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Am selben Tag, an dem der Bundestag den Opfern des Nationalsozialismus gedenkt, fällt die sogenannte „Brandmauer“. Elon Musk treibt den internationalen Zusammenschluss der Faschisten voran und die mächtigsten Fraktionen des Kapitals stellen ihre Unterstützung von Donald Trump offen zur Schau. Die Versuche, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen, wirken vielerorts hilflos. Die moralischen Appelle, die angesichts der Widerwärtigkeit der momentanen Debatte um Geflüchtete natürlich jedes Recht haben, scheinen dem „Rechtsruck“ wenig entgegensetzen zu können. Der Kampf gegen den Faschismus muss aus dieser Sackgasse der Begriffslosigkeit entkommen. Die Aufklärung über das Unbewusste, auf der gesellschaftlichen wie der individuellen Ebene, ist die Bedingung, um der falschen Alternative zwischen Faschismus und neoliberalem „Weiter so“ einen emanzipatorischen Ausweg entgegenzusetzen. An der kritischen Theorie führt dabei kein Weg vorbei.

Ein Beitrag von Christoph Morich


Die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit kommt an ihr verdientes Ende. Am selben Tag, an dem der Bundestag anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz den Opfern des Nationalsozialismus gedachte, vollzogen CDU und FDP den „Dammbruch“, indem sie erstmals gemeinsam mit der – von Sympathisant:innen des Nationalsozialismus durchsetzten – AFD für eine Verschärfung der Asylgesetzgebung stimmten. Die freut sich derweil über einen erneuten Gastauftritt des reichsten Manns der Welt, der dabei ist, die internationale Vernetzung des Faschismus voranzutreiben. Der Zusammenschluss von Kapital und autoritärem Staatsapparat bei der erneuten Vereidigung eines Wahnsinnigen zum amerikanischen Präsidenten wurde öffentlich zur Schau gestellt. Im Hause Springer ist der Freude über die bevorstehende Zusammenarbeit der CDU mit der AFD kaum noch Einhalt zu gebieten, und auch der Hitlergruß des Helden aus dem Silicon Valley scheint sich gut mit dem eigenen Verständnis von Liberalismus zu vertragen. Blickt man auf die Wahlprognosen, scheinen die deutschen Wähler:innen andere Parteien für fähiger zu halten, mit der Ankündigung der Ampelregierung, im großen Stile abzuschieben, ernst zu machen. SPD und Grüne stellen sich jetzt zwar mit in das „Lichtermeer gegen den Rechtsruck“, haben in ihren Wahlprogrammen aber längst die Fortsetzung der Politik ihrer Regierungszeit beschlossen: die Aushöhlung des Rechts auf Asyl, das 1951 im Zuge der Genfer Flüchtlingskonvention als Reaktion auf den Holocaust und die Weigerung vieler Staaten, den späteren Opfern Schutz zu gewähren, verabschiedet wurde. Um inhaltliche Differenzen scheint es nicht mehr zu gehen. Die SPD appelliert eindringlich an die CDU, dass es die AFD gar nicht brauche, um ausländerfeindliche Politik zu machen. Und Robert Habeck macht mit seinem 10-Punkte-Plan zur Entrechtung von Geflüchteten klar, dass menschenverachtende Politik jetzt auch ganz verständnisvoll und im Strickpullover zu haben ist. Nüchtern betrachtet, unterscheiden sich die Wahlprogramme aller Parteien im Jahr 2025 in Deutschland nur in der Frage, in welchem Ausmaß man bereit ist, jenen, die vor Armut, Krieg und Folter fliehen, den Schutz zu verwehren.


Die Medien verkünden quasi einhellig, dass das Thema Migration nun als bestimmendes Thema für den Wahlkampf gesetzt sei. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schließlich waren sie in den letzten Jahren fleißig daran beteiligt, Migration als das einzige Thema darzustellen, bei dem es einen fundamentalen Widerspruch zwischen Politik und den Interessen der Bevölkerung zu geben scheint. Mögliche Interessenkonflikte in ökonomischen Fragen bleiben dagegen eine Randnotiz. So schafft es der jährlich veröffentlichte Oxfam-Bericht zur globalen Ungleichheit traditionell in jeweils einen Zeitungsartikel der linksliberalen Zeitungen. Gleichzeitig ist es mittlerweile absolut unmöglich noch irgendwelche Nachrichten zu verfolgen, ohne mit den Problemen der deutschen Gesellschaft konfrontiert zu werden, die in erster Linie durch die Migration verursacht würden. Entsprechend weiß dann auch ein jeder, dass die deutschen Kommunen durch die vielen Migrant:innen überlastet sind, während es bezüglich der Tatsache, dass zwei Familien mehr Vermögen besitzen als die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung (ca. 42 Millionen Menschen), nur sehr wenig Interesse seitens der Medien und der Politik gibt, die Bevölkerung zu informieren.


Und auch bei dem Thema Migration ist man kaum um eine Berichterstattung bemüht, die den Problemzusammenhang in einem globalen Kontext einordnet und von verschiedenen Seiten zu beleuchten versucht. Die ganze Migrationsdebatte drehte sich von Anfang an in erster Linie um die Frage, wie viele Geflüchtete man bereit ist, in Deutschland aufzunehmen. Dabei setzen sich nun zunehmend jene Stimmen durch, die das bestehende Rechtssystem in Deutschland abschaffen wollen, um die Abschottung gegenüber fliehenden Menschen weiter voranzutreiben. Dieser Rechtsruck wird von der medialen Berichterstattung begleitet. Kein Ereignis – sei es der Sturz des Assad-Regimes, der Terroranschlag eines AFD-Anhängers in Magdeburg oder zuletzt die Messerattacke von Aschaffenburg – ohne dass am selben Tag eine Debatte über Abschiebungen und eine Verschärfung des Asylrechts vom Zaun bricht. Über einzelne Straftaten von Geflüchteten wird breit und ausführlich berichtet. Die Opfer bekommen ein Gesicht und die Trauer einen Platz in der Öffentlichkeit. Diese Empathie gegenüber ihrem Leiden erfahren Geflüchtete in der Regel nicht. Der tödliche Weg durch die Wüste oder über das Mittelmeer, die Folterlager in Libyen, das jahrelange Leben in 6-Bett-Zimmern in Gemeinschaftsunterkünften, ohne die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und die tägliche Angst, vor der Abschiebung in das Heimatland, der nicht wenige den Selbstmord vorziehen, unterliegen dem Tabu eines kollektiven Verdrängungsprozesses der aufnehmenden Gesellschaft, der durch die Erzählungen persönlicher Schicksale gefährdet würde. In ihrem Buch „Den Schmerz der anderen begreifen“ bemerkt Charlotte Wiedemann über die Spezifika der deutschen Erinnerungskultur, die Empathie zwar gegenüber den jüdischen Opfern der Vergangenheit empfindet, aber unfähig scheint diese auch den Opfern der Gegenwart zukommen zu lassen: „Die Gründe, weshalb sie sich auf den Weg gemacht haben, scheinen nicht gewichtig genug, um sie dann all dem Elend an den Außengrenzen der Europäischen Union auszusetzen. Insgeheim werfen wir den Schutzsuchenden vor, dass sie uns zwingen, solche grauenhaften Lager einzurichten, wo sie – wie auf Moria – fernab der Zivilisation hinter NATO-Draht gehalten werden. Die Redensart, die Deutschen würden den Juden Auschwitz vorwerfen, habe ich trotz der aufklärerischen Absicht immer für allzu zynisch gehalten. Aber auf einer ganz anderen Ebene trifft vielleicht die Aussage: Wir werfen den Geflüchteten Moria vor.“ Es sind nur wenige Journalist:innen, die auch den Opfern der gegenwärtigen Abschottungspolitik ein Gesicht geben und Empathie gegenüber ihrem Leiden einfordern.


An die Anonymisierung der Geflüchteten knüpfen rassistische Theorien an, indem sie die Gesichtslosen zu bloßen Objekten degradieren, von denen potenziell immer schon Böses befürchtet werden muss. Wer sich heute eine Rede von Friedrich Merz anhört, erkennt, wie weit dieser Prozess der Entmenschlichung bereits vorangeschritten ist. Die Masken fallen und der Hass gegen Ausländer kann wieder offen geschürt werden. Mit Erfolg. Bei einer Gedenkveranstaltung in Aschaffenburg in dieser Woche entschuldigte sich ein 12-jähriges Mädchen aus Afghanistan unter Tränen bei den Eltern der Opfer. Dazu sah sie sich aufgrund ihrer Herkunft gezwungen. Der Rassismus, der nie weg war, ist wieder auf dem Vormarsch. Über sein neues Gewand bemerkte bereits Theodor W. Adorno: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“ Mit diesem Herrschaftsanspruch scheint Donald Trump nun auf staatlicher Ebene ernst zu machen. Und wie die Niederlage von Kamala Harris deutlich gezeigt hat, ist dieser Entwicklung nicht mehr durch einen politischen Gegenentwurf beizukommen, der lediglich darin besteht, nicht der Faschismus zu sein. Die sich zuspitzenden Krisen des Kapitalismus bedürfen einer Antwort. Sind die emanzipatorischen Kräfte zu schwach, ist diese Antwort regressiv. Es bedarf der Aufklärung über den Zusammenhang der Verschlechterungen der Lebensverhältnisse, die im Alltag der Menschen zunehmend spürbar werden, mit den zugrundeliegenden Bewegungsgesetzen der Gesellschaft. Nur wenn die scheinbar naturwüchsigen gesellschaftlichen Verhältnisse als „Pseudonatur“ (Helmut Dahmer) dechiffriert werden, indem sie als historisch gewordene – und somit auch in der Zukunft veränderbare – begriffen werden, können sie selbst zum Gegenstand der Kritik werden.
Ohne Aufklärung über die gesellschaftlichen Verhältnisse, welche schon Karl Marx ironisch als „zweite Natur“ bezeichnete, lassen sich die krisenhaften Erscheinungen der Gegenwart nicht begreifen. Blickt man auf die Geschichte des 20. und des bisherigen 21. Jahrhunderts, wird deutlich, dass sich die Gegner einer solchen Aufklärung bislang durchsetzen konnten – und als Sieger nun die Geschichte schreiben.

