltestelle über Niederlassungen von Kriegsgewinnlern wie Rüstungsunternehmen, Crossmedia und Castenow bis zu öffentlichen Bundeswehrauftritten in Jobcentern, Schulen und Gelöbnissen.

Beteiligt euch an den Antimilitaristischen Protesten:

23.09. 21| 18:00 Uhr  Kohlfurter Str.  41 | Kiez-Demo gegen „Crossmedia“
14.10. 21 | Ort: tba |  Antimilitaristische Demo gegen den großen Zapfenstreich der Bundeswehr

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Es ist ein Phänomen der kapitalistisch geprägten Medienwelt, dass der Scheinwerfer oft nur auf einen bestimmten Punkt und ein bestimmtes Thema gerichtet wird. Wenn irgendwo etwas Aufsehenerregendes geschieht, wird das Ereignis tage- und wochenlang durchgehechelt – allerdings meist ohne jedes Verständnis für historische Hintergründe, gesellschaftliche Prozesse und Ursachen. So geschieht es aktuell mit dem Thema Afghanistan. In der Aufregung um die verpatzten Evakuierungen gehen tiefer gehende Fragen verloren. Um die geht es im Interview mit Luca Heyer. Er ist Politikwissenschaftler und aktiv bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen

Nach 9/11 hat der Westen 20 Jahre unter US-amerikanischer Führung in Afghanistan vorgeblich den Terror bekämpft, was jetzt mit einem ebenso überraschenden wie schmählichen Finale seinen Abschluss fand. Wie fällt Deine Bilanz dieses Krieges aus?

Dieser Krieg zeigt, was auch bereits andere Kriege zuvor zeigten: Frieden lässt sich nicht durch Krieg erzwingen, Menschenrechte und Demokratie ebenso wenig. Keines der Ziele wurde nachhaltig erfüllt. Der Preis dieses Krieges ist jedoch enorm hoch: Mehr als 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Eine noch viel höhere Zahl von Menschen ist auf der Flucht. Insgesamt ist die Bilanz erschütternd.

Die Debatte über die Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung bei den Evakuierungen der sogenannten Ortskräfte haben verhindert, dass der Einsatz als Ganzes kritisch beleuchtet wurde. Siehst Du das auch so?

Ja. Die dramatischen Ereignisse im August gehen ja unmittelbar zurück auf politische Fehlentscheidungen, die zum Teil vor 20 Jahren, zum Teil während der letzten Monate getroffen wurden. Das betrifft zum einen die Entscheidung, überhaupt im Afghanistan-Krieg mitmischen zu wollen: Entgegen zahlreicher Warnungen und Proteste aus der Friedensbewegung gab man sich der Illusion hin, Menschenrechte und Demokratie könnten militärisch von außen quasi erzwungen werden. Im Laufe der Jahre trugen alle Parteien, die an der Regierung beteiligt waren, also SPD, Grüne, CDU/CSU und die FDP, diesen Einsatz mit – ein Fehler, wie man eigentlich spätestens jetzt einsehen müsste.

Andere Fehler, die zu der dramatischen Lage im August führten, lassen sich direkt der aktuellen Bundesregierung zuschreiben: Bereits vor einem halben Jahr gab es außerparlamentarische Appelle und parlamentarische Anträge der Linken und der Grünen, man müsse die afghanischen Ortskräfte schnell und unbürokratisch aufnehmen. Das wäre damals noch einfacher und ohne einen weiteren Militäreinsatz möglich gewesen. Seitens der Bundesregierung fehlte einfach der politische Wille. Stattdessen wurden sogar noch – wie im übrigen seit Jahren – Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Da wirkt der Militäreinsatz im August gleich doppelt heuchlerisch.

Wegen ihrer aktiven Rolle bei den Evakuierungen steht die Bundeswehr momentan in der bundesdeutschen Öffentlichkeit fast als Freund und Helfer dar, konnte das Ganze offensichtlich für die Aufbesserung ihres Images nutzen. Ist das nicht paradox?

Definitiv. Dabei wäre der Einsatz gar nicht nötig gewesen, wenn man rechtzeitig für sichere Fluchtwege gesorgt hätte. Außerdem ist die Bundeswehr keineswegs Freund und Helfer. Sie hat nicht nur eine Menge Menschen, die mit ihr in den letzten 20 Jahren zusammengearbeitet haben, fallen gelassen, sondern ja selbst auch Unschuldige getötet in diesem Krieg. Exemplarisch wäre da der Luftangriff bei Kunduz zu nennen: 2009 starben dort nach einem Bombenabwurf, den der Bundeswehroberst Klein zu verantworten hat, mehr als 100 Menschen, darunter auch Zivilisten und Kinder. Das scheint aktuell leider in Vergessenheit zu geraten.

In Presse, Funk und Fernsehen sowie den sozialen Medien waren eine Menge Bilder von Soldaten zu sehen, vor allem von der US Army, die Kinder auf dem Arm haben. Die Fotos wirken natürlich durch den Kontrast. Ist hier nicht offenbar die Gelegenheit genutzt worden, die am Afghanistan-Desaster beteiligten Truppen von jeder Schuld reinzuwaschen?

Ja, dieser Eindruck entsteht zumindest. Medial wurde das auch so transportiert. Durch diese Bilder wurde auch eine vermeintliche Handlungsfähigkeit in diesem sinnlosen Krieg suggeriert, die so aber nie bestand. Die Nato-Präsenz am Flughafen diente daneben letztlich der Priorisierung der Flüchtenden. Während ehemalige Ortskräfte von Spezialkräften in den Flughafen geschleust wurden, hielten gleichzeitig andere Nato-Kräfte mit Schusswaffen und Tränengas in Kooperation mit den Taliban andere Flüchtende vom Betreten des Flughafens ab, wobei auch Menschen umkamen. Eigentlich eine weniger rühmliche Geschichte…

Die Bild-Zeitung nannte die bei den Evakuierungen eingesetzten Bundeswehr-Soldaten in den vergangenen Tagen nur noch „Helden“. Auch eine Aktion der umstrittenen Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr in Kabul wurde bejubelt. War der Einsatz eine willkommene Gelegenheit für das KSK, die Vorwürfe der letzten Monate vergessen zu machen?

Ja, das war auch schon im Juni zu beobachten. Damals wurde das KSK zum ersten mal wieder in den Einsatz geschickt und zwar nach Afghanistan, während die Aufarbeitung des gewaltigen Munitionsdiebstahls und die Verstrickung in rechte Netzwerke am laufenden Band neue Skandale zutage förderten, beispielsweise die Möglichkeit gestohlene Munition anonym und straffrei zurückzugeben oder Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben. All das ist bis heute nicht vollumfänglich aufgeklärt – insbesondere der Verbleib von zehntausenden Schuss Munition oder die Rolle des Sicherheitsunternehmens Ferox. Dennoch entschied die Bundesregierung, das KSK wieder in Einsätze zu schicken, vermutlich auch in der Hoffnung, den Ruf der Einheit durch Aktionen wie im August reinzuwaschen.

