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Rezension von “The Other Side of the River”

Vielen Filmen zu (dem Befreiungskampf in) Kurdistan begegne ich mittlerweile mit dem Verdacht, ob die Protagonist:innen im Grunde zur Befriedigung fremder Sehnsüchte genutzt werden. Und dieser Verdacht ist meines Erachtens nicht unbegründet.

Es gab eine Zeit, in der sogar im türkischen Mainstream Filme mit Andeutungen oder direkten Erwähnungen zu Kurd:innen erstmalig zögerliche Aufmerksamkeit bekamen. Viele der Geschichten waren sehr vorhersehbar: Es gab einen türkischen Protagonisten, der Vorurteile abzubauen hatte, und die Kurd:innen sahen wir nur durch seine Perspektive. (Das Musterbeispiel hierfür ist Yangin Var [2011]) Mal lachend, mal mit Tränen beobachteten wir, wie der Türke weicher wurde, je mehr er die Kurd:innen kennenlernte: “Sie sind doch (Überraschung!) auch Menschen wie wir – sie lachen, machen Witze, sind manchmal auch traurig und bieten ihre Hilfe noch vor dem Entstehen eines Bedarfs an. Sie sind sogar gastfreundlicher als die Türken und sprechen manchmal ein witziges Türkisch – wie halt die alten, lustigen Türken in unseren Dörfern! Sie wären, wenn sich diese Bosheit entfernen ließe, niedlich und es gäbe keinen richtigen Grund mehr, einander nicht zu mögen!”

Die Phase solcher Filme ist (zum Glück?) nun wenigstens vorläufig auf Eis und seit jener Zeit sind ebenfalls unzählige gute Erzählungen und Bilder von und über (den Widerstand in) Kurdistan entstanden.

In Europa gabe es ebenfalls eine zeitlich parallele Entwicklung des Blickes auf die Kurd:innen. Kurdistan rückte auch hier in den Fokus des Mainstreams. In einer Zeit, in der zehntausende Menschen durch die Grausamkeit des islamistischen Terrors und im Kampf dagegen ums Leben kamen. In vielen dieser Erzählungen waren wir gezwungen, uns in die Gefühlswelt des angereisten Europäers hineinzuversetzen. Der Ansatz in vielen zeitgenössischen Erzählungen, dass die westlichen Zuschauer:innen lieber eine Identifikationsperson bekommen sollten, damit (auch) sie das Geschehene nachvollziehen können, war voll im Gang. Wir mussten uns Gedanken machen, wie der angereiste Europäer als ein in relativen Wohlstand geborener Mensch das alles wahrgenommen hätte. “Es ist ja schließlich nicht immer wie in Büchern oder Revolutionsliedern – das haben da alle drauf, aber weißt er das auch oder muss man in erst einmal ganz sanft an Unterdrückung und Armut gewöhnen – ihm erklären, wie es im Nahen Osten halt so ist?”

Der neue Dokumentarfilm “The Other Side Of The River” (Antonia Killian, 2022) zeichnet sich genau damit aus, diese Erzählweise vermeiden zu können (und damit enttäuscht er glücklicherweise die Pessimist:innen!).

Antonia Killian, die deutsche Regisseurin des Films, verbrachte nach eigenen Erzählungen bei zwei Besuchen mehr als ein Jahr in Nord-Ost Syrien (aka Rojava), bekam Einblicke in das Leben von Hala, einer jungen Frau aus Manbidsch und ließ sich währenddessen auf den Raum, die Zeit und den Kontext ein, in denen ihre Geschichte stattfindet. Im Vordergrund sehen wir diesmal nicht die Kurd:innen – aber sie sind doch immer da.

Die Region ist zwar noch einmal von westlichen Augen gesehen vor uns, dennoch mit einem neugierigen Blick, der verstehen will. Das bringt möglicherweise einen Vorteil mit: Auf einige Details dürfte die Regisseurin aufmerksamer geschaut haben, als diejenigen, die sie jeden Tag zu sehen bekommen.

Die Protagonistin Hala ist die Tochter einer arabischen Familie aus Manbidsch und ihr familiäres Umfeld sympathisierte bislang mit dem IS. Sie ist eine der Frauen, die ihre schwarzen Hijabs ausgezogen haben, nachdem QSD/YPG den IS besiegt hatte. Bei der ersten Gelegenheit schwamm sie über den Euphrat und schloss sich auf der anderen Seite des Flusses der Asayiş an – der örtlichen Polizei der autonomen Region. Ihre Schwester folgte ihr und schloss sich ebenfalls an.

