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Das Abortion Network Amsterdam (ANA) leistet Personen, die eine Abtreibung in dem Niederlanden vornehmen lassen möchten, praktische Hilfe. Wir haben uns mit ihnen über ihre Arbeit, das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts und die Auswirkungen solcher Entscheidungen unterhalten.

Kannst du dich zum Anfang einmal kurz vorstellen?

Mein Name ist Marina, ich war Mitbegründerin des Abortion Network Amsterdam im Jahr 2018 und bin seitdem dabei. Ich schätze, man könnte mich als Abtreibungsaktivistin oder so bezeichnen (lacht). 

Was war deine Motivation, das Netzwerk zu gründen?

Wir haben mit ein paar Freund:innen vier Jahre lang ein Festival in Amsterdam organisiert, das sich The Effort nennt. Und im vierten Jahr hatten wir einen Workshop, zu dem wir eine Reihe von Leuten eingeladen hatten, um über Abtreibungsrechte in Europa zu sprechen. Darunter waren auch Women on Web, aber auch Women help Women. Es gab ein Gespräch über die Tatsache, dass viele Menschen aus Polen, aber auch aus anderen europäischen Ländern, nach Großbritannien fahren, weil sie dort die Möglichkeit haben im zweiten Trimester (13. bis 26. Schwangerschaftswoche, Anm. d. Red.) abzutreiben. Und das zweite Land, in dem eine Abtreibung auf Verlangen im zweiten Trimester in Europa – damals noch in der EU, denn es war vor dem Brexit – möglich war, sind die Niederlande. Dort kann man bis zur 22. Woche abtreiben. Wir erfuhren, dass einige Male Leute in die Niederlande kamen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, aber es war nichts organisiert. Sie wussten nur, dass eine der Kliniken Schwangerschaftsabbrüche im zweiten Trimester durchführte und dass es sehr teuer war, aber mehr Informationen hatten sie nicht. Es war also alles irgendwie vage. Wir haben auch von einigen anderen Organisationen gehört, die in ihren Ländern solche Solidaritätsnetzwerke aufgebaut haben. Es gibt also eines in Großbritannien, aber auch Ciorcia Basia in Berlin, das du sicher kennst.
Und dann dachten wir: “Dieses Festival ist großartig”, aber wir hatten nicht das Gefühl, dass es irgendwohin führt. Also beschlossen wir, auch eine solche Organisation zu gründen, um Menschen in den Niederlanden im Bereich Abtreibung praktisch zu unterstützen. Nach und nach sammelten wir eine Menge Informationen darüber, wie genau das in den Niederlanden funktioniert, wo man es machen kann, wer die netten Kliniken sind und so weiter. So wurde ANA ins Leben gerufen. Was mich motivierte, war die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, die Körperautonomie und die reproduktive Gerechtigkeit. Ich finde es extrem bizarr, dass es immer noch Orte auf der Welt gibt, an denen man nicht einfach über seinen eigenen Körper entscheiden kann, wenn man eine Gebärmutter besitzt.

Wie sieht eure tägliche Arbeit im Netzwerk aus?

Da gibt es verschiedene Dinge, die passieren. Wir haben eine E-Mail-Adresse, an die Klient:innen uns schreiben, dass sie Hilfe brauchen. Normalerweise haben wir zwei Leute in einer E-Mail-Schicht, die eine Woche lang dauert. Man arbeitet also mit anderen Freiwilligen zusammen, um E-Mails zu überprüfen und im Grunde genommen Fälle zu lösen, also den Leuten zu helfen. Sie entscheiden, in welche Klinik sie gehen, je nachdem, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten ist und helfen bei logistischen Fragen – zum Beispiel beim Transport oder bei der Unterbringung. Früher hatten wir ein Netzwerk von Freiwilligenhäusern, aber das gibt es seit Covid nicht mehr. Jetzt helfen wir den Menschen bei der Buchung eines Hotels. Und dann versuchen wir, auch bei allen anderen Dingen zu helfen, die im Zusammenhang mit der Ankunft einer Person zu regeln sind. Das ist der Teil von ANA, der die alltägliche Arbeit darstellt. Es ist eine Menge Arbeit, weil wir viele E-Mails bekommen und dementsprechend viel arrangiert werden muss. Ich denke, meine Beschreibung wird dem nicht wirklich gerecht. Und dann gibt es noch alle möglichen anderen Dinge, die passieren. Wir versuchen auch, die sozialen Medien zu nutzen, zum Beispiel um über das mit Abtreibungen verbundene Stigma zu sprechen oder um zu kommunizieren, dass es hier möglich ist, eine Abtreibung zu bekommen. Dass es sicher ist und die Krankenhäuser mit denen wir zusammenarbeiten sehr nett, hilfreich und freundlich sind. Außerdem organisieren wir Veranstaltungen oder nehmen an Veranstaltungen anderer teil. Es gibt also eine Menge verschiedener Aufgaben, die ANA hat.

ANA ist auch Teil des Netzwerks Abortion without Borders, zu dem ähnliche Organisationen in ganz Europa gehören. Wie funktioniert das?

Wir teilen uns die Finanzen. Eine Abtreibung kostet hier mehr als 1000 Euro, wenn sie im zweiten Trimester ist, also brauchen die Klient:innen oft finanzielle Hilfe. Wir entscheiden dann, wer genau das bezahlt. Wir tauschen uns auch über komplizierte Fälle aus, zum Beispiel darüber, wo genau eine Person am besten behandelt werden sollte – also in welchem Land – und welche Organisation sie dabei unterstützen wird. Wir kommunizieren auch über neue Gesetze, die verabschiedet werden und politische Entscheidungen, die unsere Arbeit beeinflussen. Auch in den Niederlanden passiert viel, was wir versuchen zu verfolgen: Wir sprechen mit der Presse, manchmal geben wir Interviews für Recherchen – denn wir haben viele Informationen, da wir im Grunde die einzige Organisation sind, die in den Niederlanden diese Art von Arbeit macht.

Du hast bereits erzählt, dass sich viele Klient:innen bei euch melden. Auf eurer Website gebt ihr an, dass die Zahl der Menschen, die sich an euch wenden enorm gestiegen ist, nachdem der Zugang zu sicheren Abtreibungen in Polen noch stärker eingeschränkt wurde. Wie habt ihr es geschafft, in so kurzer Zeit so viel mehr Solidarität zu organisieren?

Nun, das war definitiv nicht einfach. Das neue Gesetz betrifft alle Fälle von fetalen Anomalien. Wenn also jemand schwanger ist und feststellt, dass der Fötus Anomalien aufweist, kann diese Person in Polen nicht mehr abtreiben. Wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, muss sie ihn trotzdem zur Welt bringen. Die Entscheidung des Gerichts fiel im Oktober 2020 und ich glaube, sie trat erst im Januar in Kraft. Aber schon ab Oktober begannen uns viel mehr Leute zu schreiben. Eine Sache ist, dass wir mehr Klient:innen bekamen. Aber eine andere Sache ist, dass die Fälle tatsächlich ziemlich kompliziert sein können. Denn Fälle von fetalen Anomalien bedeuten oft, dass sie das Leben der schwangeren Person bedrohen könnten und es bedeutet auch, dass sie oft sehr viel emotionaler sind. Denn viele Personen wollen eigentlich ein Kind haben. Oft mussten wir zum Beispiel Dinge wie die Einäscherung des Fötus organisieren, weil sie sich von ihrem Kind verabschieden wollten. Das hat vieles komplizierter gemacht. Wir arbeiten ohnehin schon viel unter Druck, aber dann kam noch hinzu, dass Fälle von fetalen Anomalien oft erst gegen Ende des zweiten Trimesters, also dessen, was in den Niederlanden für einen Schwangerschaftsabbruch legal ist, erkannt werden. Also mussten wir die Dinge noch schneller regeln. Wir haben wirklich versucht, unsere Arbeit bei Abortion without Borders effizienter zu organisieren und die Fälle innerhalb des Netzwerks zu verteilen. Das war mit dem Brexit eine kleine Herausforderung, aber es hat funktioniert. Wir haben auch einen Aufruf an die Leute gemacht, ehrenamtlich bei uns mitzuarbeiten. Gleichzeitig gab es viel Solidarität – wie Demonstrationen in Deutschland und den Niederlanden – rund um die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Polen. So kamen viele Leute auf den Demonstrationen auf uns zu und fragten, ob sie bei uns mitmachen könnten, weil sie wirklich helfen wollten, aber nicht wussten, wie. So wurde unsere Organisation zu einer Möglichkeit für die Menschen, die Situation zu verbessern. Viele Leute, besonders in den Niederlanden lebende Pol:innen, kamen zu uns um zu fragen, ob sie sich freiwillig engagieren können. Wir haben mindestens 10 oder 15 Freiwillige mehr als vor zwei Jahren. Wir haben wirklich versucht, viele neue Leute an Bord zu holen, aber es gab eben auch viele, die aufgrund der Situation mitmachen wollten. 

Und wie finanziert ihr die Organisation? Wahrscheinlich musstet ihr auch viel mehr Geld organisieren.

Wir sind nur ein Kollektiv, keine offizielle Organisation in irgendeiner Form. Es gibt eine Organisation innerhalb des AwB-Netzwerks, die eine offizielle Organisation ist, das Abortion Support Network aus Großbritannien, das früher eine sehr ähnliche Arbeit für Ir:innen geleistet hat. Als Abtreibung dort noch illegal war, haben sie Leute unterstützt, die nach Großbritannien kamen. Als sich die Situation in Irland änderte, gingen sie dazu über, auch polnischen Menschen zu helfen. Sie verfügten also bereits über einige finanzielle Reserven in ihrer Organisation und konnten sich über lange Zeit einen Grundstock an Spender:innen aufbauen, da sie schon viel länger existieren. Sie bezahlen eine Menge Abtreibungen, die von polnischen Menschen vorgenommen werden. Wir als ANA machen nur Crowdfunding wie Online-Spenden oder verkaufen T-Shirts und einige Leute organisieren Konzerte zu unseren Gunsten. Es ist also sehr punkig. Die Sache ist, dass wir sozusagen den Schlamassel der polnischen Regierung beseitigen, indem wir Einzelpersonen helfen. Und niemand will diese Art von Arbeit wirklich finanzieren. Kein Fonds wird uns Geld geben, es sei denn, es handelt sich um einen privaten Fonds oder eine Privatperson, aber offizielle Fonds geben uns kein Geld für diese praktische Arbeit für einzelne Menschen. Niemand will sie wirklich finanzieren. 

Habt ihr als ANA neben der praktischen Hilfe für sichere Schwangerschaftsabbrüche einen Ansatz, um die Rahmenbedingungen rund um Gesetze zur reproduktiven Gerechtigkeit oder die öffentliche Meinung zu diesem Thema zu verändern? 

Am Anfang war uns klar, dass wir uns nur auf die praktische Hilfe konzentrieren und ansonsten nicht unbedingt in die Politik einmischen wollen. Einfach, weil wir nicht wirklich die Kapazitäten dazu hatten. Aber vor allem nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes wurden wir sehr oft von den Medien gebeten, über unsere Erfahrungen zu sprechen und unsere Meinung zu den Geschehnissen in Polen zu äußern. Als Leute, die an vorderster Front stehen und den Menschen auf der Reise helfen. Ich denke, dass wir seither in diese Art von Dingen involviert sind. Außerdem gab es in letzter Zeit eine Reihe von Diskussionen über das Abtreibungsgesetz in den Niederlanden. Wir haben also versucht, so gut es ging, unsere Meinung zu äußern und auch ganz praktische Informationen darüber zu geben, was das für unsere Arbeit bedeutet. Ich denke, wir waren recht erfolgreich, denn unsere Organisation wird in den Niederlanden immer mehr anerkannt. Es ist unmöglich, in einer Organisation wie ANA zu sein und sich nicht an der öffentlichen Meinung zu beteiligen. Denn schließlich hängt unsere Arbeit direkt von den Gesetzen des Landes ab, in dem wir uns befinden, aber auch von denen anderer, umliegender Länder. Also haben wir irgendwann beschlossen, dass wir die Kapazitäten schaffen müssen um darüber zu sprechen und unsere Meinung zu äußern. Denn wir haben sehr spezifische Informationen, die andere Organisationen nicht haben und die wir nutzen können, um sehr klare Aussagen darüber zu machen, warum reproduktive Gerechtigkeit wichtig ist und warum es überall sichere Abtreibungsgesetze geben sollte.

Wie sähe deiner (oder eurer) Meinung nach eine Situation tatsächlicher reproduktiver Gerechtigkeit und Selbstbestimmung aus?

Ich kann nur über mich selbst sprechen. Wenn wir über Abtreibung sprechen, dann würde das für mich bedeuten, dass es überall sichere, legale und zugängliche Abtreibungen gibt. Und zugänglich bedeutet, dass man nicht weit weg fahren muss, um sie zu bekommen. Sie sollte überall dort verfügbar sein, wo man lebt. Dazu gehört auf jeden Fall auch eine umfassende Aufklärung über sexuelle und reproduktive Gesundheit. Für mich ist das ein sehr intersektionaler Begriff – reproduktive Gerechtigkeit. Denn es bedeutet auch, dass man nicht diskriminiert wird – sei es aufgrund der Race, der Klasse, des Geschlechts oder der sexuellen Vorlieben – wenn man reproduktive Gesundheitsdienste in Anspruch nimmt. Das bedeutet, dass einem als arme Person keine Abtreibung verweigert wird, dass einer Person of Color keine Dienstleistungen verweigert werden, dass aber auch trans Personen, die schwanger werden wollen oder eine Abtreibung vornehmen lassen, nicht stigmatisiert werden sollten. Ich denke also, dass wir einen sehr ganzheitlichen Ansatz für alle Arten von Dienstleistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit verfolgen sollten.

Danke dir! 