Dient die ganze Debatte um die Evakuierungen und die Ortskräfte am Ende nicht auch dazu, die Ursachen des Scheiterns in Afghanistan zu verdecken? Also etwa, dass der Einsatz auf das Militärische verengt worden ist und Militärs nicht dazu befähigt sind, wirklich irgendetwas aufzubauen.

Demokratie und gesellschaftlicher Fortschritt können nicht mit Kriegen von außen aufgezwungen werden. Das muss die Lehre aus diesem sinnlosen Krieg sein. Der Einsatz war nicht zu sehr auf das Militärische verengt. Ich würde da weiter gehen: Es war ein Fehler, die Probleme in Afghanistan überhaupt militärisch lösen zu wollen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und andere sehen den Einsatz nicht als gescheitert an und meinen, die Konsequenz müsse sein, die militärische Selbstständigkeit der EU zu stärken. Was meinst Du dazu?

Das ist gefährlicher Blödsinn, der früher oder später wieder zu einem ähnlichen Scheitern wie in Afghanistan führen wird. In Mali steuern wir zum Beispiel unter EU-Federführung – also ohne die USA – auf ein ähnliches militärisches Desaster zu. Die Ziele wurden bislang verfehlt, die Sicherheitslage verschlechtert sich zunehmend und die von EU-Militärs ausgebildete malische Armee hat seit 2020 zwei mal geputscht. Man sollte einfach einsehen, dass die militärischen, vermeintlich humanitären Auslandseinsätze, die seitens der EU und der Nato die letzten 25 Jahre verstärkt durchgeführt werden, an sich nicht für Stabilität, Demokratie und Menschenrechte sorgen – im Gegenteil. Sie verschlingen Unsummen und führen zu Flucht, Instabilität, wirtschaftlicher Armut und vielen Toten. Wir müssen diese Einsätze nicht ohne die USA durchführen oder um mehr zivile Komponenten ergänzen, sondern wir müssen solche Einsätze umgehend beenden.

# Titelbild: Artillerieeinsatz der US-Armee am 20. Dezember 2018, US-Department of Defense

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. In den vergangenen Teilen dieser Serie widmeten wir uns unter anderem der Familie Quandt/Klatten, dem Imperium der Schaefflers, den Faschisten-Finanziers des Finck-Clans und zuletzt der Kaffeedynastie Jacobs, ehe es jetzt um den Clan hinter Kühne + Nagel geht.

Ob und welchen Senf Klaus-Michael Kühne zu sich nimmt, wenn er mal ein Würstchen verspeist, ist nicht bekannt. Vermutlich ist es kein Kühne-Senf. Denn auf dieses Produkt respektive seinen Hersteller dürfte er nicht gut zu sprechen sein. Aus gutem Grund: Selbst in seiner Geburtsstadt Hamburg halten viele Menschen Klaus-Michael Kühne für den Chef der in der Hansestadt angesiedelten Carl Kühne KG halten, die durch die Präsenz ihrer Produkte – vor allem der Kühne-Senfgläser – im Supermarktregal viel bekannter ist als der Logistikkonzern, dessen oberster Boss Klaus-Michael Kühne ist.

Tatsächlich ist der Altonaer Senf- und Saucenhersteller mit seinen rund 328 Millionen Jahresumsatz nur eine Klitsche im Vergleich zu Kühne + Nagel, das mit einem Jahresumsatz von gut 22 Milliarden Euro zu den größten Logistikdienstleistern, man kann auch Speditionen sagen, der Welt zählt. Trotz dieses gelegentlichen Missverständnisses ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg immer noch am bekanntesten. Nicht nur weil er dort geboren wurde und aufgewachsen ist (er ging übrigens mit dem Liedermacher Wolf Biermann auf dieselbe Schule), sondern vor allem durch seine Sponsorentätigkeit für den Hamburger SV. Zuletzt ist das Verhältnis wohl etwas abgekühlt, weil ein Verein, der in die Zweite Liga absteigt und dann auch noch zweimal den Aufstieg verspielt, natürlich nicht wirklich zu einem Siegertyp wie Kühne passt.

Dass Klaus-Michael Kühne im Lande nicht die Prominenz hat wie die anfangs erwähnten Chefs von Autokonzernen oder meinetwegen die Familien Albrecht oder Oetker, liegt nicht daran, dass er weniger Geld hat als diese. Mit einem Vermögen von geschätzten 16,5 Milliarden Euro (Stand November 2020) gehört Kühne zu den 20 reichsten Einzelpersonen in Deutschland, spielt also ganz oben mit. Seine geringe Bekanntheit hat eher damit zu tun, dass sein Unternehmen Kühne + Nagel in einer wenig spektakulären und sinnlich wenig inspirierenden Branche angesiedelt ist: der Logistik.

Wie bei so vielen Clans des deutschen Kapitals basiert auch der Reichtum des Kühne-Clans auf einer verbrecherischen Bereicherung in der Zeit des deutschen Faschismus‘. Die Firma war unter den Nazis ein Hauptprofiteur der so genannten „Arisierung“ jüdischen Eigentums. Ihr kam unter anderem eine Schlüsselrolle bei der so genannten „M-Aktion“ des faschistischen Regimes zu. Dabei wurde bis August 1944 in Frankreich und den Benelux-Ländern die Inneneinrichtung von rund 65.000 Wohnungen geflohener oder deportierter Juden abtransportiert.

Ein Blick in die Geschichte des Unternehmens kann also hilfreich sein. Laut Wikipedia wurde die Firma im Juli 1890 von den Geschäftsleuten August Kühne (1855 – 1932), dem Großvater von Klaus-Michael Kühne und Friedrich Gottlieb Nagel (1864 – 1907) in Bremen als „Speditions- und Commissionsgeschäft“ gegründet. Nach dem Tod Nagels ging die Firma in den alleinigen Besitz von Kühne über. 1910 wurde der jüdische Kaufmann Adolf Maass, der seine Lehre im Unternehmen gemacht und später die Hamburger Niederlassung aufgebaut hatte, Teilhaber von Kühne + Nagel. 1928 wurde ihm ein Anteil von 45 Prozent der Besitzanteile am Hamburger Zweig von Kühne + Nagel vertraglich zugesprochen. Im Jahr 1932 starb Firmengründer August Kühne und seine Söhne Alfred – der Vater von Klaus-Michael Kühne – und Werner übernahmen das Geschäft. Im selben Jahr soll es laut Wikipedia zu einer geschäftlichen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Alfred und Werner Kühne und Maass gekommen sein. In der Folge habe Maass die Firma im April 1933 ohne Abfindung verlassen. An anderer Stelle des Onlinelexikons heißt es, der jüdische Teilhaber sei aus der Firma gedrängt worden, was der Wahrheit vermutlich näher kommt. Jedenfalls wurde Werner Kühne schon am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Mit einem jüdischen Mitinhaber wäre das wohl nicht möglich gewesen. Maas und seine Ehefrau wurden 1945 im KZ Auschwitz ermordet.