An jenen Tagen war Hala noch 19 Jahre alt – im Film wird sie 21. Sie erzählt, dass sich fast alle Männer aus ihrer Familie dem IS angeschlossen hatten und sie Angst vor ihren Cousins habe, die im IS sind und sie ständig mit dem Tod bedrohen, weil sie durch ihre Haltung und ihr Handeln die Ehre der Familie befleckt habe. Für den Fall, dass sie von den Cousins geschnappt würde, führt sie immer eine Granate mit sich.

Der Film beinhaltet viele Sätze zu Männern und der Männlichkeit und wir kehren jedes mal zur Geschichte von Hala zurück. Die Erzählungen von Frauen werden vom Schatten ihrer Väter begleitet. Der Mann, den wir erst an späterer Stelle des Filmes zu sehen bekommen, trägt sein Baby auf dem Arm und spricht überzeugt von der durch seine zwei Töchter befleckte Ehre der Familie. “Es ist doch unvorstellbar, dass sie als Frauen überhaupt arbeiten – und noch dqzu mit einer Waffe herumlaufen? Hâşa! Tövbe!

Nach einer Weile sehen wir endlich die Schwester von Hala, von der immer wieder die Rede war, bei ihrer Rückkehr zur Familie: Im weißen Kleid der Hochzeit, weil die Ehre nur durch eine Ehe zu retten ist. Hala und ihre Schwester posieren vor der Kamera mit ihren vollgeschminkten und -gepuderten Gesichtern. Auf der Hochzeit gibt es keine Musik, denn die um die Ehre bettelnden haben weder Recht noch Lust, Spaß zu haben.

Im Dorf von Hala ist die Familie nicht die einzige, die sich wie eine Zelle des IS versteht und aufbaut. Einige Menschen erzählen immer wieder von einem “Früher”, das eigentlich fast gestern war, und Hala erwidert auf die überraschten Fragen immer mit derselben Antwort: “In jedem Haus hier, das ihr seht, gab es wenigstens zehn IS-Mitglieder!”

Im Vordergrund zeigt uns der Film die Arten und Bedingungen des Widerstands von Frauen in der Region, und er vernachlässigt dabei dessen Quellen nicht. Die Regisseurin erzählt einmal, dass sie Hala vier Tage lang nicht sehen konnten, weil sie auf Befehl ihrer Vorgesetzten in Gewahrsam genommen wurde: Sie hatte nämlich ihr Elternhaus mit Granaten und Waffen angegriffen, nachdem sie von Plänen ihres Vater hörte, eine weitere, kleinere Tochter zu verheiraten. Die Wut von Hala war verständlich, aber die Aktion verstieß nichtsdestotrotz gegen die Regeln. Ihre Vorgesetzte versuchte, ihr zu erklären, warum die Aktion fehl am Platz war, jedoch weigerte sie sich, eine richtige Selbstkritik abzulegen: Denn es war ein durchaus nachvollziehbarer Fehler.

Hala ist eine junge Frau, die durch die Intervention der nordsyrischen Verteidigungskräfte einen Weg fand, sich nach außen zu öffnen. Killian bringt uns einerseits ihre Geschichte näher und wirft zugleich mutige Blicke auf die eiternden Wunden vieler Gesellschaften im Nahen Osten. Hala, die in einer Szene mit voller Stolz und Freude ihre erste eigene Wohnung zeigt, wird auf der Straße von einer Frau angesprochen, deren Augen nur hinter der schwarzen Hijab zu sehen sind. Hala knabbert ihr Börek, hört dabei ihrem Anliegen zu und teilt der Kamera mit, dass sie sich mit ihren sechs Kindern der Asayiş anschließen wolle. Die Frau in Hijab kommt in das Gebäude der örtlichen Polizei, in dem nur Frauen sind, und erzählt ihre Geschichte. Sie und ihre Kinder sind den ständigen Belästigungen von ihrem Ehemann ausgesetzt. Die anderen Frauen hören aufmerksam zu und versuchen, sie zu beruhigen und sagen, dass sie ihre Wut und ihren Schmerz nachvollziehen können. Es wird schnell hinzugefügt: “Wir haben ein gesellschaftliches Problem!” Die Hijab wird ausgezogen, die Uniform der Asayiş angezogen – was dann passiert, lässt der Film im Dunkeln.