Aus der aufklärerischen Theorie des Liberalismus war der Neoliberalismus geworden, der den Konformismus gegenüber der undurchschauten Logik des Kapitals zum Programm erhob. Aus der Philosophie wurde wieder Religion, der bedingungslose Glaube an die Gesetze der Marktwirtschaft. Ließ sich der Liberalismus noch an seinen eigenen Idealen messen, die wie Marx zeigte, von der gesellschaftlichen Wirklichkeit kontrastiert wurden, erhebt der Neoliberalismus den Kampf gegen aufklärerisches Denken selbst zum Ideal. Er ist Gegenaufklärung, der das historisch Gewordene mystifiziert: Das Hirngespinst vom „homo oeconomicus“ lässt Gesellschaftliches wieder zur Natur werden. Die sich nun unter der Ägide Trumps durchsetzende Dystopie von freien Märkten und unfreien Menschen hat ihren historischen Vorläufer in der chilenischen Militärdiktatur von Pinochet, die mit brutaler Gewalt und der freudigen Mithilfe der Chicago Boys um Milton Friedman und Friedrich von Hayek eine neoliberale Agenda gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung durchsetzte.
Autoritarismus und Rassismus gehen Hand in Hand. Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud erkannte in seiner therapeutischen Arbeit, dass sich das Unbewusste gegen den Prozess der Bewusstwerdung zur Wehr setzt, indem die Wirklichkeit durch Rationalisierungen verzerrt wahrgenommen wird. Wird diese Selbsttäuschung erkannt, verliert sie ihre Kraft. Das Ich wird gestärkt, indem es Bewusstsein über die intrapsychischen Prozesse gewinnt und sich freier gegenüber ihnen verhalten kann. Dieser Prozess lässt sich auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Rassismus ist in erster Linie, so schreibt Detlev Claussen, eine „Rationalisierung von Gewalt“, die aus der ökonomischen Konkurrenz unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen erwächst. Bleiben diese Mechanismen der Konkurrenz unbewusst, indem sie als das natürliche Habitat des homo oeconomicus verstanden werden, entziehen sie sich der Möglichkeit der Veränderung. Da die Krisen aber vom Alltagsbewusstsein der Menschen in irgendeiner Form verarbeitet werden müssen, braucht es alternative Erklärungen für die eigene missliche Lage. Das ist der Nährboden der rassistischen Ideologien der Gegenwart. Werden die Verhältnisse der kapitalistischen Konkurrenz naturalisiert, müssen einzelne Menschen für die Krisen verantwortlich gemacht werden. Hätte das im Falle der Kritik an den 1 %, die in der Zeit der Occupy-Bewegungen eine zentrale Rolle spielte, eine gewisse Berechtigung, an die emanzipatorische Kritik anknüpfen kann, treten die heute dominierenden rassistischen Ideologien nach unten. Nicht die oben erwähnten zwei Familien, die mehr als ca. 42 Millionen Deutsche besitzen, sondern die Geflüchteten, die um die 400 € im Monat zur Verfügung haben, während sie ohne Arbeitserlaubnis auf die Entscheidung in ihrem Asylverfahren warten, sind schuld am Leid dieser Deutschen. Die Ampelregierung bedient dieses Ressentiment, indem sie die Einführung einer Bezahlkarte beschlossen hat, die fast alle Zahlungen der Asylbewerber:innen unter staatliche Kontrolle stellt. Eine Kontrolle, auf die der Staat bei Geldtransfers auf Konten in der Schweiz und in Panama oder bei Cum-Ex-Geschäften keinen großen Wert zu legen scheint. Indem die Frage nach Arm und Reich in der öffentlichen Debatte, u.a. im jetzigen Wahlkampf, fast vollständig durch die Beschwörung einer drohenden Überfremdung Deutschlands durch andere Kulturen ersetzt wurde, befinden sich die rechten Kräfte im Aufwind. Die regressive Verarbeitung der gesellschaftlichen Verhältnisse, scheint sich gegen die Aufklärung über ihre Ursachen durchzusetzen.
Doch so eindeutig die rassistischen Ideologien der Gegenwart aus den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen erwachsen, so wenig ist ihr Erfolg durch diese determiniert. Die Verarbeitung der gesellschaftlichen Verhältnisse muss durch den psychischen Apparat der einzelnen Individuen hindurch und bleibt damit immer einzigartig. Kein Mensch denkt gleich. Schließlich versuchen Einzelne an Flughäfen Abschiebeflüge zu verhindern, während andere sich zusammenrotten, um Brandsätze auf Asylbewerberheime zu werfen. Welche Menschen im Besonderen anfällig für Antisemitismus und andere Formen von Rassismus sind, untersuchte Adorno mit anderen Wissenschaftler:innen in den Studien zum autoritären Charakter, die 1950 veröffentlicht wurden. Dieser autoritäre Charakter kombiniert eine ausgeprägte Orientierung an Macht, Konformität und Gehorsam mit einer Feindseligkeit gegenüber Anderen und Normabweichungen. Er ist gekennzeichnet durch ein schwaches Ich, das sich der gesellschaftlichen Übermacht unterwirft und versucht, die eigenen Konflikte durch Projektion auf Andere zu verarbeiten. Indem Neoliberale, Konservative und Faschisten nun eine Politik der Härte gegen Geflüchtete, queere Menschen und Arbeitslose propagieren, während sie Trump und Musk die Stiefel lecken, appellieren sie (un)bewusst an genau diese Werte.


Die Zeiten stehen denkbar schlecht. In der Einleitung der Studien zum autoritären Charakter schreibt Adorno: „Man scheint sich heute wohl bewusst, dass es in erster Linie von der Situation der mächtigen ökonomischen Interessensgemeinschaften abhängt, ob antidemokratische Propaganda hierzulande eine beherrschende Rolle spielen wird oder nicht, ob jene, mit Vorbedacht oder nicht, sich dieses Instrumentes bedienen, um ihre Machtstellung aufrechtzuerhalten.“ Die Anwesenheit von Jeff Bezos, Elon Musk und Mark Zuckerberg bei der Vereidigung von Donald Trump zum Präsidenten macht deutlich, dass sich die mächtigsten Fraktionen des Kapitals in dieser Frage bereits entschieden haben. Und auch in Deutschland ist davon auszugehen, dass Blackrock mit Friedrich Merz bald persönlich den neuen Bundeskanzler stellt, der die Zusammenarbeit mit der AFD nun offen forciert.


Möchte man dieser historischen Tendenz etwas entgegensetzen, braucht es mehr als Moralismus. „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, schreibt bereits 1939 Max Horkheimer. Entsprechend ist die linksliberale Hoffnung, der Faschismus ließe sich heute dadurch aufhalten, dass man lediglich an die Moral der Menschen appelliert, die „ein zweites 1933“ verbietet, zum Scheitern verurteilt. Das ehrbare Engagement vieler Menschen muss das moralische Argument in einer Kritik der bestehenden Gesellschaft aufheben. Nur so können wir der hilflos wirkenden Situation entkommen, die immer nur noch darin besteht, das Schlimmste verhindern zu wollen. Denn auch Geschichte unterliegt nur solange dem „Wiederholungszwang“ (Freud), solange sie sich unbewusst, „hinter dem Rücken der Menschen“ (Marx) vollzieht. Die Anamnese des bisherigen Geschichtsverlaufs, welche die bestehende kapitalistische Produktionsweise ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und sie selbst zum Gegenstand der Kritik macht, ist die Voraussetzung, um bewussten Einfluss auf die Gegenwart und die Zukunft zu nehmen. Dafür braucht es eine Stärkung des Ichs, das trotz der anwachsenden gesellschaftlichen Kälte zur Empathie fähig bleibt. Nur durch die Bewusstwerdung des gesellschaftlichen und individuellen Unbewussten, kann Freiheit gegenüber der eigenen gesellschaftlichen Verstricktheit gewonnen werden, die auch die Verstricktheit aller anderen erkennen lässt. Der Kampf gegen den Faschismus braucht einen Begriff und Solidarität. Denn so sehr der Sozialismus heute Utopie zu sein scheint, so eindeutig ist seine Alternative Barbarei.

Foto: Zeppelinhaupttribüne Nürnberg by Geolina163 , CC BY-SA 3.0 via wikimedia

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Mordende und um sich schlagende Nazi-Skins in den 90ern – darüber wurde doch schon alles gesagt, höre ich Euch bei dieser Headline sagen, oder?

Es wurde viel gesagt, das stimmt. Aber so vieles schlummert noch in den Köpfen. In den Köpfen der Opfer, in den Köpfen der Angehörigen, in den Köpfen von uns Zeug*innen und hoffentlich auch in den Köpfen der Mörder*innen, die oft nur eine milde Haftstrafe bekamen oder einfach so davon kamen.

Mich bewegt diese Zeit auch noch 30 Jahre später. Deswegen möchte ich Euch meine Geschichte erzählen.

Mein Baseballschlägerjahr spielte sich eigentlich erst 1995 ab, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, als Mutti und ich an einem Sommertag 1992 mit unserem Ford Fiesta in unseren Schrebergarten nach Lichtenstein/Sachsen fuhren. Ich wuchs in Westsachsen auf – zwischen Chemnitz und Zwickau – dem Sumpf in dem der NSU entstand. Ich war damals 14 und mein kleiner Bruder war 5 und nahm an diesem Tag auf dem Rücksitz Platz. Papa war nicht dabei und ich durfte den Beifahrer mimen.

An der Eisenbahnunterführung in Sankt Egidien fuhr unser Auto direkt in einen wütenden Mob grüner Bomberjacken und Mutti ging hart auf die Eisen. Es waren bestimmt 50 Boneheads mit Baseballschlägern. Ich wusste zwar um die Existenz dieser Nazisubkultur, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock Lichtenhagen waren präsent – aber in der Nähe unseres Dorfes? Mutti wurde sichtlich nervös, das merkte ich sofort. Wir bekamen Beachtung und ernteten böse Blicke, da Mutti, wie gesagt, beinahe in den Mob gebrettert war. Ich hatte Angst, checkte aber, dass deren tatsächliche Wut nicht uns galt, sondern wem anders. Ich löcherte Mutti den Rest des Tages mit Fragen. Sie antwortete, dass es in Sankt Egidien ein „Asylantenheim“ in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs gab und dass scheinbar Nazis aus dem Umland mit dem Zug kamen, um das Camp anzugreifen. Sankt Egidien nahm damals Bürgerkriegsflüchtende aus dem ehemaligen Jugoslawien auf. Es kann sein, dass die Lokalzeitung „Freie Presse“ am Montag darauf in einer Randnotiz über den Überfall berichtete.

Wenige Monate später entdeckte ich Punk als Subkultur und begann mich darin zu verlieben. Meine Anwesenheit im Leipziger „Conne Island“ lehrte mich, dass es auch RASH und SHARPS in der Skinhead-Bewegung gab. Ich kleidete mich der linken Subkultur entsprechend. Ich sog Hardcore-Musik und Deutschpunk auf. In unserer Dorfdisko in Falken bekamen Freunde regelmäßig von Zwickauer Nazihools auf die Fresse, lagen zusammengeschlagen im Dorfbach und entkamen nur knapp dem Tod. Ich bekam auf dem Limbacher Stadtparkfest von der „Legion88“ „lediglich“ ’ne Ohrfeige. Irgendwie hatte ich immer Glück.

Ich lernte das „Café Taktlos“ in Glauchau und die „Alte Schule“ in Kändler mit den Punx vom „Autonomen Brenn-Kommando“ kennen. Westsächsische „Antifa-Brutstätten“ – direkt neben HooNaRa-Chemnitz (Hooligans-Nazis-Rassisten, die in sämtlichen Großraumdiskotheken als Firma „Haller Security“ Bouncer stehen hatten, oder das Pressefest der „Freien Presse“ sicherten. In den späteren 90ern dann gewährten sie dem NSU-Trio Unterschlupf) und der „Glatzenhochburg“ Meerane. Dieses Wort stand da jahrelang über dem Ortseingangsschild. Es gab Gerüchte, dass die Meeraner Faschos einen verrückten Blood & Honour Typen namens Billy aus UK bei sich hatten, der in der Nazidisco Remse immer mit Machete bewaffnet war.

Ich bewunderte den Mut von meinen Antifakumpels „Abbas“, „Fanta“ und „Van Gogh“ aus diesen Brutstätten. Ich ziehe noch heute meinen Hut vor ihnen, denn sie retteten Leben. Was Nazigewalt in dieser Zeit betrifft war man auf sich gestellt. Es gab keine Cops -vor allem nicht im sächsischen Hinterland. In der Übergangszeit 1990 bis 1992 gab es zwar noch den ein oder anderen ex-Abschnittsbevollmächtigten (ABV), der mit neuer Cop-Uniform auf altem Schwalben-Moped tagsüber für Sicherheit sorgte, aber sonst gab es nix.