Mit dem Herausdrängen des jüdischen Teilhabers und dem Parteieintritt Werner Kühnes waren die Weichen gestellt, um groß abzusahnen. In den 1940er Jahren profitierte die Firma Kühne + Nagel durch den Transport und den Einsatz ihrer Logistikstruktur von sogenanntem „Judengut“, dem Hausrat der Deportierten aus ganz Europa, den sich der NS-Staat angeeignet hatte. Die „M-Aktion“ des NS-Regimes war ein Bereicherungsprogramm für den Kühne-Clan, wie den Angaben bei Wikipedia zu entnehmen ist. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man an die Schicksale denkt, die hinter den folgenden Zahlen steckt.

Demnach hatte die verantwortliche NS-Dienststelle bis August 1944 in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg die Einrichtungen von rund 65.000 Wohnungen abtransportieren lassen. 500 Frachtkähne und 674 Züge seien dafür nötig gewesen. „Bei der Umsetzung half Kühne + Nagel“, heißt es nüchtern. Das Unternehmen sei direkt und mit Hilfe von Subunternehmen in allen besetzten westlichen Ländern aktiv gewesen.

Die Transporte aus den Niederlanden sind dabei am ausführlichsten recherchiert. K + N charterte beispielsweise einen eigenen Dampfer, um jüdisches Raubgut in das Deutsche Reich zu transportieren. Das erste Frachtschiff aus Amsterdam traf laut Wikipedia im Dezember 1942 in Bremen ein. Die Stückliste wies 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 32 Uhren, ein Grammophon und zwei Kinderwagen aus. Dabei handelte es sich um das Eigentum niederländischer Juden, die im Sommer 1941 in Konzentrationslager deportiert worden waren. Für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg führte Kühne + Nagel laut dem Historiker Wolfgang Dreßen „allein aus Paris […] zwischen 1941 und 1944 insgesamt 29 Kunsttransporte“ durch. In Südfrankreich suchte ein Mitarbeiter von Kühne + Nagel aktiv nach Möbeln. Laut Dreßen gab es eine äußerst enge Zusammenarbeit mit Behördenmitarbeitern und der deutschen Besatzung.

Für Historiker, die sich mit der Geschichte des Konzerns befasst haben, ist die Sache klar. Die Firma sei „mitverantwortlich für den Tod von Leuten, sie haben damit Geld verdient“, bewertete Dreßen das Geschehen. Und der Historiker Frank Bajohr vom Münchner Zentrum für Holocauststudien im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) sah in den Geschäften von Kühne + Nagel „eine relative Nähe zum Massenmord“. Der Historiker Johannes Beermann, der zu den M-Transporten forschte, wird bei Wikipedia mit den Worten zitiert, bei der Verschickung des zusammengeraubten Mobiliars der deportierten Juden habe die verantwortliche NS-Dienststelle Westen eng mit der Spedition zusammengearbeitet. Dreßen weist darauf hin, dass Kühne + Nagel nicht allein gewesen sei, denn andere große Logistikunternehmen seien ähnlich verstrickt gewesen. Allerdings war das Bremer Unternehmen führend in dem entstandenen verbrecherischen Wirtschaftszweig. Beermann erklärte, es sei dem Fuhrunternehmen gelungen, „sich so erfolgreich gegen potenzielle Mitbewerber durchzusetzen, dass Kühne + Nagel im Verlauf der ‚M-Aktion‘ quasi das Monopol auf diese lukrativen Staatsaufträge erhielt“.

Es versteht sich wohl von selbst, dass das verbrecherische Handeln der Firmenverantwortlichen mit dem Ende von Krieg und Faschismus nicht beendet war. Wohl eher pro forma wurden die Brüder Alfred und Werner Kühne durch amerikanische Stellen einer Untersuchung zu ihrer Rolle im Faschismus unterzogen. Aufgrund der Aktenlage wurden beide nicht „entnazifiziert“, sondern als „Mitläufer“ eingestuft. Damit hätte keiner der beiden die international tätige Spedition weiter führen dürfen. Doch man fand Mittel und Wege. Und man hatte mächtige Freunde.

So heißt es bei Wikipedia, in den Entnazifizierungsakten fänden sich Hinweise auf eine Intervention der CIA, die als „top secret“ klassifiziert war. Das Schreiben ist die Anordnung, dass Alfred Kühne zu entnazifizieren sei. Nach Informationen des Geheimdienst-Wissenschaftlers Erich Schmidt-Eenboom gehörte Kühne + Nagel zu den wichtigsten Tarnunternehmen der neu aufgebauten Organisation Gehlen, Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes. Schmidt-Eenboom beurteilt die Bedeutung des Unternehmens wie folgt: „Die CIA hat 1955 eine Aufstellung sämtlicher Tarnfirmen des Gehlen-Apparates gemacht, und da rangiert Kühne + Nagel sehr weit oben. Zum einen die Bremer Zentrale, zum zweiten die Münchner Niederlassung und zum dritten war das Bonner Büro von Kühne+Nagel der Sitz von Gehlens Verbindungsmann zur Bundesregierung.“

Bekanntlich sahen die USA und ihre Verbündeten angesichts der „bolschewistischen Bedrohung“ aus dem Osten recht schnell nach Kriegsende über die Verbrechen der Nazis und ihrer Helfer hinweg. So auch im Falle des Kühne-Clans. Alfred und Werner Kühnes Konten- und Vermögenssperren und Anstellungsbeschränkungen wurden mit ihrer Entnazifizierung in die „Kategorie IV“ zum 1. Juli 1948 aufgehoben. Die Weichen für den Wiederaufstieg des Konzerns waren gestellt.

An all das wird Klaus-Michael Kühne natürlich nicht gern erinnert. Am Rande des Richtfestes der neuen Firmenzentrale am Bremer Weserufer erklärte er im Mai 2019 gegenüber dem NDR-Lokalmagazin „Buten un binnen“, er habe kein Verständnis dafür, dass das Thema „immer wieder hochgekocht wird“. Die Firma sei „damals Dienstleister gewesen und musste so etwas machen“. Das sei „der Zwang des Krieges“ gewesen. Diese Einlassung gleicht den Erklärungen früherer KZ-Wärter in Prozessen, so sie denn überhaupt vor Gericht kamen, sie seien doch nur „kleine Rädchen im Getriebe“ gewesen und man habe sie dazu gezwungen, auf Gefangene zu schießen.

