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Am 12.05 verbat die Berliner Polizei zahlreiche palästinensische oder palästinasolidarische Veranstaltungen, die den jährlichen Nakbatag (15.05.) begehen oder an die Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh (11.05.22) durch die israelische Armee erinnern wollten. Das OVG Berlin bestätigte diese Entscheidung am 13.05. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote hat sich ein Bündnis gegründet. Unser Autor Mohannad Lamees hat mit Aktivist:innen aus dem Bündnis über ihre Arbeit gesprochen.

Was bedeuten diese Demoverbote aus Eurer Sicht? Wie bewertet Ihr diese Entwicklung?

Wir begreifen die Verbote als Angriffe auf das palästinensische Leben in Deutschland, auf den palästinensischen Widerstand und auf das palästinensische Gedenken. Die Verbote stehen in einer langen Tradition von Repression gegen pro-palästinensische Bewegungen in Deutschland und sind, auch wenn sie sicherlich eine neue Stufe des schamlosen Gebarens der BRD darstellen, an sich nichts neues. Bereits vor einigen Wochen hatten die Berliner Behörden palästinensische Demos pauschal und präventiv verboten. Letztes Jahr gab es massive Polizeigewalt gegen palästinensische und palästinasolidarische Demonstrierende. Trotzdem wächst die Unterstützung für die palästinensischen Bewegungen in der Bevölkerung. Und nicht nur das, die Unterstützung wächst ganz konkret für junge revolutionäre pro-palästinensische Bewegungen, die die Rolle des deutschen Staates als Mittäter begreifen. Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Behörden mit solcher Härte gegen die Demos vorgehen und verhindern wollen, dass sich die Solidarität mit Palästina auf den Straßen Bahn bricht. Ganz nüchtern müssen wir feststellen: Der deutsche imperialistische Staat reagiert auf die palästinensische Bewegung so, wie auf alle anderen revolutionären Bewegungen auch – also mit offener Gewalt.

Ihr habt unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Demoverbote ein Bündnis gegründet. Warum?

Die Antwort ist recht einfach: Wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Nach den Angriffen letztes Jahr auf die Nakba-Demos in Berlin haben wir organisierte Gruppen es weder geschafft, die Repressionen ausreichend zu thematisieren noch die direkt Betroffenen in irgendeiner Weise zu begleiten oder zu unterstützen. Auch bei dem Demoverbot Ende April gab es zwar kämpferische Statements – eine Reaktion auf der Straße konnten wir aber nicht zeigen. Dieses Mal konnten wir diese Fehler korrigieren, indem sich sofort nach Bekanntwerden der Verbote einige palästinensische und palästinasolidarischen Gruppen getroffen haben und ein gemeinsames Ziel festgelegt haben. Dieses Ziel war, organisiert und geschlossen eine Reaktion gegen die Repression auf die Straßen Berlins zu tragen. In der kurzen verbliebenen Zeit – das Bündnis hatte nur 4 Tage, um sich zu formieren und zu organisieren – konnten wir durch die gebündelten Kräfte trotzdem einiges an Energie freisetzen.

Was ist dann am Nakbatag in Berlin passiert? Wie bewertet ihr die Ereignisse?

Wir haben die Ereignisse in Berlin im Bündnis als Erfolg ausgewertet. Es ist gelungen, den Verboten zu trotzen und ganz eindeutig ein Zeichen von den Straßen Neuköllns in die ganze Welt zu senden, nämlich dass die Verbote nicht hingenommen werden, dass die Angriffe den palästinensischen Widerstand nicht aufhalten können, dass die gemeinsamen Rufe revolutionärer Gruppen für die Freiheit des palästinensischen Volkes nicht verstummen.

Es gab an dem Tag eine Demonstration durch den Berliner Stadtteil Neukölln gegen Umweltzerstörung im Globalen Süden. Dort wurde nicht nur Klimagerechtigkeit und das Ende der imperialistischen Ambitionen des deutschen Staates auf der ganzen Welt gefordert, sondern natürlich wurden immer wieder lautstark und gemeinsam Rufe für die Freiheit des palästinensischen Volkes angestimmt. Auf der Sonnenallee, also auf der Straße, die immer wieder im Visier rassistischer staatlicher Repression steht, wurde die Demonstration dann von aggressiven Polizeitrupps ausgebremst, in eine Seitenstraße gelenkt und dort zum Stehen gebracht. Zahlreiche Anwohner:innen und Passant:innen zeigten sich spontan solidarisch mit der Demonstration und stimmten in die Rufe ein. Die Polizei drang schließlich gewaltsam in die Demonstration ein und nahm einige Personen fest. Von ausnahmslos allen Demonstrierenden wurden die Personalien festgestellt, es wurden Bußgelder und Gewahrsam angedroht sowie weiträumige Platzverweise ausgesprochen.

Nur wenige Hundert Meter entfernt kam es dann fast zeitgleich bei einem pro-palästinensischen Flashmob ebenfalls zu massiver Repression.

Das Vorgehen der Bullen war dabei brutal. Teilweise wurden willkürlich am Straßenrand stehende Personen festgenommen, nur weil sie arabisch aussahen oder Dinge trugen, die als pro-palästinensisch identifiziert wurden. Es wurde mehr als deutlich, dass die Polizei racial profiling, Einschüchterung und Gewalt bereitwillig eingesetzt hat, um ihre Ordnung durchzusetzen.

Überall auf den Straßen Neuköllns zeigten die Menschen deutlich, auf welcher Seite sie stehen, überall gab es Solidarität und Freude über die Aktionen für Palästina. Den ganzen Tag wurde auf der Sonnenallee darüber gesprochen, wie es gelungen war, eine pro-palästinensische Demo abzuhalten, obwohl die Bullen pausenlos im Vorfeld mit Wannen Streife fuhren und die Kreuzungen belagert hatten. Für uns steht deshalb fest: Der Nakbatag war ein Kampftag gegen die Repression und gegen die ganze Mittäterschaft des deutschen Staates in der Unterdrückung der Palästinenser:innen.

Die brutale Repression gegen Palästinenser:innen und Palästinasolidarische in Deutschland hat Tradition. Man denke an die Abschiebungswellen gegen dutzende Palästinenser:innen in Folge des Verbots der Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS) und Generalunion Palästinensischer Arbeiter (GUPA) 1972/73. Bei der Deutschen Welle gab es Anfang 2022 eine Säuberung, bei der mehrere Mitarbeiter:innen ihren Job nach inquisitionsartigen Befragungen zum Thema Israel-Palästina verloren. Letztes Jahr haben in ganz Deutschland, auch in Berlin, Demonstrationen und Kundgebungen zum Nakbatag stattgefunden, die Polizei ist hart in die Veranstaltungen reingegangen. Dieses Jahr wurden alle Veranstaltungen in Berlin verboten; wer eine Kufyie anhatte oder „Free Palestine“ rief, wurde verhaftet. Wieso sind Palästinenser:innen und Palästinasolidarische so gefährlich für den deutschen Herrschaftsapparat?

Hier müssen wir ein wenig ausholen. Zuallererst lässt sich feststellen, dass die Bundesrepublik quasi seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg in einem besonderen Verhältnis zum zionistischen Staat Israel steht. Das auch heute allgegenwärtige moralische Argument, wonach die BRD die deutsche Schuld über die industrielle Vernichtung der jüdischen europäischen Bevölkerung schultert und deswegen fest an der Seite des zionistischen Staates Israels stehen müsse, hat seinen Ursprung in den 1950er Jahren. Der im September 1952 zwischen der BRD und Israel unterzeichnete Vertrag über Reparationszahlungen an den Staat Israel wurde damals von der deutschen Regierung, allen voran Konrad Adenauer, als moralische Pflicht inszeniert. Wir wissen aber, dass diese Moral nur vorgeschoben war, und der Vertrag viel eher zustande kam, weil sich den imperialistischen Interessen der Westmächte, vor allem der USA, gebeugt wurde. Durch den Vertrag mit den Zionist:innen wurde außerdem die Tür für Verhandlungen mit den Westmächten über wirtschaftliche Vorteile für die junge BRD aufgemacht. Ganz nebenbei erfüllte dieses moralische Argument auch die Funktion, von der Nazi-Vergangenheit zahlreicher BRD-Staatsapparate und BRD-Staatsmänner abzulenken. 

Warum ist das so wichtig? Zum einen verhalf die BRD mit diesem Vertrag und den vereinbarten Zahlungen, sowie den sich in den 60er Jahren anschließenden und bis heute laufenden militärischen Unterstützungen, dem damals wirtschaftlich schwachen Israel zu großer Stärke. Westdeutschland ermöglichte so unter anderem die israelische Kriegsführung in den 50er und 60ern gegen die Palästinenser:innen und gegen die arabischen Nachbarstaaten. Zum anderen war die Unterstützung Israels damals  – und ist es auch noch heute  – das goldenene Ticket für den wiedererstarkten deutschen Imperialismus. Wenn wir also danach fragen, wieso seit den 60er Jahren so vehement gegen Palästinenser:innen in Deutschland vorgegangen wird, dann muss die Antwort lauten: Weil der deutsche Imperialismus die bedingungslose Solidarität mit dem Zionismus nicht nur mit Verträgen mit und Waffenlieferungen an Israel zur Schau stellt, sondern eben auch durch hartes Durchgreifen im eigenen Land.

Dass diese Politik nichts Moralisches an sich hat, verstehen mittlerweile immer mehr Menschen in Deutschland. Es ist absurd, dass Bundespräsident Steinmeier letztes Jahr im Juli, nur einige Wochen nach den massiven israelischen Angriffen auf die palästinensische Zivilbevölkerung, einen Staatsbesuch in Israel machte und dem Rassisten Naftali Bennet die Hand schüttelte. Absurd ist auch, mit welcher Wucht der deutsche Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit gegen jedwede Solidarität mit dem palästinensischen Volk vorgehen – es hagelt Verbote, Entlassungen, Strafen und Abschiebungen. Deutschland ist mittlerweile das reaktionäre Zentrum des Anti-Antisemitismus, mit dem jedweder Antizionismus, eigentlich sogar jeder Anti-Imperialismus, pauschal als antisemitisch bezeichnet und verfolgt wird. 

Zwar wird das noch immer mit der deutschen Schuld und der angeblich vorbildhaften Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft begründet. Den eigentlichen Grund dafür können wir aber nur verstehen, wenn wir erkennen, dass der deutsche Imperialismus, gerade in einer Zeit der Krise und Schwäche, sich mit aller Macht gegen laut werdenden Widerstand und Protest zur Wehr setzt. Die Palästina-Frage offenbart wie kaum ein anderes Thema, mit Ausnahme vielleicht der Kurdistan-Frage, den imperialistischen Charakter dieses deutschen Staates. Und dieser Staat bekämpft die pro-palästinensische Bewegung genau deshalb, weil die Angst groß ist, dass aus der Palästina-Bewegung eine breitere anti-imperialistische Bewegung wachsen kann, die den deutschen Imperialismus selbst ins Visier nimmt.