#Foto: wikimedia commons

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Im Netzwerk gegen Feminizide Berlin haben sich verschiedene feministische Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um auch in Deutschland verstärkt auf das Thema aufmerksam zu machen und gemeinsam kämpferische und emanzipatorische Antworten auf patriarchale Gewalt zu finden.

Hallo, stellt euch doch bitte kurz vor und erzählt auch, wie lange ihr schon Teil des Netzwerks gegen Feminizide seid.

Ursula: Ich lebe in Berlin und ich habe ungefähr vor zwei Jahren davon gehört, dass sich Frauen zusammenschließen wollen, die zum Thema Feminizide arbeiten. Mir war der Begriff vorher auch nicht wirklich geläufig, obwohl ich schon seit 50 Jahren in der Frauenarbeit gegen Gewalt an Frauen bin. Also für mich war das damals ein relativ neuer Begriff, der aber auch sofort ziemlich einleuchtend war. „Aha na klar, Feminizide sind das, was im schlimmsten Falle passiert, wenn Frauen Gewalt erfahren – sie werden ermordet. Sie werden einfach getötet.“ Deswegen habe ich versucht, mich mit diesem Netzwerk zu verbinden und bin dann da sozusagen reingeraten und habe mitgemacht.

Lila: Ich bin in einer Gruppe, die viel im Austausch über Morde an Frauen und queeren Menschen stand. Wir haben immer wieder über diese Thematik geredet und uns ein bisschen hilflos gefühlt damit. Gleichzeitig haben wir in den Vernetzungen, die schon bestanden, nicht gesehen, dass es einen Fokus auf die Sichtbarmachung dessen gibt oder Konzepte ausgearbeitet werden, wie auf lange Sicht damit umgegangen und das Thema mehr in die Gesellschaft getragen werden kann. Schon vor der Pandemie ist das alles hinter verschlossenen Türen passiert, die Berichterstattung wurde zweckentfremdet und war meistens eher Täter schützend. Daraufhin haben wir uns mit verschiedenen Gruppen vernetzt. Das erste Mal getroffen haben wir uns im September 2020 und am 25. November wurde das Netzwerk gegen Feminizide ausgerufen. .

Ursula: Gleich beim ersten Treffen haben wir beschlossen, dass wir eine Kampagne machen: „Wir wollen uns lebend!“ in Anlehnung an „Ni una menos!“.

Wir war denn eure Verbindung zu den feministischen Bewegungen aus Lateinamerika, wart ihr im Austausch mit den Ni una menos Bewegungen aus anderen Ländern?

Lila: Also in den ganz frühen Phasen haben wir uns erstmal viel informiert und das war auf jeden Fall eine große Inspiration. Die Bewegung, die Stärke und was sie alles erreicht haben – trotz viel mehr Repression, als hier vor Ort. Durch Freundinnen aus dem Umfeld von Ni una Menos und dem Bloque Latinoamericano sind wir dann auch noch mehr in den Austausch über die Bewegung gekommen und konnten besser von ihnen lernen. Bei uns in der Gruppe kam das auch einfach durch die Auseinandersetzung mit Feminiziden und der Frage danach, was das überhaupt mit einschließt. Wir wollten von Anfang an nicht in dieser super eurozentrischen Sichtweise bleiben. Natürlich geht vielen Feminiziden häusliche Gewalt voraus. Aber wenn man sich global unterschiedliche Kontexte anschaut, werden Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter zwar genauso wie hier ermordet, weil sie Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter sind – aber auch weil sie aktiv geworden sind, aufstehen und ihre Meinung sagen. Da haben uns viele Bewegungen inspiriert und wir haben versucht von ihnen zu lernen.

Ursula: Dadurch, dass hier in Berlin viele Communities präsent sind, war eigentlich vom ersten Treffen an offensichtlich, dass mindestens die Hälfte der Frauen die da waren, einen migrantischen Hintergrund haben. Das war ein Bündnis von Gruppierungen, die bereit sind, sich in irgendeiner Form mit Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Gesellschaft, der Gewalt des Patriarchats auseinanderzusetzen. Dadurch sind natürlich auch diese ganzen globalen Aspekte immer in die Arbeit eingeflossen.

Ihr habt schon angedeutet, dass eure Definition von Feminiziden mehr einschließt, als Beziehungstaten. Was versteht ihr als Netzwerk noch darunter?

Lila: Das ist eine sehr schwierige Frage ehrlich gesagt..

Ursula: Naja im Großen und Ganzen haben wir schon eine ziemlich klare Position, glaube ich. Es geht um patriarchale Gewalt(-strukturen), die einfach global präsent sind und sich dann natürlich lokal völlig unterschiedlich ausdrücken. Hier in Deutschland zum Beispiel ist es im Wesentlichen die Definition, dass Frauen ermordet werden, die individuell in abhängigen Verhältnissen zu bestimmten Männern stehen und, dass Männer sich bemüßigt fühlen, ein Recht auszuüben, was sie nicht haben: Gewalt auszuüben, zu herrschen und Frauen mit Gewalt zu Sachen zu zwingen, beziehungsweise von Dingen abzuhalten.

Lila: Schwierig zu beantworten ist es wegen der mangelhaften Nachhaltigkeit und fehlender Informationen in der Berichterstattung. Das macht es für uns manchmal schwierig einzuordnen, was passiert ist.

Ursula: Wir haben maximal eine kurze Zeitungsmeldung, wenn eine Frau umgebracht wurde. Da steht vielleicht noch wo es war, wer es gewesen sein könnte, wer verhaftet wurde – Ehemann, Ex-Freund, Bruder, Vater – und dann müssen wir quasi für uns entscheiden, ob das ein Feminizid war oder nicht. Es sind inzwischen ja sehr viele Gruppen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weltweit, die sich damit beschäftigen. In diesem Kontext tauschen wir uns sehr intensiv darüber aus, wie wir eigentlich dazu kommen, einen Mord als Feminizid einzuordnen. Dafür müssen wir auf eine sehr dünne Faktenlage zurückgreifen und dann daraus extrahieren, wie das mit dem Patriarchat und der gesamtgesellschaftlichen Situation zusammenhängt. Wir sehen auch, dass es zum Beispiel Feminizide gegen politische Aktivistinnen gibt. Da kommen immer wieder Fragen und Lücken auf und wir beschäftigen uns im Wesentlichen damit, sinnvolle Antworten zu finden.

Lila: Wir sind aber letztes Jahr zu dem Punkt gekommen, dass man auch Suizide als Feminizide einordnen kann, wenn sie das Ende einer langen patriarchalen Gewaltkette sind und die Person keine andere Lösung mehr gesehen hat in diesem System. Dann definieren wir das als femizidalen Suizid.

Wenn ihr zu dem Schluss kommt, dass ihr einen Mord als Feminizid einordnet. Wie reagiert ihr als Netzwerk darauf?

Lila: Aktuell – das entwickelt sich ja auch immer weiter – ist der Stand so, dass wir einen Widerstandsplatz eingenommen haben. Die Arbeit mit den Angehörigen ist immer super schwierig und unterschiedlich, manchmal haben wir auch gar keinen Kontakt. Deswegen haben wir die Entscheidung getroffen, dass wir lieber an einem neutraleren Ort – also dem Widerstandsplatz – zusammenkommen wollen. Um zu gedenken, darauf aufmerksam zu machen, Transparenz zu schaffen und den Mord ganz klar als Feminizid zu benennen. Wir sagen „nehmt ihr uns eine, antworten wir alle!“.

Ursula: Es erschien uns einfach wichtig, einen Ort zu finden, den wir gemeinsam nutzen können für alle möglichen Formen von widerständigen Bewegungen. Wir haben ihn im Wedding gefunden mit einem Platz wo man sich gut Treffen kann, wo getanzt, gesungen, getrauert und geredet werden kann. Er liegt innerhalb einer Community und in einem sehr spannenden Kiez, der miteinbezogen werden kann und wo sowieso schon viel passiert. Außerdem haben wir uns auch einen Platz ausgesucht, der den Namen eines Kolonialverbrechers – Nettelbeck – trägt und uns auch damit beschäftigt. Zusammen mit anderen Gruppen, vor allem Decolonize Berlin, haben wir die offizielle Umbenennung des Platzes bei der Bezirksversammlung durchgesetzt. Jetzt wird nur noch entschieden, welchen Namen dieser Platz bekommen soll.

Lila: Bei diesem Platz des Widerstands geht es auch darum, Kämpfe zu verbinden. Im besten Fall entsteht dort ein Treffpunkt und ein Ort für Austausch. Gerade für Einzelpersonen die potenziell betroffen oder nicht so gut vernetzt sind, ist es schwer einen Zugang – vor allem zu Informationen – zu finden. Bis jetzt war es, wenn wir auf dem Platz zusammengekommen sind, eigentlich immer so, dass Menschen auch mal nachgefragt haben. Oder auch überrascht waren, dass Nettelbeck ein Kolonialverbrecher war. Manche haben auch so süße Sachen gesagt, wie „egal, ob andere euer Gegenwind sind, wir sind euer Rückenwind hier aus dem Kiez“. Das gibt uns Hoffnung, dass wir es schaffen die Menschen besser mit einzubeziehen, und zu erfahren, was beispielsweise Wünsche im Bezug auf den neuen Namen sind.

Ein genaues Protokoll, wie wir auf einen Feminizid reagieren, ist eher noch in der Entwicklung. Klar ist aber, dass wir zusammenkommen. Bei dem femizidalen Suizid von Ella letztes Jahr am Alexanderplatz besteht aber zum Beispiel auch das Bedürfnis das immer wieder zu machen. Hier zeigt sich die Problematik, dass zwar in Deutschland mittlerweile Statistiken über „Morde an Frauen“ – wie es genannt wird – geführt werden, aber eben nicht über Menschen, die sich anders definieren und trotzdem einen Uterus haben oder unter patriarchaler Gewalt leiden. Es gibt super wenig Hilfe für diese Personen. Und oft erfahren diese Menschen auch noch andere Formen von systematischer Gewalt und Unterdrückung.

Ursula: Natürlich hat sich im Laufe der Zeit auch ohne festes Protokoll etwas entwickelt. Und ein Teil davon ist auch, dass wir – wenn möglich – versuchen, das Umfeld zu erkunden in dem dieser Feminizid passiert ist und möglicherweise auch mit den Angehörigen Kontakt aufzunehmen und Unterstützung anzubieten. Das ist immer ein sehr schmaler Grat, weil wir die Personen nicht instrumentalisieren möchten. In mehreren Städten in Deutschland hat das auch schon dazu geführt, dass Gruppen die Gerichtsprozesse von Tätern mit begleitet und die betroffenen Familien unterstützt haben. Dabei wurden ganz vielfältige Erfahrungen gesammelt. Manche Angehörige möchten einfach in Ruhe gelassen werden und individuell trauern. Andere wiederum sehen den Mord ebenfalls im Kontext patriarchaler Gewalt und möchten sich wehren, zum Beispiel indem sie in die Nebenklage gehen. Das ist ziemlich schwierig und man braucht eine gute Anwältin dafür. Da haben sich exemplarisch Prozesse entwickelt, die auch veröffentlicht werden müssten. Wir wollen zeitnah eine Broschüre zum Thema „Was mache ich, wenn ein Feminizid passiert?“ veröffentlichen. Dafür sammeln wir Bewegungswissen – alles was in den vergangenen zwei, drei Jahren entstanden ist.

Lila: Wenn wir einen Kontakt aufbauen können zu den Menschen um das Opfer herum – Freund:innen, Familie, etc. – haben wir auch manchmal die Schwierigkeit, dass der Täter noch im Umfeld der Angehörigen aktiv ist. Dann sind die Gewaltkette und die Machtstrukturen oft nach wie vor vorhanden. In solchen Fällen müssen wir natürlich auch sehr aufpassen in unserer Arbeit, dass wir keine weiteren Familienmitglieder, Freund:innen, etc. in Gefahr bringen.

Ihr habt gerade schon angesprochen, dass ihr Handlungsanleitungen und Broschüren entwickelt. Das passiert im Kontext eurer Vernetzung mit anderen Gruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie hat sich das entwickelt?

Lila: Angefangen hat das ja mit einer Sammlung und einem Austausch über den Ist-Zustand. Und das Ziel war, bzw. ist dieses „How-to“. Aber dadurch, dass diese Thematik noch nicht als das, was sie ist – nämlich Feminizide und nicht Beziehungsdramen – in der Gesellschaft angekommen ist und ja auch verhältnismäßig wenige Leute dazu arbeiten, gehen immer wieder Kapazitäten für die gleichen Dinge drauf, weil man auf so wenig zurückgreifen kann. Deswegen ist unser Ansatz, diesen Kampf gemeinsam zu führen und uns gegenseitig zu unterstützen. Beispielweise durch skill sharing, durch eine Zugänglichkeit zu Dingen wie Materialien…

Ursula: …Texte. Da macht Vernetzung tatsächlich einen Sinn, weil wir in die praktische Ebene gehen und uns dadurch gegenseitig unterstützen können. Auch der direkte Austausch – und sei es über Zoom – ist unglaublich hilfreich. Daraus können sich dann wieder neue Ideen entwickeln.

Lila: Ich persönlich merke auch, als Person die in einer Stadt wohnt, dass bei so einem Protokoll immer Spielraum sein muss. In kleinen Städten und Dörfern ist es für uns manchmal schwierig, überhaupt mit den Menschen in Kontakt zu kommen.

Ursula: Andererseits sind ja die großen Städte im Grunde auch in kleine Kieze unterteilt, wo klare Strukturen herrschen. In so einem Dorf ist das natürlich übersichtlicher und besser für uns erkennbar, aber wenn wir uns unsere Kieze angucken, ist das ja auch nicht anders. Und trotzdem ist da irgendwie ein gegenseitiges Verständnis und ein Lernprozess möglich.