Im Gespräch mit Alex Berlin sagte Antonia Killian (Dokumentarfilmerin Antonia Kilian im Gespräch I Film-Drop), dass der Film “aus einer tiefen, aber dennoch kritischen Solidarität entstanden” sei. Das ist eine wichtige Anmerkung, wenn man den Film in einem richtigen Kontext verstehen will. Er ist kein Propagandastoff, sondern ein Lagebericht im historischen und gegenwärtigen Kontext – und das ist gut so! Eine Heroisierung, durch die viele Erzählungen zum Nahen Osten (insbesondere Kurdistan) geschädigt werden, ist in dieser Dokumentation nicht zu finden. Dennoch ist er ebenfalls kein Film mit fragwürdigen Objektivitätsansprüchen. Die Protagonist:innen will der Film nicht mit den im eigenen Kontext bezauberten Zuschreibungen der Öffentlichkeit “vorstellen”, sondern in ihrer Wahrheit zu Wort bringen.

In The Other Side of the River bekommen wir einen Teil des Alltags einer emanzipatorischen Revolution mit, in dem Kinder beim Spazierengehen statt Händchen den Griff einer Kalaschnikow halten oder Frauen in einem Bildungszentrum einander von ihren bedrückenden Gewalterfahrungen mit Männern erzählen und sich darauf einschwören, nie wieder mit Männern irgendwas anfangen zu wollen. Die Ausbilderin von Hala sagt im Unterricht, dass die sexuelle Begierde die Menschheit in den Abgrund führe, und sogar das kann man dank der Erzählung im eigenen Kontext und der Welt der Notwendigkeiten einordnen. Den Zuschauenden gibt der Film das Vertrauen, dass er versucht, die Ehrlichkeit zu bewahren – und zwar nicht trotz sondern anhand seiner Solidarität.

The Other Side of the River bringt uns die tatsächlichen Erschütterungen und Folgen eines Emanzipationsprozesses nahe – mit seinen Tiefen und Höhen. Denn: Es sollte gesehen werden, dass eine Revolution (leider!) keinem leidenschaftlichen Tanz ähnelt. Sie ist eine zwangsläufige Entscheidung durch bittere Tatsachen. Revolution bildet und befreit Menschen – in einem mit Licht gefluteten Gebäude voller Fenster und vor vielen Grabsteinen.

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In der Türkei und Nordkurdistan kommt es täglich zu Femiziden, patriarchal motivierten Morden an Frauen. In mehr als der Hälfte der Fälle ist gesichert, dass den Morden eigenständige Entscheidungen der Opfer vorangingen. Eine banale Entscheidung über ihr eigenes Leben zu treffen, eine Scheidung oder die Weigerung, mit einem Mann eine Beziehung zu beginnen, ist der meist der angegebene „Grund“. Nach Angaben der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, Abkürzung: KCD) handelt es sich in mehr als 90 Prozent der Fälle, bei den Tätern um Männer aus dem engsten Umfeld der getöteten Frauen: „Ehemänner“, Freunde, Expartner oder männliche Verwandte.

Unter dem Deckmantel der „Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie“ sind im Frühjahr einschlägig verurteilte Gewalttäter in den Genuss von Haftverschonungen gekommen. Politische Gefangene, darunter Mütter mit kleinen Kindern und Erkrankte, mussten dagegen weiter im Gefängnis bleiben. „Die Pandemie wurde ausgenutzt, um über das neue Vollzugsgesetz Gewalttäter freizulassen“, heißt es in der Erklärung der KCD.

Am Freitag den 28. August 2020 brach zudem ein Mann in der kurdischen Großstadt Amed (türkisch: Diyarbakır) aus dem Gefängnis aus und ermordete seine 29-jährige Ehefrau Remziye Yoldaş. Allein in diesem Jahr ist das der achte Femizid in Amed. Zwei der Femizide wurden von Männern begangen, die im Zuge der Corona-Amnestie freigelassen wurden.