Nach der Repression am Tag der andauernden Nakba forderte die CDU, Palästinenser:innen und solche, die sich mit ihnen solidarisieren, im Vorfeld von Demos in Gewahrsam zu nehmen. Was würde das bedeuten?

Eine Sache ist uns wichtig, bevor wir genauer auf die Frage eingehen: Die Repressionen am Tag der Nakba und im Vorfeld haben uns in Berlin nicht die CDU oder andere als „rechts“ geltende Parteien eingebrockt, sondern die Rot-Grün-Rote Koalition. Die Repression gegen pro-palästinensische Gruppen, aber auch gegen viele andere revolutionäre Organisationen ist keine Sache, die von einzelnen Parteipolitiken abhängig ist – gerade, weil sie aus dem deutschen Imperialismus an sich erwächst, der von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen wird. Dass die Berliner CDU nun noch einen draufsetzt, sollten wir erstmal als Oppositionspolitik verstehen – ähnlich hatte beispielsweise auch letztes Jahr nach den Nakbatag-Demos auf Bundesebene die Linkspartei reagiert, als Dietmar Bartsch Horst Seehofer aufforderte, noch härter gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen vorzugehen.

Trotzdem zeigen die aktuellen Forderungen, dass sich der deutsche Staat immer weiter die Maske vom Gesicht zieht und seinen wahren, repressiven Charakter zeigt. Dass bereits heute als „antisemitisch“ kategorisierte Geflüchtete abgeschoben werden können und Hunderttausende de facto so eingeschüchtert werden, um sie von politischer Aktivität abzuhalten, ist bekannt. Wenn nun auch mehr und mehr Befugnisse im Vorfeld von eigentlichen Straftaten erteilt werden könnten, so ist das eine Entwicklung, die uns zeigt, dass der imperialistische Staat die Zügel anzieht – und wir noch lange nicht am Ende der Repression sind. Darauf sollten wir aber nicht mit Empörung

reagieren oder überrascht sein – als revolutionäre Kräfte müssen wir darauf gefasst sein und Wege finden, diesem Staat trotzdem Paroli zu bieten.

Ihr hab Euch wegen der staatlichen Repression am Nakbatag verbündet. Mit der Roten Hilfe gibt es bereits eine breite Solidaritätsstruktur gegen staatliche Repression, warum habt Ihr ein eigene Organisierung für notwendig erachtet?

Unser Bündnis versteht sich nicht als Alternativangebot zur Roten Hilfe. Ganz im Gegenteil. Genoss:innen von der Roten Hilfe waren und sind während der Bündnisarbeit extrem wichtig für uns gewesen, indem sie uns beraten haben und mit uns zusammen geplant haben, wie wir eine Reaktion auf der Straße zeigen können. Die Rote Hilfe wird auch direkt Betroffene der Repressionen gegen die Nakbatag-Aktionen unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt für uns alle. Wir können so deutlich zeigen: Die palästinensische Sache muss Sache der Linken sein!

Wird das Bündnis über die Repression im Zusammenhang mit dem Nakbatag 2022 heraus bestehen bleiben? Was sind Eure Ziele?

Ja, das Bündnis bleibt bestehen und soll demnächst auch einen Namen bekommen. Momentan arbeiten wir daran, die weitere politische Arbeit auszugestalten. Unser Ziel ist,die gemeinsame Arbeit revolutionärer Kräfte gegen die staatlichen Repressionen weiter voranzutreiben. Bereits vor dem Wochenende des Nakbatags hatten wir im Bündnis festgehalten, dass es nicht nur um die Demos an diesem Tag und auch nicht nur um die Palästina-Frage geht. Der Staat führt einen Kampf gegen alle revolutionären Bewegungen. Allein im Mai 2022 hat sich bei den Repressionen gegen die revolutionäre Abenddemo am Arbeiter:innenkampftag, am Tag der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee und bei den Angriffen auf kurdische und türkische Genoss:innen gezeigt, dass wir alle gleichermaßen angegriffen werden. Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Verbindungen dieser Repressionen zu betonen und gemeinsam Antworten darauf zu geben.

Darüber hinaus wollen wir als Bündnis fest an der Seite derjenigen stehen, die von den Repressionen am Nakbatag unmittelbar betroffen sind. Dazu haben wir bereits in den ersten Tagen nach den Ereignissen ein Offenes Treffen veranstaltet, damit sich niemand mit den Repressionen und Angriffen alleine gelassen fühlen muss. Wir planen, die Rechtsfälle zu begleiten und Unterstützung zu leisten – in Form von Austausch, Beratung, und wenn wir es stemmen können, auch finanzieller Hilfe. Am wichtigsten ist für uns aber die politische, die revolutionäre Antwort auf die Repressionen – wir wollen weiterhin zeigen, dass gemeinsame Organisierung der Weg ist, um trotz Verboten und Anklagen die Straßen freizukämpfen.

Wie kann diese revolutionäre Antwort genau aussehen? Was bedeutet es, „revolutionär“ zu sein in Bezug auf staatliche Repression?

Auch wenn wir jetzt viel über die Demoverbote gesprochen haben: Repression, das ist nicht nur Demoverbot, Platzverweis und Polizeiknüppel. Dieser Staat dient der herrschenden kapitalistischen Klasse und wird mit allen erdenklichen Mitteln immer wieder gegen diejenigen vorgehen, die gegen diese Vorherrschaft kämpfen. Nicht nur auf Demos, sondern jeden Tag im Beruf, in der Schule, auf Ämtern, ideologisch, organisatorisch, politisch – alles was dieser Staat tut, um das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten, ist Repression. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, was die revolutionäre Antwort auf Repression ist. Nämlich nicht der Appell an mehr Menschlichkeit und Zugeständnisse, sondern der konsequente Kampf gegen das kapitalistische System und für den Sozialismus.

Dazu kommt: Dieses kapitalistische System, in dem wir alle leben, erzieht uns zur Passivität und zum Einzelgängertum. Viel zu oft nehmen wir Beschränkungen und Verbote einfach hin. Dass es am Nakbatag geklappt hat, sich trotz eines von den Behörden ausgesprochenen Verbotes und in vollem Bewusstsein über den Aufmarsch von Tausenden Bullen in Berlin-Neukölln trotzdem gemeinsam diesem zu widersetzen, das ist ein wichtiger Schritt, um aus dieser Passivität und Hörigkeit rauszukommen. Deswegen haben wir auch vor und nach den Aktionen Statements und Aufrufe in ganz Berlin verteilt, um allen deutlich zu machen: Wir werden die Verbote nicht hinnehmen! Und wir widersetzen uns, weil wir in die Stärke unserer gemeinsamen Organisierung vertrauen können. Das ist in unserer momentanen Lage das allerwichtigste und das müssen wir immer wieder betonen, dafür müssen wir ein breites Bewusstsein schaffen: Wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Der Erfolg am Nakbatag war ein Beispiel dafür. Wir müssen nun noch viel mehr solcher Beispiele schaffen!

#Titelbild: Bündnisarchiv

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In Armenien gehen seit mehreren Wochen tausende Menschen auf die Straßen, und fordern den Rücktritt des Premierministers Nikol Paschinyan. Hintergrund der Proteste, die von der parlamentarischen Opposition angeführt werden, sind Äußerungen des seit 2018 regierenden Premiers, wonach Arzach (Berg-Karabach) unter die Jurisdiktion Aserbaidschans fallen könnte, sofern die Rechte der dort lebenden Armenier:innen garantiert und bewahrt werden. Die wichtigste Stelle aus der Parlamentsrede vom 13. April sei hier zitiert: „Wir haben erklärt, dass Armenien nie territoriale Ansprüche gegenüber Aserbaidschan erhoben hat und dass die Karabach-Frage keine Frage des Territoriums, sondern der Rechte ist. Daher haben wir erklärt, dass die Sicherheitsgarantien für die Armenier von Karabach, die Gewährleistung ihrer Rechte und Freiheiten und die Klärung des endgültigen Status von Berg-Karabach für Armenien von grundlegender Bedeutung sind.“

Diese Erklärung bedeutet einen krassen Bruch mit bisher als selbstverständlich geltenden politischen Leitlinien armenischer Politk. Bisher war in Bezug auf Arzach die Selbstbestimmung der Bewohner:innen von Arzach das Ziel, das nun zu einer Frage von „Rechten“ und „Sicherheitsgarantien“ zusammengestückelt wird. Dies deutet darauf hin, dass Jerewan im Rahmen eines wie auch immer ausgearbeiteten Friedensvertrages mit Aserbaidschan bereit wäre, Arzach als Teil der territorialen Integrität Aserbaidschans anzusehen. Zur Erinnerung: In einem Referendum vom 10. Dezember 1991 erklärte sich die mehrheitlich von Armenier:innen bewohnte Region für unabhängig, verteidigte diese Unabhängigkeit in dem Krieg bis 1994 und nochmals unter enormen menschlichen und territorialen Verlusten im 44-Tage-Krieg 2020, in Folge dessen russische Friedenstruppen einrückten.

Die derzeitigen Proteste entzündeten sich an dieser Rede, die von weiteren Aussagen von verschiedenen Regierungsmitgliedern flankiert wurden. Unter dem Slogan „Zartnir Lao“ ( Wach auf, Junge), was an ein altes revolutionäres Lied aus der Zeit des Osmanischen Reiches anknüpft und zur Erhebung gegen Unterdrückung des osmanischen Jochs aufruft, versammeln sich jeden Tag tausende Protestierende und wollen notfalls auch den Sturz der Regierung. Dafür nehmen sie hunderte Verhaftungen in Kauf, da die Regierung die Demonstrationen zwar toleriert, gleichzeitig aber vor massenhafter Repression nicht zurückschreckt.

Die Sackgasse der Opposition

Zweifellos lehnt eine Mehrheit der armenischen Gesellschaft und wahrscheinlich ein noch viel größerer Teil der Diaspora diese Sichtweise ab, da außer Frage steht, dass jegliches armenisches Leben unter dem panturkistischen Diktator Ilham Aliyev unmöglich ist. Arzach als Teil Aserbaidschans und damit auch unter Kontrolle der Türkei zu begreifen, heißt, Massenmord und ethnische Vertreibung anzunehmen. Die zahllosen Kriegsverbrechen während des Krieges, als azerische und türkische Soldaten vor laufender Kamera sogar ältere Zivilist:innen in IS-Manier enthaupteten; die anhaltende Besatzung von Teilen des Territoriums der Republik Armenien, die illegale Geiselnahme und Folter von immer noch dutzenden armenischen Kriegsgefangenen und nicht zuletzt die Kriegsrhetorik Aliyevs, wo er Ansprüche auf die armenische Hauptstadt erhebt, zeigen, dass in Baku und Ankara genozidale Regime an der Herrschaft sind, deren strategisches Ziel die Auslöschung des armenisches Volkes ist.