Rund um das Thema kreisen ja sehr viele Begriffe, über die wir teilweise schon gesprochen haben. „Eifersuchtsdrama“ in den Medien, „Partnerschaftsgewalt“ in der BKA Statistik, „Femizid“, „Feminizid“. Warum habt ihr euch für letzteres entschieden?

Lila: Wir sind darauf gestoßen, dass diese Wörter in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Dinge bedeuten. Wir haben uns dann für den Begriff Feminizid entschieden, weil Femizid im Deutschen lediglich den Mord an einer FLINTA*-Person beschreibt und Feminizid den Mord an zum Beispiel einer Frau, weil sie eine Frau ist. Uns im Netzwerk war es wichtig, auf die Gewaltkette die dem Mord vorangeht hinzuweisen und diese sichtbar zu machen. Außerdem trägt der Begriff auch zur Nachhaltigkeit in der Arbeit bei. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, feminicide map, die auf einer Karte chronologisch Feminizide aufzeigen, auch rückblickend. Das ist zwar bei uns aktuell nicht der Fokus, aber auf lange Sicht auch ein wichtiger Aspekt: dass Statistiken über Feminizide erstellt werden. Denn die, die bisher gibt, arbeiten ja gar nicht mit dieser Definition.

Habt ihr Forderungen, von denen ihr euch eine Veränderung der Strukturen und auch des Darübersprechens erhofft?

Ursula: Die meisten Forderungen sind erst einmal reformatorisch und richten sich an den Staat, bzw. die Medien. Bei Letzteren geht es uns vor allem darum, dass eine Sprachänderung vorgenommen wird, um Sachen klarer zu benennen. Das läuft eigentlich ganz gut. Das Wort Feminizid ist nicht mehr ganz so unbekannt, es ist nur immer die Frage, inwieweit Menschen das dann auch tatsächlich verstehen, bzw. bereit sind, sich dagegen einzusetzen. Es ist schwierig, vom Staat, der ja ganz eindeutig eine Vertretung der Gewaltkette ist, die Bekämpfung von Feminiziden zu fordern. Das ist also der Spagat, den wir machen. Einerseits wollen wir bestimmte Dinge in dieser Gesellschaft reformieren, zum Beispiel Gesetze, die nun einmal einfach existieren: wir möchten, dass Feminizide als besonders schwere Straftat eingestuft werden. Andererseits vertrauen wir dem Staat nicht, dass er dazu beiträgt, dass es besser wird. In 50 Jahren Arbeit gegen Gewalt an Frauen hat sich viel verändert auf der Diskurs-Ebene aber sehr wenig auf der tatsächlichen Lebensebene. Es werden immer noch genauso viele Frauen und Kinder vergewaltigt und Menschen unterdrückt und ausgebeutet. An der Statistik hat sich also sehr wenig geändert, sondern vielmehr wie wir darüber denken und auch mit Aktionen tatsächlich dagegen ankämpfen. Andererseits gibt es aber auch die Forderung nach nachhaltiger Gerechtigkeit: also einem anderen Gerechtigkeitsbegriff, anderen Möglichkeiten diesen auszufüllen und umzusetzen, um in dieser Hinsicht nicht mehr auf den Staat und seine Erzwingungs-Maßnahmen zurückgreifen zu müssen. Wir haben so viele verschiedene Kämpfe, die in eine Richtung gehen – das Patriarchat auflösen.

Lila: Genau. Eine weitere klare Forderung ist „Keine mehr!“. Außerdem geht aus unserer Arbeit hervor, dass z.B.Frauenhäuser konstant überlastet sind. Und die Pandemie hat das natürlich nicht besser gemacht. Wir können nur hoffen, dass dadurch wenigstens ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass in diese Arbeit mehr Gelder investiert werden müssen.

Ursula: Und es geht uns auch um die Sensibilisierung der ganzen Berufsstände, welche mit Betroffenen patriarchaler Gewalt zu tun haben. Seien es Ärzte, Jugendeinrichtungen, Frauenhäuser, der Justizapparat…

Lila: Ich denke, die Forderung der Sichtbarmachung ist auch sehr wichtig. An dem Punkt würde ich mir manchmal wünschen, dass andere Vernetzungen das Thema mehr aufgreifen.

Danke für den Austausch. Gibt es einen Punkt, den ihr noch ansprechen wollt?

Lila: Noch eine Sache zum Widerstandsplatz. Wir nutzen ihn nicht nur als Ort der Reaktion, sondern auch proaktiv. Über den Winter ist das natürlich ein bisschen schwieriger, aber letzten Sommer haben wir dort jeden Monat Aktionstage mit Inputs unterschiedlicher Gruppen gemacht, Selbstverteidigungsworkshops z.B. Es geht uns auch darum FLINTA* zu stärken. Es war sehr schön zu sehen, dass der Platz auch ein Ort der Kraft und des Empowerments sein kann. Wir haben dort auch mehrmals ein Open Mic veranstaltet. Das waren teilweise Räume für Erfahrungen und Meinung, für Wut – wo Menschen selbstgewählt sprechen konnten. Das ist etwas, was oft fehlt. Die Arbeit zu Feminiziden ist nicht leicht und wird hauptsächlich von Menschen geleistet, die selbst potenziell vom Patriarchat betroffen sind. Da ist es wichtig, immer wieder zusammenzukommen und sich gegenseitig zu stärken. Das sind Dinge, dich ich immer wieder auf dem Widerstandsplatz gefühlt habe.

Ursula: Gleichzeitig war das auch immer ein Ort, wo aktuelle Informationen zwischen den verschiedenen Bewegungen ausgetauscht werden konnten. Was ich mir wünschen würde von den anderen Kämpfen, ist ein bisschen mehr Aufmerksam darauf zu richten. Gewalt gegen FLINTA*, Gewalt gegen Menschen, die versuchen sich vom Patriarchat zu emanzipieren, ist ein zentrales Thema. Und ein bisschen mehr Teilnahme und Beteiligung an diesem Austausch, damit wir auch deren Perspektive kennenlernen. Aber natürlich freuen wir uns auch immer über Menschen, die bei uns mitarbeiten wollen.

#Foto: Einweihung des Widerstandsplatz, Netzwerk gegen Feminizide Berlin

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Verónica Gago ist Theoretikerin und Aktivistin aus Argentinien. Anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März haben wir mit ihr über den Stand der argentinischen feministischen Bewegung heute gesprochen – nach einem errungenen Sieg im Kampf um das Recht auf Abtreibung, zwei Jahren Pandemie und im sechsten Jahr des feministischen Streiks.

Mit der Feminismuswelle der letzten Jahre ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt aber Diskussionen, die über die gläserne Decke hinausgehen und eine Klassenanalyse mit einschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung heute etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung, sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger! Wir wollen frei und schuldenfrei leben! Gegen die Prekarität des Lebens! Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien! Wir Frauen gegen Verschuldung!“ um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine genaue Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung” fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre Spitze findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es euch gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themen der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuerinnen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und antiextraktivistisch ist – die aus verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute überall sehen?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status Quo gestellt haben.

Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion: er ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie” beginnt. Oder warum versucht wird, den Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Und deswegen gibt es auch viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lange gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle” losgetreten, die über die Grenzen hinausging. Dabei wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung in Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war hier von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: Das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Aber mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem, was die Bewegung bereits erreichen konnten als Horizont – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch” wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas-, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulationen und die Dollarisierung der Wirtschaft und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den letzten Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen oder gibt es andere Strategien, die im Moment wichtiger sind?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger ist, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist. Das Wichtige an diesem 8. März ist, wieder eine Wucht zu werden.

Von Verónica Gago ist bei Unrast das Buch “Für eine feministische Internationale” erschienen. Foto: privat

# Titelbild: Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem argentinischen Kongress 2018 (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

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Häusliche, öffentliche, staatliche, körperliche, sexualisierte, verbale, psychische. Patriarchale Gewalt hat viele Gesichter und ist dabei immer eines: Politisch und systematisch. Sie dient der Aufrechterhaltung der patriarchalen Ordnung.

Durch Gewalt sollen unser Wille gebrochen und unsere individuellen sowie kollektiven Kämpfe für Selbstbestimmung angegriffen werden. Gewalt soll uns voneinander isolieren, schwächen, und uns machtlos und allein fühlen lassen. Sie tötet und treibt in den Suizid.

Nicht nur einzelne Individuen beteiligen sich an ihr. Es ist ein System: Staaten, die über unsere Körper bestimmen wollen; Kapitalismus und Rassismus, der unsere Körper ausbeutet und objektifiziert; Faschisten und Neonazis, die gezielt Frauen und queere Menschen bedrohen und angreifen; Prominente und Reiche, die über Jahre ihre Macht missbrauchen und damit davonkommen; oder aber auch die patriarchale Justiz, durch die Täter oft keine Konsequenzen befürchten müssen.

Der 25. November, der internationale Kampftag gegen patriarchale Gewalt, geht zurück auf die Ermordung der Schwestern Patria, Minerva und María Mirabal, die an diesem Tag im Jahr 1960 auf Befehl des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo (der wohlgemerkt auch ein Missbraucher von Mädchen und Frauen war) ermordet wurden. Die Schwestern waren Teil der kommunistischen Agrupación política 14 de junio, einer revolutionären Gruppierung, die den Sturz des Diktators plante. Nach einem Gefängnisbesuch wurden sie überfallen und erdrosselt. 21 Jahre danach – also vor 40 Jahren – wurde der 25. November zum Gedenk- und Aktionstag gegen Gewalt an Frauen erklärt.

Patriarchale Gewalt ist heute nicht „noch immer“, sondern „erst recht“ aktuell in Zeiten von Pandemie, zunehmender Ausbeutung und Krieg. Einige Ebenen dieser Gewalt sind Femizid, sexualisierte, staatliche und psychische Gewalt, die in diesem Text beleuchtet werden sollen.

Jeden Tag werden weltweit Hunderte Femizide begangen, also Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Das hat Aktivist*innen auf der ganzen Welt dazu veranlasst, sich unter dem Slogan Ni Una Menos („Nicht eine weniger“) zu Massenbewegungen zusammenzuschließen und feministischen Widerstand und Selbstverteidigung zu organisieren. Denn Femizid ist eine der sichtbarsten Formen patriarchaler Gewalt. Bei jedem Fall wird uns bewusst: Das hätte eine Freundin, Schwester, Nachbarin oder auch ich sein können.

In etwa zwei von drei Fällen ist der Täter ein (Ex-)Partner oder Familienmitglied. Femizide und andere Formen patriarchaler Gewalt sind jedoch niemals Privatsache. Feminist*innen kritisieren schon lange das mediale Framing von Femiziden als „Beziehungstat“, „Familiendrama“ oder „Eifersuchtsdrama“ – denn durch solche Bezeichnungen entsteht der Eindruck, es handle sich um die Brutalität eines einzelnen Täters. Dabei zieht sich die Gewalt durch sämtliche Ebenen des Lebens und wird durch das kapitalistische patriarchale System begünstigt und gefördert.

Abkommen wie die Istanbul-Konvention verpflichten die Unterzeichnerstaaten zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen, um Femizide und patriarchale Gewalt zu vermindern. Jedoch ist unklar, was solche Maßnahmen versprechen sollen, wenn gleichzeitig ebendiese Staaten beispielsweise feministische Aktivist*innen und Bewegungen kriminalisieren, Opfer von Gewalt im Stich lassen und verhindern, dass Betroffene sich verbünden und verteidigen. Mit der Türkei ist in diesem Jahr der erste Staat aus dem Abkommen zurückgetreten – unter anderem mit der Begründung, es gefährde die „familiären Werte“ des Landes und „normalisiere die Homosexualität“. Auch wenn der Austritt die Situation für Betroffene drastisch verschlimmern könnte, haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Istanbul-Konvention nie ein Hindernis für die Türkei dargestellt hat, Täter zu schützen, feministische Demos mit brutaler Polizeigewalt anzugreifen oder durch Invasionen in Rojava die Errungenschaften der Frauenrevolution und der autonomen Frauenbewegung anzugreifen. Das Land betreibt – sowohl innen- als auch außenpolitisch – eine femizidale Politik. Das Beispiel Türkei führt uns besonders deutlich die Notwendigkeit von autonomer feministischer Organisierung jenseits des Staates vor Augen. Das trifft auch auf eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt zu – sexualisierte Gewalt und rape culture.

Rape culture bezeichnet eine Mentalität und gesellschaftliche Struktur, die sexualisierte Gewalt normalisiert und fördert, die Schuld bei den Opfern sucht und Täter in Schutz nimmt. Rape culture erleichtert es Tätern die Schuld von sich zu weisen, während Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden lügen, Aufmerksamkeit suchen oder hätten es nur darauf abgesehen, dem Täter „das Leben zu ruinieren“. Der Fall Luke Mockridge oder auch die wichtige Debatte, die in diesem Jahr dank #deutschrapmetoo und Nika Irani angestoßen wurde, haben noch einmal verdeutlicht, wie tief Frauenfeindlichkeit und Sexismus in der deutschen Gesellschaft sitzen. Betroffene und Aktivist*innen wurden massiv angefeindet und mit Vorwürfen wie den oben genannten bombardiert. In so einer Atmosphäre ist es kein Wunder, dass die meisten Betroffenen ihre Erlebnisse nicht öffentlich machen, nicht darüber sprechen und auch keine Anzeige erstatten – aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, dass sie selbst dafür beschuldigt und angefeindet werden, und dass Konsequenzen am Ende sowieso ausbleiben, weil „keine Beweise“. Es versteht sich fast von selbst, dass Staat und Polizei auch hier keine Helfer oder Verbündeten sind, sondern selbst Teil der patriarchalen Struktur.