Die 18-jährige Ipek Er wurde von dem türkischen Unteroffizier Musa Orhan 20 Tage lang festgehalten, vergewaltigt und in den Suizid getrieben. Der Mörder genießt nun die Straflosigkeit, die von der türkischen Regierung gewährt wird. In den sozialen Medien wurde unter dem Hashtag #MusaOrhanTutuklansin die erneute Verhaftung des Täters gefordert.

Die 17-jährige N.A. aus Wan (türk. Van) floh vor häuslicher Gewalt in ein Kinderheim. Bei ihrer Aussage kam heraus, dass sie im Alter von 16 Jahren sowohl vom türkischen Offizier T.A. als auch von einer Person namens A.P. sexuell missbraucht worden war. Gegen letzteren wurde ein Haftbefehl ausgestellt, der Militär bleibt straflos.

AKP-MHP-Regierung ermutigt Täter

Diese Politik schlägt sich in einer steigenden Zahl von Entführungen von Frauen, Vergewaltigungen und patriarchaler Gewalt in Kurdistan nieder.

Durch die außergewöhnlichen Umstände in der Corona-Pandemie sind die Femizide gestiegen. Die Covid19-Maßnahmen verursachten Schwierigkeiten für Frauen, die unter häuslicher Gewalt gelitten haben, weil sie mit ihren Partnern/Ehemännern durch die teilweise verhängten Ausgangssperren zuhause in Quarantäne bleiben mussten. Nach Angaben der KCD sind im Juli 36 Frauen ermordet worden, im August waren es 27 Morde an Frauen durch Ehemänner, Partner oder nahestehende männliche Verwandte registriert. In 23 weiteren Todesfällen von Frauen besteht der Verdacht einer Einwirkung durch Männer aus ihrem Umfeld. In den ersten sechs Monaten diesen Jahres waren es 216 und 2019 waren es insgesamt mindestens 474 Frauen. Die Türkei hat unter 34 OECD-Ländern die höchste Femizidrate. Die türkische Regierung trägt Mitschuld an dem Anstieg von Femiziden.

So kam auch die sogenannte Istanbul-Konvention wieder auf die Tagesordnung politischer Debatten in der Türkei. Frauenorganisationen in der Türkei und Nordkurdistan wie auch in Europa protestieren gegen den vom Erdogan-Regime angekündigten Rückzug aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen und fordern dagegen deren vollständige und wirksame Umsetzung. Ankara hingegen vertritt das patriarchale Fundament der Gesellschaft. Die Regierung diffamiert die Konvention als „familienfeindlich“, weil sie traditionelle Werte untergrabe und Männer zu „Sündenböcken“ mache.

Die Türkei hatte als erstes Land die 2014 in Kraft getretene Konvention des Europarats von 2011 unterzeichnet. In der Praxis werden die Rechtsnormen nicht angewandt. Die Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen werden nicht realisiert. In ihrer Politik bestärkt und ermutigt die AKP-Männerregierung die Täter durch Straflosigkeit. Gewalt, Mord und Vergewaltigung bleibt oft ungeahndet, endet in wenigen Fällen mit minimalen Freiheitsstrafen, diese wiederum werden mit „guter Führung“ begründet.

Frauenorganisationen im Visier

Angesichts der patriarchalen Machtverhältnisse in der Türkei stehen politische Aktivist*innen im Fokus der staatlichen Repression. Insbesondere Frauenorganisationen werden zum Ziel von Angriffen und Festnahmen. So soll vor allem die kurdische Frau und ihr Freiheitskampf vernichtet werden.

Zudem werden Frauen, die sich gegen die Annullierung der Ratifizierung der Istanbul-Konvention wenden und sich für die Emanzipation der Frauen einsetzen mit sexistischen Beleidigungen angegriffen, festgenommen und ihre Aktionen verboten. Das zeigt wiederum, wie beunruhigt die Regierung über die Befreiung und Organisierung von Frauen ist. Denn die Frauenbewegung weist drauf hin, dass Femizide ein Politikum sind. Damit soll gezeigt werden, dass man den Willen der Frauen vernichten will. Alle Vergewaltigungen und Morde werden mit Duldung des Staates begangen.

Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Generalstaatsanwaltschaft Amed hat am 26. Juni eine Großrazzia stattgefunden. Dutzende Aktivist*innen wurden festgenommen, Räumlichkeiten wurden durchsucht. Die Aktivistin Rojbin Çetin wurde stundenlang in ihrer eigenen Wohnung von Polizisten misshandelt, gefoltert und sexuell beschimpft.