Trotz all dieser alarmierenden Zustände gehen wohl nicht mehr als einige tausend regelmäßig zu den Protesten, die sich auch zumeist auf die Hauptstadt beschränken. Das hängt unzweideutig damit zusammen, dass die Proteste von den Mitgliedern des alten Regimes angeführt werden, die 2018 infolge von Massenprotesten gestürzt und durch die (neo-)liberale, eher dem Westen zugewandte Regierung von Paschinjan ersetzt wurden. Die führenden Oppositionellen wie Sersch Sargsyan (ehem. Präsident von 2008-2018), Robert Kocharyan (ehem. Präsident von 1998-2008), Artur Vanetzyan (ehem. Leiter des Geheimdienstes von 2018-19) oder auch Sevran Ohanyan (ehem. Verteidigungsminister 2008-16) sind weiterhin dermaßen unbeliebt, dass ein weitaus größerer Teil der armenischen Gesellschaft mit den Zielen der Bewegung sympathisiert, allerdings nicht teilnimmt, weil das alte Regime samt der Führungsfiguren für Korruption, Nepotismus, wirtschaftlichen und sozialen Rückschritt steht.

Viele haben nicht vergessen, dass die katastrophale Niederlage im Krieg 2020 nicht nur auf die Unfähigkeit und mangelnde Vorbereitung seitens der Regierung zurückzuführen war, sondern auch auf die Zeit der Herrschaft der heutigen Opposition. Der Paschinjan-Regierung gelang es im Juni 2021 sogar, die vorgezogenen Neuwahlen zum Parlament wiederum eindeutig für sich zu entscheiden und mit ihren verbündeten Listen 71 von 107 Sitzen einzunehmen. Schon damals war zwar die Unzufriedenheit mit Paschinyan zwar groß, allerdings stimmten bei einer Wahlbeteiligung von knapp unter 50 Prozent immer noch viele für ihn, da er im Vergleich zum alten Regime als „kleineres Übel“ gilt.

Es gibt seitens der Opposition weder ein soziales Programm, um den Lebensalltag der Massen zu verbessern, noch adäquate Vorschläge wie die Selbstbestimmung Arzachs garantiert werden könnte. Auch unter ihrer Herrschaft wurde schließlich die Republik Arzach nicht anerkannt und selbst heute gibt es keine klare Antwort darauf, ob sie an der Macht die Republik Arzach anerkennen würden oder wie sie überhaupt mit dem Aliyev-Regime umgehen würden.

Blind auf dem Pulverfass

Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg ist die Region um den Kaukasus angespannt und Spielfeld verschiedener Interessen. Die rund 3.000 russischen Friedenstruppen, die den Waffenstillstand in Arzach überwachen sollen, sind entweder nicht in der Lage oder nicht willens, die beinahe täglichen Aggressionen und Provokationen des Aliyev-Regimes einzudämmen oder zu verhindern. Ein besonders markantes Beispiel ist der Mord an Aram Tepnunts, einem 55-jährigen Bauern, der bei der Granatapfelernte in der Grenzregion Martakert von einem Scharfschützen erschossen wurde. Pikantes Detail: Da die Feldarbeit an der Frontlinie besonders gefährlich ist, überwachen russische Soldaten ab und zu die Arbeit; so auch hier: ein russischer Soldat saß genau neben Tepnunts im Traktor, als dieser von der tödlichen Kugel getroffen wurde.

Beispiele wie diese, die den Terror gegen die Armenier:innen in Arzach verdeutlichen, gibt es viele. Alle dienen dem Zweck, dass den Menschen dort das Leben zur Hölle gemacht wird, damit sie diese Region verlassen. Derzeit leben etwa 130.000 Armenier:innen in den nicht besetzten Gebieten von Arzach, wobei das Mandat der russischen Truppen 2025 ausläuft und dann für weitere fünf Jahre sowohl von Baku als auch Jerewan verlängert werden muss. Aus Sicht der Panturanisten in Ankara und Baku ist die Präsenz der russischen Truppen nicht wünschenswert, aber klar ist auch, dass Moskau seine Truppen so lange wie möglich dort behalten wird.

Der Kreml schickte seine Truppen allerdings nicht in die gebirgige Region, um die Armenier:innen zu schützen, sondern um seine geopolitischen Interessen durchzusetzen. Wladimir Putin balanciert dabei zwischen Armenien und Aserbaidschan und gab Baku auch für den Angriffskrieg im Herbst 2020 grünes Licht, obwohl sie in dem Waffenstillstandsabkommen von Bishkek, das den ersten Arzach-Krieg beendete, als Garant des Waffenstillstandes aufgezählt sind und dieses auch unterschrieben.

Von westlichen Medien nahezu unbemerkt und unerwähnt, unterzeichnete Aliyev nur zwei Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine ein Bündnisabkommen, das im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass der Kreml künftig Sanktionen auch dadurch umgeht, indem er seine Rohstoffe nach Baku weiterleitet und unter azerischer Marke verkauft, zumal Aserbaidschan selbst enorm viel Öl und Gas in den Westen exportiert. Der azerische Diktator verkauft damit die russischen Rohstoffe an den Westen, der mit diesem Diktator keine Probleme hat — wahrscheinlich ist das Grund für das mediale Stillschweigen zu diesem kriminellen Abkommen unter Diktatoren.

Angesichts dieser Lage, wo Baku die dadurch eingenommenen Devisen zur Modernisierung und Verstärkung seiner Armee einsetzen wird, zeigt sich die armenische Regierung wie auf einem Blindflug und möchte sowohl mit Aserbaidschan als auch mit der Türkei Friedensabkommen schließen. Der blamable Auftritt des armenischen Außenminister Ararat Mirzoyan auf dem „Antalya Diplomatic Forum“ wurde da zum Symbol, da nicht nur der türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu ihn auflaufen ließ, sondern auch türkische Medien offen ihren Rassismus zur Schau stellten und ihn bewusst wahlweise als „Arabat“ oder „Azarat“ bezeichneten, um ja nicht seinen Namen zu nennen. Ararat ist auch der Name des Bergs und Nationalsymbols der Armenier:innen, das gegenwärtig unter türkischer Besatzung steht und in der Türkei nur unter seinem türkischen Namen genannt wird.

Die Annäherung der beiden Diktaturen wird auch von der EU unterstützt, die gegenüber Paschinyan in einem trilateralen Treffen mit EU-Vertreter Charles Michel und Ilham Aliyev 2,6 Milliarden US-Dollar in Aussicht stellte für die „demokratische und wirtschaftliche Modernisierung“ des Landes — wenn Jerewan im Gegenzug in der Arzach-Frage nachgibt — oder besser gesagt schlichtweg kapituliert, da die EU genau weiß, mit welchen Folgen das für die Armenier:innen in Arzach verbunden wäre.

Gefährliche Zukunft

Aber es gibt keine Arzach-Frage. Es gibt auch keine Syunik-Frage, jene bedrohte südarmenische Region, die der panturanistischen Verbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan im Wege steht. Es gibt überhaupt keine Frage irgendeiner Region, die wie Vayotz Dzor oder Gegharkunik teilweise besetzt sind. Es gibt eine armenische Frage und diese Frage umfasst alle Regionen, die Teil der Republik Armenien, der Republik Arzach oder unter Besatzung stehen. Auf der Tagesordnung dieser brennenden Frage steht die Selbstverteidigung gegenüber der panturanistischen Gefahr im Mittelpunkt, aber auch die soziale, demokratische und wirtschaftliche Entwicklung.

Die Proteste der Opposition sind zum Scheitern verurteilt, da sie diese Punkte nicht zusammen denkt und das Programm dementsprechend ausrichtet, um ein politisches Angebot für die Massen zu haben. Denn sowohl Regierung als auch Opposition Teil des gleichen Problems. Beiden geht es um die Sicherung der Profite der Bourgeoisie, sei sie nun westlich orientiert oder kremlnah.

# Titelbild: Zhirayr Nersessian, Yerevan mit dem Ararat im Hintergrund

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Unter der Schlagzeile „Evakuierungen aus Mariupol – ‚Ich dachte, dass ich nicht überleben würde‘“ findet sich auf der Seite des Nachrichtenmagazins Spiegel nunmehr kein Video mehr. Lapidar steht dort: „Wir haben das Video, das sich an dieser Stelle befand, wegen nachträglich festgestellter inhaltlicher Unstimmigkeiten vorübergehend von der Seite genommen. Der SPIEGEL hatte das Videomaterial von der Nachrichtenagentur Reuters bezogen und klärt nun zunächst auch mit Reuters den betreffenden Sachverhalt. Neue Erkenntnisse werden wir dann an dieser Stelle veröffentlichen.“ Veröffentlicht wurde das Video am 2. Mai, bislang haben sich offenbar keine „neuen Erkenntnisse“ ergeben.

Was war passiert? Der Spiegel hatte eine zurechtgebastelte Version eines Videos, das eine evakuierte Überlebende aus dem Azovstal-Werk in Mariupol zeigt, veröffentlicht, in der eigentlich alles Wesentliche ihrer Aussage weggeschnitten war. In der Langfassung des Interviews ist zu sehen, dass sie behauptet, ukrainische Faschisten hätten die Zivilist:innen an der Evakuierung gehindert und sie schließt mit den Worten: „Die Ukraine als Staat – und ich bin Bürgerin der Ukraine – ist für mich gestorben.“

Ist das gelogen? Ist es wahr? Spricht sie unter Druck? Man kann es unmöglich mit Sicherheit sagen. Was man sagen kann, ist: Aus dem dreiminütigen Video einen Zusammenschnitt zu veröffentlichen, der das Gegenteil von dem impliziert, was sie sagt, ist eine Lüge. Aber warum soll man über so etwas eigentlich lügen? Würde es einer pro-ukrainischen Berichterstattung einen Zacken aus der Krone brechen, auch nur die Möglichkeit zuzugestehen, „unsere“ Nazis hätten sich daneben benommen?

Importierte Helden

Zu diesem Krieg gehört ein umfassender Geschichtsrevisionismus im Bezug auf den ukrainischen Faschismus und Nationalismus. Der Spiegel hätte das ganze Video zeigen können. Er hätte auch über die dutzenden auf pro-russischen Kanälen zirkulierenden Videos berichten können, die Bewohner:innen Mariupols zeigen, die von Gräueltaten der Azov-Miliz in der Stadt berichten. Dennoch würde niemand, der nicht vollends verblödet ist, der Redaktion eine Nähe zu Moskau unterstellen. Hat der Spiegel dennoch nicht. Aber warum?