Aber auch in der Linken geschieht sexualisierte Gewalt – wo sie oftmals totgeschwiegen wird, um „der Sache nicht zu schaden“. Besonders da wird deutlich: Selbst ein cis Mann, der sich für noch so links und revolutionär hält, profitiert von seiner Position im Patriarchat und ist potenziell bereit, diese Position zu missbrauchen. Nicht selten decken cis Männer einander und schweigen zum Verhalten ihrer „Genossen“. Auch hier wird besonders spürbar, dass es autonome feministische Strukturen braucht, um mit dem Patriarchat zu brechen und sich durch cis Männer nicht spalten zu lassen.

So macht es etwa die Frauenbewegung in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien vor, deren revolutionäre Errungenschaften nun unmittelbar durch türkische Besatzer bedroht werden. Hier offenbart sich uns eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt offenbart: Nämlich jene die von Staat, Polizei und Militär ausgeht. Staatliche Gewalt selbst ist in ihrem Charakter zutiefst patriarchal und basiert traditionell auf der Verknüpfung von Männlichkeit, Militär und der Verteidigung des „Vaterlandes“, a.k.a die Verherrlichung von Krieg, Invasionen, Imperialismus und Nationalismus. Besatzung und Gewalt werden beschönigt und als Teil einer „ehrenhaften“ patriotischen Mission präsentiert, für die es angeblich in Ordnung ist, Opfer zu bringen und zu töten. In dem Glauben, die „Nation zu verteidigen“, werden ganze Bevölkerungsgruppen entmenschlicht und die Brutalität von Militarismus und Krieg trifft Frauen ganz besonders. Sie leiden unverhältnismäßig unter der durch Kriege ausgelösten Gewalt, Verfolgung, Flucht und Ausbeutung.In jedem Krieg und in jeder Besatzung sind Frauen, Queers und Minderheiten die primären Leidtragenden. Insbesondere sexualisierte Gewalt wird gezielt eingesetzt, um Gemeinschaften und ihren Widerstand zu brechen. 

Gleichzeitig bilden genau diese Gruppen aber auch die potenziell radikalste Kraft für gesellschaftlichen Umbruch und Frieden und sind deshalb den Angreifern ein Dorn im Auge. Frauenrechtler*innen und feministische Aktivist*innen werden nicht zufällig ermordet. Ob Frozan Safi in Afghanistan oder Hevrîn Xelef in Kurdistan, Marielle Franco in Brasilien oder die Schwestern Mirabal – ihre Ermordungen waren immer gleichzeitig auch politische Botschaften, gezielte Angriffe auf die Widerstände aller Frauen und Feminist*innen, und nicht zuletzt Einschüchterungsversuche. Dasselbe gilt für Repressionen und Kriminalisierung, von denen insbesondere nicht-weiße Frauen und queere Menschen betroffen sind.

Eine weitere Ebene patriarchaler Gewalt bilden Eingriffe in unsere körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. So etwa die verschärften Abtreibungsgesetze bzw. -verbote wie jetzt in Texas oder in Polen, die sichere Schwangerschaftsabbrüche erschweren bzw. unmöglich machen. Solche Gesetze gefährden das Leben von Schwangeren und haben bereits erste Todesopfer gefordert, wie erst vor kurzem im Fall der 30-jährigen Izabela S. in Polen. Obwohl klar war, dass der Fötus in ihrem Bauch nicht überlebensfähig war, halfen ihr die Ärzt*innen nicht, woraufhin sie an einem septischen Schock verstarb. Restriktive Abtreibungsgesetze erhöhen auch die Zahl unsicherer Schwangerschaftsabbrüche, an deren Folgen jährlich Zehntausende ungewollt Schwangere sterben. Todesfälle, die mit dem Zugang zu legalen, sicheren Schwangerschaftsabbrüchen hätten verhindert werden können und die nicht nur Mängeln in der Gesundheitsversorgung, sondern einer konservativen Mentalität und einem patriarchalen System entspringen, das Abtreibungen kriminalisiert, stigmatisiert und erschwert.

Dass staatliche Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung eine Form patriarchaler Gewalt sind, zeigt sich auch an der enormen Gewalt gegenüber trans Menschen in Form von Verfolgung, Kriminalisierung, Hassverbrechen, oder Schikane durch etwa staatliche Behörden. Die täglichen körperlichen und verbalen transfeindlichen Übergriffe enden mitunter tödlich. Besonders betroffen sind trans Frauen. Erst vor wenigen Monaten verbrannte sich Ella N., eine trans Frau, die zuvor wegen Verfolgung aus dem Iran geflohen war, mitten auf dem Berliner Alexanderplatz, nachdem sie jahrelanger Schikane seitens der deutschen Ämter ausgesetzt war, als sie versuchte, hier Asyl zu bekommen und ihre Transition zu vollziehen. Auch diese Fälle sind Formen patriarchaler Gewalt, ausgelöst durch Angriffe gegen die körperliche Selbstbestimmung und das gewaltsame Aufzwingen binärer Geschlechtervorstellungen im Sinne der patriarchalen Ordnung.

Nach wie vor versucht der Staat in unsere Körper und unsere Gedanken einzugreifen. Es ist eine Illusion zu glauben, kapitalistische Staaten würden uns nach und nach mehr Freiheiten und Rechte zusichern. Vielmehr verschleiert der Staat seine Kontrolle, indem er uns neoliberale Konzepte von Freiheit verkauft, während auf der anderen Seite Ausbeutung, Kriminalisierung und staatliche sowie patriarchale Gewalt überall stetig zunehmen. Dazu gehört auch psychologische Gewalt.

Die kurdische Frauenbewegung benutzt oft den Begriff „Spezialkrieg“, um die Methoden zu beschreiben, mit denen Staat und Kapitalismus Widerstand unterdrücken bzw. Menschen (und insbesondere Jugendliche) enger an das System binden wollen, damit sie gar nicht erst widerständig werden. Auch was feministischen Widerstand betrifft hält der Neoliberalismus seine „Alternativen“ bereit. Anstatt Feminismus zu verteufeln, werden feministische Ideen in oberflächlicher Form übernommen und kommerzialisiert. Slogans werden von der Straße genommen und auf Waren gedruckt, kämpferische Begriffe und Konzepte werden ihrem Sinn beraubt. So entsteht der Eindruck: „Hey, sogar H&M druckt jetzt feministische Sprüche auf T-Shirts, dann sind wir ja gar nicht mehr weit vom Ziel entfernt“ – dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Denn auf allen Ebenen intensiviert sich die Gewalt und Ausbeutung. Das gilt auch für den Westen, wo das reale Ausmaß patriarchaler Unterdrückung oft im Verborgenen bleibt, weil hier gerne so getan wird, als hätten Frauen es vergleichweise noch ganz gut „im Gegensatz zu anderen Regionen“. So wird der Status Quo normalisiert und außerdem suggeriert, patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung seien so gut wie beseitigt.

Diese und andere Formen psychologischer Gewalt sind im Alltag verankert und begegnen uns jeden Tag. Auch verbale Gewalt, Belästigung, Stalking, Erniedrigung, sowie wirtschaftliche Abhängigkeit, Ausbeutung und Verarmung gehören dazu. Kurz gesagt alles, was Betroffene psychisch schwächt, sie in Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit verfallen lässt und verhindert, dass sie sich gegen Gewalt zur Wehr setzen und organisieren. Im aktivistischen Zusammenhang ist es deshalb unumgänglich, sich auch mental und emotional gegen das Patriarchat zu verteidigen, indem man sich von den Einflüssen der sexistischen Gesellschaft befreit.

Viele Punkte wurden in diesem Text angerissen, und doch sind zahlreiche Aspekte noch unerwähnt geblieben. Häusliche Gewalt, Zwangsheirat, Zwangsabtreibung, Genitalverstümmelung (FGM), Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nur einige weitere Beispiele von vielen. Das Ausmaß patriarchaler Gewalt ist zu enorm als dass es in so wenigen Zeilen abgebildet werden könnte und jede Art von patriarchaler Gewalt verdient eine eigene Analyse und Kampfstrategie. Was jedoch alle Beispiele verdeutlichen und worüber sich revolutionäre Feminist*innen einig sind, ist, dass sie tief im System verankert und niemals eine private Angelegenheit ist. Daher muss sie auch dementsprechend bekämpft werden – kollektiv, organisiert und radikal.

Anm. d. Red:
Demonstration zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen*
am 25.11.2021 um 18 Uhr vor dem Eastgate-Center (S-Bahnhof Marzahn)

#Foto: Wikimedia Commons

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Cat Calling bezeichnet das plötzliche, einseitige und unerwünschte Anhupen, Hinterherrufen, Ansprechen, Absondern von Kommentaren über weibliche Körper, sexualisierendes Auftreten (etwa Knutschgeräusche beim Vorbeilaufen), Mit- und Hinterherlaufen. Die „Kontaktaufnahme“ passiert ganz ohne eine Rücksichtnahme auf ein etwaig vorhandenes entsprechendes Interesse auf der Seite der Frau. Es findet also „aus dem Nichts“ heraus statt, so dass dementsprechend kaum Zeit ist, um sich darauf einzustellen. Es findet in der Regel auf so dominante (Hupen, Schreien, in unmittelbarer physischer Nähe, mit Kraftausdrücken) Weise statt, dass es nicht zu ignorieren ist.

So gesehen beanspruchen Männer mit dem Cat Calling ganz unmittelbar und offensiv die Aufmerksamkeit und auch den physischen Raum einer Frau. Sie machen diese Inanspruchnahme nicht vom Interesse der Frau abhängig, nehmen sich also heraus einfach über es zu verfügen. Dementsprechend sind auch die Reaktionen vieler Frauen – in der Reihenfolge: Erschrecken und Angst, Wut oder ein Gefühl der unangenehmen Überraschung. Es handelt sich – auch unabhängig davon, ob sogar noch die Zusatzleistung der Gegenwehr aufgebracht wird – um eine nervliche, emotionale und mitunter physische Belastung und potentielle Gefahr, der sich Frauen ausgesetzt sehen.

Über die Wirkungen der beim Cat Calling stattfindenden Reduzierung von Frauen auf ihren Körper, der unter verschiedenen Maßstäben der Attraktivität durchgemustert wird und des Eingreifens in ihren persönlichen Raum gibt es mittlerweile genug Erfahrungsberichte, die sich gerade Männer zu Gemüte führen sollten. Sie sollen allerdings in diesem Artikel nicht der Schwerpunkt sein, weil der Grund für diese übergriffigen Touren geklärt werden soll. Das wiederum verlangt die Konzentration auf diejenigen, von denen das Cat Calling und die damit verbundenen Einschränkungen für Frauen ausgeht.

Wie begründen Männer Cat Calling?

Auf kritische Nachfragen, warum eine Frau ungefragt und in der offensiv-bedrängenden Weise angemacht wurde oder auch auf Zurückweisungen des Cat Callings folgen gemeinhin verschiedene Antworten, die selbst Aufschluss über den zugrunde liegenden Zweck des Cat Callens geben:

Ich fand sie heiß.“

Hier wird einfach mit dem eigenen Interesse an der Frau argumentiert. So wird das männliche Empfinden zum Berufungstitel für die Berechtigung des belästigende Agierens erklärt. Das empfundene Gefallen wird dabei so behandelt, als wär es unmittelbar und automatisch auch interessant für die Frau, als müsste es eine Bedeutung auch für sie haben – ganz als habe sie nur auf diese Sorte „Bestätigung“ gewartet. Angesichts dessen, dass es sich um eine unerwünschte Anmache handelt, heißt das, dass die Entscheidung, das Empfinden der Frau als gültige Bestimmung über die Frau zu setzen, höher gewichtet wird als der Wille der jeweiligen Frau.

Ihr wollt doch immer angesprochen werden.“

Seid wann immer und vom wem auch immer und egal wie? Die Resultate der Anmachkultur, welche Frauen die passive und Männer die aktive Rolle bei Flirts zuweist, wird hier zum Berechtigungstitel – auch gegen den bekundeten Willen gerade nicht angemacht zu werden.

Das war ein Kompliment und nicht böse gemeint“

Über Beachtung und Komplimente soll man sich also freuen. Dass die Art der Beachtung eine ist, die sich an sämtliche Maßstäbe von Attraktivität festmacht und so Schönheitsnormen, Rassifizierungen etc. reproduziert, ist hier nebenbei bemerkt nicht einmal einen Gedanken wert.

Die Frau wird dargestellt als eine, deren Selbstwert auf die Bestätigung durch Männer ausgerichtet ist, wenn Komplimentebekommen als etwas angesehen wird, worüber sich Frauen doch in jedem Fall freuen müssten.

Angesichts dieser „Freude“, die Männer da freihaus verschenken, wollen sie dann auch nicht verstehen können, warum es überhaupt zu Kritik oder Zurückweisung kommt – denn Bestätigung ist ja nicht „böse gemeint“. Den bedrohlichen und Angriffscharakter von lauten Hupen, Hinterrufen, Anschreien aus einer Gruppe heraus oder Hinterher- und Mitlaufen leugnen sie nebenbei ganz geflissentlich – weil das ihnen halt ein ganz normales und gewohntes Verhalten ist. Weil sie ja was so „nettes“ und – in sexistischer Logik – dem weiblichen Willen Entsprechendes tun, verdient ihr Verhalten einfach keine Zurückweisung. Und wenn es doch eine Abfuhr erfährt, nehmen sie das als etwas „Böses“, Ungerechtes eben, was ihnen da widerfährt – ganz als hätten sie nämlich „was Böses“ getan. Wie ungerecht! Kritik kennen sie nebenbei bemerkt anscheinend auch nur ganz bürgerlich und kindlich als moralische. Jedenfalls setzt sich die Frau ins Unrecht, wenn ihr die Anmache etc. nicht passt.

Das ist doch nicht schlimm.“

Weil es nur wahnsinnig nett gemeinte Beachtung war, auf die noch jede Frau immerzu scharf ist, ist es auch nicht schlimm – in den Augen des Täters.