Die Philosophie des inhaftierten kurdischen Revolutionärs Abdullah Öcalan, die Befreiung des Lebens sei unmöglich „ohne eine radikale Frauenrevolution, welche die Mentalität und das Leben des Mannes verändern würde“, kann in dieser Situation als Grundlage einer Lösung gelten. Frauen können sich effektiv gegen patriarchale kapitalistische Gewalt verteidigen. Zuletzt hat der Europadachverband kurdischer Organisationen KCDK-E die zunehmenden Fälle von sexualisierter Gewalt und Femiziden in der Türkei und Nordkurdistan in den Kontext des Krieges gegen die kurdischen Freiheits- und Demokratiebestrebungen eingeordnet und die Verteidigung der Freiheit der Frau als ihre „Hauptaufgabe“ bezeichnet.

Nun sollte sich jede Frau die Emanzipation und die Bekämpfung des Patriarchalismus als ihre Aufgabe sehen. Hierzu ist die Solidarität unter Frauen* und Organisation ein wichtiger und richtiger Schritt.

Bildquelle: ANF Deutsch

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In Palästina stehen Frauen* gegen patriarchale Gewalt und Besatzung auf; tausende nehmen an den Demonstrationen teil – konsequent ignoriert von westlicher Berichterstattung. Haydar Kizilbas und Alia Ka haben sich für lower class magazine mit Fidaa Zaanin, einer Palästinensischen Aktivistin aus Gaza, die seit einigen jahren in Deutschland lebt, getroffen, um über die Tal3at Bewegung der Palästinensischen Frauen zu sprechen. Fidaa forscht zu Feminismus und Genderstudies und ist in der palästinensischen Community in Berlin aktiv

Am 26. September gab es in Berlin eine Kundgebung in Solidarität mit der und als Teil der Tal3at Bewegung. Was waren die Anliegen der Protestierenden?

Wir haben den Aufruf für Tal3at gesehen, was übersetzt so etwas bedeutet wie „Wir gehen auf die Straße“. Mit Wir sind Frauen* gemeint. Palästinensische Frauen* überall auf der Welt, egal wo sie sind, haben sich entschieden, auf den Aufruf zu reagieren und auf die Straße zu gehen.

„Tal3at“ bedeutet auf die Straße zu gehen, um gegen Gewalt zu protestieren, alle Formen von Gewalt, egal, welches System hinter dieser Gewalt steckt. Der Aufruf kam in den Wochen nach der Ermordung von Israa Ghrayeb. Sie war ein junges palästinensisches Mädchen, das in Beit Shaour, im Westjordanland von ihrer Familie umgebracht wurde. Wir haben nicht viele Details zu diesem Fall, aber es ist kein Einzelfall. Solche Dinge passieren in Palästina. Es gibt Statistiken, die besagen, dass 38 Frauen* in 2018 ermordet wurden. Und immer noch wird über viele Ermordungen überhaupt nicht berichtet, oder andere Todesursachen werden angegeben. Deswegen hat Tal3at Frauen* dazu aufgerufen auf die Straße zu gehen, um die Gewalt gegen Frauen* anzuprangern, und um klarzumachen, dass es keine Befreiung für das palästinensische Volk gibt, ohne die Befreiung der Frauen* in Palästina. Man kann das Thema der Frauen*befreiung nicht auf später verschieben, nachdem die Befreiung des palästinensischen Volkes erreicht wurde.

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass palästinensische Frauen* Teil der politischen Bewegung sind und eine führende Rolle einnehmen. Kannst du uns einen kurzen historischen Überblick über die Rolle der Frauen* in der palästinensischen Widerstandsbewegung geben?

Ja, klar. Es ist nichts neues, dass palästinensische Frauen* in politische Kämpfe involviert sind. Sogar schon unter dem britischen Mandat in den 1930er-Jahren haben Frauen* angefangen, ihre eigenen Gemeinschaften zu gründen, hauptsächlich um anderen Frauen* in sozialen Fragen zu helfen. Aber schlussendlich haben sie dann auch politische Arbeit gemacht, weil soziale Fragen eben politisch sind. Auch das Persönliche ist schlussendlich politisch. Nachdem Palästina von den Zionist*innen kolonialisiert wurde, waren Frauen* natürlich in der ersten Intifada aktiv. Sogar sehr stark. Sie haben Flugblätter geschrieben, ausgeteilt und echte politische Arbeit gemacht.