Azov und die weniger bekannten anderen faschistischen Milizen wie Aidar oder der Rechte Sektor sind keine Anomalie des ukrainischen Nationalismus, sie sind seine Speerspitze. Als im Jahr 1997 Andrew Wilsons Monographie zu ukrainischem Nationalismus erschien, nannte dieser den Nationalismus in der Ukraine einen „Glauben einer Minderheit“. Das unbestreitbar geostrategisch wichtigste post-sowjetische Land außerhalb Russlands sei quasi ungeeignet für die Entwicklung einer starken nationalistischen Bewegung, denn: „Die moderne Ukraine ist eine zutiefst gespaltene Gesellschaft mit einem ausgeprägten Muster regionaler Unterschiedlichkeit“.

Davon allerdings ließ sich der Westen nicht beeindrucken. Man brauchte einen Nationalismus, der einerseits in die eigene Wertegemeinschaft eingliederbar und andererseits stark antirussisch sein musste. Die Anknüpfung an die faschistische OUN-Tradition lag da nahe und es ist nur konsequent, dass es stets die „prowestlichen“ Präsidenten wie Juschtschenko oder Poroschenko waren, die diesen beförderten. Sie ließen Lenin-Statuen entfernen und stellten solche der Faschisten Roman Schuchewytsch und Stepan Bandera auf. Sie benannten Straßen nach den einstigen Kollaborateuren der Wehrmacht und erklärten sie zu „Helden der Ukraine“. Sie gründeten Institute und Akademien zur Verbreitung dieses Glaubens.

Diese Wiederbelebung der OUN-Tradition – zu deren exilierten Vertretern westliche Geheimdienste ohnehin stets Kontakt hielten – bezeichnet der Historiker Per Anders Rudling als „importierten Heroismus“, der zudem durch die in ihm enthaltene Geschichtskitterung voller innerer Widersprüche ist: „Das Diaspora-Narrativ war widersprüchlich und kombinierte das Zelebrieren angeblicher Anti-Nazi-Widerstandsleistungen der OUN-UPA mit Feiern der Waffen-SS Galizien, einer ukrainischen Formation von Kollaborateuren, die von Heinrich Himmler 1943 gegründet worden war.“ Das führte zu Absurditäten wie der, dass Veteranen der Waffen-SS die UPA als „anti-Nazi Widerstandskämpfer“ würdigten und zugleich zum selben Verband von Kriegsveteranen gehörten. Sounds familiar? Es ist die gleiche Geschichte, die heute erzählt wird.

Die echten Ukrainer

Die ausgeprägte regionale Unterschiedlichkeit der Traditionslinien ist allerdings auch mit dem sogenannten Euromaidan – der Ersetzung des tendenziell pro-russischen korrupten Autokraten Janukowitsch durch eine Reihe pro-westlicher korrupter Autokraten – nicht verschwunden. Insbesondere im Osten der Ukraine kam es zu Aufständen, es bildeten sich die sogenannten „Volksrepubliken“ in Donezk und Lugansk – in Mariupol rückten zur Niederschlagung Panzer ein, in Odessa verbrannte man Oppositionelle bei lebendigem Leib. Noch bei den Wahlen 2019 kam der „pro-russische“ Oppositionsblock auf 13 Prozent, obwohl in zwei großen Regionen – den „Volksrepubliken“ nicht abgestimmt wurde. Auch Selenskys Erfolg dürfte, neben dem für „neue“ Kandidaten üblichen Anti-Korruptionsimage nicht unmaßgeblich an dem Versprechen, den Krieg im Osten zu beenden, gelegen haben. Vor und während der Kriegshandlungen kam es zu Massenverhaftungen von „pro-russischen“ Personen durch den Geheimdienst SBU und diversen rechten Milizen.

Das alles spielt im Westen keine Rolle und allein die Erwähnung dieser unbestreitbaren Fakten gilt als Verrat an Humanismus und Moral. Die im Rahmen der imperialistischen Debattenkultur einzig geduldete Position ist die des prowestlichen Nationalismus – und das ist eben der in der Tradition Banderas. Das wird zwar bestritten mit dem Hinweis darauf, dass Azov nur ein paar tausend Militante habe und der ihnen nahestehende politische Wahlblock bei den letzten Wahlen auf nur 2,4 Prozent kam. Doch das ist ein Scheinargument.

Die Bandera-Linie ist weit über das offen faschistische Spektrum hinaus die anerkannte Traditionslinie des prowestlichen ukrainischen Nationalismus, sie zu ehren war und ist auch für die ganz bürgerlichen Gestalten wie Timoschenko, Klitschko, Melnyk oder eben Selensky eine Selbstverständlichkeit. Das Grüßen mit „slava ukraini“, die schwarz-roten Fahnen, die Verklärung der OUN und die Leugnung ihrer Pogrome und Massenmorde ist kein Monopol der offen nazistischen Kräfte. Sie ist im prowestlichen Teil der Ukraine hegemonial und wo sie es vor dem Krieg nicht war, hat ihr Putin mit seinem als „Entnazifizierung“ verbrämten Angriffskrieg zum endgültigen Durchbruch verholfen.

Für die westliche Berichterstattung jedenfalls gilt: „Echte Ukrainer“ können nicht die sein, die den Dienst an der Waffe für Europa verweigern oder gar mit dem geopolitischen Feind fraternisieren. Echte Ukrainer sind nur die prowestlichen Nationalisten und weil dem so ist, muss die Geschichte eben so umgeschrieben werden, dass keinerlei Zweifel an deren Image bleibt.

Whitewashing Nazis

Da sich die Schlagseite des ukrainischen Nationalismus zum Faschismus aber nicht komplett verbergen lässt, weil die Wolfsangeln, Schwarzen Sonnen und Bandera-Bildnisse nunmal nicht alle aus dem Spiegel-Archiv löschen lassen, ist die Umdeutung ukrainischer Faschisten auch in deutschen Medien und Politikerreden gängiges Tagesgeschäft. Und die schreitet rasch voran. War noch zu Kriegsbeginn eine Homestory mit zwei der bekanntesten Neonazis der Ukraine ebenfalls im Spiegel kurz nach Veröffentlichung wieder gelöscht worden, ist es mittlerweile von Springer bis FAZ Usus, von in Mariupol eingeschlossenen Faschisten nur noch als „Widerstandskämpfern“ zu sprechen. Völlig ohne jede Einordnung werden Videos vom Twitter-Kanal der Faschisten wiedergegeben. Wahlweise wird die These vertreten, die Ideologie der Bandera-Anhänger sei völlig marginal oder aber sie seien so wichtig für den Kampf um die Freiheit Europas, das man sie nicht zu kritisieren habe. Im Trend ist auch die These, dass die mit Schwarzer Sonne und Wolfsangel in den Kampf ziehenden Kombattanten nur „früher mal“ Nazis waren, aber einen wundersamen Entradikalisierungsprozess durchgemacht hätten und jetzt keine mehr sind. Was den Sinneswandel begründet haben könnte, man kann nur rätseln. Sehr überzeugend ist das alles nicht, wie das Jacobin Magazin nachwies.

Deutsche Zeitenwende

Ein erwünschtes Nebenprodukt des ukraine-bezogenen Geschichtsrevisionismus ist, dass Deutschland – wie einst im Jugoslawienkrieg wieder unter Vorherrschaft der „Grünen“ – den Schlussstrich unter die eigene Geschichte wieder ein kleines bisschen dicker ziehen kann. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über den Hitler-Faschismus veröffentlichte die Haus- und Hofzeitung der Joschka Fischers dieser Republik einen Text der russischen Rechten Julija Leonidowna Latynina, in dem nicht nur affirmativ ein Diplomat des rumänischen Holocaust-Kollabaroteurs und Faschisten-Diktators Ion Antonescu zitiert wird, sondern die vor nicht allzu langer Zeit außerhalb von nationalkonservativen Stammtischen sehr seltene These vertreten wird, die Sowjetunion habe den Zweiten Weltkrieg begonnen: „Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“ Verteidiger:innen dieses Textes auf Twitter führten an, es sei ja schließlich ein Reprint aus einer russischen Zeitung und da müsse man kulturelle Unterschiede einrechnen. Als solidarischer Deutscher darf man ihn dann durchaus teilen und wenn man schon nicht selbst gleich wieder die Hand heben darf, dann streitet man wenigstens für das Recht anderer, es zu tun.

Wer nicht gleich so weit gehen will, die Geschichte komplett umzuschreiben, widmet sich lieber der Verdrehung der Lehren, die man einst aus ihr zog. War es nach 1945 schlüssig, militärische Zurückhaltung von jenem Deutschland zu fordern, das die ganze Welt mit Leid überzogen hatte, arbeiten die hiesigen Eliten seit Jahrzehnten daran, die Sache umzudrehen: Gefordert sei vielmehr ein Mehr an militärischer Aktivität im Ausland, natürlich stets zum guten Zweck. Lag der beim ersten Waffengang von Rot-Grün noch in der Zähmung des „Balkan-Hitlers“ Milosevic, hat man den neuen Hitler jetzt in Moskau ausgemacht. Der „Prüfstein, wie ernst es uns mit dem deutschen ‚Nie wieder‘ ist“, erläutert eine vom Ex-Böll-Stiftungs-Scharfmacher Ralf Fücks angeführte Querfront aus Springer-Journalisten, Grünen und Neues-Deutschland-Kolumnisten, sei die Verteidigung der Freiheit der Ukraine mit Waffengewalt. „Die deutsche Geschichte gebietet alle Anstrengungen, erneute Vertreibungs- und Vernichtungskriege zu verhindern. Das gilt erst recht gegenüber einem Land, in dem Wehrmacht und SS mit aller Brutalität gewütet haben.“ Dass ukrainische Nationalisten an der Seite von Wehrmacht und SS gegen Rote Armee, Juden und Polen wüteten, interessiert hier schon nicht mehr. Dafür wird aber en passant der „Vernichtungskrieg“ entgermanisiert – so besonders war der Hitler-Faschismus dann auch wieder nicht.

Das Whitewashing des ukrainischen Nationalismus hat die Wiederbelebung des deutschen Nationalismus im Schlepptau. Und welch Überraschung, der betritt dieses Mal nicht in seiner hässlichen pockennarbigen AfD-Form die Weltbühne, sondern ganz humanistisch, transatlantisch, pro-europäisch, samt feminist foreign policy. Die Freund:innen des CO2-neutralen Panzers jubeln, die Wolfsangel weht neben NATO- und Regenbogenfahne auf den „Friedenskundgebungen“. Und ein weiteres Mal darf am deutschen Wesen die Welt genesen.

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Zu dem aktuellen Krieg Russlands gegen den NATO-Verbündeten Ukraine liest und hört man überall, dass die „diplomatischen Bemühungen“ gescheitert seien, wobei die Kriegsparteien – und machen wir uns nichts vor, Deutschland ist in diesem Konflikt faktisch eine Kriegspartei – sich gegenseitig die Schuld dafür geben. Viele Menschen, die prinzipiell gegen Krieg sind, hoffen und appellieren an die Geschicke der Diplomat:innen. Sie wollen nicht glauben, dass es für die zwischenstaatlichen Probleme keine „diplomatische Lösung“ gab. Warum wurde nicht weiter verhandelt? Hätte man nicht irgendwelche Zugeständnisse machen können?