In Städten wie Penig oder Chemnitz wurden bei RAC-Konzerten („Rock against Communism“) schon damals Gelder für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ generiert, so wissen wir jetzt. Im beschaulichen Waldenburg fanden in den Wäldern Wehrsport-Übungen für Nazis statt. „Manole“ (Ralf Marschner) aus Zwickau spitzelte für den Verfassungsschutz und war Arbeitgeber für Mundlos und Zschäpe. Bandmitglieder von Nazibands wie Bomber tauchten auf unseren Konzerten auf. Es gab Diskussionen, Handgemenge und immer wieder auf die Fresse. Irgendwie ertrugen wir das alles. Wer Arsch in der Hose hatte, teilte aus.

Der 25. Mai 1995 aber war härter, traumatisierender und prägender. Es war einer „dieser 90er-Jahre-Männertage“ (Christi Himmelfahrt). Eigentlich wussten „wir“, dass wir bspw. Badestätten an diesem Sauf- und Rüpeltag mit garantierter Faschoglatzen-Präsenz meiden sollten. Aber das Wetter an dem Tag war so schön, dass auch ich mit meinen Hiphop-Kumpels auf einer Decke am Strand des Stausee Oberwald saß. Aus den Boxen lief leise 2Pac, die Birken blühten, ein warmer Wind wehte, die Sonne schien. Um uns herum waren Dutzend weitere Decken und glückliche Gesichter so weit das Auge reichte. Einige gingen baden. Wir alle kannten irgendwie einander. Fast unsere gesamte Schulklasse war auf diversen Decken verstreut. Es wurde laut gelacht.

Dann gegen Mittag gab es diesen Moment, den ich heute noch glasklar vor Augen habe. Wir saßen nicht weit von der Promenade entfernt und auf selbiger erblickte ich circa 30 Meter entfernt einen Typen mit Ganzkörper-Badeanzug in schwarz-weiß-rot und 20-Loch Doc Martens. Die Glatze spiegelglatt, eher muskelbepackt. Einen Baseballschläger in der Rechten. Er hatte locker ein Dutzend weitere Typen mit Baseballschlägern um sich herum. Sie schlenderten nicht, sondern gingen eher straight. Irgendwie schienen sie ein Ziel vor Augen zu haben. Um uns war es binnen zwei Sekunden totenstill. Wir vernahmen kein Windwehen mehr, 2Pac hörte auf mit Rappen. Das Lachen aller verstummte. Die Blicke aller auf den Decken Anwesenden wandten sich in Richtung Schlägertrupp. Alle ahnten, was uns blühen könnte.

Vorne an der Spitze ging ein weitaus jüngerer Typ und aus ihm schoss es auf sächsisch raus „Der wor’s!“. Er deutete mit seinem Zeigefinger auf eine Clique von circa drei Typen, die unweit von uns auf einer Decke saßen. Dann ging alles ganz schnell und das Dutzend rannte die verbliebenen 10 Meter auf selbige Clique zu.

Die Baseballschläger zeigten in Richtung Himmel. Ich erinnere mich nur noch, dass einer aus dem Dutzend in unsere Richtung rannte und uns wegscheuchte mit den Worten „Haut ab – hier gibt’s nüscht zu sehn!“. Im Nachhinein fiel mir auf, dass er so verdammt souverän war. Er lachte sogar irgendwie verschmitzt. Er hatte Null Panik. Er sah die Angst in unseren Augen -da bin ich mir sicher. Er machte dies auf alle Fälle nicht zum ersten Mal.

Meine Freund*innen und ich rannten in verschiedene Richtungen und von dem Zeitpunkt an erinnere ich mich an gar nichts mehr. Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin oder was ich in den nächsten Tagen erlebt habe.

Aus der angegriffenen Clique überlebte Peter T. diese Attacke nicht. Er wurde 24 Jahre alt, starb wenig später im Krankenhaus und hinterließ eine Partnerin und das gemeinsame Baby.

Peter wurde ermordet.

Wie wir später erfuhren, war er ein eher unpolitischer Typ und hatte wohl am Morgen „lediglich“ Zivilcourage gezeigt, als dieser erwähnte jüngere Typ Teppichhändler*innen mit Migrationsgeschichte auf der Promenade beschimpfte. Diese Widerworte wollte sich die Jungglatze wohl nicht gefallen lassen und holte wenige Stunden später Verstärkung.

Ich fahre heute noch an diesen Tatort und ich gedenke Peter. Es gibt keine Gedenktafel, aber viele Jahre später wurde der Mord von der Bundesregierung als „Todesopfer rechtsextremer Gewalt“ anerkannt.

Die Zeug*innen-Vernehmung in der Bullenwache Hohenstein-Ernstthal dauerte viele Monate. Wir waren locker über 150. Ich erinnere mich daran, dass ich mich durch eine Fotomappe von circa 100 Glatzen wälzte. Ich meinte, mich an die Schlägervisage des Badeanzug-Skins zu erinnern und so wurde ich dann als Zeuge zur Verhandlung geladen. Diese fand erst ein knappes Jahr später statt. Da es so viele Angeklagte mit Pflichtverteidiger*innen gab, fand die Verhandlung im Polizeikino Chemnitz statt. Unter den Angeklagte waren viele, die ich aus Antifarecherche kannte. Viele davon aus der „Glatzenhochburg“ Meerane. Viele meiner Freund*innen sagten auch aus. Keine*r von uns hatte gesehen, wer den letztendlich tödlichen Baseballkeulenschlag ausübte. Wir wurden trotzdem geladen.

Die Gerichtsdienerin bat mich bei Betreten des Gerichtssaals mein Basecap abzunehmen. Ich wollte meine Dreadlocks verstecken, um nicht als Zecke wahrgenommen werden. Ich hatte Angst. Unmittelbar neben mir saß UK Billy auf der Anklagebank. Er musste es sein. Er hatte diese Tattoos, die damals keine Kartoffel haben konnte.

Meine Anschrift wurde vom Richter verlesen. Sämtliche Anwält*innen schrieben mit. Ich hatte noch mehr Angst. Ich musste frontal auf der Kinobühne Patz nehmen, da ich bei meiner früheren Aussage ja zu Protokoll gegeben hatte, einen erkannt zu haben. Vor mir bauten sich nach und nach alle Angeklagten auf. Ich traute mich nicht, ihnen in die Augen zu schauen. Ich hatte unbeschreibliche Angst. Es zog sich über 15 Minuten. Ich erkannte niemanden, auch nicht den Badeanzug-Fascho. Der Richter entließ mich aus dem Zeug*innenstand. Mir zitterten die Knie. Da ich der letzte Zeuge vor der Mittagspause war, gab er noch durch das Mikro bekannt, dass jetzt 30 Minuten Mittagspause anstehe und die Verhandlung unterbrochen sei.

Alle standen zeitgleich auf und steuerten die einzige Ausgangstür an. Sie schienen Hunger zu haben. Ich suchte nach der Gerichtsdienerin. Ich bildete mir wahrscheinlich ein, dass sie in dem Moment meine Bezugsperson sei. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen soll. Ich war wie gelähmt. Ich fragte eine random sächsisch-Person im Raum, was ich machen soll: „Nu mir ham jetze Mittogspause. Gehn könn se. Uff wiedorsehn“. Dann ging ich durch diese Ausgangstür und direkt davor fand ich mich inmitten des Mobs wieder. Sie umringten einen Bauchladen-Bockwurstmann. Kein Scheiß! Einer der Boneheads klopfte mir auf die Schulter und flüsterte leise „Gut gemocht Kleenor!“ in meine Richtung. Ich ging zu meinem Auto und weinte.

Billy musste drei Jahre und 10 Monate ins Gefängnis. Er hatte scheinbar Vorstrafen. Alle anderen wurden freigesprochen. Es wurde natürlich nicht ermittelt, wer den tödlichen Schlag verpasste. Eine damals angeklagte Person ist heute in der „Glatzenhochburg“ ein angesehener Mensch in der Zivilgesellschaft, so wurde mir zugetragen. Viele wissen um seine Vergangenheit. Er sei ein guter Arbeitgeber. Ich hoffe, dass auch er sich an den „Männertag 1995“ so glasklar erinnert wie meine Freund*innen und ich.

Auf einem Klassentreffen 2022 erzählten wir Zeug*innen einander unsere Wahrnehmung 30 Jahre nach dem Vorfall und es tat so gut zu reden. Eine Freundin sagte mir, dass sie jedes Mal, wenn sie das Kind von Peter sieht, an diesen Tag erinnert wird. Ich hoffe, dass Ihr Eure Wahrnehmung auch ein bisschen in meinen Zeilen wiederfindet? Denn ich habe diese Zeilen auch für Euch geschrieben.

Ruhe in Frieden Peter!

Hupe (Februar 2023)

# Titelbild: Del Zomber

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Gastbeitrag der Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“

Der diesjährige „Tag der Ehre“ in Budapest fand auch außerhalb antifaschistischer Kreise in der BRD erhöhte Aufmerksamkeit. Grund dafür war jedoch nicht der paramilitärische Aufmarsch europäischer Neonazis mit SS-Symbolen. Vielmehr sorgte ein im Netz verbreitetes Video, das zeigte, wie mehrere Personen eine Person in Tarnkleidung angriffen und zu Boden brachten, für Aufsehen. Nach mehreren Festnahmen in Budapest folgte eine mediale Hetzjagd, ausgelöst durch die Bild-Zeitung, die die Namen der Festgenommenen veröffentlichte, denen vorgeworfen wurde, an insgesamt acht Angriffen auf Teilnehmer des Tags der Ehre beteiligt gewesen zu sein. Seitdem ist viel passiert: Es gab länderübergreifend mehrere Festnahmen, Identitätsfeststellungen, Öffentlichkeitsfahndungen, Razzien in Berlin, Leipzig, Jena und zunächst vier Personen in Untersuchungshaft, von denen zwei immer noch in Ungarn einsitzen. Dort wird die Repression von einer Hetze gegen den Antifaschismus an sich begleitet. Die größte regierungsnahe Zeitung des Landes „Magyar Nemzet“ bezeichnete Antifaschismus als Terrorismus, „der von extremen, lebensfeindlichen Ideologien angetrieben wird“. Und weiter hieß es, es sei „eine moralische Pflicht, sich dem Antifaschismus entgegenzustellen“. Diese Äußerungen sind bezeichnend für die Medienlandschaft, die fast ausschließlich von Orban und seinem Umfeld kontrolliert wird.

Der „Tag der Ehre“- Ein faschistisches Vernetzungstreffen seit 1997

Um zu verstehen, warum der „Tag der Ehre“ ein legitimes Ziel in der Feindbestimmung aktiver Antifas ist, muss man sich mit der Geschichte dieses Nazi-Events vertraut machen. Der sogenannte „Tag der Ehre“ existiert seit 1997 und ist ein wichtiges Ereignis für die Neonazis von Blood & Honour, Hammerskins und deren Sympathisant:innenkreis. Das Wochenende um den 11. Februar ist dem Gedenken an zwei Divisionen der Waffen-SS und einer SS-Gebirgsjägereinheit gewidmet, die sich im Dezember 1944 in Budapest vor der anrückenden Roten Armee verschanzten und einen kläglich gescheiterten Ausbruchsversuch aus dem Budapester Kessel unternahmen. In der Schlacht um Budapest starben auf Seiten der Wehrmacht und ihren ungarischen Kollaborateuren über 100.000 Soldaten. Das NS-Gedenken an den gescheiterten Ausbruch aus dem „Budapester Kessel“ ist an diesem Wochenende nur eine Veranstaltung. Neben Rechtsrock-Konzerten steht am Wochenende ein 60 Kilometer langer Nachtmarsch auf dem Programm, der die Fluchtroute der Nazis nachzeichnet. Über 3.000 NS Nostalgiker:innen nahmen in diesem Jahr an der „Wanderung“ teil, die bei Neonazis beliebt ist, weil sie dort trotz eines offiziellen Verbots von SS-Symbolik und Hakenkreuzen ihre NS-Insignien weitgehend ungestört zur Schau stellen können. Der ungarische Tourismusverband „Hazajáró Honismereti és Turista Egylet“ bewirbt und unterstützt die Wanderung „Kitörès“ unter dem Slogan „Gedenken an die heldenhaften Verteidiger unseres Landes und Europas“. Dazu passend ist der nachträgliche Bericht über die Wanderung illustriert mit Bildern voller NS-Symbolik u. a. von einem Kontrollpunkt mit Hakenkreuzfahne und Hitler-Portrait.