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Ein Europäer in den Tiefen des kolumbianischen Dschungels, bewaffnet, ausgebildet im Guerillakampf und im Krieg gegen einen rücksichtslosen Feind. Wir hatten die Möglichkeit, einen Internationalisten aus dem kolumbianischen Ejército de Liberación Nacional (ELN) zu interviewen.

Die Nationale Befreiungsarmee, die in Castellano das Akronym ELN trägt, befindet sich seit über 50 Jahren im Krieg mit dem kolumbianischen Staat und hat das Ziel, diesen zu stürzen. Eine marxistisch-leninistische Guerilla, inspiriert von der kubanischen Revolution und kommunistischen befreiungstheologischen Priestern. Während des jahrzehntelangen Krieges mit der Armee, rechten Paramilitärs, Narco-Kartellen und multinationalen Kooperationen hat die ELN gelernt, fast jede politische Situation zu überleben, und wächst nun wieder rasant. Die ELN ist nicht nur eine militärische Organisation, sondern de facto eine Regierung für die Menschen, die die kolumbianische Regierung vernachlässigt hat. Nachdem die zweite große kolumbianische Guerilla FARC-EP einen „Friedensvertrag“ unterzeichnet hat, ist die ELN nun Staatsfeind Nummer eins in Kolumbien. Das südamerikanische Land befindet sich immer noch im Krieg, auch wenn die Massenmedien diese Tatsache verschweigen.

Wir hatte die seltene Möglichkeit, einen internationalistischen Freiwilligen in der ELN zu interviewen. Wenn die Behörden von seiner Anwesenheit wüssten, wären sie außer sich, wie damals, als sie den Ursprung der berühmten FARC-EP-Guerillera und niederländischen Internationalistin Tanja aufdeckten. Die Sicherheitsvorkehrungen für dieses Interview waren hoch, die wahre Identität unseres Interviewpartners bleibt geheim. Zum ersten Mal gibt dieses Gespräch einen Einblick in das Leben eines freiwilligen europäischen Internationalisten, der in der ELN diente.

Um anzufangen, wo in Kolumbien warst Du stationiert?

Kolumbiens Llano-Region und die umliegenden Gebiete Arauca, Meta und Boyacá. Ich war größtenteils auf dem Land und in den Bergen stationiert, anstatt ein „Urbano“ zu sein – ein Stadtguerillero.

Wie kam es dazu, dass Du Dich der ELN angeschlossen hast? Was war Dein Ziel?

Ich hatte Freunde durch staatliche Repression in Kolumbien verloren, bevor ich überhaupt daran gedacht hatte, der ELN beizutreten. Meine Entscheidung, mich anzuschließen, beruhte auf meinen Erfahrungen in Kolumbien und wurde natürlich von meiner revolutionären Einstellung angetrieben. Der ganze Prozess verlief organisch. Ich bin nicht aus dem Westen aufgebrochen, um mich anzuschließen. Obwohl, ich würde sagen, dass ich als Marxist-Leninist natürlich meine Sympathien mit den Rebellen und auch der legalen politischen Bewegung hatte.

Ich habe lange und gründlich studiert und nachgedacht, und mir war klar, dass es sehr starke strategische Gründe gibt, Kolumbien als schwaches Glied in der imperialistischen Kette, die die gesamte Welt erstickt, zu priorisieren. Kolumbien ist für die Interessen der USA in Lateinamerika von entscheidender Bedeutung. Und das Land hat auch eine lange und bedeutende Geschichte marxistischen Widerstands, die diese Tatsache bestätigt. Die USA betrachten das Land als ihre Hochburg, als ihren wichtigsten Verbündeten auf dem Kontinent, daher wäre ein Sieg hier ein massiver Erfolg im Kampf gegen den Imperialismus für die ganze Welt. Es wäre unglaublich transformativ – auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent würde nach Jahrzehnten der Einmischung, die oft von Kolumbien selbst ausgerichtet wurde, ein Stiefel vom Hals gehoben. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, an diesem Kampf teilzunehmen, so bescheiden meine Beiträge auch gewesen sein mögen.

Wie war dein tägliches Leben als internationaler Guerillero?

Ich war Mitglied eines offensiv ausgerichteten Bataillons. Unsere Operationsbasis war hauptsächlich in den Bergen, aber manchmal befanden wir uns auch in zivilen Communities. Unser Hauptziel war es, den Feind in dieser Region in kleinen Gefechten anzugreifen und wir zielten auf die Infrastruktur großer multinationaler Konzerne ab. Unsere Existenz als Einheit in der Region, die sich zwischen sicheren Gebieten in den Bergen bewegt und die lokalen ländlichen Communities schützt, zwingt den Staat dazu, viel Zeit, Geld und Arbeitskräfte zu investieren. Wir betrachten dies als eine Errungenschaft für unsere Bewegung, komme was wolle.

Unser Tagesablauf beinhaltete viel Marschieren und körperliches Training, das Aufspüren des Feindes, Waffentraining – im Grunde alles, was man als Vorbereitung auf offensive Aktivitäten in Betracht ziehen könnte. Jeder verbringt zwei Stunden am Tag im Wachdienst und jeder kocht und putzt, wenn er an der Reihe ist. Wann immer möglich, findet auch politische Bildung statt.

Ich werde ehrlich sein – das Leben in den Bergen ist sehr hart. Du bist extrem isoliert, Hunger und Unterernährung sind keine Seltenheit, und das kolumbianische Militär ist ständig mit Drohnen und Flugzeugen über Dir und sucht nach Anzeichen Deiner Anwesenheit, eine Tatsache, an welche die Armee Dich ständig erinnern möchte. Der Umgang mit diesen Bedingungen ist selbst für die hartgesottensten Veteranen in diesem Kampf schwierig.

Hast Du andere internationale Freiwillige in der ELN getroffen?

Mir sind keine anderen westlichen Internationalist:innen bekannt, die derzeit bei der ELN sind. Davon abgesehen gab es in der Vergangenheit eine Reihe von Internationalist:innen aus Spanien, darunter Manuel Perez, der die ELN bis zu seinem Tod 1998 leitete. Es gibt jedoch viele Internationalist:innen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, wie beispielsweise aus Venezuela und Ecuador. Zu Kolumbiens FARC-EP gesellte sich eine Niederländerin, Tanja Nijmeijer, die sich über viele Jahre als große und engagierte Revolutionärin bewährt hat. Ich bin sicher, Tanja hat sich für den kolumbianischen Revolutionskampf als weitaus nützlicher erwiesen, als wenn sie in den Niederlanden geblieben wäre.