Auf dem diplomatischen Parkett treffen sich Vertreter:innen von Staaten, deren ökonomisches und militärisches Potential sehr unterschiedlich ist. Sie behandeln sich trotz dieser Machtunterschiede formell als gleichberechtigt, tauschen Höflichkeiten aus und versichern sich gegenseitig zu, ihre Souveränität anzuerkennen. Es sind trotzdem die stärkeren Verhandlungspartner, die am Ende ihren Willen durchsetzen– das können sie, weil sie über Druckmittel ökonomischer und militärischer Art verfügen.

Der Gegenstand des diplomatischen Konflikts zwischen Russland und der NATO, beziehungsweise der EU, war aber eben genau die Frage, wie weit die westlichen Mächte ihren Druck auf Russlands Nachbarn erhöhen und dadurch Russlands Position schwächen dürfen, sprich wer seinen Willen durchsetzen kann. Dadurch, dass die Regierungen vieler Länder östlich der NATO Russland als Gefahr und den Westen als Verbündeten sehen, stieg in der jüngeren Vergangenheit ihre Bereitschaft Reformen – mögen sie noch so schmerzhaft für die Bevölkerung sein – durchzuführen. Russland hingegen spekulierte auf die dadurch wachsende Unzufriedenheit und setzte auf eine zunehmende Destabilisierung. Damit gleicht die Strategie derjenigen des Westens, der das selbe mit jeder ihm nicht genehmen Regierung in der Region macht. Als unzulässige Einmischung angeprangert werden üblicherweise allerdings nur russische Einmischungen.

Russland wiederum eskaliert aktuell in der Ukraine die Situation auf militärischer Ebene, darauf spekulierend, dass sich niemand mit seinem Atompotential anlegen wird. Zumindest was einen direkten, zwischenstaatlichen Krieg angeht, trifft dies auch auf die NATO zu. Es zum einen genug ökonomische Hebel zur Schädigung der russischen Ökonomie und zum anderen die kampfbereiten ukrainischen Kräfte, die beide zusammen ein Eingreifen der NATO nicht nötig machen.

Währen der dem Krieg vorangegangenen Verhandlungen zielte Russland darauf ab, den von der NATO angestoßenen Prozess der Neutralisierung des russischen militärischen Potenzials nicht nur zu stoppen, sondern am besten rückgängig zu machen. Mit der schwächeren Ukraine direkt wollte Russland gar nicht erst verhandeln und verwies wiederum Kiew auf die Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen, mit den Vertreter:innen der „Volksrepubliken“ zu verhandeln. Die abtrünnigen Republiken als gleichberechtigten Verhandlungspartner auf dem diplomatischen Parkett anzuerkennen war wiederum für die Ukraine unmöglich, ohne damit den Souveränitätsanspruch auf das eigene Staatsgebiet aufzugeben.

In den vergangenen acht Jahren, war die Ukraine nach Russland der Staat mit den zweithöchsten Militärausgaben im ganzen postsowjetischen Raum. Die westliche Unterstützung für den Aufbau der ukrainische Streitkräfte führte dazu, dass die russische Verhandlungsposition mit der Zeit zunehmend schwächer wurde. Gleichzeitig sah der Westen natürlich auch keinen Grund, die eigenen Fortschritte beim Einhegen der russischen Ansprüche rückgängig zu machen – denn dies hätte ja gerade die eigene Verhandlungsposition geschwächt. Der Westen hat ja nicht jahrzehntelang an der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entmachtung Russlands gearbeitet, um dann nachzugeben.

Die Ansage westlicher Politiker, Russland sei eine „Regionalmacht“ hält die russische Führung für eine Fehleinschätzung und will qua Gebrauch des eigenen Militärpotenzials, sowie Drucks via Rohstofflieferungen zeigen, dass die Verhandlungspartner es mit einer Weltmacht zu tun haben. Diese grundlegenden gegensätzlichen Interessen trägt Russland nun in der Ukraine aus. Der Westen ist scheinbar bereit, die Kosten der ukrainischen Kriegsführung zu tragen, die Zerstörung von Streitkräften und Infrastruktur der Ukraine durch die russische Invasion treibt diese Kosten in der Höhe. Da aber die ukrainische Staatlichkeit scheinbar doch nicht so fragil ist, wie von Putin erhofft, geht der Westen das Risiko ein, finanziert und rüstet die Ukraine weiter auf, ohne direkt in die Kämpfe einzugreifen. Die Sanktionen, die die russische Wirtschaft ruinieren und das Land in die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit bringen und die Bevölkerung auf Dauer vor eine Versorgungskrise stellen, sind ja auch dazu da, Russland zu Nachgiebigkeit bei Verhandlungen zu bewegen. Hingegen kämen schon direkte Verhandlungen mit Selenskyj für Putin einem Nachgeben gleich und um ihn dazu zu zwingen scheuen westliche Politiker keine Zumutungen für die eigene Bevölkerung, die durch Sanktionen mit hohen Preisen konfrontiert wird.

Kriegerische Handlungen bilden also keinen Gegensatz zu diplomatischen Verhandlung. Die Diplomatie verhindert keineswegs, dass das Gebiet und die Bevölkerung der Ukraine als Material dient, im Konflikt zwischen den führenden kapitalistischen Staaten und den russischen Ambitionen einer dieser führenden Staaten zu werden. Illusionen über den friedlichen Charakter der Austausch von Drohungen sollte sich die Antikriegsbewegung nicht machen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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Die Corona-Pandemie hat auch Gewinner. Biontech zum Beispiel, das Unternehmen, das einen der Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt hat. Die Eigentümer:innen sind so zu Milliardär:innen geworden. Neben der Formel für den Impfstoff greift Biontech für‘s Kohle scheffeln auf bekannte Rezepte zurück: Lobbyismus und untertarifliche Bezahlung.

Bekanntlich hat die Coronapandemie die Umverteilung von unten nach oben noch einmal erheblich beschleunigt. Superreiche wie Amazon-Gründer Jeff Bezos oder der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz haben heute ein paar Milliarden mehr auf dem Konto als vor der Seuche. Natürlich gehört auch die Pharmaindustrie zu den Branchen, die mächtig absahnen. Ganz vorn dabei die Firma Biontech SE aus Mainz. Für das 2008 gegründete und eigentlich in der Krebsforschung tätige Unternehmen war Corona der Jackpot. Uğur Şahin und Özlem Türeci, Gründer:innen und Inhaber:innen von Biontech, setzten bereits im Frühjahr 2020 – also kurz nach Ausbruch der Pandemie – auf die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 und hatte nicht nur pharmazetischen Erfolg. Über Nacht wurde das Paar traumhaft reich.

Die Firma präsentierte im Herbst 2020 einen Corona-Impfstoff, den es in Kooperation mit dem US-amerikanischen Pharmariesen Pfizer und dem chinesischen Pharmakonzern Fosun – unterstützt mit einigen Millionen aus der Staatskasse – entwickelt hatte. Dass es ein deutsches Unternehmen das erste war, das einen Impfstoff präsentieren konnte, führte zu Extase in der bürgerlichen Öffentlichkeit. „Es ist die deutsche Mondlandung“, harfte die Bild-Zeitung. Für den liberalen, nach Aufstiegsstorys lechzenden Teil der Öffentlichkeit kam noch hinzu, dass Şahin und Türeci türkischstämmig sind und der Vater von Şahin als „Gastarbeiter“ bei Ford am Band stand. Die Begeisterung kannte und kennt keine Grenzen. Im Frühjahr 2021 heftete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Mediziner:innen das Bundesverdienstkreuz ans Revers.

Wichtiger als der Ruhm dürfte dem Paar aber wohl die finanzielle Entwicklung ihres Startups Biontech gewesen sein. Bereits im ersten Halbjahr machte Biontech rund 3,9 Milliarden Euro Gewinn – Gewinn, nicht Umsatz wohlgemerkt. Im Januar 2022 verkündete Şahin, das Unternehmen habe mit dem Impfstoff im Vorjahr einen Umsatz von 16 bis 17 Milliarden gemacht, für das laufende Jahr gehe er von einem ähnlichen Volumen aus. Das Vermögen von Şahin und Türeci erhöhte sich im Handumdrehen auf knapp zwölf Milliarden Euro, wie Medien berichteten. Damit gehören die beiden, gemessen am Forbes-Ranking für 2021, zu den zehn reichsten Menschen in Deutschland.

Dieser Reichtum kommt nicht von ungefähr. Im kapitalistischen Hauen und Stechen ist auch die lebensnotwenige Versorgung mit Medikamenten nur eine Ware, die es gilt möglichst profitabel unter die Leute zu bringen. Und damit die Profite sicher bleiben, wird entsprechend lobbyiert. Vizekanzler Robert Habeck etwa, machte in Bezug auf die Freigabe von Patenten, die Biontech und anderen Pharmakonzerne die Milliarden sichern, eine 180 Grad-Wende. In der Opposition hatte er noch die Freigabe der Impfstoffpatente gefordert, in Regierungsverantwortung, nachdem er mit „Unternehmen noch mal intensiv gesprochen“ habe, diese Position komplett aufgegeben. Das einzige Unternehmen mit dem er gesprochen hatte: Biontech.

Biontech ging in seinem Lobbyismus aber noch einen Schritt weiter. Um der gobal betrachtet krassen Unterversorgung armer Staaten mit Impfstoffen Herr zu werden, hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO in Südafrika ein Konsortium damit beauftragt, einen eigenen Impfstoff herzustellen. Nach Recherchen des British Medicinal Journal versuchte Biontech über die vom Unternehmen finanzierte Stiftung Kenup, diese Initiative zu verhindern, unter Verweis auf das Patentrecht. Stattdessen solle in Ruanda und im Senegal in Containern von Biontech hergestellt werden. Profite für die Mainzer natürlich inklusive.

Und während nach außen die Absatzmärkte gesichert werden, werden nach innen die Beschäftigten gekonnt ausgepresst. Bereits in der Debatte um einen möglichen Staatseinstieg bei Biontech im Februar 2021 hatte die auch für die Pharmaindustrie zuständige Gewerkschaft IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) gemahnt, die Politik müsse Biontech daran erinnern, „dass die Sozialpartnerschaft auch für Start-ups gilt“. Biontech warb damals um weitere Staatsgelder, um die Impfstoff-Produktionskapazitäten rasch auszubauen. Man befürworte diese Förderung, erklärte aus diesem Anlass Roland Strasser, Landesbezirksleiter der IG BCE, plädiere aber zugleich dafür, dass sich auch Biontech zur etablierten Sozialpartnerschaft bekennen. Stattdessen aber würden Gesprächsangebote abgeblockt.