Wenn Kritik und abweisende Reaktionen dann damit begegnet werden, dass Frauen gesagt bekommen – „Als wenn ich was von dir wollen würde, so toll bist du auch nicht, sondern *setze eine Abwertung entlang weiblicher Attraktivitätsnormen ein*, sei also dankbar, du Schlampe!“ – dann bringt das die Stellung der Männer zu ihrem Tun auf den Punkt: Sie betrachten das nämlich als ihr Recht, das respektiert gehört.

Wer das nicht respektiert, hat die „Zuwendung“ nicht verdient, ist ihrer eigentlich gar nicht würdig, weswegen die betroffene Frau eigentlich recht besehen froh über sie sein sollte. Und wenn sie das nicht ist, die Anmache also nicht würdigt, würdigt sie auch nicht den Cat Caller. Womit sie dessen männliche Ehre verletzt und sich den Titel „arrogante Schlampe“ verdient.

Kritik und Forderungen nach Unterlassung erfahren weiter die Vorwürfe entweder „überempfindlich“, „arrogant“ oder „aggressiv“ zu sein. In jedem Fall liegt also das Problem nicht beim Kritisierten und seinem Verhalten, sondern in der Frau, die sich zur Wehr setzt. Auf diese Weise wird die Kritik oder Aufforderung zur Verhaltensänderung zurückgewiesen. Die zugewiesenen Attribute selbst verweisen dabei auf die Subsumtion der konkreten Frau unter das Geschlechterbild, nach dem Frauen sich zurückhalten und irgendwie immerzu lieb und zugewandt sein, also sich generell nach den Bedürfnissen und Anliegen anderer (v.a. Männer) richten sollen. Deswegen ist ein geäußertes Missfallen oder ein anderslautender Wille dann auch keiner, der irgendwie respektiert gehört, sondern eine fatale Übertreibung und männlich gesehen eine Frage von Unrespekt und Verletzung. So wird die Abwehr vom männlichen Übergriff in einen Angriff verwandelt und die Sache vollends auf den Kopf gestellt.

Cat Caller verlangen also für ihre Anmache eine (positive) Gegenreaktion. Das zeigt sich auch daran, dass zu penetranten Mitteln gegriffen, die Aufmerksamkeit also erzwungen wird: Anhupen, solange Hinterherrufen bis eine Reaktion kommt, Hinterherlaufen, Anfassen. Es ist mehr als die (ebenso) ungebetene Sexualisierung der vorbeilaufenden Frau in der männlichen Phantasie. Der Umstand, dass die Attraktion mitgeteilt und so lange schreiend oder wie auch immer wiederholt wird bis ihr Beachtung geschenkt wird, zeigt dass der Cat Caller darauf aus ist, dass ihm für die Anmache Beachtung geschenkt wird. Die Frau soll mitbekommen, dass er sie geil findet. Und das überlässt er nicht dem Interesse der jeweiligen Frau, sondern erzwingt es: Er verschafft sich die Aufmerksamkeit, nimmt sich – in seiner Vorstellung – also die Bestätigung.

In den Genuss der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, kann außerdem hineinspielen, sich als mächtig zu erleben, dann nämlich, wenn es der Cat Caller gerade auf die Verunsicherung der Frau abgesehen hat: ihm also die mit dem Cat Calling vorgenommene Platzanweisung „Du bist für mich da und ich kann über dich verfügen, wenn ich will“ gefällt.

Wieso gilt Cat Callern ihr eigenes Interesse an Frauen als ein Recht, das sie ihnen gegenüber haben? Wieso sehen sie sich beleidigt und zur Beleidigung oder Gewalt berechtigt, wenn dem nicht entsprochen wird?

Die Beantwortung der Fragen verlangt ein kurzes Ausholen zum verbreiteten willentlichen Bezug auf Sexualität und der bürgerlichen Unsitte des Selbstbewusstseins.

Der Stellenwert sexueller Befriedigung als Recht und die Einlösung männlicher Ehre

In der Welt von Marktwirtschaft und Demokratie soll jede*r ihres*seines Glückes Schmied*in sein – im eigenen Willen statt in den Mitteln, über die man verfügt und deshalb in der Konkurrenz um Schulnoten, Arbeitsplätze, Wohnungen oder Partnerschaften (etc.) zur Anwendung bringen kann, soll das persönliche Abschneiden in der allseitig stattfindenden Konkurrenz begründet sein. Obwohl sowohl Anzahl der Gewinnerpositionen (etwa Anzahl der Ausbildungsplätze oder zu besetzender Posten) als auch die Kriterien, nach denen über Erfolg oder Misserfolg entschieden wird, getrennt von den Konkurrent*innen feststehen, wird üblicherweise Gewinnen oder Verlieren der individuellen Leistung der miteinander Verglichenen und auseinander Sortierten zugeschrieben. Diese Leistung übersetzen sich viele in eine Art Leistungsvermögen, das sie hätten und das sich an Erfolg oder Misserfolg zirkulär zeige. An Erfolg und Misserfolg wird dann der eigene Selbstwert genossen oder in Zweifel gezogen oder für nicht ausreichend gewürdigt betrachtet.

In der Konkurrenz im Ausbildungs- und Berufsleben und all den davon abgeleiteten Lebensbereichen (etwa Wohnen, gesellschaftliches Ansehen etc.) bleibt es nicht aus, dass der Großteil der Bevölkerung die dauerhafte Erfahrung von Misserfolgen oder zumindest nur sich sehr bescheiden ausnehmenden Erfolgen (einen Job, der viel verlangt und wenig einbringt, eine Wohnung) macht.

Hat man nun aber die Erlaubnis zur Betätigung in der Konkurrenz, also die bloße „Chance“ zum „Glück“, als so etwas wie ein Erfolgsversprechen genommen, stellen sich notwendig Enttäuschungen ein. Viele nehmen diese Erfahrungen nicht zum Anlass, sich ihre objektive Lage zu erklären, in der ihre Interessen nur mäßig bedient werden oder ganz auf der Strecke bleiben, sondern richten sich an ein anderes Feld – nämlich an ihr Privatleben und hier insbesondere das Liebesleben – den Anspruch, stattdessen für „Glück“ und Selbstbestätigung zu sorgen. Im Grunde wird hier ein Anspruch auf Kompensation erhoben, der keine der im „Restleben“ stattfindenden Beschränkungen abschafft oder irgendwie ungeschehen machen oder ausgleichen kann. Das Privatleben im Allgemeinen und das Beziehungsleben im Besonderen wird mit dem kaum zu erfüllenden Anspruch belegt, für die Kosten des marktwirtschaftlichen Alltags zu entschädigen. Insbesondere der Sex ist zum eigenen Feld des Glücks avanciert, soll also für etwas durchaus anderes herhalten als die gemeinsame Lust an und miteinander. Ihn zu „haben“, gilt als Erfolg und wird damit dann auch zu einer Frage, an der sich bürgerliche Menschen – getrennt von allen wirklich in der Welt von kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik vorhanden Machtpositionen – ihre Leistungs- oder Erfolgsfähigkeit beweisen. Insofern (nicht einfach allgemein) geht es beim „Sex haben“ um die Bestätigung der Person, um ihren Selbstwert. Sex gilt – wie im übrigen auch andere Felder – als Möglichkeit das eigene Bild von sich als würdiger Person, der Erfolge doch irgendwie zustehen müssten gegen die Negativ-Erfahrungen des Alltags zu behaupten.

Wo Sex diesen Stellenwert als Selbstbewusstseinsaufpäppelung hat, nimmt es kein Wunder das die Art und Häufigkeit des Sex zu einem eigenen Feld des Angebens werden. Sex wird als Verkörperung von Glück, auf das man sich ein Anrecht einbildet, zum Anspruch und ihn zu haben als Ausdruck der eigener Erfolgstüchtigkeit – für Männer heißt das, dass sie Sex regelmäßig zum Prüfstein und Beweis ihrer eigenen Männlichkeit erklären. Wo das eingebildete Recht und das Selbstbild eines zum Erfolg befähigten Männer zusammen kommen, ist der Übergang zum Übergriff angelegt: Sich gegen den Willen der Frau die Bestätigung des eigenen Selbstbildes verschaffen und darin genießen, dass man einer ist, der sich nimmt, worauf er sich einen Anspruch einbildet. Verbreiteter noch als der tätliche Übergriff selbst ist die Kultur der Übergriffigkeit, in der Männer mit Blicken, Anmachen, Hinterherrufen usw. ggb. beliebigen Frauen ihr Selbstbewusstsein demonstrieren, ein zum Erfolg befähigter zu sein.

Cat callenden Männern geht es also um sich: Sie wollen sich als welche darstellen, die sich Frauen verschaffen können – und das betrachten sie als ihr Recht. Wer das Cat Callen zurückweist, durchkreuzt die Selbstdarstellung von Männern, die sich am Material von Frauen gerade als Männer zeigen wollen, die sich nehmen können, was sie wollen und worauf sie meinen ein Anspruch zu haben: Die sexuelle Befriedigung und Bestätigung durch Frauen. Diese Selbstdarstellung als potenter Mann lässt sich insbesondere auch noch einmal in einer Gemeinschaft von (gleichgesinnten) Männern genießen, vor denen man sich so beweist. Deswegen betrachten sie die Zurückweisung ihres eingebildeten Rechts auf die Frau als eine Ehrverletzung, durch die sie sich zu Beleidigungen oder Gewalttaten berechtigt sehen.

Insofern verweist die Kritik männlicher Übergriffigkeit auf eine Sorte Anspruchsdenken, die sich dem bürgerlichen Ansinnen verdankt, sich selbst und anderen die eigene Erfolgstüchtigkeit zu beweisen, sich also als ein würdiges Konkurrenzsubjekt darzustellen. Die Kritik des eingebildeten männlichen Anrechts auf Frauen verweist auf die Kritik des Mannes, der sich als bürgerliches Konkurrenzsubjekt aufführt, dass die Zwänge der Bewährung in der Konkurrenz in eine Herausforderung an sich und eine Frage seines Selbstwerts verkehrt. Insofern sind Macker ganz in den marktwirtschaftlichen Alltag eingepasste und zu ihm passende Ekel.

# Titelbild: C. Suthorn, CC BY-SA4.0, wikimedia commons

Weitere Artikel von Isidore Beautrelet findet ihr unter https://isidorebeautrelet.com

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150 Jahre §218“ – oder auch 150 Jahre Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Der „Abtreibungsparagraph“ 218, der dieses Jahr sein unrühmliches Jubiläum feiert, hat zwei Weltkriege und den deutschen Faschismus unbeschadet überstanden. Die Ursprünge dieses Gesetzes sind aber noch älter und sind Teil einer Politik gegen die körperliche Selbstbestimmung im Dienste der Logik des Kapitalismus.

„Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, so lautet der erste Satz des §218 StGB. Diese Kriminalisierung von Abtreibungen wird zwar durch den seit 1974 bestehenden mehrfach reformierten §218a aufgeweicht, Probleme haben ungewollt Schwangere trotzdem. Straffrei bleiben Schwangerschaftsabbrüche, wenn die schwangere Person in Folge sexualisierter Gewalt schwanger geworden ist, wenn die Gesundheit der schwangeren Person bedroht ist, oder unter der Bedingung, dass die schwangere Person den Abbruch innerhalb der ersten 12 Wochen nach einer sogenannten „Schwangerschaftskonfliktberatung“ sowie einer dreitägiger „Bedenkzeit“ durchführen lässt.

Die Beratung bei letzterer Ausnahme dient laut Strafgesetzbuch „dem Schutz des ungeborenen Lebens“ sowie dazu, „die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen“. Bei geringem oder keinem Einkommen muss außerdem ein Antrag für die Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt werden, wo die eigene finanzielle Situation offengelegt werden muss. Ein weiterer Schritt, der sich in Deutschland zunehmend schwierig gestaltet, ist die Suche nach Gynäkolog*innen, die Schwangerschaftsabbrüche überhaupt durchführen. In den letzten Jahren wurden Ärzt*innen, die auf ihrer Webseite darüber informierten, dass bzw. mit welchen Methoden sie Abtreibungen vornehmen, immer wieder kriminalisiert und von Fundamentalist*innen und Rechten bedroht. Folgerichtig sinkt die Anzahl der Praxen, die überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführen drastisch. Laut der Initiative Mehr als du denkst – Weniger als du denkst hat sich die Anzahl in Deutschland in den letzten 15 Jahren nahezu halbiert. In Köln zum Beispiel, einer Stadt mit mehr als einer Millionen Einwohner*innen, gibt es offiziell nur noch vier Einrichtungen, in Münster und Tübingen jeweils nur eine, in Regensburg sogar gar keine.

Selbst wenn eine Praxis gefunden ist und der in manchen Fällen entwürdigende Beratungsprozess überstanden ist, sehen sich ungewollt Schwangere oft unzähligen teils aggressiven Anschuldigungen und Verurteilungen aus der Gesellschaft ausgesetzt. Wenn man Glück hat vielleicht nicht im eigenen Umfeld, spätestens aber im Internet. Auf hilfreiche Plattformen wie z.B. die queer-feministischen Verzeichnisse gynformation oder queermed verweisen Suchmaschinen leider auf den hinteren Plätzen. Stattdessen landen ungewollt Schwangere nicht selten auf Webseiten und Foren, in denen versucht wird, sie mit Bildern und Anschuldigungen dazu zu drängen von einem Abbruch abzusehen und ins Gewissen zu reden.

Die Probleme der rechtlichen und gesellschaftlichen (Nicht-)Akzeptanz von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland sind vielfältig und zumindest in liberalen Kreisen bekannt. Was aber in vielen der aktuellen Diskussionen untergeht oder teilweise gar nicht vorkommt ist eine antikapitalistische Perspektive, bzw. eine Analyse dessen, was Klasse mit Abtreibungen und mit sexueller, reproduktiver und körperlicher Selbstbestimmung zu tun hat. Dazu lohnt sich ein Blick in die Geschichte.