Ich wollte ursprünglich nicht der ELN beitreten. Die Gelegenheit ergab sich spontan, nachdem ich einige Zeit in Kolumbien verbracht hatte. Die Klandestinität, die die Rebellen aufgrund der Gewalt des kolumbianischen Staates benötigen, macht es schwierig, eine bewaffnete Bewegung in Kolumbien aus dem Ausland zu kontaktieren, insbesondere wenn man ein Außenseiter mit geringen Kenntnissen der lokalen Realität ist. Darüber hinaus muss man von einem vertrauenswürdigen Mitglied einer lokalen Community bestätigt werden, bevor man überhaupt für eine Mitgliedschaft in Betracht gezogen wird.

Die ELN sind offen für den Beitritt von Internationalist:innen, aber es ist kein einfacher Prozess.

Wenn Du an Deine Zeit in Kolumbien zurückdenkst, welche Momente kommen Dir als erste in den Kopf?

Das erste Mal als ich meine Uniform trug war ein sehr wichtiger Moment, aufgrund dessen, was sie darstellt und impliziert. Die Uniform repräsentiert die Verpflichtung des Widerstands gegen Kapitalismus und Imperialismus, eine Akzeptanz, dass man an einem Krieg teilnimmt, in dessen Verlauf man möglicherweise sein Leben verliert.

Die besten Zeiten waren die kleinen Momente unter Genoss:innen. Ich erinnere mich, wie wir zusammen gelacht haben, einige der Gespräche, die wir geführt haben – die einfachen Dinge. Wir unterhielten uns zur Mittagszeit oder bei einem Abendkaffee. Die Bäuerinnen und Bauern (die natürlich die große Mehrheit der ländlichen Guerilla-Reihen der ELN ausmachen) haben einen brillanten Sinn für Humor und versuchen, sich nicht zu ernst zu nehmen. Während der Trainingseinheiten wird viel gelacht, wenn Genoss:innen dazu neigen, sich auf die eine oder andere Weise zu blamieren.

Es tut sehr weh, wenn deine Genoss:innen getötet werden. Von Zeit zu Zeit erhalte ich immer noch Nachrichten über den Tod von Genoss:innen, mit denen ich gedient habe. Es tut noch mehr weh zu wissen, dass meine Genoss:innen oft vom venezolanischen Militär getötet wurden. Einige der bemerkenswertesten Kommunist:innen, die ich je kennengelernt habe, wurden vom venezolanischen Militär getötet. Andere haben die ELN mit Erlaubnis und bei guter Stimmung verlassen, wie es nach einer gewissen Zeit der Mitgliedschaft üblich ist.

Eine andere Sache, an die ich mich immer erinnern werde, ist das Gefühl wahrer Genoss:innenschaftlichkeit – eine wahre, tiefe und natürliche Wertschätzung für einander und jeden in ihrer Einheit. Sie alle bringen die gleichen Opfer, sie sind Mitglieder des gleichen Kampfes und sie sind den gleichen Risiken ausgesetzt. Dies schafft natürlich eine tiefere Bindung als die, welche man in legalen, städtischen politischen Bewegungen finden könnte. Wir beweisen uns selbst, beweisen unser Engagement füreinander und den Kampf jeden Tag, an dem wir weiterkämpfen. Es ist schwierig, ein vergleichbares Beispiel zu finden.

Das venezolanische Militär bekämpft die ELN, obwohl die Mainstream-Medien argumentieren, Venezuela unterstütze die Guerilla?

Es ist nicht wahr, dass das venezolanische Militär die Rebellen unterstützt – dies ist eine Lüge, um eine Aggression gegen den venezolanischen Staat zu rechtfertigen. Venezuela wird von den USA als sozialistisches Land und Bedrohung für den Imperialismus, als Feind, angesehen. Die Aussage, dass sie „Terroristen“ in einer fremden Nation unterstützen, ist ein alter Trick im Handbuch, um die Zustimmung für einen möglichen zukünftigen Krieg und für „Intervention“ herzustellen. Beweise für diese Art von Haltung gibt es überall – sieh Dir nur die Guiado-Saga und die fehlgeschlagenen Putschversuche im letzten Jahr an und wie der Irak und Afghanistan 2003 als „staatliche Sponsoren des Terrorismus“ galten.

Die Ermordung kolumbianischer Kommunist:innen durch das venezolanische Militär ist unter kolumbianischen Revolutionär:innen bekannt, aber die Medien berichten nicht darüber und es wird international totgeschwiegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Venezuela kolumbianischen Rebellen feindlich gegenübersteht. Vielleicht aus Angst, echte Beweise für die Behauptung „Sponsoren des Terrors“ zu liefern. Eventuell versteht das venezolanische Militär seine Souveränität auf eine rechte und reaktionäre Weise und sieht in dem Tod von kolumbianischen Kommunist:innen die Sicherung ihrer Grenzen gegenüber ausländischen bewaffneten Gruppen, welche dort Schutz vor Luftschlägen und Angriffen im Morgengrauen suchen.

Ich weiß jedoch nur Folgendes: Das venezolanische Militär tötet routinemäßig kolumbianische Kommunist:innen, die es innerhalb seiner Grenzen findet. Sie arbeiten nicht mit der ELN zusammen – so sehr wir uns das alle wünschen.

Wie gefährlich ist das Leben als Guerilla? Wie gefährlich war es für Dich?

Eines Nachmittags, kurz bevor es völlig dunkel wurde – es wird gegen 18 Uhr in den Bergen pechschwarz und man kann nichts sehen -, wurde unsere Einsatzbasis durch das ohrenbetäubende Geräusch mehrerer Arten von Militärflugzeughubschraubern und Sturzkampfflugzeugen alarmiert, welche direkt auf uns zukamen, als ob sie wussten, dass wir da waren. Feindliche Bodentruppen machten sich auf den Weg zu unserer provisorischen Küche, in der wir den Tag verbracht hatten (wir nutzten sie oft als Treffpunkt während des Tages), aber wir hatten sie glücklicherweise erst zwanzig Minuten zuvor geräumt, um zu unseren Hängematten zu gehen und dort zu schlafen. Wir waren jedoch nicht in Sicherheit, da das Militär nur zehn Minuten entfernt war und schnell näherkam. Die gesamte Soundkulisse wurde vom Dröhnen der Motoren dominiert. Wir dachten das wär’s mit uns.