Dass sich bis heute – also nach einem Jahr – an der Misere offenbar nicht wirklich etwas geändert hat, zeigte ein Beitrag, der jüngst in der Tageszeitung junge Welt erschien. Dort hieß es, die IG BCE bemühe sich weiterhin um Zugang zur Biontech-Belegschaft. Gefordert würden Mitbestimmung, Tarifverträge und transparente Gehaltsstrukturen. Biontech habe sich für einen in der Startup-Szene üblichen Weg entschieden: Durch die EU-Rechtsform der SE würden nationalstaatlich verankerte Arbeitsrechte ausgehebelt. Betriebsräte und Tarifverträge versuche man zu verhindern, die Vergütungsstrukturen würden verschleiert. Laut Angaben der Gewerkschaft klagten viele Beschäftigte des Konzerns zudem über eine „Arbeitsbelastung am Anschlag“ und eine „mangelnde Führungskultur“.

Die Forderung der Gewerkschaft: Um die Situation zu verbessern, müsse Biontech als Gegenleistung für die Millionen vom Staat endlich akzeptieren, dass „Sozialpartnerschaft und Tarifverträge im gesamten Unternehmen Standard werden“. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die rheinland-pfälzischen Standorte Mainz und Idar-Oberstein. Denn im zur Erweiterung der Produktionskapazitäten zugekauften Werk im hessischen Marburg gelten alle Mitbestimmungsrechte und der Flächentarifvertrag der Chemieindustrie. Biontech hatte die Anlage im Herbst 2020 von der schweizerischen Novartis AG übernommen – einschließlich der bestehenden Arbeits- und Tarifverträge. Allerdings gibt es auch in Marburg für die rund 100 nach der Übernahme eingestellten Mitarbeiter nur befristete Verträge.

Die IG BCE will, wie junge Welt berichtete, Tarifverträge für alle Beschäftigten an allen Standorten erreichen. Denn vor allem dort, wo diese fehlten, seien die Bedingungen miserabel. Die Gewerkschaft verweist immer wieder darauf, dass Mitbestimmungsrechte und Tarifverträge in der Pharmaindustrie durchaus üblich sind. Kooperationspartner von Biontech wie Pfizer, Sanofi und Bayer seien „alle tarifgebunden und schätzen die Sozialpartnerschaft zur IG BCE“. Es wird sich noch zeigen, ob die Goldgrube Biontech auch ihre Mitarbeiter flächendeckend am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen gewillt ist. Sicher ist aber, dass Biontech den Eigentümer:innen weitere Milliarden in die Taschen spülen wird. Dafür wird auf allen Ebenen gesorgt.

# Titelbild: Neben Milliarden gibt’s auch eine Ehrendoktorwürde. Empfang für Özlem Türeci und Uğur Şahin, im Rathaus Köln und Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Man wolle die Rechte von Frauen, Mädchen und queeren Menschen weltweit und den Frieden u.a. im Nahen und Mittleren Osten stärken, so zumindest steht es in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag der neuen Ampelkoalition im Bundestag. Dieses Statement ist die Fortsetzung eines Trends, denn seit einigen Jahren schreiben sich Staaten vermehrt Feminismus auf die Fahne. Spätestens 2014 hat ein neues Schlagwort den Weg in den Wortschatz der Herrschenden gefunden: Feministische Außenpolitik. Die damalige schwedische Außenministerin Margot Wallström stellte dieses Konzept vor, das vorgibt, Frauen und Mädchen zu stärken, sie besser in Politik und Friedensverhandlungen einzubinden, und patriarchale und sexualisierte Gewalt zu bekämpfen.

Diese Idee von „Feminist Foreign Policy“, die über die Jahre von immer mehr Staaten aufgegriffen wurde, ist nun auch Teil des Koalitionsvertrags der neuen Bundesregierung aus FDP, Grünen und SPD, in der mit Annalena Baerbock erstmals eine Frau die Außenministerin stellt. Im selben Dokument steht neben der Ankündigung einer „Rückführungsoffensive“ von Asylbewerber*innen und der Zusicherung bewaffneter Drohnen an die Bundeswehr auch, was für ein wichtiger NATO-Partner die Türkei sei – trotz „besorgniserregender innenpolitischer Entwicklungen und außenpolitischer Spannungen“. Eine interessante Wortwahl, um die zahlreichen Angriffe des türkischen Staates etwa gegen die Frauenrevolution in Rojava, gegen feministische Demos, gegen Zivilist*innen und Genozid-Überlebende in den letzten Jahren zu beschreiben. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Türkei seit Jahren den IS unterstützt, der 2014 in Shingal einen Genozid an Êzîd*innen begangen hat, der vor allem auch ein Feminizid war.

Warum wir das alles erwähnen? Weil Deutschland jährlich Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an die Türkei liefert. Und weil an diesem Beispiel klar werden sollte, dass Abschiebungen, Aufrüstung, Rüstungsexporte – oder aktuell die Bereitstellung von 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr – im Widerspruch zu Frieden und Befreiung stehen.

Wolf im Schafspelz

Eine „feministische“ Außenpolitik scheint dabei an der Oberfläche besser zu sein als eine Außenpolitik, die sich überhaupt nicht mit Themen wie Feminismus auseinandersetzt. Allerdings ist diese subtile Vereinnahmung einer der radikalsten Bewegungen der Welt durch den Staat irreführend und demobilisierend.

Kapitalismus, Ausbeutung, Rassismus, staatliche Gewalt, Repression, koloniale Kontinuitäten – das sind Begriffe, die in den „Feminist Foreign Policy“-Kontexten kaum oder gar nicht vorkommen. Denn der Ansatz ist nicht an der Überwindung dieses Systems interessiert, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und patriarchaler Gewalt basiert. Solche staatlichen Ansätze tragen vielmehr dazu bei, notwendige revolutionäre Forderungen zu verwässern und Kämpfe zu schwächen.

Gleichberechtigung wird in dieser Spielart des liberalen Feminismus im Rahmen von „Repräsentation“ gedacht; dass eine Frau die Außenministerin stellt, wird an sich als Gewinn betrachtet, während die tiefsitzende patriarchale Mentalität in der Gesellschaft und das System selbst kaum in Frage gestellt werden.

Diese oberflächliche Nutzung feministischer Begriffe findet sich auch in den vielen NGO-Strukturen, mit denen westliche Staaten für strategische Zwecke seit Jahrzehnten à la social engineering Zivilgesellschaften im globalen Süden aufbauen wollen. Feministische Aktivist*innen in Ländern wie Afghanistan, Kurdistan und im Irak kritisieren zurecht, dass die unzähligen vom Westen gesponserten „Women’s Empowerment“-Projekte schwach und unkritisch sind. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit Regierungen und staatlich unterstützten Institutionen sind sie nicht nur keine Gefahr für patriarchale Strukturen, sondern eine der vielen Methoden, mit denen radikalere feministische Bewegungen gegen Kolonialismus, Besatzung und Krieg marginalisiert werden.

Diese Entwicklungen hängen mit einem globalen Trend zusammen, nämlich der sogenannten „Feminisierung“ des Sicherheitssektors: Es werden reihenweise staatsnahe und oft von Geheimdiensten informierte wissenschaftliche Arbeiten unter dem Dach „Gender, Peace, Security“ veröffentlicht. Gleichzeitig setzen Staaten, Militärbündnisse wie die NATO und ausbeuterische Konzerne das Thema Gender auf ihre Agenda, ohne dass daraus irgendetwas anderes folgt, als dass Frauen dieselbe patriarchale Politik von eh und je umsetzen sollen. Während in der Geschichte eine Antikriegshaltung eine der wichtigsten Strategien feministischer Bewegungen war, wird es nun als feministisch betrachtet, mehr Frauen in Staatsarmeen zu rekrutieren und mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen sie über die Bomben entscheiden können, die auf Menschen in verschiedenen Teilen der Welt herabregnen.

Feministische Außenpolitik ist somit eine vom patriarchalen Staatensystem abhängende und im Grunde konservative Methode, mit der die Entpolitisierung Widerstand leistender Bewegungen (z.B. revolutionärer Frauenbewegungen) durch neue Formen der westlichen Hegemonie durch scheinbar progressive Ideale verwirklicht wird.

Diese Entpolitisierung zeigt sich auch in Debatten um die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine. Liberaler Feminismus spricht performativ von Putins „toxischer Männlichkeit“ und „phallisch“ anmutenden Kanonenrohren. Dabei sollte sich Feminist*innen eher die Frage aufdrängen, wie jetzt revolutionäre Bündnisse gegen Krieg, Vertreibung, Militarismus, Imperialismus, sowie sexualisierte und staatliche Gewalt geknüpft werden können. Und das geschieht nicht durch staatliche top-down-Ansätze innerhalb nationaler Grenzen, sondern internationalistisch und durch selbstorganisierte Massen.

Feminismus gegen den Staat

In den vergangenen Jahren haben sich viele feministische Kämpfe ausdrücklich gegen den Staat gerichtet, mit der Begründung, dass der Staat eine Institution ist, die patriarchale Gewalt reproduziert. Staaten behindern aktiv den Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung, indem sie revolutionäre Bewegungen und Aktivist*innen kriminalisieren. In vielen Ländern ist der Staat dabei, existierende Rechte zur körperlichen Selbstbestimmung abzubauen. Und in Lateinamerika und der Karibik etwa wird seitens feministischer Gruppen der Begriff „Feminizid“ als eine Form der patriarchalen Gewalt betrachtet, die explizit durch den Staat ermöglicht und normalisiert wird.

Immer mehr feministische Bewegungen wenden sich aus diesen Gründen von den legalistischen, bürokratischen, reformorientierten Staatsfeminismen ab und wenden sich radikalen, revolutionären, auf Selbstorganisierung basierenden Formen der Politik zu. Diese sind oft lokal und gleichzeitig internationalistisch. In einem kapitalistischen System stehen Profite über Menschenleben. Dabei ist es weitgehend egal, wie ökologisch, wohlwollend oder sogar feministisch sich Regierungen geben. Vergessen werden Frauen und Queers in Knästen und in Kriegsgebieten. Vergessen werden Flüchtende an den EU-Außengrenzen, die voller Gewalt zurückgedrängt und dem Tod überlassen werden. Vergessen werden ausgebeutete Frauen auf der ganzen Welt und insbesondere im globalen Süden. Und – Stichwort „Rückführungsoffensive“ – all jene, die in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Verfolgung und Folter drohen, so wie es bereits die rot-grünen Landesregierungen in den letzten Jahren fleißig gemacht haben.

Feministische Außenpolitik kann sich nicht vom Staat, dem Bruder des Patriarchats, scheiden. Ihre Loyalität gilt der Macht, nicht der Freiheit. Sie hat herzlich wenig mit den vielen feministischen Bewegungen auf den Straßen der Welt zu tun, in denen Menschen tagtäglich ihre Leben riskieren, um sich Patriarchat, Kapitalismus, Polizeigewalt und militärischen Angriffen zu widersetzen. Dies sind zwei unterschiedliche Welten. Feminist*innen sollten sich aktiv dagegen wehren, dass ihre Geschichte, ihre Methoden und ihre Kämpfe durch Begriffe wie feministische Außenpolitik ihrer Bedeutung beraubt und mit Systemen der Gewalt und Ausbeutung vereinbar gemacht werden. Wir verdienen mehr als die rückständigen Ideologien und Methoden, die uns nun durch Staaten als Feminismus angedreht werden.