Seit 1997 gibt es marginale Proteste gegen den Tag der Ehre von einer Handvoll engagierter Budapester Antifaschist:innen. Lokale Antifaschist:innen haben in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass das westliche Narrativ, das Victor Orban als personiifiziertes Problem ausmacht, zu kurz greift und die Kritik nicht auf seine Person reduziert werden sollte. Ein lokaler Aktivist, der die Proteste in diesem Jahr mitorganisiert hat, weist darauf hin, dass die liberale Demokratie in Osteuropa an der„kapitalistischen Hemisphäre“ nur eine „vorübergehende Erscheinung“ sei. Die Verhältnisse in Ungarn sind verfestigt autoritär. So sei es in Ungarn in den letzten 150 Jahren nur selten gelungen, die regierenden Parteien demokratisch abzulösen. Die Orban-Regierung sei das „natürliche Kennzeichen dieses semiperipheren Kapitalismus“. Tatsächlich ist das Regime in Ungarn sehr stark vom hegemonialen kapitalistischen System geprägt und mit ihm verbunden. Die Regierung Orban ist bemüht, diesen Kapitalismus möglichst geräuschlos zu verwalten. Das führt auch dazu, dass soziale Bewegungen wie die LGBTIQ-Bewegung oder die kleine Antifa-Szene möglichst klein gehalten werden sollen. Das kapitalistische System wird in Ungarn, wie auch in den meisten postsozialistischen Staaten Osteuropas nationalistisch und autoritär gemanaged. 

Auch geschichtspolitisch täuscht Orban die Menschen, indem er versucht, den Realsozialismus mit dem Faschismus gleichzusetzen.  Diese Umdeutung der Geschichte ist ein Versuch, von seinem maroden System abzulenken. Durch die Verbreitung rechter Narrative ist Ungarn eine der treibenden Kräfte des Geschichtsrevisionismus in Europa. Dies drückt sich in Budapest auch städtebaulich aus. So ließ Orban in den vergangenen Jahren nationalistische Denkmäler des Horthy-Regimes wie z.B. das Nationale Märtyrerdenkmal originalgetreu wieder aufbauen. Es hat seinen Grund weshalb sich Neonazis in Ungarn so wohl fühlen und mit keinerlei Gegenwind rechnen müssen. Das Motiv der Neonazi-Szene, die alljährlich zum Tag der Ehre pilgert, ist dem der ungarischen Regierung sehr ähnlich. Denn es geht ihnen darum, den Ausbruch aus dem Budapester Kessel als Akt der Verteidigung Europas gegen den Vormarsch der Kommunist:innen umzudeuten.

Der Tag der Ehre 2023 

In diesem Jahr gelang es durch antifaschistische Raumnahme mit zwei Gegenkundgebungen an der Burg, das Nazi-Gedenken von Blood&Honour und Legio Hungaria aus Budapest zu verbannen. Das Vorgehen der ungarischen Behörden steht im Kontext der erfolgreichen antifaschistischen Mobilisierung der letzten Jahre. Es ist den Nazis nicht mehr möglich, ihr ritualisiertes Gedenken in der Budapester Innenstadt abzuhalten, so dass das offizielle Nazigedenken in einen Wald außerhalb Budapests ausweichen musste. Damit wurde zum ersten Mal ein faschistisches Gedenken in der Innenstadt verhindert, was vor Ort als sehr großer Erfolg gewertet wird. Dieser Erfolg war auch nur durch den unermüdlichen Einsatz einiger lokaler Aktivist:en möglich, denen es in den letzten Jahren gelungen ist, ein internationales Netzwerk mobiler antifaschistischer Gruppen einzubinden.

Repression

Sinn und Zweck staatlicher Repression ist es, organisierte antagonistische Strukturen zu kriminalisieren und letztlich zu zerschlagen. Am Beispiel des Tags der Ehre in Budapest ist es deswegen folgerichtig, dass sowohl die ungarischen Behörden als auch im Wege der Amtshilfe die deutsche Polizei mit großem Ermittlungseifer den Widerstand gegen den Tag der Ehre verfolgen und kriminalisieren. In Ungarn liegt dies daran, dass der Gegenprotest nationale Geschichtsmythen wie die Unterjochung unter „zwei Diktaturen“ in Frage stellt. Zudem liegt es in der Natur jedes Staates Organisation außerhalb des vom Staat vorgegebenen Rahmens zu verfolgen, unabhängig dessen, wie militant im Detail agiert wird. Vor diesem Hintergrund lehnen wir eine Einteilung in „gute“ und „böse“ Antifas ab. Wir solidarisieren uns mit allen, die sich gegen dieses geschichtsrevisionistische Gedenken an die Waffen-SS organisieren und aktiv werden. Die Repression darf nicht dazu führen, dass sich weniger Menschen an den Protesten gegen den Tag der Ehre beteiligen. Vielmehr sollten wir das gestiegene Interesse nutzen, um die faschistische Gefahr aufzuzeigen, die von diesem internationalen Faschist:innentreffen ausgeht.

Die Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen!“ lässt sich von zunehmender Repression nicht einschüchtern, denn diese ist immer eine Begleitmusik antifaschistischer Arbeit. Wir werden weiterhin die Notwendigkeit des Aufbaus internationaler antifaschistischer Netzwerke forcieren und geschlossen auftreten.

Wir sammeln Spenden für von Repression Betroffene.

Konto: Netzwerk Selbsthilfe
Stichwort: NS Verherrlichung stoppen
IBAN: DE1210 0900 0040 3887 018
Kontakt: nsverherrlichungstoppen@riseup.net

# Titelbild: vvn-bda, Gegenprotest gegen den Tag der Ehre 2023

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Es ist erstaunlich ruhig geworden um den so genannten Neukölln-Komplex. Zeitweise berichteten die Medien in großer Aufmachung über die rechtsterroristischen Anschläge, die in dem Berliner Bezirk vor allem von 2016 bis 2019 für Angst und Schrecken sorgten. Dass vor dem Amtsgericht Tiergarten im August der Prozess gegen zwei mutmaßliche Haupttäter der Anschlagserie begonnen hat, die Neonazis Sebastian T. und Thilo P. (36 und 39 Jahre alt), sorgte zwar noch mal für Berichterstattung. Aber das Thema wurde eher pflichtgemäß abgehakt – zumindest bei den bürgerlichen Blättern und Sendern. Es waren, wie so oft, linke Zeitungen und Portale, die sich darum bemühten, die Hintergründe aufzuhellen. Etwa auf den Umstand hinzuweisen, dass sich die Ermittlungen zu der Anschlagsserie jahrelang hinzogen, während es bei linken Angeklagten oft sehr schnell geht.

Für etwas Aufregung sorgte der Umstand, dass das Amtsgericht Tiergarten zuerst Ferat Kocak, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt und einer der Betroffenen der Anschlagserie ist, nicht als Nebenkläger zuließ. Gleich zweimal lehnte die Vorsitzende Richterin einen entsprechenden Antrag ab. Seltsame Begründung: Der Linke-Politiker habe „keine körperlichen und seelischen Schäden“ davongetragen. Offenbar hielt es die Richterin für nicht weiter gravierend, dass Kocaks Auto in der Nacht des 1. Februar 2018 direkt vor dem Haus seiner Familie in Flammen aufging und zeitweise die Gefahr bestand, dass das Feuer auf das Haus übergreift. Und wie sich herausstellte, hätte eine Gasleitung explodieren können.

Zum Glück hatte das Landgericht Berlin als höhere Instanz ein Einsehen. Am 26. August kassierte es den Beschluss des Amtsgerichts und entschied, dass Ferat Kocak im Prozess zur Anschlagsserie doch als Nebenkläger auftreten darf. Damit war ein erneuter Antrag des Linke-Politikers erfolgreich. Zur Begründung führte Kocaks Anwältin, Franziska Nedelmann, unter anderem an, dass den Angeklagten T. und P. im Falle der Brandstiftung zu Lasten ihres Mandanten möglicherweise ein versuchtes Tötungsdelikt vorzuwerfen sei. Es sei nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, dass die Gasleitung an der nahegelegenen Garage der Kocaks nicht durch die Flammen erfasst worden sei.

Das Landgericht Berlin schloss sich dieser Argumentation in seinem Beschluss teilweise an. Eine Tötungsabsicht der Angeklagten, so heißt es in dem Beschluss laut dem Rundfunksender rbb, sei „nicht so fernliegend“, als das dem geschädigten Kocak der Zugang zum Prozess als Nebenkläger verwehrt werden könne. Drei Tage später begann vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen die beiden Hauptangeklagten aus der Neonaziszene. Der Berliner Generalstaatsanwaltschaft wirft T. und P. unter anderem Bedrohung, Brandstiftung beziehungsweise Beihilfe dazu sowie das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor. Nach Überzeugung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft sollen die beiden Angeklagten versucht haben, Menschen einzuschüchtern, die sich gegen Nazis engagieren.

Mitte September meldete die Deutsche Presse-Agentur, dass im Prozess das Verfahren gegen einen dritten Angeklagten abgetrennt worden. Im Fall des 38-Jährigen, dem Sachbeschädigung vorgeworfen wird, wolle das Amtsgericht bereits am diesem Mittwoch zu einem Urteil kommen. Gegen die beiden Hauptangeklagten werde die Verhandlung am 24. Oktober mit ersten Zeugen zu Brandanschlägen auf Autos von zwei Männern fortgesetzt. Geladen sei auch Kocak als einer der Betroffenen. Im Prozess habe sich das Gericht zunächst mit dem angeklagten Komplex zu Aufklebern und Zetteln sowie aufgesprühten Parolen mit „rechtsextremistischen Inhalten“ im Jahr 2017 befasst. Dem 38Jährigen, dessen Verfahren nun abgetrennt wurde, werde die Beteiligung an 17 solcher Vorfälle zur Last gelegt. Ursprünglich sei der Prozess gegen fünf Beschuldigte geplant gewesen, so die Agentur. Das Verfahren gegen einen 48Jährigen sei jedoch wegen Krankheit abgetrennt. Gegen einen 50 Jahre alten Mitangeklagten sei wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 900 Euro per Strafbefehl ergangen. Dagegen habe er allerdings Einspruch eingelegt. Für den Prozess gegen P. und T. seien vier weitere Tage bis Ende November vorgesehen.

Während also die mutmaßlich für die Anschlagsserie verantwortlichen Neonazis endlich vor Gericht stehen, befasst sich parallel ein Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Neukölln-Komplex. Am 16. September war Ferat Koçak geladen. Er schilderte vor dem Ausschuss, wie viel Glück seine Eltern und er hatten, dass sie noch rechtzeitig aus dem Haus gekommen waren. Koçak sprach vor dem Ausschuss auch von Todesangst in der Tatnacht, wie er gegenüber dem Lower Class Magazine berichtete. Die Flammen des brennenden Autos seien bereits bis zum Dach des Wohnhauses hochgeschlagen, als sich die Familie habe retten können.