Später waren sie auch Teil von politischen Organiserungsstrukturen. Sie wurden eingesperrt. Sie waren eben nicht nur die Frauen* von palästinensischen Männern. Sie waren nicht nur die Ehefrauen der Gefangenen. Sie selbst, palästinensische Frauen*, haben politische Arbeit unter dem Kolonialismus gemacht. Aber danach, mit der zweiten Intifada und der Form, die der Widerstand angenommen hat, wurde die Rolle, die Frauen* eingenommen haben, immer kleiner. Grade nach dem Oslo-Abkommen, durch die Mengen an Geld, das nach Palästina floss und dadurch, wie der Widerstand NGO-isiert wurde, wurden auch ihre politischen Kämpfe vereinnahmt.

Die Probleme der palästinensischen Frauen* wurden so aus dem Kontext genommen. Sie reden über Armut, aber niemand redet über die Ursachen von Armut unter dem Kolonialismus. Sie sprechen über Kinderehen, aber nicht darüber was die Ursachen sind, wo die Wurzeln des Problems liegen. Sie sprechen über diese Themen ungeachtet der politischen und ökonomischen Aspekte oder der Gesetze, die die Israelis den Palästinenser*innen aufzwingen. Also wir sehen, es ist nicht das erste Mal, dass Frauen* auf die Straße gehen und politische Arbeit machen.

Ich habe einige der Slogans der Tal3at Bewegung gesehen: „Es gibt keine nationale Befreiung ohne die Befreiung der Frau“. Dieser Slogan wird ja auch von anderen z.B der kurdischen Befreiungsbewegungen, im Mittleren Osten ähnlich formuliert…

Es ist auch wichtig zu sagen, dass sehr oft Frauen* sogar in politischen Räumen ausgeschlossen und von ihren eigenen Genossen marginalisiert wurden. Ich habe das Gefühl, dass Frauen* immer alternative Ideen und Strategien für die Befreiung Palästinas hatten. Aber die Männer haben gesagt: „Nein, es muss auf unsere Art und Weise getan werden, nicht auf die, die ihr euch vorstellt. Weil wir Prioritäten haben“.

Und genau das ist es, was Tal3at in Frage stellt, in dem gesagt wird: nein, wir sind hier, um umzudefinieren, was es bedeutet, gegen Kolonialismus zu kämpfen und wie wir uns eine befreite Gesellschaft vorstellen, in der alle Menschen gleich sind, in einem befreiten Palästina. Also was die Frauen* sagen ist: „Nein, ihr könnt uns nicht ausschließen, ihr könnt nicht so weitermachen, wie ihr es die letzten 70 Jahre getan habt“. Wir sagen nein, wir werden es auf unsere Art machen, und nicht auf die Art, auf die ihr, die Männer, es haben wollt.

Ist diese Bewegung eine spontane oder stehen längere Organisierungsprozesse dahinter? Und was sind die Perspektiven für diese Bewegung?

Es ist eine ganz spontane Bewegung. Wie ich gesagt hatte, wurde sie ausgelöst durch die Ermordung von Israa Ghrayeb. Viele Frauen* innerhalb der 1948er-Gebiete haben sich aufgelehnt und haben gesagt: Nein, wir werden jeden Tag umgebracht und wir sollten nicht mehr schweigen und zum Schweigen gebracht werden. Und wir sollten nicht nur darüber sprechen, wenn Israelis uns umbringen, weil wir auch an diesen für uns angeblich „sichersten“ Orten umgebracht werden, in unserem Zuhause, dort wo die meisten Morde passieren, durch Mitglieder der eignen Familie.

Der sicherste Ort für Frauen*, das Zuhause, wird zum Tatort. Es gibt einen Anstieg der Morde an Frauen*, der sogenannten Ehrenmorde, in Palästina besonders innerhalb der 1948er-Gebiete. Und es spricht Bände, dass die Mordrate innerhalb der Gebiete, die von Israelis kontrolliert werden, höher sind als im Westjordanland und in Gaza. Es kommt auch im Westjordanland und Gaza vor, aber nicht so oft wie an Orten wie Haifa, Jaffa, Umm al-Fahm und anderen Städten innerhalb der 1948 besetzten Gebiete. Die Tal3at Proteste haben ja auch in Haifa angefangen. Und wir haben auf deren Aufruf geantwortet, in Berlin, Gaza, Beirut und in den Geflüchtetenlagern. Frauen* waren überall. Und das ist auch was Tal3at einzigartig macht. Sie haben es sich nicht nur zum Ziel gemacht, nur das Patriarchat zu zerstören, sondern die Bewegung stellt auch die Grenzen in Frage, die die Kolonialisten uns aufgezwungen haben. Es macht deutlich, dass wir eine Einheit sind, egal wo wir sind, im historischen Palästina oder sogar in den Geflüchtetenlagern und in Europa.