# Titelbild: Soldatinnen beim feierlichen Gelöbnis 2021, ©Bundeswehr/Sebastian Wilke

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Der bekannteste russische Oppositioneller, Alexei Nawalny meldet sich aus der Gefängnis zum Einmarsch in die Ukraine und wärmt dafür eine Theorie auf, die auch unter Linken beliebt ist. Der Krieg sei doch nur eine Ablenkung von den anderen, „wirklichen“ Problemen:

…Putin geht es um eine Sache: Die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen der Russen abzulenken: die Entwicklung der Wirtschaft, höhere Preise, regierende Rechtlosigkeit. Die Aufmerksamkeit wird stattdessen auf imperialistische Hysterie gelenkt.

Wann haben Sie das letzte Mal Nachrichten im staatlichen Fernsehen geschaut? Ich schaue derzeit nur das, und ich kann Ihnen versichern: Es gibt da keine Nachrichten aus Russland. Es geht nur um die Ukraine, die USA, Europa. Reine Propaganda reicht den senilen Gaunern nicht mehr. Sie wollen Blut. Sie wollen ihre Panzerfiguren über eine Landkarte der Feindseligkeiten fahren lassen.

Dass die russische Propaganda ständig das Bild des krisengeplagten Auslands als Kontrast zum von Erfolg zu Erfolg eilenden eigenen Land bemüht, mag zwar eine richtige Beobachtung sein, aber als Erklärung, warum Russland trotz aller bisherigen Bekundungen doch die Ukraine attackiert taugt es nicht. Dass der Krieg nicht nur Verluste, sondern auch eine ganze Reihe von neuen ökonomischen Problemen mit sich bringt, ist nicht nur der Regierung bewusst, sondern entgeht auch der Bevölkerung nicht. Es ist aber auch nicht so, dass Russland kurz vor Massenprotesten steht und nur noch ein „splendid little war“ den Kreml retten könnte.

Die stetige Osterweiterung der NATO und der EU, die die russische Führung immer wieder vorbringt, sind durchaus real. Russland ist seit über 30 Jahren ein kapitalistisches Land das in der ökonomischen Konkurrenz mit den Siegern des „Kalten Krieges“ nicht gut da steht. Die Teilnahme Russlands am Weltmarkt ist von den führenden westlichen Mächten erwünscht, russischer Erfolg dort jedoch nicht. Im ökonomischen Wettbewerb unterlegen, hat Russland aber noch ein gewaltiges Militärpotenzial, das es gerade dafür einsetzt, denjenigen Staaten, die die Rahmenbedingungen diktieren wollen, Grenzen zu setzen.

Putin teilte in seiner Rede auch unverhohlen mit, dass er nicht warten möchte, bis der Westen die Ukraine weiter als Frontstaat aufrüstet. Später wären die Kosten noch höher, so sein keineswegs geheimes Kalkül. Seine westliche Amtskollegen sagen der Bevölkerung der Ukraine auch klipp und klar, dass es so einiges kosten wird, der russischen Staatsraison Grenzen aufzuzeigen. Den Aufstieg einer Weltmacht zu verhindern, die ökonomisch gar keine ist, aber sich militärisch den Status nimmt , ist innerhalb imperialistischer Konkurrenz der einzig logische Schritt für die USA und ihre europäischen Noch-Verbündeten und zugleich Konkurrenten.

Die „imperialistische Hysterie“ die Nawalny anprangert ist nur eine Folge von dieser imperialistische Konkurrenz, gegen die er als Liberaler eigentlich nichts einzuwenden hat und die er meint mit rein ökonomischen Mitteln gewinnen zu können – so zumindest sein Programm aus der Zeit als er sich noch für‘s Präsidentenamt bewerben wollte, um selber das gleiche Spiel zu spielen.

# Titelbild: Sowjetisches Antikriegsplakat

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„Putin ist verrückt“ oder „machthungrig“ sind gängige Erklärungen für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Alexander Amethystow darüber, warum der Krieg kein Betriebsunfall einer ansonsten normal funktionierenden Weltpolitik ist, sondern die Konsequenz imperialistischer Konkurrenz.

Unfassbar: kapitalistische Staatsinteressen führen tatsächlich zum Krieg, wer hätte es gedacht!

Die Welt ist entsetzt: Das größte Land der Welt zieht gegen das zweitgrößte Land Europas in den Krieg! Die Ukraine, die in den letzten Jahren stets beteuert hatte, williger Verbündeter des Westens zu sein, wird von Russland überfallen und erhält vom Westen keine Unterstützung mit Truppen. Einen vollwertiger Krieg mit der Atommacht Russland ist die Ukraine denjenigen, die sie zu einem Frontstaat aufbauten doch nicht wert.

Seit das postsowjetische Russland beschloss als kapitalistischer Staat in der weltweiten Konkurrenz seinen Erfolg zu suchen, pocht es darauf, als eine Weltmacht ernstgenommen zu werden. Doch die wirtschaftlichen „Erfolge“ reichen dafür offensichtlich nicht. Russland fungiert vor allem als Rohstofflieferant für den Westen. Konkurrenten und Geschäftspartner werden vor allem mit militärischem Potenzial zur Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen gezwungen und genau dieses Potenzial versucht die NATO systematisch auszuhebeln. Angesichts der dauerhaften Bemühungen der EU von den russischen Energielieferungen unabhängig zu werden, wird es verständlich, warum die Führung Russlands um den Status ihres Staates in der imperialistischen Konkurrenz so besorgt ist.

Es liegt also nicht daran, dass Putin „verrückt“, „machtbesessen“ oder „Macker“ oder „Gladiator“ ist. Nein, es ist kein Betriebsunfall der Weltpolitik. Und auch die Debatte, welche Interessen Russlands „legitim“ seien, führt nirgendwo hin. Russland möchte Weltmacht sein, die anderen Weltmächte sind der Meinung es braucht keine weitere. Die westlichen Weltmächte stellen Spielregeln auf, Russland möchte Souveränität beweisen, indem es sich nicht einhegen lässt. Einen „Regime change“ in eigenem Interesse durchzusetzen, ist für Moskau der ultimative Beweis dafür, eine souveräne Weltmacht zu sein. Souverän ist, wer über die Souveränität der anderen entscheidet. Dass ist die Lehre, die Putin und Co. aus Jugoslawien, dem Irak, Libyen usw. gezogen haben.

Wer eine Großmacht sein will, darf die Verletzung seiner Interessen nicht hinnehmen. Das wiederholt Putin ständig und verweist auf die Schicksale der Länder, die keine Großmächte sind. Die Russische Führung sieht sämtliche ihrer Ansprüche in Osteuropa übergangen und betrachtet die vollendeten Tatsachen, vor die sie von der EU und der NATO gestellt werden, als die Aberkennung der Bedeutung Russlands in der Staatenkonkurrenz. Daher nimmt Russland sich das Recht, seinerseits Fakten zu schaffen.

Der Kreml inszeniert den Einmarsch ganz im Stil seiner westlichen Kontrahenten als eine humanitäre Aktion. Schon im Vorfeld wurde seitens Russland angekündigt: Wenn die ukrainische Regierung ihr Gewaltmonopol über die abtrünnigen Regionen wiederherstellen möchte, sei das ein Kriegsgrund! Entweder muss der ukrainische Staat faktisch zugeben, kein Souverän über sein eigenes Gebiet mehr zu sein, oder seitens Russlands das erleben, was Jugoslawien und Libyen seitens des freien Westens erlebt haben. Denn ein Kampf gegen bewaffnete Insurgenten auf eigenem Gebiet galt im Fall von Gaddafi als „ein Krieg gegen das eigene Volk“. Da kein Staat die Infragestellung des eigenen Gewaltmonopols in Kauf nehmen kann, käme es für die Ukraine dem Verlust der eigenen Souveränität gleich ein solches Diktat anzunehmen.

Russland weiß aus der Erfahrung zweier Tschetschenienkriege, dass in der nationalstaatlichen Logik abtrünnige Gebiete dann als feindliches Gebiet behandelt werden müssen, mit entsprechender Behandlung der Zivilbevölkerung. Bei den ukrainischen Versuchen, die eigenen Souveränität qua Ausnahmezustand durchzusetzen, werden – wie es in NATO-Jargon heißt – „Kollateralschäden“ entstehen, sprich Häuser und Infrastruktur zerstört, Zivilisten verletzt und getötet werden, was Russland „Genozid“ nennt. Das ist ein nicht zu überbietender Vorwurf und seit dem Jugoslawienkrieg ultimative Rechtfertigung für sofortiges Ein – und Angreifen.

Russland hat bereits angekündigt, die „Schuldigen“, sprich ukrainische Politiker und (Para)Militärs zur „Verantwortung zu ziehen“. Natürlich im Namen der Menschenrechte, die Russland einfach durchzusetzen hilft. Mit dieser Argumentation ist Putin nicht etwa bei Stalin oder Iwan dem Schrecklichen – wie man gerade allerorten lesen kann – sondern bei den westlichen Führungsmächten in die Lehre gegangen.

# Titelbild: Nein zum Krieg, sowjetisches Antikriegsposter

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„Was kommt als nächstes?“ – Die Frage mussten sich tausende von FARC-Guerrillakämpfer:innen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Jahr 2016 stellen. In EL Cauca, einer Region, in der die FARC schon immer sehr präsent war, tauschten die Kämpfer:innen ihre Waffen gegen Kameras. Inmitten des Friedensprozesses, als die Augen der Welt auf sie gerichtet waren, beschlossen sie, ihre Sicht der Dinge zu dokumentieren. Zum ersten Mal auf diese Art wird in „Memorias Guerrilleras“ (Guerrilla-Erinnerungen) der kolumbianische Konflikt von denen erzählt, die ihn erlebt haben.