Ich ging hinter einem Baum in Deckung, wie es mir beigebracht worden war, aber es schien fast sinnlos, als der Feind von allen Seiten auf uns zukam – sie hatten uns flankiert und ihre Operation war eindeutig gut organisiert. Zum Glück haben der Anführer unserer 14-köpfigen Gruppe und mein engster Genosse bis zu seinem Tod durch das venezolanische Militär beschlossen, uns vom Berg herunterzuführen. Man konnte die Spannung in der Einheit spüren, es war eine schwierige Situation.

Ihre Hubschrauber hatten unsere üblichen Wege, Ein- und Ausgänge entdeckt. Soldaten hatten ihre Fahrzeuge in unserer Küche geparkt, um nach Beweisen für unsere Anwesenheit zu suchen, und wir wussten, dass es nicht lange dauern würde, bis sie unseren genauen Standort lokalisiert hätten, es sei denn, wir überlegten uns eine unberechenbare Lösung. Das kolumbianische Militär hatte Nachtsichtgeräte, welche wir nicht hatten, und die Nacht war pechschwarz. Wir waren umzingelt und die Zeit, um zu fliehen, wurde knapper. Wir beschlossen, dass unsere einzige Chance darin bestand, den steilen, überwucherten Berghang hinunterzusteigen, indem wir ihn hinunterrutschten und auf unserem Rückzug einen völlig neuen Weg einschlugen.

Wir brauchten ungefähr eine Stunde, um von der Spitze des Berges abzusteigen, gefolgt von einem 8-stündigen Marsch flussabwärts und einen anderen Berg hinauf, um genügend Abstand und Deckung für etwas Schlaf zu gewinnen. Wir haben am steilen Hang eines weiteren Berges geschlafen. Ich schlief mit meinen Beinen um einen Baumstamm, um zu verhindern, dass ich den Berghang hinunterfiel. Wir brauchten ungefähr zwei Tage, mit dem Militär immer dicht auf den Fersen, um in die Ebene zu gelangen, wo uns eine lokale indigene Gruppe die Unterstützung anbot, die wir dringend brauchten.

Manchmal konnten wir sogar das Geräusch ihrer Drohnen über unseren Köpfen hören. Am Ende jedoch, trotz der intensiven Operation gegen uns konnte unser Wissen über das Terrain, kombiniert mit unserer Erfahrung des Überlebens in den Bergen und der Umsetzung von Guerillataktiken, uns das Leben retten – und wir haben einen gut geplanten Hinterhalt zur Aufstandsbekämpfung ausmanövriert, der von dem militärisch gefährlichsten Staat finanziert und ausgerüstet wurde, den die Welt je gesehen hat, den USA.

Was würdest Du zur Perspektive zukünftiger internationaler Freiwilliger sagen? Wie war es, der einzige Westler zu sein?

Als ich der ELN beitrat, wurde ich von mehreren hochrangigen politischen Kommandeur:innen begrüßt, die eine Rede hielten, die ich nicht so schnell vergessen werde. Sie erklärten, dass die ELN „dem internationalen Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden“ sei und von der internationalen Unterstützung stark profitieren würde, vor allem der aus den Ländern des Westens. Die Kommandeur:innen legten großen Wert darauf, zwischen den Regierungen und dem Proletariat in den imperialistischen Nationen zu unterscheiden. Sie erkannten, dass die Arbeiter:innen im Westen trotz der geopolitischen Stärke von ihrer herrschenden Klasse immer noch bösartig ausgebeutet werden.

Es gibt einige Marxist:innen, die in Bezug auf Revolution übermäßig dogmatisch und starr sind und glauben, dass man als Franzose nur in Frankreich für den Sozialismus kämpfen muss, ein Mexikaner in Mexiko, ein Deutscher in Deutschland und so weiter. Ja, jemand, der selbst aus einer Nation stammt, wird die Bedingungen in dieser Nation besser und tiefer verstehen, aber das bedeutet nicht immer, dass er nur dort kämpfen kann, wo er herkommt. Das bedeutungsvolle Erbe von Che Guevara zeigt deutlich den Nutzen internationaler Freiwilliger. Ein jüngeres Beispiel ist Tanja Nijmeijer der FARC-EP. Ich vermute, dass sie im kolumbianischen Kampf wahrscheinlich wirksamer war als in den Niederlanden. Das Internationale Freiheitsbataillon in Kurdistan war maßgeblich an der Befreiung von Minbij und Raqqa während des antifaschistischen Krieges gegen ISIS beteiligt, und ich habe bereits Manuel Perez von der ELN erwähnt. Obwohl Perez einst unter dem Verdacht gefangen genommen wurde, ein ausländischer Spion zu sein, stieg er zum höchsten politischen Führer der ELN auf und bewies sich während mehrerer Jahrzehnte bewaffneter Kämpfe als ein großer Revolutionär. Viele andere Internationalist:innen in der Geschichte haben bewiesen, dass es manchmal nicht immer die beste Strategie für Kommunist:innen ist, dort zu bleiben, wo sie gerade geboren wurden.

Manuel Marulanda, Gründer der FARC-EP und ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kolumbiens, argumentierte einmal: „Auf 100 Kommunist:innen kommen nur etwa 30, die bereit sind, für ihre Überzeugung zu sterben. Und von diesen 30 werden nur etwa 10 bereit sein, das Opfer und den Kampf im bewaffneten Kampf zu ertragen.“ Es gibt immer viele städtische Aktivist:innen auf der ganzen Welt, die sich an legalen Kämpfen beteiligen, insbesondere im Westen, mit der romantischen Vorstellung, eines Tages an einem glorreichen bewaffneten Kampf teilzunehmen – aber es gibt normalerweise einen Mangel an Kommunist:innen, die bereit sind, wirklich zu kämpfen, die bereit sind, sich für ein solches Leben mit all seinen Schwierigkeiten zu entscheiden, besonders in Ländern wie Kolumbien, in denen der Feind aufgrund jahrzehntelanger Bürgerkriege sehr erfahren ist.

Wenn jemand wirklich bereit ist, diesen Weg zu gehen, wenn jemand demütig akzeptieren möchte, dass vielleicht niemand jemals von seinen Erfahrungen erfahren wird und dass er leicht sein Leben verlieren könnte, wenn er bereit ist, die Risiken, Verantwortlichkeiten und das ständige Lernen zu akzeptieren und selbstkritisch zu sein, wie es im Guerilla-Leben verlangt wird, dann würde ich sagen, dass diese Person für den bewaffneten Kampf wahrscheinlich wertvoller ist als in dem städtischen, legalen Kampf.

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium. Im vorliegenden dritten Teil geht es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Die Toleranz der Polit-Elite gegenüber NS-Verbrechen hat in Deutschland eine eigene Ökonomie. Wenn ein paar hundert Glatzköpfe sich mit Fahnen und Lautsprecherwagen die Springerstiefel in den Bauch stehen und unter der Losung „Opa war ein Held“ ein gebührendes Andenken an die Kriegsverbrechergeneration fordern, kommt so gut wie niemand auf die Idee, eine Straße nach den jeweiligen Großvätern zu benennen.