Viele der Ursprünge patriarchaler Kontrolle über Sexualität und Reproduktion und Antworten auf die Frage, wie das mit Kapitalismus zusammenhängt, liegen in den religiösen und politischen Entwicklungen im Europa der frühen Neuzeit. Im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert und später dem Beginn des Kapitalismus verfestigten sich auch bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen, Sexualität und Ehe. Die Ehe wurde insbesondere von den protestantischen Kirchen zunehmend als universales Ideal für ein frommes Leben für alle beworben, und eine dementsprechende Sexualmoral und Familienpolitik entstand. Klöster, für Frauen die nahezu einzige gesellschaftlich akzeptierte Option neben dem Heiraten, wurden in protestantischen Gebieten teilweise gewaltsam aufgelöst. Schließlich sei die Bestimmung von Frauen nicht das enthaltsame Leben als Nonne, sondern Kinder zu gebären. Auch wenn sie sich „müde und zuletzt todt tragen“, schrieb damals Martin Luther höchstpersönlich, „das schadet nichts, laß’ sie nur todt tragen, darumb sind sie da“.

Sämtliche nicht-eheliche, nicht-monogame und nicht-heterosexuelle Formen von Sexualität wurden im Zuge dessen geächtet und verfolgt. Davon waren am meisten arme Frauen betroffen. Unter den Vagabund*innen und Bettler*innen, die zuvor aufgrund gewaltsamer Landenteignung vertrieben wurden und verarmten, waren viele Frauen, die als Tänzerinnen oder Prostituierte arbeiteten und als solche kriminalisiert wurden. August Bebel schrieb über die Zeit der Reformation: Den öffentlichen Frauenhäusern wurde der Krieg erklärt, sie wurden als ‚Höhlen des Satans‘ geschlossen, die Prostituierten als ‚Töchter des Teufels‘ verfolgt, und jede Frau, die einen ‚Fehltritt‘ beging, nach wie vor als Aushund aller Schlechtigkeit an den Pranger gestellt.“

Daneben stieg auch die Kontrolle und Verfolgung von Hebammen und Schwangeren, die abtrieben bzw. Abtreibungen durchführten, rasant an. Neben Hexerei wurde der angebliche „Kindsmord“ zu dem Verbrechen, für das Frauen im 16. und 17. Jahrhundert am häufigsten verfolgt und verurteilt wurden. Diese verstärkte Kriminalisierungspolitik traf nicht nur die ärmsten Schichten und Frauen am Stärksten, sondern war wie gemacht für den entstehenden Kapitalismus, der nach Arbeitskräften dürstete. Der französische Staatstheoretiker und Merkantilist Jean Bodin zum Beispiel verteufelte Frauen in seinen Werken nicht nur aufs Übelste, sondern betonte auch immer wieder die Notwendigkeit der Reproduktion von Arbeitskräften, weshalb er vorschlug, Frauen sollten mindestens fünf Kinder gebären und dass der Staat die Pflicht habe, jene „teuflischen Kräfte“ zu vernichten, die angeblich Empfängnis und Geburt sabotierten. Damit meinte er in erster Linie Hexen: ab Mitte des 16. Jahrhunderts begann auch die Hochphase der Hexenverfolgung, welcher insbesondere ärmere Frauen zum Opfer fielen.

Der Beginn des Kapitalismus wurde begleitet von dieser patriarchalen Politik, die die Körper von Frauen kontrollieren und disziplinieren wollte, die in der Literatur und nach dem herrschenden Frauenbild dieser Zeit überwiegend als gefährliche und unberechenbare Wesen dargestellt wurden, die man zähmen müsse.

Versuche seitens des Staates, Körper und Sexualität zu kontrollieren, hat es seither immer gegeben. Die beschriebenen Entwicklungen in der frühen Neuzeit sind keine isolierten historischen Ereignisse, sondern haben maßgeblich die darauffolgenden Jahrhunderte geprägt. Auch im kolonialen Raum konnten europäische Kolonialisten diese tief misogyne und patriarchale Ordnung „exportieren“ und etablieren.

Sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung ist und bleibt also eine Frage der Verhältnisse, in denen wir leben. Wer am Ende abtreiben kann ist nämlich auch eine Klassenfrage: Während über lange Zeit etwa Wohlhabende wenigstens unter einigermaßen sicheren Bedingungen abtreiben konnten, blieb ärmeren Schwangeren oft nur der illegale Eingriff, der mitunter lebensgefährlich sein konnte. So bekämpften in Deutschland lange Zeit vor allem Kommunist*innen und Sozialist*innen den „Klassenparagraphen“ 218. Legal waren Schwangerschaftsabbrüche später in der DDR, wo ab Beginn der 1970er Jahre auch die Pille kostenlos zur Verfügung stand.

Heute wird Arbeiter*innenfamilien, Migrant*innen und von Rassismus Betroffenen über Schwangerschaftsabbrüche hinaus auch insgesamt die Fähigkeit zur reproduktiven Selbstbestimmung und Verantwortung abgesprochen, zum Beispiel in Form des typischen Vorwurfs, Migrant*innen würden „zu viele Kinder“ bekommen, die sie dann angeblich nicht richtig erziehen und aufziehen könnten. Auch die Figur der „Teeniemutter“, wie sie oft im Fernsehen dargestellt ist, hat oft eine sichtbar klassistische Rahmung. Während über sie der moralische Zeigefinger erhoben wird, bleibt Selbstbestimmung etwas, was vor allem Privilegierten und Besitzenden vergönnt bleibt.

Von wirklicher Selbstbestimmung für alle sind wir aktuell also weit entfernt. Die Forderung „My Body My Choice“ im radikalen Sinne des Wortes umzusetzen, ist im bestehenden System in vielerlei Hinsicht unmöglich. Ein System, das ausbeutet, kriminalisiert, stigmatisiert, beschämt, pathologisiert, einsperrt und abschiebt steht grundsätzlich im Widerspruch zu körperlicher Selbstbestimmung. Diese Tatsache müssen wir uns bei allen feministischen Kämpfen vor Augen halten. Und aus klassenkämpferischer Perspektive wiederum müssen wir uns mit Blick auf die Geschichte vor Augen halten, dass Themen wie das Recht auf sichere und kostenlose Abtreibungen oder zum Beispiel auch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung für trans, inter und nicht-binäre Personen Bestandteil antikapitalistischer Kämpfe sind und sein müssen.

Körperliche, reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung ist nämlich niemals eine rein individuelle Frage. Damit allen Menschen kostenlose, sichere Verhütung zur Verfügung steht und das Wissen darüber allen Menschen bedingungslos zugänglich gemacht wird; damit Menschen selbst darüber entscheiden können, wie sie sich körperlich und geschlechtlich identifizieren und ausdrücken, ohne schikaniert, erniedrigt und eingeschüchtert zu werden; und damit Eingriffe wie Schwangerschaftsabbrüche legal, sicher, kostenlos und vor allem auch entstigmatisiert sind, braucht es eine ganz andere gesellschaftliche Basis, die nicht auf Ausbeutung, Individualismus und Vereinzelung, sondern auf Kollektivität und gegenseitiger Unterstützung beruht. Eine Zerschlagung patriarchaler und kapitalistischer Verhältnisse ist dafür unabdingbar.

# Titelbild: Gemeinfrei, Hexenverbrennung 1555

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In diesen Tagen wird ein Geheimnis gelüftet, das nie wirklich eins war: die Deutschrapszene ist durchzogen von sexuellem Missbrauch und Typen, für die Frauenverachtung nicht nur Stilmittel, sondern Weltanschauung ist. Wie in der ursprünglichen Metoo-Bewegung wird weniger über unbewusste Grenzüberschreitungen und mehr über gezielten, kalkulierten Machtmissbrauch gesprochen. Das ist auch sinnvoll, denn in den jeweiligen Branchen – Hollywood beziehungsweise Deutschrap – ist Machtmissbrauch das alles überschattende Thema. Es ist deshalb an uns Außenstehenden, uns klarzumachen, was aus dieser Debatte eigentlich für uns folgt, damit die Wut der Betroffenen nicht nur ein paar Wochen Gehör findet und dann wieder verhallt.

Stellvertretend für die größte Hürde, die wir überschreiten müssen, steht ein Satz, den ein mutmaßlicher Täter in der Stellungnahme zu der ihm vorgeworfenen Tat immer wieder wiederholte: „Ich bin kein Vergewaltiger“. Das oberflächliche Problem zu erkennen, fällt nicht schwer: diese Person weiß wahrscheinlich nicht, was eine Vergewaltigung ist. Täter und Opfer würden vor Gericht womöglich ein und dasselbe Geschehen schildern, und der Täter wäre sich trotzdem keiner Schuld bewusst. Widerlicher Typ.

Und sonst so? Wird die zugrundeliegende Ursache erkannt? Wird das Muster erkannt, das schon in viel früheren Stadien als beim Sex ansetzt und Frauen tagtäglich das Leben zur Hölle macht? Wird erkannt, dass hier nicht nur die individuelle Ekelhaftigkeit dieses Menschen zutage tritt, sondern die gesamtgesellschaftliche Missachtung der Autonomie des weiblichen Körpers? Ich behaupte nein, auch wegen diversen Kommentaren von Männern aus meinem Umfeld, die ausschließlich diese eine Person in Grund und Boden schimpfen, als wäre seine Mentalität ein grotesker Ausnahmefall.

Sicherlich gibt es viele, viele Männer, die willentlich und wissentlich körperliche Grenzen überschreiten. Aber gerade die „Guten“ tun das meistens einfach deshalb, weil sie nie gelernt haben, wie so eine Grenze aussieht und dass sie nicht erst da beginnt, wo sie mit physischer Kraft durchgesetzt werden muss.

Ausführliches Aufklärungsmaterial zu diesem Thema gibt es in Hülle und Fülle, und das ist auch gut und richtig so. Aber was wir derzeit erleben und die Gespräche, die wir wieder und wieder aufs Neue führen müssen, zeigen, dass es einfach nicht reicht. Es reicht nicht, mit pädagogischem Wohlwollen auf Männer zuzugehen und zum hundertsten Mal zu erklären, dass auch das Ignorieren einer Anmache genauso ein „Nein“ ist, wie eine aufgezwungene Umarmung ein Übergriff. Es reicht nicht, die Erzählungen des romantischen Eroberers in fiktiven Werken zu problematisieren, dessen unablässiges Bezirzen einer Frau, die ihn bereits abgelehnt hat, am Ende mit Sex belohnt wird. All das ist gut und muss unbedingt weiter stattfinden, aber dabei darf es nicht bleiben.

Was wir brauchen, was das Ziel unserer Bemühungen sein muss, ist ein Klima der permanenten Wachsamkeit unter Männern.

Wir müssen eine gesellschaftliche Atmosphäre schaffen, die jeden Flirtversuch zum Spießrutenlauf macht. Das ist keine edgy Übertreibung, ich meine das genau so, wie ich es sage. Jedes Mal, wenn ein Mann beim Feiern, im Café oder im Park eine hübsche Frau sieht, die er ansprechen möchte, müssen bei ihm die Alarmglocken angehen. Jedes Date muss mit der Angst verbunden sein, Grenzen zu überschreiten. Männern muss klar sein, dass sie bei allen Avancen, die von ihnen ausgehen, Gefahr laufen, zum Täter zu werden. Ja, jedes Mal.

Wer beim Lesen des letzten Absatzes gedacht hat, so kann man doch nicht leben, den beglückwünsche ich zu der Erkenntnis darüber, wie es ist, eine Frau zu sein. Für uns ist jeder Flirtversuch, dem wir abgeneigt sind, ein Spießrutenlauf, denn wir können nie sicher sein, ob eine Ablehnung akzeptiert wird. Bei uns gehen aus diesem Grund jedes Mal die Alarmglocken an, wenn sich beim Feiern, im Café oder im Park jemand an uns ranmacht. Vor Dates verschicken wir Livestandorte und vereinbaren „Rettungsanrufe“, weil wir nicht einschätzen können, ob unsere Grenzen respektiert werden. Weil uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens klar ist, dass wir Gefahr laufen, zum Opfer zu werden.

Und wer sich bisher nicht angesprochen gefühlt hat, weil er sowieso nicht datet oder zumindest keine fremden Frauen anspricht, der sei daran erinnert, dass er etliche Homies hat, die diesen Text niemals lesen werden. Wenn die Atmosphäre der Wachsamkeit der Männer Realität werden soll, müssen vor allem andere Männer dafür sorgen. Es muss soziale Ächtung nach sich ziehen, wenn einer eine Frau mehr als ein Mal nach ihrer Nummer fragt. Man muss im Freundeskreis Probleme kriegen, wenn man jedes Mal, wenn man besoffen ist, merkwürdig touchy wird oder seinen Tindermatches ekliges Zeug schreibt. Es muss ein Skandal sein, wenn einer von diesem Mädel erzählt, das sich erst voll lange geziert hat, bis sie endlich rummachen wollte. Es muss sich endlich mal eingemischt werden.

Und wer jetzt denkt, dann kann ich es ja gleich ganz lassen mit dem Flirten, dem schlage ich in aller Ernsthaftigkeit vor: ja. Lass es. Gönn den Frauen dieser Welt den Freiraum, der sich ihnen dadurch eröffnet, dass du sie in Ruhe lässt. Jeder von uns kann aus #deutschrapmetoo eine Menge lernen. Wenn die einzige Lehre ist, die man für sich aus der Debatte zieht, eine Frau im Zweifel einfach mal nicht anzusprechen, ist schon viel gewonnen. Ansonsten gilt wie immer: reflektieren, Haltung zeigen, Betroffenen glauben und ihre Stimmen verstärken.