In Deutschland wird über die Proteste geschwiegen. Gleichzeitig ist es ja oft so, dass wenn es um die Palästinensische Sache geht, der Großteil der sogenannten Linken auf die Frauen* zeigt und sagt, dass die palästinensische Freiheitsbewegung Frauen* unterdrückt und, dass wir eine generelle Befreiung brauchen und alle Formen von Unterdrückung betrachten müssen. Aber jetzt gerade schweigen eben diese Leute darüber, dass palästinensische Frauen* kollektiv zu diesen Protesten aufgerufen haben. Warum eigentlich?

Natürlich, als ich zu dem Protest am 26. September vor dem Rathaus Neukölln gegangen bin, ist mir aufgefallen, dass keine deutsche Presse da war. Und normalerweise sind sie immer da, wenn es etwas über Palästina gibt. Und plötzlich, wenn wir gegen diese Sache protestieren, ist niemand da und es gibt keine Solidarität der feministischen Bewegung oder von den sogenannten Feminist*innen hier in Deutschland.

Ich frage mich, warum die nicht gekommen sind. Wenn man ihnen nichts Böses unterstellen möchte, könnte man sagen, dass sie vielleicht einfach nichts davon wussten. Aber ich denke, es hatte auch etwas mit den Slogans zu tun. Weil die Frauen* gesagt haben: „Althowra did al thakaria w’al isti3maar“, also „Revolution gegen das Patriarchat und den Kolonialismus“. So haben die deutschen Feminist*innen vielleicht verstanden, dass die Proteste sich nicht nur gegen palästinensische braune Männer richten, sondern, dass sie auch gegen Zionismus sind. Und das ist der Konflikt hier in Deutschland. Man kann das zionistische Regime für sie so nicht kritisieren und man darf auch nicht darüber reden.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute hier die Proteste verfolgt haben. Weil Tal3at online gesagt hat, dass sie aufgefordert wurden auf zionistische Feminist*innen zuzugehen. Die wollten bei den Protesten mitmachen, um gegen Gewalt an palästinensischen Frauen* zu protestieren. Tal3at hat dazu nein gesagt, sie sagten: nicht dieses Mal. Wir stellen uns gegen die Hegemonie, die Israelis versuchen auf unseren Diskurs auszuüben, weil dieser politischer Raum uns gehört. Tal3at geht für eine befreite Gemeinschaft auf die Straße, in der jede*r dieselben Rechte hat, in einem befreiten Palästina. Sie gehen nicht auf die Straße, um gleiche Rechte oder keine Diskriminierung in einem kolonialen Staat einzufordern. Das ist nicht der Zweck, weil sie gleiche Rechte für alle Palästinenser*innen fordern. Deswegen passt es vielleicht einfach nicht in die Kriterien der Deutschen hier. Nach dem Motto: „Wie könnt ihr es wagen Israel zu kritisieren und nicht nur eure palästinensischen brauen Männer?“ Und deswegen glaube ich auch, dass sie das nicht in den Medien ausschlachten können.

Als palästinensische Frau, die nach Deutschland gekommen ist, wurde ich oft gefragt wie das Leben von Frauen* in Gaza ist. Ich antworte immer: „Du meinst von palästinensischen Frauen* in Gaza, die nicht nur das Patriarchat bekämpfen, sondern auch unter einer Blockade, unter israelischer Besatzung leben müssen?“ Aber wenn ich sagen würde: „Okay, mein Leben in Gaza ist die Hölle, ich bin eine queere Person, die verfolgt wird…“ Das könnte sehr einfach in den deutschen Medien ausgeschlachtet und gegen mich und meine eignen Leute verwendet werden. Weil es ihnen nicht um mich geht. Es geht ihnen darum, wie sie mich für ihre Zwecke benutzen können. Und ich glaube, das ist das Problem.