Nun ist aber Michael Stoschek kein Hängengebliebener ohne Haupthaar, sondern einer der reichsten Deutschen. Und auch der Milliardär Stoschek hat einen deutschen Opa. Der hieß Max Brose. Und auch den wollte der Coburger Stadtrat zunächst nicht ehren, weil der Herr Großpapa typisch für seine soziale Schicht am großen deutschen Konjunkturprogramm von 1933 bis 1945 ganz reichlich teilgenommen hatte. Aber das wiederum beleidigte den Michael Stoschek. Nur weil der Opa an Zwangsarbeit verdiente, Rüstung für Hitlers Weltmachtstreben produzierte, NSDAP-Mitglied und „Wehrwirtschaftsführer“ war, konnte ihm doch keiner die Straße verwehren. Wo kämen wir da hin?

Der Herr Stoschek entschloss sich also, nunmehr weniger von dem Geld, das er aus dem Betrieb des Nazi-Opas geschlagen hatte, an die Stadt Coburg weiterzugeben. Und nach einiger Zeit sah man dann auch im Stadtrat ein: Non olet. Und wenn das Geld nicht stinkt, wie kann dann der stinken, der einst begann, es zu akkumulieren? Also kam 2015 doch die Ehrung und so hat die Stadt Coburg – gebührend für die „erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“, wie sie sich ab 1939 stolz nannte – nun eine Max-Brose-Straße.

Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Woher kommt so viel Patte, dass man in der Lage ist, eine Stadt zu erpressen, eine Straße nach dem eigenen Nazi-Opa zu benennen? Die Antwort ist: Letztinstanzlich von eben jenem Nazi-Opa. Denn Max Brose begründete eine Unternehmensdynastie und der gehört eben auch noch sein Enkel Michael Stoschek sowie dessen Schwester Christine Volkmann an.

Die ersten Anfänge sind nicht genau rekonstruiert, aber insgesamt geht der Reichtum des Clans auf die Gründung eines Unternehmens für Automobilausrüstung zurück, das der da 24-jährige Max Brose 1908 in Berlin eintragen ließ. 1919 tut sich Brose mit seinem langjährigen Geschäftspartner Ernst Jühling zusammen, und beide schlängeln sich mal erfolgreicher, mal weniger erfolgreich durch die entstehende Auto-Industrie der Weimarer Republik. Sie werden reich, aber natürlich gibt es auch Krisen.

Aber es ging immer wieder bergauf. So etwa, als 1932 ein richtig mieses Jahr war, dann aber zum Glück der deutschen Bourgeoisie Hitler kam und ab 1933 ordentlich das Business ankurbelte. Selbst der den von ihm porträtierten Unternehmerfamilien stets sehr wohlwollend gesonnene Historiker Gregor Schöllgen schreibt in seiner Unternehmensgeschichte „Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008“: „Es ist erstaunlich, wie schnell die deutsche Automobilindustrie aus dem Tief des Jahres 1932 herausfindet. […] Hinter diesem Erfolg steckt ein Name: Am 11. Februar 1933 hat erstmals ein Reichskanzler die Internationale Automobil- und Motorradausstellung in Berlin eröffnet. Es ist zugleich die erste öffentliche Amtshandlung Adolf Hitlers in seiner neuen Funktion.“

Im Juni 1933 stellt Max Brose seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wird auch noch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, im Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps“, im „NS-Reichsbund für Leibesübungen“, in der Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ sowie in der „Deutschen Arbeitsfront“. Er ist hochrangiger Funktionär der Industrie- und Handelskammer Coburg und „Wehrwirtschaftsführer“. Vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wird Brose als „national, ohne weitere Bindungen“ eingestuft. 1935 attestierte ihm Obersturmbannführer Linke in der Führerbeurteilung des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps: „Weltanschauliche Festigung: Guter Nationalsozialist“.

Kurz: ein klassischer unbelasteter und nur durch äußeren Druck sich anpassender deutscher Unternehmer, wie wir sie nur allzu gut kennen.

Brose leidet immens unter dem Nationalsozialismus: 1935 macht er sich an einen Neubau einer standesgemäßen Villa. Zuvor im Eigentum des von Nazis gefolterten und vertriebenen Juden Abraham Friedmann, wird man nach dem Krieg aber gottseidank feststellen, dass der Kauf seitens Broses voll und ganz ordnungsgemäß war. Welcher Ordnung er gemäß war, diese Frage verbot sich schon unmittelbar nach Kriegsende.

Broses Umsatz – so Schöllgen – erreicht bis 1944 „ungebremst nicht gekannte Dimensionen“. Ab 1939 beginnt Brose mit der Fertigung von Rüstungsgütern, der Krieg steht ja vor der Tür. Die Firma Brose blüht in dem Maße auf, in dem faschistische Aggressionsarmee voranschreitet. Das Repertoire: Der Klassiker, der Brose 20-Liter-Kanister; Aufschlagzünder; Panzergeschosse; Sprenggranaten. Alles mögliche, bis hin zur Luftfahrtausrüstung.

Wer produziert nun? Viele Frauen, denn Arbeiter wurden massenhaft eingezogen. Und Zwangsarbeiter:innen. Für 1942 nennt Schöllgen 200 sowjetische Kriegsgefangene, 60 Kroaten und etwa 20 Franzosen. In Broses Werk gab es von der Wehrmacht vereidigte „Hilfswachleute“ und Geschäftspartner Jühling forderte die Gestapo auf, flüchtige kroatische Fremdarbeiter:innen wieder einzufangen. In der Firma hängt nun aus: „Allen Nichtbefugten ist jeglicher Verkehr mit den kriegsgefangenen Sowjetrussen verboten!“ Und in einem namentlich von Brose gezeichneten Schreiben heisst es zum Umgang mit den Gefangenen: „Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Broses Umsatz explodiert bis 1944. Dann geht‘s mit dem Hitler-Faschismus zu Ende. Aber glücklicherweise hatte Max Brose ja mit dem Faschismus gar nichts zu tun, also hört die Unternehmensgeschichte der Broses hier nicht auf.

Alles nur Mitläufer

Der stets wohlgesonnene Auftragshistoriker Schöllgen trifft ungewollt den Punkt: Nach der Niederlage des Hitler-Faschismus war klar, dass Coburg „nicht unter sowjetische, sondern unter westliche, unter amerikanische Herrschaft gerät, und das wiederum erklärt, dass Max Brose, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist, der kommenden Entwicklung gelassen entgegensieht.“

Brose hat, das sollte die weitere Geschichte zeigen, allen Grund dazu, denn in der heraufziehenden Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus machte sich der Westen prompt an die Wiederverwendung noch nahezu jedes Nazi-Verbrechers. Es folgte zwar eine Episode, in der Brose und seinem Kumpan Jühling von den US-Behörden die Firmenleitung entzogen worden war. Die endete aber rasch. Jühling wird als „Mitläufer“ eingestuft, Brose zunächst als „Minderbelasteter“, dann ebenfalls als „Mitläufer“. Wohl bekomm‘s und weiter gehts.