Zu diesem Zeitpunkt habe er noch gar nichts von der Gasleitung in der Garage gewusst, die zu explodieren drohte. Nur fünf Minuten später, so habe ihm ein Feuerwehrmann gesagt, wären er und seine Familie nicht mehr so zügig aus dem Haus gelangt. Diese Bilder aber blieben. Stets wachsam und in Alarmbereitschaft sei er seit dem Anschlag. Er habe die Abgeordneten gefragt: „Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie immer damit rechnen müssten, dass jemand einen Molotowcocktail durch die Scheibe wirft und die Eltern im eigenen Haus verbrennen?“ Dann habe er dem Ausschuss berichtet, dass er noch in der Tatnacht von einem Streifenbeamten nach „seinen Wurzeln“ befragt worden sei und ihm gesagt worden sei, dass der Brand auf einen „türkisch-kurdischen Konflikt“ zurückzuführen sein könnte. Kocak: „Dabei hätte ein Blinder mit Krückstock sehen müssen, dass der Anschlag auf mich und meine Familie einen rechten Hintergrund hatte.“

In Sicherheitsgesprächen mit dem Landeskriminalamt sei es aber fast nur um ihn selbst gegangen – sein politisches Engagement, seine „Kennverhältnisse“, seinen Tagesablauf. „Mir wurde vermittelt, dass keine unmittelbare Gefahr für mich bestehe“, erklärte Kocak gegenüber LCM: „Das war absolut widersinnig, denn auf der anderen Seite bekam ich vom LKA Verhaltenstipps, die genau das Gegenteil suggerierten: dass ich zum Beispiel Wegstrecken ändern oder den Schlafort regelmäßig wechseln sollte.“

Von Torsten Akmann, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, sei er im Ausschuss „angemacht worden“, erklärte Kocak weiter. Auslöser war, dass Kocak zuvor konstatiert hatte, dass die Polizei ein „Nazi-Problem“ habe. „Akmann hat sich darüber aufgeregt, dass ich damit einen Vergleich mit der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte gezogen hätte“, sagte Kocak: „Ich werde aber weiterhin Nazis Nazis nennen. Davon hält mich keiner ab.“ Noch unangenehmer als Akmanns Empörung sei für ihn bei der Befragung im Ausschuss aber das Vorgehen des AfD-Vertreters Antonin Brousek gewesen. Der ist – interessantes Detail am Rande – übrigens Richter am Amtsgericht a. D., wie es auf der Homepage des Abgeordnetenhaus heißt.

„Armselig“ nannte Kocak den Auftritt des Mannes in der Befragung. Dieser habe sich ereifert, dass er ihm doch den Namen seiner Eltern zu nennen habe, damit sie als Zeugen geladen werden könnten. „Ich bin natürlich nicht darauf eingegangen“, so Kocak, „daraufhin hat der AfD-Vertreter versucht, ein Ordnungsgeld zu erwirken, was aber durch den Ausschussvorsitzenden zurückgewiesen wurde.“ Der AfD-Mann habe natürlich provozieren wollen, er habe sich aber nicht aus der Reserve locken lassen, so Kocak gegenüber LCM.

Als weiterer Zeuge trat der Gewerkschafter Detlef Fendt in der Ausschusssitzung vom 16. September auf, der ein Jahr vor dem Anschlag auf Kocak bereits vom rechten Terror betroffen war. Er und seine Frau leben bis heute in der Neuköllner Hufeisensiedlung. In ruhigen, knappen Worten, beschrieb Fendt seine Erfahrungen. Sein Auto stand am 23. Januar 2017 auf der Straße in der Nähe des Wohnhauses in Flammen. Ein Nachbar habe ihn damals mit den Worten geweckt: „Du komm mal, dein Auto brennt.“ Kurz zuvor hatte das Auto der Neuköllner Bezirksstadträtin Mirjam Blumenthal von der SPD gebrannt. Fendt habe daraus geschlossen: „Ach, jetzt bist du dran.“ Schon zuvor waren neben seinem Gartentor Aufkleber der NPD und der Identitären Bewegung aufgetaucht. Fendt macht deutlich, was der Anschlag mit ihm gemacht hat: Seine Kinder trauten sich nicht mehr, bei ihm zu übernachten. Die Nazis beobachteten ihn weiter, erinnerten ihn regelmäßig daran, dass es sie noch gebe. Er lebe heute nicht mehr so unbefangen.

Im Mai 2022 brannte das Auto einer jüdischen Nachbarsfamilie. Diese war bereits am 9. November 2021 durch ein Hakenkreuz auf dem Gartentor „markiert“ worden. Fendt ist sich sicher, dass der rechte Terror schlicht weitergehe. Er berichtete dem Ausschuss, dass er des öfteren Anrufe auf dem Festnetz erhalte, wo sich niemand melde und dann einfach auflege: „Wer ist so hart, dass er das alles so durchzieht? Das gibt schon irgendwo nen Knick“, erklärte Fendt.

Wie Kocak berichtete auch der Gewerkschafter über sein mangelndes Vertrauen in die Behörden. Ihm sei vom Staatssekretär Akmann immer signalisiert worden, dass alles „ganz kurz vor der Aufklärung sei“ – doch bis heute ist nichts aufgeklärt. Fendt bemängelte, dass den Worten der politisch Verantwortlichen nichts Substanzielles folge: „Der Staatssekretär war bei uns, um zu sagen, dass die Staatsanwaltschaft die Fälle zusammenlegt. Da geht man zweimal hin, ein drittes Mal und dann kann man das nicht mehr hören“, sagte er im Ausschuss.

# Titelbild: Kim Winkler, 7. November 2020 – Demonstration „Rechte & rassistische Strukturen in Staat & Gesellschaft bekämpfen!“ in Berlin

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Die Ablehnung der neuen Verfassung am 04.09.2022 hat die linke Bewegung in eine Mittelschwere Krise gestürzt. Wenn auch aufgrund von Umfragen absehbar war, dass der in einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeiteten neuen Verfassung abgelehnt werden würde, war doch die Klarheit der Ablehnung mit 62 Prozent der abgegebenen Stimmen überraschend. Während sich viele Erklärungen auf die Lügenkampagne der chilenischen Rechten stützen, ist nach Einschätzung der revista crisis diese Niederlage vor allem eine Niederlage des linken Reformismus, wie der hier übersetzte Beitrag meint:

Das Referendum über eine neue Verfassung in Chile vom 4. September 2022 wird als schwere ideologische und materielle Niederlage für den lateinamerikanischen progresismo in die Geschichte eingehen. Der Ausgang des Referendums, der Ergebnis eines Prozesses ist, der im Oktober 2019 auf der Straße und 1973 mit dem Staatsstreich von Pinochet und der CIA begann, zeigt allerdings auf, dass das chilenische Volk nach jahrzehntelanger Schocktherapie den strukturellen Faschismus, vertreten von der den Chicago Boys nahestehende Bourgeoisie, offenbar internalisiert hat. Gleichzeitig bedeutet die Ablehnung eine durchschlagende Niederlage der selbsternannten „linken“ Sektoren, die dank der Unzufriedenheit des Volkes an die Regierung gekommen sind und die historischen Fehler des lateinamerikanischen Progressivismus reproduziert haben.

Man muss in Erinnerung halten, dass der erste neoliberale Prozess in Lateinamerika in Chile stattfand, nach einem pro-imperialistischen Staatsstreich, bei dem die gröbste strukturelle Gewalt des Kapitalismus und seine auf dem Antikommunismus basierende politische Doktrin durchgesetzt wurden. Chile wurde zum sozialen und wirtschaftlichen Laboratorium für den sozialen Kontrollmechanismus schlechthin: die Schock-Strategie.

Der durchschlagende Sieg der Ablehnung der neuen chilenischen Verfassung zeigt eine tiefgreifende politische Fehleinschätzung seitens der Linken auf, die sich sehr bemüht hat, die Ablehnung des Neoliberalismus zu dienen zu kanalisieren, ohne in der Lage zu sein, Forderungen des Volkes zu erfüllen, die über die Logik des Kapitals hinausgehen. Die Ablehnung der neuen Verfassung offenbart einen Prozess des ideologischen Wiedererstarkens der chilenischen Ultrarechten, der von einer ultrakonservativen bürgerlichen Empörung getragen wird, das darauf abzielt, den Status quo im Lande zu erhalten. Chile ist einer der weltweit führenden Exporteure von Kupfer, Lithium, Silber und Jod. Die chilenische Oligarchie, die sich um den Bergbau-, Export- und IT-Sektor gruppiert, stellt eine der reaktionärsten Klassen des kontinentalen Rentismus dar, die sich in der Pinochet-Verfassung wiederfindet, die als einzige auf der Welt Wasser als private Ressource anerkennt.

Die Mehrheit der Volksorganisationen und sozialen Bewegungen in Lateinamerika war überrascht und enttäuscht über den Sieg der Ablehnung in der Volksabstimmung in Chile. Rund 61,87 % der Wähler stimmten für die Ablehnung, 38,13 % für die Annahme, bei 14 % Wahlenthaltung, so dass die vorgeschlagene neue Verfassung nicht in Kraft treten konnte. Das bedeutet, dass die Volksorganisation und die sozialen Bewegungen eindeutig ihre Unfähigkeit bewiesen haben, das wahre Volk zu lesen, in dem 50 Jahre Faschismus stecken: ein ultrakonservatives Volk.

Das bedeutet, dass es ihr zwar gelungen ist, drei Jahre lang einen sozialen Aufstand aufrechtzuerhalten, der die historischen Forderungen der Mapuche-Völker und -Nationalitäten, der Frauen, der Studenten, der Dissidenten und der Arbeiterklasse gebündelt hat, dass dieser Aufstand aber immer noch eine organisierte Minderheit darstellt und nicht den Willen der Mehrheit. Darüber hinaus ist diese wirklich mobilisierte Minderheit – nicht nur Kollaborateure oder Sympathisanten – gespalten in diejenigen, die den Aufbau einer neuen Verfassung im Rahmen der bürgerlichen Demokratie als Triumph betrachten, und diejenigen, die die strukturellen Grenzen dieser Verfassung erkennen und sich aus einer – nennen wir es – ideologischen Ablehnung heraus positioniert haben.

Der Pinochetismus hat eine zutiefst und strukturell faschistische Gesellschaft geschaffen: Es gibt keinen Mangel an Menschen, die den Wahrheitsgehalt und die Schwere der während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnen, und keinen Mangel an Menschen, die sie rechtfertigen. Fast 50 Jahre Faschismus – 17 Jahre Diktatur und 32 Jahre neoliberale Kontinuität – sind nicht ohne materielle Konsequenz geblieben. Die Subjektivität des Volkes wurde auf der Grundlage dieses Faschismus aufgebaut, und dieser Faschismus strukturierte die ultrakonservative Politisierung der großen Mehrheit. Die Volksorganisation und die sozialen Bewegungen sollten nicht noch einmal den Fehler begehen und weiterhin glauben, dass Aufstände das Ende der Mobilisierung sind und nicht nur eine Machtdemonstration. Einmal mehr hat sich gezeigt, dass ohne eine nachhaltige territoriale Arbeit, die sich auf die Lösung der materiellen Bedingungen der verarmten Arbeiterklasse konzentriert, kein Prozess sich selbst überwinden kann, um ein fortschrittliches politisches Projekt zu werden, geschweige denn ein antikapitalistisches.