Man kann einen Text über sexualisierte Gewalt eigentlich nur auf eine Weise beenden, Jane hat es hier vorgemacht. Einer von drei Männern in deinem Umfeld ist wahrscheinlich ein Täter. Wenn du glaubst, keiner zu sein, liegst du vermutlich falsch und wenn du glaubst, keinen zu kennen, auf jeden Fall. Und wenn du nicht willst, dass alle Frauen in deinem Umfeld in Angst leben, musst du aktiv dafür sorgen, dass die Täter es tun.

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Das viele Richtige, das manche der Wagenknechtschen Kritiken enthalten, schlägt schon durch die Form in der es vorgetragen wird, ins Falsche um. Die Kritik folgt stets dem gleichen Muster: Ein ums andere Mal, wird ein Widerspruch durchaus analytisch präzise identifiziert, nur um diesen dann auf platteste Art und Weise zu einer Seite hin aufzulösen. Ein Gastbeitrag von Adrian Paukstat

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch beschrieb vor gut zwanzig Jahren die politischen Gesellschaften Mitteleuropas und Nordamerikas als „Postdemokratien“. Dieser Begriff beschrieb für ihn den demokratischen Verfall eines politischen Gemeinwesens, in dem Politik zur kulturindustriellen, über PR-Strategen und Massenmedien vermittelten Manipulation degeneriert, die nur noch Scheinalternativen bietet, die aber allesamt der gleichförmigen Verwaltung sogenannter „Sachzwänge“ entsprechen. Innerhalb dieser spezifisch neoliberalen Herrschaftsform spielt, so Crouch: „Die Mehrheit der Bürger […] eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“

Diesen Zuständen entspricht ein spezifisches Bewusstsein beim Personal der politischen Apparate. In der Wahrnehmung des postdemokratischen Berufspolitikers fällt Politik schlechthin mit dieser spezifischen Form der Massenmanipulation zusammen. Politisches Handeln – das Hannah Arendt einst emphatisch als das gemeinsame Schaffen des Neuen mit anderen im politischen Raum verstand – degeneriert zu einer Art soziographisch informierter Sozialtechnologie, die rational-mechanisch ermittelt, welche Werbephrasen, mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit welche Reaktionen hervorrufen, um dann die dergestalt ermittelten Sprechblasen auf Plakate zu drucken.

Sahra Wagenknechts neuester Einwurf in die innerlinke Strategiedebatte muss in erster Linie vor dem Hintergrund dieser Gegenwartsdiagnose gelesen werden. Denn bei allem Bohei um die privilegierten Akademikerkinder die ‚uns‘ mit ‚ihren‘ Sprachverregelungen traktieren, den Nationalstaat abschaffen und mit „bizarren“ homo-, bi-, trans- und weißderteufelwasfür-sexuellen Anerkennungsforderungen nerven, bleibt ein – durchaus privilegierter – Klassenstandpunkt nämlich eigentümlich unterreflektiert: der von Wagenknecht selbst.

Das Politikverständnis das ihrem Buch zugrunde liegt, ist das des prototypischen postdemokratischen Berufspolitikers. Aus nachgerade jedem Satz springt einem das Kalkül entgegen, mit den richtigen Phrasen die richtigen Ressentiments beim Wahlvolk zu triggern, um letzteres zur Stimmabgabe in seinem Sinne zu bewegen. Auffallend daher auch die ausufernd soziographische und wahl-statistische Natur der Argumentation in Wagenknechts Buch und der Debatten darüber in den sozialen Medien, in der das „Wähler gewinnen“, Wagenknechts „Beliebtheit“ und die diversen kulturindustriellen Manipulationsstrategien die dies impliziert, stets zum Todschlagargument gegenüber allem Inhaltlichen mutieren.

Selten in der Geschichte der Linken wurde politische Mobilisierung als dermaßen plumpe Aufforderung einer implizit als passiv vorgestellten Masse an sogenannten „einfachen Leuten“ nach dem Mund zu reden, verstanden, wie Wagenknecht es offensichtlich im Sinne hat. Schon der, gewiss aller ‚linksliberalen‘ Umtriebe gänzlich unverdächtige, Vladimir Lenin war der Meinung, dass das spontane Bewusstsein des Proletariats nur zum reformistischen Trade-Unionismus reiche und es ist schwerlich vorstellbar, dass historische Emanzipationsforderungen die heute zum klassischen Kanon linker Traditionspflege gehören, wie beispielswiese das Frauenrechtwahlrecht aus dem spontanen Bewusstsein der Kohlekumpels und Metallarbeiter gleichsam emergiert wären, hätten nicht ein paar privilegierte Intellektuelle ihnen diese bizarren Minderheitenforderungen als ihre ureigenen Interessen nahegelegt. Ganz im Gegenteil, die ersten Gewerkschaften und Arbeitervereine sprachen sich gegen das Frauenwahlrecht aus, erst unter dem Einfluss der Schriften Bebels und Engels änderte sich dies in den 1880er Jahren.

Der Punkt hierbei ist nicht, eine Art Philosophenkönigtum der Linksintellektuellen zu rechtfertigen oder neue Avantgardetheorien zu spinnen, sondern ganz einfach die Tatsache, dass sich revolutionäres (oder auch nur halbwegs progressives) Bewusstsein, wo auch immer es entstand, stets in einem dialektischen Prozess der wechselseitigen Durchdringung von Intellektuellen und subalternen Klassen gebildet hat. Das bedeutet vor allem: In Auseinandersetzung mit dem Anderen. Wagenknechts Argument zielt jedoch darauf ab, diese Auseinandersetzung gerade zu unterbinden, die linke Intelligenzija durchgehend als Feindbild aufzubauen, und sich stattdessen illusionären Unmittelbarkeitsvorstellungen über das was den „kleinen Mann wirklich bewegt“ hinzugeben. Was hier nach dem Muster kulturindustrieller Manipulation, die in gleicher Weise von sich selbst glaubt, den Massen doch nur zu geben was diese verlangten, produziert wird, ist nicht mehr als das kollektive Kochen im eigenen Saft. Die Rede vom „Die Leute da abholen wo sie stehen“ hat durchaus ihre Berechtigung, nur würde letzteres implizieren dann auch irgendwo mit Ihnen hinzugehen. Wagenknecht möchte sich nur dazustellen und stehenbleiben. Dementsprechend fehlt in ihrem Buch, das sich phasenweise liest, als hätte die Autorin einen Katalog plumper Ressentiments buchstäblich abgearbeitet, kein platter Allgemeinplatz, solange er nur niedrige Instinkte evoziert. Von den hysterischen Weibern, mit denen man jetzt nicht mehr flirten darf, bis zu den Studenten die erstmal arbeiten gehen sollen.

Auseinandersetzung hingegen würde zuvorderst bedeuten, zu reflektieren, dass Intellektuelle und subalternen Klassen in einer ähnlichen Beziehung zueinander stehen, wie Kant dies einst über Anschauung und Begriff formuliert hat: Die reine subalterne Repressions- und Herrschaftserfahrung ist ebenso blind, wie die reinen Begriffe der Intelligenzija leer sind. Da wo die Linke erfolgreiche Strategien sozialer Hegemonie entwickelt hat, tat sie dies stets in einer Form, in der sich diese Milieus (und damit Anschauung und Begriff) organisch durchdrungen. Die kommunistischen Bewegungen Italiens und Frankreichs entwickelten ihre Hegemonien, weil sich der Kollege am Band bei Peugeot oder Fiat und Jean-Paul Sartre oder Pier Paolo Pasolini gleichermaßen als Teil einer kämpfenden Bewegung verstanden. Überall wo diese Kämpfe zu Erfolgen führten, bestand einer ihrer unabdingbaren Teile im Beitrag der Träumer, Denker, Dichter, der wurzellosen Kosmopoliten und Handlungsreisenden der Weltrevolution. Es waren stets konservative Spaltungskampagnen die diese Bündnisse, im Rekurs auf wahlweise antiintellektuelle, katholische, oder nationalistische Ressentiments aufbrachen. Und zwar in nicht unähnlicher Weise wie auch Wagenknecht gegen die linken Akademiker giftet.

Großartigstes Beispiele für eine solche Synthese ist die von Wagenknecht selbst verhöhnte Revolte 1968, die in Frankreich immerhin dazu führte, dass ein Bündnis aus Studierenden und Arbeitern Charles de Gaulle aus dem Land gejagt und die herrschende Klasse dazu gebracht hatte, den Streikenden eine Erhöhung des Mindestlohns um 35% anzubieten. Ausgangspunkt des Pariser Mai war übrigens zunächst die – im besten Sinne „lifestyle-linke“ – Forderung der Studenten nach „ungehindertem Zugang zu den Mädchen-Wohnheimen“. Am Anfang standen also ganz und gar keinen ‚sozial-linken‘ Bedürfnisse und am Ende zwar nicht die erhoffte Revolution, aber dennoch präzedenzlose Errungenschaften französischer Arbeitskämpfe. List der Vernunft, hätte Hegel gesagt.

Nachgerade frech wird es, wenn Wagenknecht erfolgreiche Beispiele linker Sammlungsbewegungen als Kronzeugen für sich selbst aufruft. Hat schon die Strategie Labours unter Jeremy Corbyn rein Garnichts mit dem was Wagenknecht propagiert gemein, wird der Vergleich vollends absurd, wenn sie ausgerechnet Bernie Sanders als Stellvertreter des progressiven Flügels der Demokraten heranzitiert. Haben doch Sanders, Ocasio-Cortez und die anderen amerikanischen Sozialist*innen ihre seit den Tagen Roosevelts präzedenzlosen politischen Siege für die Linke – wie die zuletzt durchgesetzte Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Dollar – aus Basis einer Strategie eingefahren, die in nahezu allen Punkten das diametrale Gegenteil von dem ist, was Wagenknecht vorschlägt. „Defund the Police!“, statt mehr Polizei, „Abolish ICE!“ (das Exekutivorgan der Einwanderungsbehörde) statt nationale Wohlstandsverwahrung. In einem Satz: Solidarität von unten statt Entsolidarisierung. Trump selbst, für Wagenknecht lebender Beleg für die Konsequenzen laxer linker Migrationspolitik, hat den Demokraten krachende Niederlagen aufgrund dieser Forderungen prophezeit. Das Gegenteil war der Fall, Trump ist Geschichte und beide Kammern des Kongresses sind, auch und vor allem dank Wahlsiegen progressiver Demokrat*innen in demokratischer Hand. Breite, solidarische Bündnisse von unten sind möglich und wirksam. Vielleicht auch deswegen, weil eine ihrer Galionsfiguren, Alexandria Ocasio-Cortez, ihre „Beliebtheit“, nicht aus einem von PR-Spezialisten produzierten Personenkult bezieht, sondern der Tatsache, dass sie, eine ehemalige Kellnerin aus der Bronx, im besten Sinne „Tochter ihrer Klasse“ ist.

Auch die migrationspolitischen Punkte scheinen mehr Nebelkerze als ernstgemeintes Argument. Die plumpe Identifikation: Neoliberalismus = Grenzöffnung, provoziert die Frage warum dann Thatcher und Reagan eigentlich nicht den Nationalstaat abgeschafft haben? Historisch entspricht dem Kapitalismus auch und gerade in seiner neoliberalen Form nämlich weder kategorische Öffnung noch Schließung der Grenzen, sondern eher das was Michel Foucault eine Gouvernementalisierung der Migration nennen würde: Erratische und willkürlich-rassistische Regulationsmechanismen wurden schrittweise durch ein sich an den Verwertungsimperativen des Kapitals ausrichtendes flexibles „Management“ ersetzt. Kategorisches Grenzöffnen ist nicht, war noch nie und wird niemals im Interesse des Staats als ideellen Gesamtkapitalisten sein, bestenfalls zeitweise im Interesse sehr spezifischer Kapitalfraktionen.

Worauf Wagenknecht hier sehr viel eher abzuzielen scheint, ist, bei Wahrung des bürgerlichen Tonfalls, unter der Hand die Anschlussfähigkeit an Verschwörungsideologien a la „Großer Austausch“ zu sondieren. Zusammen mit den kategorischen verbalen Angriffen auf Geflüchteteninitiativen wird so die Scheinalternative zwischen realpolitisch-vernünftiger Migrationspolitik einerseits, und den Wolkenkuckucksheimen der linksliberalen Gutmenschen andererseits konstruiert. Gerade so als ginge es bei Moria und dem Massengrab Mittelmeer um irgendwelche Utopien universeller Bewegungsfreiheit, statt um das nackte zivilisatorische Minimum. Wagenknecht schafft es hierbei rhetorisch geschickt, tatsächliche Baustellen linker Migrationspolitik, mit Fragen akuter Nothilfe zu vermengen, was es ihr erlaubt das undifferenzierte Gesamturteil „Grenzen dicht!“ zu treffen. Denn weder die Notwendigkeit gezielterer Hilfe vor Ort, noch eine andere Entwicklungshilfepolitik, noch die Beendigung des gezielte Abwerbens von Fachkräften aus Osteuropa, könnten kurzfristig etwas an der unmittelbaren Notwendigkeit sicherer Fluchtwege ändern. Bezeichnenderweise wird das Grenzregime der EU (alles andere als ein Shangri-La der Bewegungsfreiheit) oder die schmutzigen Deals mit Erdogan und den libyschen Banden mit keiner Silbe erwähnt.

Eines ist richtig: Geflüchteten die Grenzen zu öffnen ist kein emanzipatorisches Ziel an sich, sondern prekärer Notbehelf in einer Weltgesellschaft die Geflüchtete hervorbringt. Brain-Drain ist ein reales Problem (gerade emanzipatorische Projekte wie Rojava können ein Lied davon singen) und das aggressive Abwerben von Fachkräften in Osteuropa, ein tatsächlich stiefmütterlich behandeltes Thema in der Linken. Daran muss auch so mancher erinnert werden, der zur Romantisierung von Migration neigt – wobei die große Mehrheit derjenigen die tatsächlich on the ground in diese Kämpfe involviert sind, diese Neigungen sicher deutlich weniger entwickeln.