Die ganze Sache mit über Palästina in Deutschland reden… Es geht auch nicht nur um diese Proteste. Wenn sie es nicht im Sinne der Besatzung benutzen können, dann berichten sie natürlich nicht darüber, sie sprechen nicht darüber. Es ist ein anderer Diskurs. Ich kann mich erinnern wie sie über den Frauen*streik in Tel Aviv berichtet haben: „Es ist so cool, es ist so bunt… Palästinensische Frauen* gehen zusammen mit israelischen Siedlerinnen* auf die Straße… Das ist so gut und wir lieben das, das ist, wie wir es gerne hätten“. Aber das ist nicht richtig. Sie haben über den Streik berichtet und haben mir viele Fragen zu dem Streik gestellt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich aus Gaza komme und mir deswegen nicht erlaubt wird, in das besetzte Tel Aviv zu gehen. Ich würde niemals zu einer Demonstration gehen auf der israelische Soldatinnen* stehen, nur weil sie Frauen* sind. Einfach eine Frau* zu sein ist für mich keine Gemeinsamkeit, es ist eine politische Frage. Ich könnte mit so einer Frau* den ganzen Tag demonstrieren und am nächsten Tag kann sie an einem Checkpoint eine Waffe an meinen Kopf halten. Das sind aber nicht die Worte, die diese Leute hören wollen.

Was wären deiner Meinung nach die Pflichten von internationalistischen Revolutionär*innen und auch linken Bewegungen hier in Deutschland, um eure Kämpfe zu unterstützen?

Ich würde sagen Solidarität. Transnationale feministische Solidarität mit Palästina, im Kontext des Lebens unter dem Siedlerkolonialismus. Die Leute sollten unsere Sache weitertragen. Informationen weiterzugeben, kann ein revolutionärer Akt sein. Damit Leute von den Protesten hören, durch palästinensische Stimmen. Das ist das Wichtigste, dass sie palästinensische Frauen* sprechen hören. Es ist gut, dass ihr wir ein Interview zusammen führen. Das ist ein Akt der Solidarität. Wir können ihn nach Palästina schicken und die Frauen*, die sich dort organisieren werden wissen, dass es Leute in Deutschland gibt, die daran interessiert sind, über Tal3at zu erfahren. Und, dass ihr dem Diskurs darüber, wie nationale Befreiung aussehen sollte, zustimmt. Und es ist wichtig zu sagen, dass Palästina nicht befreit werden kann, so lange Frauen* nicht befreit sind. Auch in unseren Räumen hier in Deutschland, Großbritannien und überall. Als Internationalist*innen dürfen wir nicht zulassen, dass dieses Thema auf später verschoben wird. Auf Arabisch sagen wir: „Du kannst kein freies Palästina auf den Gebeinen von toten palästinensischen Frauen aufbauen“. Wir werden das nicht zulassen. Das ist nicht wonach wir streben. Es geht darum den Diskurs von Tal3at und den Frauen*, die auf der Straße protestieren aufzugreifen. Wir fordern Solidarität.

#Bildquelle: wikimedia commons

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Gegen Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus – am Frauen*kampftag geht es ums Ganze. Gespräch mit Friederike Benda

Friederike Benda, 31 Jahre alt, hat das Bündnis Frauen*kampftag mit ins Leben gerufen, ist im Frauenstreik Komitee Berlin und in der LINKEN aktiv.

Was ist das Frauen*kampftag-Bündnis in Berlin?

Vor sechs Jahren haben wir versucht, trotz notwendiger Benennung aller Differenzen und Widersprüche innerhalb der feministischen Bewegung unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Nicht, weil wir Frauen alle gleich wären, sondern weil sich unser Wir über gemeinsame Forderungen herstellt. In Zeiten, in denen Feminismus zum Teil selbst zu einem neoliberalen Projekt geworden ist – etwa der »Hillary Clinton Feminismus« -, wollen wir deutlich machen, dass wir uns nicht mit Verbesserungen für wenige Frauen abgeben. Wir wollen ein sorgenfreies Leben für alle Menschen. Wir lassen uns nicht durch Frauenquoten und Antidiskriminierungsstellen ruhig stellen, auch wenn wir deren Notwendigkeit nicht in Frage stellen.

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