Kurz gesagt, der überwältigende Unterschied zwischen der Ablehnung und der Annahme des chilenischen Verfassungsentwurfs stellt einen historischen politischen Moment dar, der uns sowohl die Grenzen Projekte des progresismo als auch die ideologische und materielle Reichweite des Reformismus im kapitalistischen System vor Augen führt. Die Vielfalt der Forderungen des chilenischen Volkes im Rahmen des Verfassungsprozesses spiegelt die Unwägbarkeiten wider, mit denen die Volksorganisation konfrontiert ist, die jahrzehntelang kriminalisiert, geschwächt und dezimiert wurde, die in den letzten drei Jahren gestärkt wurde, der es aber angesichts der Grausamkeit des freien Marktes noch nicht gelungen ist, die großen Mehrheiten zu politisieren und zu mobilisieren. Die extreme Rechte erneuert und radikalisiert sich rund um den Antikommunismus, der von der konservativen Struktur der Subjektivität des Volkes getragen wird und immer Hand in Hand mit dem Kleinbürgertum geht. Weder der Antikapitalismus noch ein würdiges Leben werden jemals in den Rahmen der bürgerlichen Demokratie passen. Der Neoliberalismus wurde geboren und wird in Chile sterben, aber nicht durch Gabriel Boric oder irgendeinen progresismo, sondern durch antikapitalistische Organisation, die jetzt ein klares politisches Szenario vor sich hat.

#Titelbild: Diktator Pinochet und sein demokratisch gewählter bürgerlicher Nachfolger Patricio Aylwin in trauter Einigkeit (zw. 1990 und 1994), Biblioteca del congreso nacional (https://www.bcn.cl/portal/), CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/cl/deed.en)

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Unter dem Hashtag #IchHelfeGern berichtet Stabsunteroffizier Seyda Deliduman, Soldatin im Versorgungsbataillon 7 in Unna, dass sie aktuell im Impfzentrum Hürth „die ÄrztInnen täglich mit Nachschub an Impfdosen“ versorge. Auf einem Foto ist die junge Frau mit einer Nierenschale in der Hand und Mund-Nasen-Schutz im Gesicht zu sehen, daneben steht der Satz: „Toll, wie wir Hand in Hand mit dem Fachpersonal arbeiten.“ Mit solchen und ähnlichen Tweets macht die Streitkräftebasis der Bundeswehr, eine im Oktober 2000 geschaffene „Dienstleistungseinrichtung“ der Truppe, bei Twitter Werbung für die Aktivitäten von Soldat*innnen bei der Bekämpfung der Coronapandemie. Der genannte Tweet ist auch noch mit den Hashtags #Amtshilfe #FürEuchGemeinsamStark versehen.

Dass die Bundeswehr mit solchen Botschaften ihr Image aufpolieren will, liegt auf der Hand. Natürlich soll en passant auch noch der aus guten Gründen eigentlich nicht vorgesehene Einsatz der Bundeswehr im Inneren wieder ein Stück weit selbstverständlicher werden. Allerdings hat Corona der Bundeswehr nicht nur diese willkommene Gelegenheit gebracht, ihren Ruf aufzubessern – die Pandemie hat ihr auch eine ganze Menge Probleme beschert. Wer sich bereits mit der deutschen Armee und ihren Strukturen befasst hat, etwa mit den Netzwerken von Nazis in olivgrün, den konnte das kaum überraschen: Auch in ihren Reihen finden sich nicht wenige radikale Coronaleugner:innen und Impfgegner:innen.

Das bestätigt Tobias Pflüger, der in der vergangenen Legislaturperiode verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag war. „Bei der Bundeswehr tummeln sich anteilig signifikant mehr „Querdenker“ als in der Zivilgesellschaft“, sagte Pflüger im Gespräch mit dem Lower Class Magazine. Das habe etwas damit zu tun, „wen die Bundeswehr anzieht“, erklärte der Experte, der die Informationsstelle Militarisierung in Tübingen (IMI) mitgründete. Im Bereich der Bundeswehr gebe es nach seiner Kenntnis derzeit 50 bis 60 Verfahren gegen offensichtliche „Querdenker“. Dazu habe auch eine faktische Impfpflicht für die Soldat:innen beigetragen, für die in einer ihrer letzten Amtshandlungen die frühere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) gesorgt hatte, so Pflüger. Und zwar hatte Kramp-Karrenbauer angeordnet, dass eine „Duldungspflicht“ für Covid-19-Impfungen gelte, das heißt, dass alle Soldat*innen eine solche Impfung auch „gegen ihren Willen“ dulden müssen.

Tatsächlich ist der Unmut über diese Maßnahme bei manchen Soldat:innen offenbar groß, natürlich vor allem bei solchen, die schon zuvor eher rechts tickten. Das legten jedenfalls zwei im Dezember und Januar öffentlich gewordene, sehr spektakuläre Fälle nahe. Sie lenkten schlaglichtartig die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem der „Querdenker“ in olivgrün.

Im Mittelpunkt der Vorgänge standen zwei Soldaten der bayerischen Gebirgsjäger, einem Truppenteil also, der in den vergangenen Jahren immer mal wieder mit eher zweifelhafter Traditionspflege auffiel.. Beide gehörten auch zum selben Verband, dem Bataillon 231 in Bad Reichenhall, sollen aber laut Medienberichten nichts miteinander zu tun gehabt haben. Der erste Fall, der im Dezember publik wurde, betraf den Oberfeldwebel Andreas O. In einem Schreiben an seinen Major hatte er seinen Widerstand gegen die obligatorische Corona-Impfung angekündigt, wie die tageszeitung Anfang Januar berichtete. Diese verletze sein Recht auf körperliche Unversehrtheit, er sei bereit, sich für seine Rechte zu „opfern“. „Sie werden mich nicht nur abstrafen, sondern erschießen müssen, damit ich aufhöre, für meinen Eid einzustehen“, schrieb O.

Ende Dezember 2021 setzte der Mann noch eins drauf, als er bei einer öffentlichen Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen in München wütete. Wörtlich sagte der Soldat: „Ich habe allen Politikern der Regierung ihr Schicksal angedroht (…). Ihr kriegt die Möglichkeit, die Duldungspflicht, die Impfpflicht und die Corona-Maßnahmen zurück zu schrauben.“ Andreas O. sprach von einer klaren Warnung und setzte der Regierung in sozialen Netzwerken ein Ultimatum „bis morgen 16.00 Uhr“, ihre diesbezügliche Politik zu ändern. Das Video wurde in Chatgruppen der Querdenker-Szene mehr als 100.000 Mal geteilt. Ein anderes Video soll den Soldaten bei einer Kundgebung in Rosenheim zeigen. Dort drohte O. „Hochverrätern und Feiglingen am Grundgesetz“: „Eure Leichen wird man auf den Feldern verstreuen.“

Im Januar wurde ein nicht minder haarsträubender Vorgang bekannt. Ein Hauptfeldwebel aus demselben Bataillon hatte im Dezember eine mehr als siebenminütige Sprachnachricht auf der Messenger-Plattform Telegram veröffentlicht. Darin bezeichnete er die Bundeswehr als eine „Firma“, in der alles unternommen werde, um „uns Patrioten, die in der Bundeswehr gefangen sind, kaputtzumachen“. Er bezog sich wie Andreas O. auf die Duldungspflicht. Der Hauptfeldwebel erklärte, dass man „sich hier im Endkampf“ befände und fordert alle anderen Soldat*innen auf: „Auf keinen Fall spritzen lassen!“ Darüber hinaus äußerte er, dass er die Bundesrepublik Deutschland für keinen souveränen Staat halte und sagte: „Die Zionisten ziehen aus dem Hintergrund immer noch die Fäden.“

Gegen beide Soldaten wird intern ermittelt. Im Fall Andreas O. ist auch die Generalstaatsanwaltschaft München eingeschaltet, wie es heißt. Der Oberfeldwebel war bereits Monate vor seinen Auftritten wegen anderer Auffälligkeiten vom Dienst suspendiert worden. Mitte Januar befasste sich der Verteidigungsausschuss des Bundestags mit den Vorgängen bei den Gebirgsjägern. Laut Süddeutscher Zeitung hieß es aus Teilnehmerkreisen, derzeit gäbe es keinen Verdacht, dass sich am Standort womöglich ein Netzwerk von radikalisierten Querdenkern etabliert haben könnte. Die beiden Soldaten, gegen die ermittelt wird, seien in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt gewesen und hätten unabhängig voneinander gehandelt.

Tagesschau.de berichtete Mitte Januar, auf Telegram gebe es mehrere Gruppen, deren Namen es nahelegten, dass sich dort Soldatinnen und Soldaten sowie Reservistinnen und Reservisten vernetzen. Einige leugneten die Corona-Pandemie, viele lehnten die damit einhergehenden Hygienemaßnahmen vehement ab. Die Gruppen umfassten einige hunderte bis mehrere tausend Mitglieder, die größte Gruppe habe 3.300 Mitglieder. Zitiert wird in dem Beitrag der Politikwissenschaftler Josef Holnburger mit der Einschätzung, „dass nur ein kleiner Teil der Gruppenmitglieder tatsächlich Soldat:innen oder Reservist:innen sind“. Es gebe Gruppen, in denen konkrete Gewaltfantasien geäußert oder sogar geplant würden. Bedrohungen sollten nicht als harmlos abgetan werden, betonte Holnburger: „Vor allem vor dem Hintergrund, dass Soldat:innen auch Zugriff auf Waffen haben.“

Das ist der entscheidende Punkt. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen erweist sich die Coronapandemie auch bei der Bundeswehr als Treiber ohnehin schon laufender Prozesse der Radikalisierung und Vernetzung. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie bieten neue Anlässe und Argumente, um „Widerstand“ gegen den Staat, die Regierung, die Behörden, die Mehrheitsgesellschaft zu leisten. Die Gefahr, dass Soldat:innen ihre Waffen dafür einsetzen, ist nicht kleiner geworden.

# Titelbild: Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), Soldaten der Bundeswehr im Impfzentrum Kölnmesse

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Am 13. November steht die nächste bundesweite Mobilisierung der Neonazis von der Kleinstpartei „Der III. Weg“ ins bayerische Wunsiedel an. Entgegen des schwachen Trends bei antifaschistischen Gegenprotesten zeichnet sicht bei Veranstaltungen des „III. Wegs ein anderes Bild, zuletzt am 03. Oktober 2020: Viele Teile der radikalen Linken kamen zusammen, um einen bundesweiten Aufmarsch der Neonazis zu verhindern. Mit einer der größten antifaschistischen Protestaktionen in Berlin seit Jahren konnte der Aufmarsch teilweise militant begleitet und letztendlich auf wenige hundert Meter verkürzt werden. Der „III. Weg“ ist für viele Antifaschist:innen ein rotes Tuch.
Dabei stellt sich die Frage: Wie gefährlich ist die Kleinstpartei? Auf welche Strukturen können die Neonazis zurückgreifen und was kann ihnen entgegengesetzt werden?

Inszenierte Medienaktionen

Ein wichtiger Aspekt der Parteiarbeit von „Der III. Weg“ ist der Wunsch nach medialer Aufmerksamkeit. Deswegen sind viele ihrer Aktivitäten notdürftig inszenierte PR-Spektakel, die auf der eigenen Homepage aufgeblasen werden – teilweise mit Erfolg. Im Kontext der Bundestagswahl 2021 etwa lieferten ihre Plakate mit der Aufschrift „Hängt die Grünen“ den gewünschten Schockeffekt. Die anschließende öffentliche Empörung brachte die Partei bundesweit in die Medien; ein durchaus wohlwollender juristischer Umgang tat sein Übriges. So urteilte beispielsweise das Amtsgericht Chemnitz, dass die Plakate nicht grundsätzlich strafbar seien. Sie müssten nur im Abstand von 100 Metern zu Grünen-Plakaten aufgehängt werden.