So verhält es sich mit dieser Kritik, wie mit nahezu allen anderen Kritikpunkten an der eigenen politischen Bewegung. Das viele Richtige das manche der Wagenknechtschen Kritiken enthalten, schlägt schon durch die Form in der es vorgetragen wird, ins Falsche um. Die Kritik folgt stets dem gleichen Muster: Ein ums andere Mal, wird ein Widerspruch durchaus analytisch präzise identifiziert, nur um diesen dann auf platteste Art und Weise zu einer Seite hin aufzulösen. Feministische, postkoloniale oder rassismuskritische Diskurse können dazu beitragen, Klassenunterschiede zu verwischen und der herrschenden Klasse einen regenbogenfarbenen Anstrich zu verpassen? Ok, dann weg damit. Dieses Muster wird Kapitel für Kapitel, Bewegung für Bewegung stur durchdekliniert, bis man beim kleinsten gemeinsamen Nenner gelandet ist: Der kleine deutsche Mann, dessen Befindlichkeiten ähnlich absolut gesetzt werden, wie in anderen Kreisen das Sakrileg als Weiße*r Dreadlocks zu tragen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass jede der kritisierten Bewegungen ihre blinden Punkte hat: Migrantische Kämpfe sind nicht notwendigerweise Arbeitskämpfe, Anerkennungs- nicht notwendigerweise Umverteilungsforderungen. Schlechtesten falls kann eines gegen das andere ausgespielt werden. Und Wagenknecht macht genau das. Solidarische Kritik würde darauf reagieren, indem sie versucht die Widersprüche zwischen diesen zu vermitteln, statt im Schielen auf Wahlergebnisse forcierte Entsolidarisierung zu betreiben. Genau hier befindet sich die Achillessehne der Argumentation Wagenknechts. Die alles verbindende Grundthese, nämlich dass diese Kämpfe nicht widersprüchliche Bezüge aufeinander aufweisen, sondern schlechterdings unvereinbar wären, verstellt den Blick für progressive Potenziale. Ein Beispiel hierfür wäre das Thema politischer Islam. Antwort hierauf müsste die Stärkung von Strukturen progressiver migrantischer Selbstorganisation sein, die in Form vor allem der türkischen Linken und der kurdischen Bewegung eine lange Tradition in Deutschland haben und an vielen Orten buchstäblich die einzigen lebensweltlich fest verankerten Gegenkulturen zum islamistischen Milieu in migrantischen Gesellschaften darstellen. Nicht nur werden diese Strukturen nicht unterstützt, sie werden aktiv kriminalisiert. Für diese Potenziale muss allerdings blind bleiben, wer die Problematik ausschließlich in Kategorien von deutscher Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit betrachtet.

Hier schließt sich der Kreis am Ausgangspunkt des basalen Politikverständnisses. Denn die Vermittlungen dieser Widersprüche sind kein frommer Wunsch. Faktisch werden sie jeden Tag vollzogen, auf der Straße, in den Betrieben, an den Universitäten. Und zwar von denjenigen die tatsächlich an der Basis in diese Kämpfen involviert sind, anstatt durch Talkshows zu tingeln. Ob Verdi und Fridays for Future gemeinsame Streikaktionen organisieren, linke Thinktanks sich Konzepte für eine sozial-ökologische Wende überlegen, Black Lives Matter und Gewerkschaften die potenziale anti-rassistischer Sozialpolitik ausloten, oder sich im Zuge des Terroranschlags von Hanau überall in Deutschland Migrantifa-Strukturen bilden, die zu bemerkenswerten Sammlungsbewegungen für eine neue Generation türkischer, kurdischer, arabischer und jüdischer Genoss*innen wurden.

Die neoliberale Gesellschaft parzelliert, vereinzelt, vereinsamt die politischen Subjekte. Und ja, auch manch populäre Schwundform Foucaultscher Theoreme mag daran ihren Anteil haben. Wagenknecht stellt allerdings diesen „Identitätspolitiken“, lediglich ihre eigene an die Seite. Die Bedeutung von Solidarität wäre es, diese zu überwinden. Diese kann nur von unten geschaffen werden. Demokratie braucht in der Tat einen Demos, ein „Wir“, wie es sich im „We, the people“ der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung artikuliert. Nicht zufällig beginnt wohl auch der Gesellschaftsvertrag von Rojava, ebenso wie die Unabhängigkeitserklärung Vietnams mit diesen Worten. Von oben zusammengehalten werden aber kann dieser Demos nur durch Manipulation und Appell ans Ressentiment. Von unten entsteht er in den emanzipatorischen Bezügen der Bewegungen und politische Subjekte aufeinander, die niemals konfliktfrei sein können, eben weil ihre Beziehungen aus den Kämpfen selbst erwachsen. Eine solche, nennen wir sie – auch der augenzwinkernden Provokation halber – in Anlehnung an Derrida, „kommende“ Gemeinschaft, entsteht nicht in Anrufung essentialistischer Identitäten, sondern in den politischen Handlungen, buchstäblich in den Kämpfen selbst. Ihr Inhalt ist nicht passive Identifikation mit dem Gegebenen und als gemeinsam Vorgestellten, sondern Wette auf die Zukunft im Medium des politischen Kampfes. So könnte Gerhard, der bei Opel am Band steht und die genderqueere TransaktivistX vielleicht feststellen, dass ihre jeweiligen Forderungen und Bedürfnisse nur sehr, sehr wenig mit der Lebenswelt des jeweils anderen zu tun haben, aber, dass sie das auch nicht müssen. Es genügt das Versprechen für den jeweils anderen zu kämpfen, wenn er für einen selbst kämpft. Diese Gemeinschaft ist nicht im präsentischen Sinne einfach vorhanden, sie wird aber präfiguriert in den sie begründenden Kämpfen. Sie wird autonom geschaffen, nicht heteronom verordnet. Darin bestünde im emanzipatorisch-politischen Sinne der eigentliche Gehalt der berühmten Worte eines großen Philosophen, über den Wagenknecht vor sehr langer Zeit einmal ihre Magisterarbeit schrieb und an den man sie vielleicht erinnern sollte: „Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.“

# Titelbild: public domain

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Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.

Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.

Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.

Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.

Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.

Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.

An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.

Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.

Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.

#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense

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Am 27. Januar entschied das Verfassungsgericht über ein neues Abtreibungsgesetz aus dem Oktober letzten Jahres welches Schwangerschaftsabbrüche weitestgehend illegalisiert.​​​​​​​ Es formierte sich noch am Abend Protest. Was bedeutet das Gesetz für Pol*innen und welche Perspektive bleibt? Aus Warschau von Toni Koch und Bent Bosker.

Am 27. Januar trat in Polen ein Gesetz in Kraft, das Schwangerschaftabbrüche weitestegehnd illegalisiert. Bisher war es möglich einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund triftiger Gründe durchführen zu lassen.Bereits im Herbst 2020 hatte das Verfassungsgericht ein Urteil gefällt, sich aber mit der Urteilsbegründung ungewöhnlich lange Zeit gelassen. Deswegen tritt das neue Gesetz erst jetzt in Kraft. Es illegalisiert und kriminalisert Abtreibungen von nicht lebensfähigen Föten und bereitet mit seiner Begründung ein totales Abtreibungsverbot vor. Viele Pol*Innen, die unter den sowieso schon schwierigen Umständen einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch bekommen haben, werden diesen nicht durchführen dürfen. Die Termine werden gecancelt. Ärzt*Innen die Beihilfe dazu leisten, wie Medikamente verschreiben oder den Abbruch durchführen, machen sich strafbar.

Polen hatte ohnehin schon eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in der EU.

Bisher war ein Schwangerschaftsabbruch nur in seltenen Fällen möglich, so etwa nach einer Vergewaltigung oder wenn das Leben der Mutter akut bedroht war.Bereits 2016 lehnte das Parlament eine weitere Verschärfung der Schwangerschaftsabbrüche nach heftigen Protesten ab, wohl auch wegen des prognostizierten Einbruchs der Wählerstimmen für die rechtskonservative Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ PiS. Doch nach den Neuwahlen 2019 initiierte diese das neue Gesetz. Frauenrechtsorganisationen schätzen die Anzahl von illegalen Schwangerschaftsabbrüchen in Polen und von Menschen, die diese im Ausland durchführen, auf bis zu 200.000 jährlich. Dahingegen werden weniger als 2.000 Abbrüche legal vorgenommen. Mit der seit heute geltenden Gesetzeslage drohen Ärtz*innen die trotz des Verbots Schwangerschaftsabbrüche anbieten oder durchführen, mehrere Jahre Haft.

Noch am Abend des 27. Januars rief die Bewegung Strajk Kobiet (Frauenstreik), die schon seit 2016 für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts kämpft, zu Demonstrationen auf. Mindestens 2.000 Menschen liefen durch Warschaus Straßen, nach Angaben der Organisator*innen fanden darüber hinaus in insgesamt 46 weiteren Orten in Polen Demonstrationen statt. “Warschau, Tausende. Marschieren zum Sitz allen Übels” twitterte die Initiative abends, als sich der Demozug ausgehend vom Verfassungsgericht in Bewegung setzte. Vor Kirchen versammelten sich spärlich nationalistische Hooligans zusammen mit Polizist*innen, nachdem im letzten Jahr Demonstrant*innen einige Kirchen stürmten. Die Stimmung auf der Demonstration dieses Jahr war gedrückt, sie wirkte trotz Musik und Parolen wie eine Beerdigung.

Das neue Gesetz war bereits im Oktober durch das Verfassungsgericht genehmigt worden, schon damals demonstrierten Zehntausende auf Polens Straßen. Mehrere Hundert Menschen machten sich auf den weg zum Haus des PiS-Parteichefs Jaroslaw Kaczynski, wo es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.

Das Gesetz wird aber nicht nur wegen seiner offensichtlichen Frauenverachtung kritisiert, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Rechtswissenschaftler Mikołaj Małeckis schrieb noch am selben Abend für sein Magazin “Dogmaty Karnisty”, welches sich rund um das polnische Strafrecht dreht, dass er das Gesetz allein schon durch die Art und Weise der Einführung, also die lange Verschleppung der Begründungsverlesung, für verfassungswidrig hält.

Die Gesetzesbegründung folgt dabei der Leier von selbsterklärten „Lebenschützer*innen“. Der Embryo wird juristisch durch Sprache und Form zu einem vollwertigen Menschen erklärt. Damit erhält ein Embryo von Beginn der Schwangerschaft an Menschenrechte.

In dieser Logik entsteht dann, wenn durch eine Schwangerschaft das Leben der schwangeren Person in Gefahr ist, ein moralisches Dilemma. Das Gericht vergleicht diese Situation mit der, in der ein Flugzeug von Terroristen gekapert wird und auf die Stadt zufliegt. Es sei nun eine Entscheidung die zwei Leben gegeneinander abwäge. Nicht nur deswegen sehen viele Polen auf dem Weg in ein komplettes Abtreinbungsverbot.

Die fundamentalistischen Annahmen spiegeln sich auch in der verwendeten Sprache wieder: Anstatt “Schwangere” steht dort “Mutter” – Ein klares Zeichen, dass das Gesetz eine schwangere Person nicht mehr als eigenständiges Wesen sieht, sondern ihr eine bestimmte Funktion zukommen lässt und den Embryo sprachlich als volles menschliches, scheinbar schützenswertes Wesen etabliert.

Auch wird der Begriff “Kind” statt “Embryo” in Verbindung mit “ungeborenem Leben” verwendet, was suggeriert, dass ein Embryo bereits ein Lebewesen sei, es also zu dem oben beschriebenen moralischen Dilemma komme, welches Leben zu schützen sei und im Zweifel die schwangere Person ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung verbüße. „Das Gesetz wirkt nicht wie von Richtern – sondern von einem Priester geschrieben.“, erklärt deswegen die polnische Juristin Kamila Ferenc bei OKO.press.

Es wäre aber falsch zu glauben, so reaktionäres Gedankengut finde nur in Polen Eingang in Gesetze. Auch in Deutschland ist diese Ideologie seit eh und je Grundlage juristischer Entscheidungen. So wurde beispielsweise im November 2017 die Ärztin Kristina Hänel vom Amtsgericht Gießen nach § 219a verurteilt. Dieses aus der NS-Zeit stammende Gesetz verbietet es für Schwangerschaftsabbrüche öffentlich zu werben. Das Gericht wertete die Informationen über verschiedene Methoden des Schwangerschaftsabbruchs auf Hänels Homepage als solche „Werbung“. Hänel legte gegen diese Entscheidung zwar Rechtsmittel ein, das zuständige Oberlandesgericht Frankfurt a.M. bestätigte nun aber die Entscheidung des Amtsgerichts. Der Fall landet jetzt beim Bundesverfassungsgericht.

In Polen kündigten Aktivist*innen derweil ab Donnerstag Blockaden in Warschau an, am Wochenende sollen weitere Demonstrationen stattfinden. Im Anschluss an die Demonstration vom Mittwoche sagte uns eine Aktivistin: “Wenn der Staat solche Grenzüberschreitungen an seiner Bevölkerung vollzieht, dann muss er mit Konsequenzen rechnen. Diese Konsequenz ist entweder Resignation, wie wir sie heute auf der Demo gesehen haben, oder sie verwandelt sich in Wut und Visionen. In Utopien wie eine befreite Gesellschaft aussehen kann. In der keine Macht, kein Staat mehr Zugriff auf die Körper hat die ihn tragen. Diese Entscheidung wird die nächsten Tage fallen müssen.”

# Titelbild: Toni Koch, Demo vom 28. Janar vor dem Verfassungsgericht

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