1948 kehrt Brose zurück an die Firmenspitze und es geht ab ins Wirtschaftswunder, denn das – ja von wem eigentlich? – in Ruinen zurückgelassene Land will wieder aufgebaut werden. Dazu kommt, dass nach dem Krieg ja bekanntlich vor dem Krieg ist – in diesem Fall des Koreakriegs, bei dem die USA rund 5 Millionen Menschen umbrachten und der in der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Boom-Phase auslöste.

Brose positioniert sich voll und ganz auf dem Markt für Automobil-Zulieferer und kann bald expandieren. Arbeitskraft ist genügend vorhanden, Absatz auch. Und so wird die Firma Brose das, was sie heute ist, eines der Aushängeschilder der deutschen Automobilindustrie.

Billige Lohnkosten im Ausland

1968 stirbt Max Brose. Seine Tochter Gisela führt das Unternehmen einige Jahre, dann übernimmt Michael Stoschek, der heute amtierende Erbe der Familiendynastie. Damals nimmt das Unternehmen rund 1000 Arbeiter:innen aus und erwirtschaftet 50 Millionen D-Mark. Heute sind es nach Unternehmensangaben 25 000 bei einem Umsatz von 6,2 Milliarden Euro (Stand 2019).

Einen Einblick in den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten zu gewinnen, ist nicht einfach – gibt es doch gerade für die Produktionsanlagen im Ausland kaum Quellen. Wer subjektive Eindrücke aus deutschen Werken lesen will, kann das auf der Plattform kununu, auf der anonym Erfahrungen mit Unternehmen eingestellt werden können – allerdings selten von Produktionsarbeiter:innen genutzt. Wiederkehrende Themen sind: Eine auf extremem Druck basierende Arbeitskultur, miese Kommunikation, Arbeitsplatzunsicherheit durch Stellenstreichungen und Leiharbeitsverhältnisse, die den „untersten“ Teil der Arbeiterklasse bei Brose in Deutschland bilden.

Die Löhne – ist man nicht gerade Leiharbeiter – sind, wie bei allen deutschen Unternehmen von Welt, so ausgerichtet, dass es im Mutterland keinen Aufstand gibt, dafür aber eine Reihe von Fabriken in Niedriglohnländern existieren. Auch Brose hat die seit den 1970er-Jahren andauernde allgemeine Tendenz zur Verlagerung von Produktionstätigkeiten und Wertschöpfung ins Ausland mitgemacht.

1988 beginnt Brose in Großbritannien und Spanien zu produzieren. Schon damals hat die Internationalisierung klare Gründe: In Großbritannien werden „im Jahresdurchschnitt fast 110 Stunden mehr gearbeitet als in der Bundesrepublik, und das bei deutlich günstigeren Lohnkosten und einer Nutzung der Maschinen im Dreischichtbetrieb“, schreibt Schöllgen.

Und wenn das schon in Großbritannien so viel günstiger ist, wie wird es erst in Slowenien, Brasilien, Indien, China sein? Von den späten 1980ern an baut Brose sich insgesamt 64 Standorte in 24 Ländern auf. Die Mehrheit der Beschäftigten des „deutschen“ Unternehmens arbeitet heute nicht in Deutschland und nicht zu den mit der IG Metall ausgehandelten Bedingungen (auch wenn Brose selbst im Inland gelegentlich versucht, den Tarif zu untergraben).

Und was bekommt man im Ausland so? Ein Inserat für Produktionsarbeiter:innen im slowakischen Prievidza verspricht „742 bis 1000 Euro“ Brutto fürs Malochen im Dreischichtbetrieb. In Mexiko, dem Eldorado für Billigproduktion und Union-Busting, verdienen die Brose-Arbeiter:innen so wenig, dass es für den Konzern günstiger war, auf eine weitergehende Automatisierung der Produktion zu verzichten. Für einen ganzen Tag Arbeit gibt es um die 30 US-Dollar, schreibt die Wirtschaftswoche. Kein Wunder, dass dann gilt: Die Arbeiter:innen sind „durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter“ – der ist natürlich Deutscher.

Dieser Prozess der Verlagerung ins Ausland ist keineswegs abgeschlossen. Die Standorte in Niedriglohnländern, die zudem oft keine oder kaum gewerkschaftliche Organisation kennen, wird durch die sogenannte Corona-Krise beschleunigt. Während das Unternehmen bereits vor Covid-19 ankündigte, etwa 2000 Stellen in der Bundesrepublik abzubauen, meldete es in den vergangenen Jahren den Ausbau der Produktionskapazitäten etwa in China oder Mexiko.

Hilflose Gewerkschaften

Die Antwort der zuständigen IG Metall ist dürftig. Als Brose in Coburg kurzfristig Stellen abbauen will, heisst es nur: Die Gewerkschaft „beobachtet“ die Situation sorgfältig, aber man habe ja eine Betriebsvereinbarung, die bis 2024 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Und dann? Bei anderer Gelegenheit kritisierten IG-Metall-Gewerkschafter zwar die „Steinzeitmethoden“ von Brose und ähnlichen Betrieben in der Corona-Krise, aber mehr als ein Appell an einen anderen „Unternehmergeist“ war dann auch nicht drin. Im Oktober 2020 wurde kurz symbolisch gestreikt – aber auch das bleibt völlig wirkungslos.

Am Ende geht es der IG Metall um die Aushandlung von „sozial verträglichem“ Arbeitsplatzabbau, Abfindungen und langsamen Kündigungen. Brose bezahlt die für die Abwicklung nötigen Summen aus der Porto-Kasse. Und wer erwirtschaftet die? Na die Arbeiter:innen in Produktionsstandorten irgendwo anders, die fortan für deutlich niedrigere Lohnkosten produzieren.

Michael Stoschek kann den Gewerkschafts“widerstand“ jedenfalls gelassen sehen. Während die IG Metall Pressemitteilungen ohne erkennbare Wirkung schreibt, sammelt der Brose-Erbe Sportwagen und lässt sich auf Ferrari-Modellen basierende Unikate anfertigen. Seine Tochter Julia verwirklicht sich als Kunstsammlerin, Sohn Maximilian gönnt sich neben dem Brose-Anteil eine Helikopter-Charter-Firma.

#Bildquelle: pixabay

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