Diese Strategie der inszenierten Medienaktion ist nicht neu. Bereits zur Europawahl 2019 erzielte die Partei mit der Plakatekampagne „Reserviert für Volksverräter“ ein ähnliches Echo. Medien und Justiz machen sich so zu willkommenen Wahlkampfgehilfen einer strukturschwachen Kleinstpartei, die beispielsweise 2021 nur sehr eingeschränkt zur Wahl antrat. In Berlin reichte sie nicht einmal einen Wahlvorschlag ein.

Erst vor wenigen Wochen landete „Der III. Weg“ erneut in den Schlagzeilen. Anlass war ein sogenannter „Grenzgang“ am 23. Oktober. Die Neonazis wollten so die öffentliche Diskussion um die steigenden Zahlen von Geflüchteten, die über Polen versuchen in die Bundesrepublik zu gelangen, für sich nutzen. Sie riefen dazu auf, mit Nachtsichtgeräten und Taschenlampen an der polnischen Grenze von Brandenburg Geflüchtete abzufangen. Vorbild hierfür dürften einerseits die Demonstrationen der österreichischen Identitären in Spielberg 2015 gewesen sein, bei denen sie sich als „menschliche Grenze“ inszenierten. Andererseits erinnert die Aktion an die von faschistischen Bürgerwehren in Bulgarien organisierten Grenzpatrouillen. Allerdings hat der „III.Weg“ weder die Mobilisierungskraft der Identitären noch die paramilitärische Erfahrung der Bürgerwehren. Die Brandenburger Polizei stellte in der Nacht trotzdem 50 Personen fest, die dem Aufruf gefolgt waren. Laut Medienberichten hatten die Neonazis Pfefferspray, Schlagstöcke und sogar eine Machete und ein Bajonett dabei. Hinter den PR-Aktionen der Partei steht also ein reales Gewaltpotential. Doch das ist nicht erst seit diesem Jahr bekannt.

Der III. Weg“ – von der Gründung bis heute

Die Gründung der Partei vor acht Jahren war eine Reaktion auf die Verbote vieler Neonazikameradschaften. Parteien sind, wie das immer wieder gescheiterte Verbot der NPD zeigt, wesentlich schwieriger zu verbieten, als Vereine oder inoffizielle Vereinigungen. Seit Beginn versteht sich „Der III. Weg“ explizit als „Bewegungspartei“ und damit als Alternative zur NPD, deren Entwicklung zur Wahlpartei szeneintern kritisiert wurde. Ehemalige NPD-Funktionäre gehörten ebenso zu den Gründungsmitgliedern, wie Personen aus dem mittlerweile verbotenen Kameradschaftsnetzwerk „Freies Netz Süd“.

Kennzeichnend für die politische Arbeit vom „III. Weg“ sind die strengen Hierarchien, sowie ein betont soldatisches Selbstverständnis. So fordert die Partei von ihren Mitgliedern in Parteikontexten auf Alkohol und andere Drogen zu verzichten. Öffentlichen Auftritte sind geprägt von geordneten Fahnenreihen und Marschtrommeln. Zudem strebt die Partei eine weitestgehende Uniformierung der Anwesenden in der offiziellen Parteikleidung an.

Ein weiterer wichtiger Teil der Parteiarbeit sind Sportangebote. Vor allem im Bereich des Vollkontaktkampfsportes ist „der III. Weg“ mit faschistischen Sportler:innen und Vereinen gut vernetzt. Mitglieder vom „III. Weg“ treten regelmäßig auf Neonazi-Kampfsportveranstaltungen in der Bundesrepublik und darüber hinaus an.

Insgesamt hat „Der III. Weg“ in der gesamten Bundesrepublik aber nur wenige hundert Mitglieder, die vor allem bei bundesweiten Aufmärschen zusammenkommen. Regionale und lokale Aktivitäten sind weitaus schlechter besucht. Organisatorische Zentren sind das sächsische Vogtland und das Siegerland in Nordrhein-Westfalen. In Plauen und Siegen betreibt die Partei eigene Räumlichkeiten, in denen zwar Hausaufgabenhilfen oder Sportangebote stattfinden. Eine nennenswerte Anschlussfähigkeit über die lokalen Rechtsradikalen hinaus ist jedoch nicht zu erkennen. Insgesamt herrscht an vielen Standorten der Partei vor allem ein Mangel an Räumen und aktiven Mitgliedern. So beschränken sich die öffentlichen Aktivitäten der Partei oft auf das großflächige Verteilen von Propaganda. Regelmäßig treffen sich beispielsweise Mitglieder der Berliner und Brandenburger „Stützpunkte“ zum Flyern. Bekannte Hotspots der Aktivitäten sind vor allem die Wohnorte einzelner Partei-Kader, wie in Berlin der Lichtenberger Weitlingkiez oder Hellersdorf. International ist die Partei bei aller Schwäche von Basisarbeit trotzdem gut vernetzt. Sie unterhält beispielsweise Kontakte zu der politischen Bewegung, die dem ukrainischen Neonazi-Regiment ASOV nahesteht.

Eine Reihe von Anschlägen in Neukölln und gewaltbereite Neonazis

Die öffentlich bekannten Aktivitäten sind jedoch angesichts dessen, was die bekannten Mitglieder der Partei treiben, harmlos. Denn im III. Weg sammeln sich vor allem gewaltbereite Neonazis aus ehemaligen Kameradschaften, die in der NPD keine Perspektive mehr sehen. Ein Beispiel ist der ehemalige NPD-Aktivist Sebastian Thom aus Berlin. Er war bereits in den 2000ern Hauptakteur beim „Nationalen Widerstand Berlin“. Das „NW Berlin“ genannte Netzwerk führte u.a. Aktionen und Outings gegen politische Gegner:innen durch. Mit seinem im letzten Jahr bekannt gewordenen Wechsel zum „III. Weg“ reiht sich Thom in eine langen Liste (Ost-)Berliner Neonazis vom „NW Berlin“ ein.

In den vergangenen Jahren gerieten Thom und sein Umfeld immer wieder durch Brandanschläge und andere Angriffe auf politische Gegner:innen ins Visier der Ermittlungsbehörden. So auch am 1. Februar 2018, als das Auto des LINKEN-Politikers Ferat Kocak in Neukölln in Brand gesetzt wurde. Die Flammen schlugen von der Garage fast in das Wohnhaus über, in dem Ferat Kocak und seine Eltern schliefen. Doch sie hatten Glück, bemerkten den Brand rechtzeitig und überlebten.

Der Brandanschlag schlug erheblich Wellen, denn er hätte verhindert werden können: Die Berliner Polizei wusste von den Brandvorbereitungen. Bereits seit Januar 2017 wurde Thoms Handy vom Verfassungsschutz abgehört. Sie hörten mit, wie er mit seinem Komplizen Tilo Paulenz – damals noch Funktionär der AfD Berlin-Neukölln – Ferat Kocak ausspionierte. Knapp zwei Wochen vor der Tat informierte der Verfassungsschutz die Berliner Polizei von den Planungen. Diese reagierte nicht. Im Nachhinein behauptete die Behörde, Ferat Kocak nicht gewarnt zu haben, da die Schreibweise des Namens nicht bekannt gewesen sei. Deshalb hätten sie ihn nicht in ihren Datenbanken gefunden. Trotz zahlreicher Indizien, die auf Thom und Paulenz als Täter in dieser Sache hinweisen, wurde ihnen bisher nicht der Prozess gemacht. Zwischenzeitlich wurde sogar der ermittelnde Staatsanwalt vom Fall abgezogen, weil eine ideologische Nähe zu den Verdächtigen vermutet wird. Es scheint letztendlich so, als sei vor allem Thom ein regelrechtes Justizwunder und könnte unbeirrt mit Angriffen fortfahren. Sein Bewegungswissen stellt er nun dem „III. Weg“ zur Verfügung.

Ungeklärte Brandanschläge in Spandau

Weitere mögliche Verknüpfungen zwischen militanten Angriffen auf linke Strukturen und dem Spektrum vom „III. Weg“ sind die Vorfälle rund um das alternative Hausprojekte Jagow 15 in Berlin-Spandau. Im April 2021 kam es dort zu zwei Brandanschlägen. Kurz darauf folgte eine Bombendrohung gegen das Haus. Schon seit Januar 2021 mehrten sich Naziparolen und -symbole an der Hausfassade. Zudem berichteten Bewohner:innen von zunehmenden Problemen mit Neonazis im Kiez. Eine von ihnen ist Lilith E.. Sie lebt in Spandau und blickt auf eine lange Laufbahn in der Berliner Neonazi-Szene zurück. Bereits vor Jahren fiel sie bei der Reichsbürgergruppe „Gelbe Westen Berlin“ auf. Inzwischen ist sie auf jeder Aktivität des „III. Weg“ in Berlin anzutreffen. Doch auch internationale Neonazi-Events werden von ihr besucht. Sie nahm u.a. am extrem rechten „Ausbruch-Marsch“, einer extrem rechten „Gedenkveranstaltung“ an die „Schlacht um Budapest“, teil. Um der Wehrmacht zu huldigen laufen dabei jedes Jahr hunderte Neonazis aus ganz Europa – vermummt und überwiegend in Tarnfleck gekleidet – über 60 Kilometer durch die Nacht.

Lilith E. ist ein fester Teil vom „III. Weg“. Sie scheint vor allem in der Jugendarbeit der Partei aktiv zu sein und ist regelmäßig mit jugendlichen Anwärtern unterwegs, wie der Neonazi-Jugendgruppe Division MOL. E. lebt nicht weit weg von der Jagow 15 und war bereits in der Vergangenheit gegenüber einer Hausbewohnerin aggressiv. Zudem tauchten vor und nach den Brandanschlägen immer wieder Sticker des „III. Wegs“ rund um das Haus auf. Das zeigt zumindest, dass E. und ihre Kameraden nach dem Brandanschlag vorbeikamen, um die Gegend zu markieren. Trotz dieser Hinweise und der vielen Anhaltspunkte für ein rechtes Motiv der Anschläge, verdächtigte die Polizei zunächst einen Hausbewohner, was sich im Nachhinein als vollkommen haltlos herausstellte.Gegen E. nun eine mögliche Beteiligung von Neonazis des „III. Weg“ wurde hingegen nicht ermittelt.

Der „III. Weg“ als Deckmantel eines militanten Faschismus?

Wie gefährlich ist also „Der III. Weg“? Die oftmals stümperhafte Medienarbeit darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er vielleicht die wichtigste überregionale Neonazi-Struktur in der Bundesrepublik ist. Die Kleinstpartei braucht keine Wahlerfolge. Gemäß dem Selbstverständnis als „Bewegungspartei“ eines „revolutionären nationalen Sozialismus“ steht die lokale Organisierung und überregionale Vernetzung von faschistischen Akteur:innen im Vordergrund ihrer Politik. Für eine gelingende Parteiarbeit trotz vergleichsweise geringer Mitgliederzahlen, sowie der Schwäche zahlreicher Parteistützpunkte braucht „Der III. Weg“ vor allem öffentliche Aufmerksamkeit. Diese soll durch gezielte PR-Aktionen sowie die Präsentation jeder noch so kleinen Aktivität der lokalen Strukturen hergestellt werden. Dabei spielen Medien, Justiz, aber auch antifaschistische Strukturen allzu oft das Spiel der Faschist:innen mit.