„Der Film wurde von ehemaligen Kämpfern gedreht und geschrieben, was in der Welt ungewöhnlich war“ sagt uns Boris Guevara, ehemaliger Guerrillero der FARC und Schauspieler in Memorias Guerrilleras. Tanja Nijmeijer, die während des Telefongesprächs neben ihm sitzt, fügt hinzu: „Wir hatten das Gefühl, dass es wichtig war, einen Film mit unserer Vision zu produzieren. Was haben wir erlebt? Was haben wir durchgemacht?“

Die Neiderländerin Tanja hat es zu unfreilliger Berühmtheit gebracht, als ihre Tagebücher im kolumbianischen Dschungel gefunden werden, in denen sie ihre Entwicklung einer FARC-Revolutionärin dokumentiert. Sie begleitete die Dreharbeiten und die Ausbildung für das Verfassen von Drehbüchern und Aufnahmen. „Wir lebten in der Übergangszone für die Wiedereingliederung, als uns ein Filmregisseur, Ricardo Coral, besuchte.“

„Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt. – Dreharbeiten über Krieg inmitten der Entwaffnung

Über 50 Jahre lang befand sich die FARC im Krieg mit dem kolumbianischen Staat. Eine lange Zeit, in der viele Dokumentarfilme entstanden. Warum braucht es noch einen Film? Was macht dieser anders? Tanja antwortet darauf: „Normalerweise haben Filme einen Filter. Es gibt viele Dokumentarfilme über die FARC, aber ich denke, die meisten davon wurden von Leuten außerhalb gemacht. Es geht immer durch ihren Filter.“

Tatsächlich belegen mehrere Studien die Propaganda der kolumbianischen Regierung gegen die FARC. Ein Medienkrieg, der die FARC für alles Schlimme im Land verantwortlich macht, und darauf abzielt, die Guerrilla zu einem unpolitischen Subjekt zu machen. Tanja fügt hinzu: „Wir wollten unsere Geschichte erzählen; wir wollten, dass die Leute wissen, warum wir uns der FARC angeschlossen haben. Es wurde so viel über die FARC gesagt, und 80 % davon ist nicht wahr, einfach nicht wahr. Wir hatten ein Leben im Dschungel, ein Leben in der Guerrilla, und wir haben das Recht, auf dieses Leben zurückzublicken und den Menschen zu erzählen, was wir erlebt haben.“

Der Spielfilm erzählt fünf parallele Geschichten aus der Zeit, als die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergab. Der Drehort in El Cauca ist geprägt von kargen Bergen und dichtem Dschungel. Die Menschen, die hier leben, kämpfen mit Armut, Chancenlosigkeit und Gewalt durch rechte Paramilitärs und die Armee. Das führt unweigerlich dazu, dass sich viele den Reihen der Guerrilla anschließen. Eine Storyline befasst sich mit den Gefühlen neuer Mitglieder der FARC: Was bedeutete es, seine Familie zurückzulassen, um in der Guerrilla eine Zukunft zu finden? Eine andere Storyline handelt von Guerrillakämpfer:innen, die mit der Angst und der Ungewissheit der Waffenübergabe an die UNO und dem Ende des Guerrillalebens zurechtkommen müssen.

Boris Guevara erzählt am Telefon: „Der Film wurde aufgenommen, als wir unsere Waffen abgaben. Er basiert auf der Realität, auf dem, was wir in diesem Moment fühlten. Für die meisten Menschen war es ein beängstigender Moment, denn unsere Waffen bedeuteten unser Leben. Sie wurden benutzt, um unser Leben zu verteidigen. Es war nicht leicht, sie an die Vereinten Nationen zu übergeben. Viele fragten sich: Was wird mit uns geschehen? Ich denke, der Film spiegelte diesen Moment des Zweifels und der Angst perfekt wieder. „

Der Film ist in vielerlei Hinsicht der erste seiner Art, den man als fiktive Autobiografie bezeichnen kann. Es gibt wenige vergleichbare Beispiele für die Drehbedingungen und das Team, das hinter der Produktion steht. Vom Guerrillakämpfer zum Schauspieler, mehr oder weniger über Nacht. Wie ist das möglich? Boris antwortet: „Wir haben ein Casting unter den 400 Menschen gemacht, die in der Zone leben, und die Leute mussten einfach so tun, als wären sie sie selbst, und Geschichten aus ihrem eigenen Leben aufschreiben. Man brauchte nicht viel Fachwissen, um ein Schauspieler zu sein, denn sie waren einfach sie selbst.“

Die Produktion hat ein Budget von nur 15.000.000 kolumbianischen Pesos, umgerechnet etwa 3303 Euro. In dem gesamten Produktionsteam sind nur acht Professionelle. Das bedeutete viel und schnelles Arbeiten: „Wir hatten nur einen Monat Zeit für die Aufnahmen, also mussten wir Tag und Nacht aufnehmen. Wir waren also ständig am Arbeiten.“

Die Dreharbeiten fanden während eines Abrüstungsprozesses statt. Tatsächlich wurden anfangs die echten Waffen der FARC als Requisiten verwendet. Doch dann wurden sie, wie im Friedensvertrag vorgeschrieben, der UNO übergeben. Mehr als 8000 Waffen und etwa 1,3 Millionen Kugeln Munition. Boris Guevara sagt uns, dass dies die größte Herausforderung für die Produktion war. Leute aus dem Camp werden in die Städte geschickt, um Waffenattrappen als Requisiten zu kaufen. Doch damit sind nicht alle Probleme gelöst. Der Friedensvertrag ist von der UNO an strenge Bedingungen geknüpft; die Guerrillakämpfer:innen dürfen ihre Lager nicht einmal ohne Waffen verlassen.

Boris erzählt uns, dass die UNO eigentlich nie von der Produktion des Films gewusst hat: „Ich glaube, die UNO hätte die Aufnahme des Films nie erlaubt.“ Er erzählt uns von der Aufnahme einer Szene, bei der es riskant wird: „Wir haben eine Szene aufgenommen, in der einige Guerrillakämpfer einen Zivilisten treffen, dann kamen einige Bauern vorbei und sahen die bewaffnete Gruppe. Daraufhin riefen sie die UNO an, um ihnen mitzuteilen, dass eine bewaffnete Gruppe anwesend war. Wir mussten also schnell ins Lager zurückkehren und uns normal verhalten. Die Vereinten Nationen fragten, was los sei, und wir antworteten: „Hier ist nichts los. Wir waren alle innerhalb des Camp. Nichts passiert.“ Tanja und Boris lachen, als sie das am Telefon erzählen. „Es gab einen Moment, in dem das ein heikles Thema war, aber der ist schon vorbei, also können wir darüber reden“, sagte Boris.

Das Filmkollektiv trägt den Namen eines ihrer ermordeten Genossen, David Marin, Schauspieler bei Memorias Guerrilleras. Er wurde im Juni 2019 getötet und erlebt die Veröffentlichung des Films nicht mehr. Er war lange Mitglied der FARC, davor der kolumbianischen kommunistischen Jugendorganisation, und ein einflussreicher sozialer Führer. Boris beschreibt ihn als einen „geborenen Anführer“. „Es ist nicht ganz klar, warum er getötet wurde. Er wurde in einer komplexen Zone getötet.“ In der FARC ist es seit langem Tradition, dass Fronten oder Projekte den Namen ihrer gefallenen Kameraden annehmen.

„Als der Film aufgenommen wurde, waren bereits einige Ex-Kämpfer ermordet worden. Gleichzeitig gab es viele Attentate auf soziale Führungspersönlichkeiten.“ Seit dem Friedensabkommen werden mehr als 300 ehemalige FARC-Kämpfer:innen getötet. Meistens ist es schwierig, die Motive für die Morde zu verstehen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es sich um rechte paramilitärische Strukturen handelt, die sich die Verwundbarkeit durch die Entwaffnung zunutze machen.

Der Friedensprozess ohne Frieden – Rückblick auf Befürchtungen die sich bewahrheitet haben

Es ist unmöglich, über den Film zu sprechen, ohne auch über Politik zu sprechen. Der Film spricht aus der Perspektive eines sehr jungen Friedensvertrags. Heute ist er über fünf Jahre alt. Viele der Zweifel und Zukunftsängste, die im Film angesprochen werden, haben sich bewahrheitet. Der ehemalige Optimismus wird von der existierenden Gewalt überschattet. Tanja und Boris sind Teil der Friedensdelegation gewesen, die über vier Jahre lang mit der kolumbianischen Regierung auf Havanna verhandelt hat. Der Friedensvertrag soll einen der langwierigsten bewaffneten Kämpfe der Welt beenden. Das war die Idee auf dem Papier.

Boris erzählt, dass nur fünf Prozent des 310-seitigen Friedensvertrags umgesetzt worden sind. „Was wir uns vor fünf Jahren erträumt haben, ist heute eine traurige Realität der Nicht-Umsetzung“ sagt er. In der Tat hat sich sehr wenig entwickelt, einiges sogar ins Negative. Während beispielsweise die extreme Armut im Jahr 2019 noch 9,6 Prozent ausmacht, liegt sie 2020 bei über 15 Prozent. Mittlerweile gelten 42,5 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung als arm.

2016 wird der Friedensvertrag von der Santos Regierung unterschrieben, welche von Tanja als „inkompetent und langsam“ bei der Umsetzung des Vertrages beschrieben wird. Aktuell ist Iván Duque Präsident, der einer sehr rechten Partei angehört, die bei ihrem Wahlsieg angekündigt hatte, den Friedensvertrag in Stücke zu reißen. Tanja und Boris hoffen auf zumindest einige Änderungen von der neuen Regierung nach den kommenden Wahlen. „Wir haben sehr gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen und mit den rechten Parteien zu konkurrieren.“ – erzählt Boris am Telefon.

Tanja beschreibt es so: „Viele Dinge wurden nicht umgesetzt. Sie haben wirklich versucht, das Friedensabkommen in Stücke zu reißen. Es gibt immer noch Armut. Kolumbien ist immer noch ein sehr ungleiches Land und eine Klassengesellschaft. Das ist es, was wir jeden Tag erleben. Für die meisten von uns ist es ein ständiger Kampf. Wir sind in eine Gesellschaft integriert, die sich nicht wirklich verändert hat. – Ich denke, es ist wichtig, der Welt zu zeigen, dass der Konflikt nicht vorbei ist, und dass die Umsetzung sehr wichtig ist.“

Der kolumbianische Konflikt ist trotz des Friedensvertrags noch nicht beendet. Er ist ein andauernder Prozess, der immer komplexer wird und sich tendenziell verschärft. Das Filmkollektiv will ihn weiterhin dokumentieren. Trotz der schwierigen Situation blickt das Kollektiv David Marin nach vorne; es gibt bereits Pläne für Memorias Guerrilleras II. „Leider ist es in Kolumbien schwierig, einen Film zu machen. Es gibt keine Mittel, die Regierung unterstützt die Filmindustrie nicht sehr gerne. Wir sind also auf der Suche nach einer Finanzierung. – Es hängt vor allem davon ab, dass die Leute den Film kaufen und ihn sich ansehen. Es ist also aus vielen Gründen wichtig für uns, dass die Leute den Film sehen. „

# Memorias Guerrilleras lässt sich auf der Plattform für memoriasguerrilleras.indyon.tv für 5 Euro mieten. 30 Prozent des Geldes geht an die Ex-Kombattanten, die in dem Film geschauspielert haben. 70 Prozent geht in die Produktion von Memorias Guerrilleras II. Der Film ist mit englischen Untertiteln verfügbar.

# Alle Bilder: Memorias Guerrileras

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