Das wahrscheinlich wichtigste Standbein der politischen Arbeit vom „III. Weg“ sind aber die bundesweiten Demonstrationen. Neben der Außenwirkung dienen diese vor allem dazu, den wenigen hundert Parteimitgliedern bundesweit das Gefühl zu geben, zu einer neonazistischen „Kampfgemeinschaft“ zu gehören. Die ein bis zwei bundesweiten Demonstrationen pro Jahr sind aber alles, was „Der III. Weg“ in diesem Bereich organisatorisch leisten kann und die erfolgreiche Brechung dieser Selbstdarstellung durch Antifaschist:innen macht diese Anstrengungen zunichte.

Trotz allem finden bekannte Kader sowie oftmals militante Aktivist:innen aus Kameradschaften, NPD und sonstigen Neonazistrukturen in der Partei einen Anlaufpunkt. Mit ihren Kontakten in die bundesdeutsche wie internationale Neonaziszene sowie einem über die Jahre erworbenen Wissen und entsprechenden Fähigkeiten bilden diese Kader das Rückgrat der Partei. Im Moment ist die Partei ein Deckmantel, hinter dem sich ein militanter Faschismus organisieren kann, insbesondere die Anschlagsserien von Berlin-Neukölln und Spandau, deren Spuren direkt in die Parteistrukturen führen, zeigen das. Dieses Potential und die Gefahr, die vom III. Weg ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Deshalb sind frühzeitige antifaschistische Interventionen gegen den „III. Weg“, seine Akteur:innen und Aktivitäten weiterhin notwendig.

# Titelbild: © Tim Mönch, Aufmarsch vom „III. Weg“ am 1. Mai 2019 in Plauen

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Der stechende Rauch meiner Zigarette steigt mir in die Augen. Durch die Tränen erkennt man ein jüdisches Viertel: Buchhandlungen, Markstände und Restaurants mit hebräischen Schildern. An mir laufen ein Rabbi und eine Gruppe orthodoxer Juden vorbei. Ein untypisches Bild für das tiefste Ostdeutschland. Der Wind zieht an meinen geschorenen Seiten lang, die Decke um meine Schultern rutscht herab, die Hakenkreuzbinde um meinen Arm leuchtet auf. Vor mir steht ein älterer Mann. Er schlägt die Hacken zusammen, hebt den rechten Arm und brüllt: „Sieg!“.

Drei Monate zuvor bewarb ich mich auf eine Rolle bei einer Filmproduktion in meiner Stadt – ein wenig die Kohle ausbessern, bevor das Semester anfängt: „Wird schon nicht so schwer sein, der Job.“ Dachte ich. Doch als die Casterin mein 161-Tattoo sah, fand sie es wohl lustig mich die nächsten Monate in einer SA-Uniform durch meine Heimatstadt marschieren zu lassen; Immer die gleichen 100 Meter, vor und zurück. Zehn Minuten Drehpause und dann wieder 100 Meter, vor und zurück.

„Alles auf Anfang… und bitte!“

Ich fange an zu marschieren, Zigarette an, böser Blick in die Kamera, Mann mit Kippa anrempeln, Zigarette weg, gerade stehen, Kameraden grüßen und-

„Danke aus!“

Meine Laune wird zunehmend schlechter, wieder nicht die komplette Strecke geschafft! Ich hänge meine Decke wieder um, damit die umstehenden Passanten keine Fotos von mir in der Uniform machen können. Während ich im Kopf ausrechne, wie viele Stunden ich schon arbeite, tippt mich ein anderer Komparse an der Schulter an. Er spielt einen orthodoxen Juden. Der angeklebte Bart hat gelbe Nikotinflecken, die Locken an den Seiten baumeln im Wind, der lange Mantel ist mit künstlichen Patina versetzt. Er räuspert sich.

„Na Männer!? Habt ihr meine Freunde schon verbrannt?!“ Er lacht. „Neben euch fühl’ ich mich ja wie ein Mensch zweiter Klasse!“ Ein breites Grinsen zieht sich durch den angeklebten Bart. Ich will etwas sagen, doch er lehnt sich näher ran: „Ich fühl mich ja in Deutschland auch so wie ein Mensch zweiter Klasse…“ Er blickt sich um, stellt sicher, dass ihn außer uns niemand hört und flüstert: „Ich bin ja ungeimpft.“ Später wird er noch mit anderen über die Rothschilds und Merkels vermeintlich jüdische Herkunft reden.

„Wir machen Drehfertig!“

Ich muss schnell auf Position. Verwirrt von dieser spontanen Offenbarung komme ich auf meiner Marke an. Mit einer anderen Gruppe von SA-Männern warte ich auf das Zeichen des Aufnahmeleiters. Hektisch kommt einer der Security-Mitarbeiter auf uns zu und zieht mir die Decke von der Uniform. Er tippt die Hakenkreuzbinde an, schaut mir in die Augen und mustert die anderen Nazis um mich herum:

„Geil!“ Platzt es aus ihm heraus. „Jungs. Einfach geil! Da müssen wir ein Foto machen – Alle zusammen!“

Unter meinem Atem kommt nur ein leises „Verzieh dich“ heraus.

„Alles auf Anfang….und bitte!“

Marschieren, Kippe an, böser Blick, anrempeln, Kippe aus, gerade stehen, Grüßen, „Sieg Heil!“, umdrehen und marschieren.

„Danke aus! Drehschluss für heute!“

Hektisch zieht die Filmcrew an uns vorbei. Kameras werden von ihren Stativen genommen, Scheinwerfer umher getragen, die Garderobieren hängen uns wieder die Decken um. Langsam trotten wir vom Set, um uns umzuziehen.

In meiner Stadt erzielte die AfD bei der letzten Landtagswahl 33 %. Rein statistisch kann man also davon ausgehen, dass von 100 Menschen 33 AfD-Wähler sind. An dem Set arbeiten mit mir zusammen genau 100 Komparsen und über die nächsten Tage hinweg werde ich erleben, was meine Kostüm-Uniform in einigen von ihnen auslöst.

Der nächste Drehtag bricht an. Um fünf Uhr morgens stehen wir alle wieder da um eingekleidet zu werden und indie Maske zu kommen. Ich stelle mich zu einer anderen Gruppe von Männern: Kaffee und Zigaretten sind immer noch die einfachste Form der Kumpanei auf Arbeit. Handys in den typischen Ü-40-Klapphüllen gehen um, darauf sind Fotos von einer Anti-AfD Demo nur wenige Tage zuvor zu sehen: „Da gab’s wieder Mengenrabatt bei der Antifa“ witzelt einer. In der heißen Phase der Wahlkampfs stattete Alice Weidel meiner Stadt einen Besuch ab, die 33 % wurden in der Bundestagswahl zu 35 %, der Kandidat der AfD bekam ein Direktmandat. Die Laune der Kameraden ist dementsprechend gut.

Ich werde eingekleidet, die Uniform schnürt mir die Luft ab, die Pomade lässt meine Haare in der aufgehenden Morgensonne glänzen. Mit meinem Frühstück in der Hand warte ich in der Produktionsbasis, einer Zeltstadt inmitten der Innenstadt, auf den Einsatz. Der ältere Mann aus dem Prolog tritt an mich heran:

„Morgen…“ murmel ich, er schlägt die Hacken zusammen, zeigt zweimal den Hitlergruß und geht weiter.

Der Tag ist jetzt schon gelaufen – noch bevor ich meine 100 Meter antreten muss.

Wir kommen ans Set, ich werde einem anderen SA-Mann zugeteilt, wir beide müssen heute zusammen durch das Viertel patrouillieren: Er soll dabei so tun, als würde er mir etwas erklären, ich nur nicken und zuhören.

„Wir sind wieder kurz davor…alles auf Anfang…und bitte!“

Zusammen laufen wir los. Mein Kollege legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich ran.

10 Meter:

„…Die Soldaten werden bei den kommenden Offensiven keinen Pardon kennen. Die Divisionen werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst…“

Seine Umarmung wird fester, der Rauch seiner Zigarette schlägt mir ins Gesicht.

20 Meter:

„…Und wenn sie dann ihre Gewehre schultern und ihre Panzerfahrzeuge besteigen, dann haben sie nur ihre erschlagenen Kinder und geschändeten Frauen vor Augen und ein Schrei der Rache wird aus ihren Kehlen emporsteigen…“

30 Meter:

„…Das wir den Feind schlagen und zurückjagen werden und ich glaube so fest daran…“

40 Meter:

„…Mit Stumpf und Stiel ausrotten…“

50 Meter:

„…Bis zum letzten Blutstropfen…“

Nach 60 Metern endlich Erlösung:

„Danke aus!“

Insgesamt sechsmal hörte ich von meinem Kollegen diesen auswendig gelernten Flickteppich aus Goebbels Reden. Das „Nur so tun“, erübrigte sich nach dem ersten Stechschritt auf den heutigen 100 Metern. An der Hauswand einer koscheren Fleischerei sinke ich auf den Boden und atme durch: Endlich Pause. Einer der anderen Komparsen tritt an mich heran, wir rauchen Eine und schweigen. Es tut gut, gerade nicht reden zu müssen.

„Mein Sohn sagt immer: Papa, du redest wie ein Nazi“ sagt er beinahe melancholisch. Ich sehe ihn an. „Ich bin aber kein Nazi.“ Sein Blick ist Stur von mir abgewendet und auf eine der Garderobieren gerichtet, die mit dem Rücken zu uns steht.

„Und…“ frage ich, „Was bist du dann?“

„Unternehmensberater. Ein Unternehmensberater der einfach eine andere Meinung zu Dingen hat, als der Mainstream. Bis du ein sogenannter Nazi?!“ Fragt er mich. Ich blicke an meiner SA-Uniform herab: „Nein.“

In dem Gespräch eröffnet mir der Unternehmensberater seine Wendegeschichte. Er studierte Wirtschaft in der DDR, trat der SED bei und entnahm den Büchern des Dietz Verlags alles was man brauchte, um die Ost-Kombinate genauso erfolgreich zu gestalten wie die Konzerne im Westen.

„Und wir wollten so gut sein wie die da drüben!“ Doch als die Wende kam erübrigte sich auch der sozialistische Ehrgeiz. Er bekam eine Anstellung in einem BRD-Großkonzern: „Wir haben dort alles optimiert! Alles! 50% des gesamten Betriebs haben wir effektiviert!“

„Du hast also die Hälfte der Belegschaft entlassen?“ Frage ich zunehmend genervter.

„Nein!“ Sein Blick ist nun fest auf mich gerichtet: „Wir haben effektiviert.“

Ich bemerke, dass ich mit meiner Uniform zu einer Art Projektionsfläche werde, die die wahren Gesinnungen der Menschen um mich herum zum Vorschein holt. AfD-Wähler witzeln über den Holocaust, relativieren ihn mit der aktuellen Pandemie. Andere stehen in der Öffentlichkeit – ohne das gedreht wird – mit erhobenen rechten Arm vor mir, besorgte Bürger rezitieren Goebbels, andere erzählen über den Verlust ihrer Ideale durch die Wende. Alles auf 100 Metern Weg.

Nach Drehschluss lerne ich in der Maske einen Sportschützen kennen. Ideologisch fällt es mir schwer, ihn einzuordnen. Stolz erzählt er mir von seinen Waffen: Ein Gewehr 98 und eine M.P. 40. Beides Nachbauten der populärsten Wehrmacht-Waffen. „Total geile Dinger.“

Mein letzter Drehtag bricht an. Das Licht eines 18.000-Watt-Mondes strahlt durch die Straßen des nun zerstörten jüdischen Viertels, überall liegt Dreck, die Straßen sind nass. Künstliche Schneeflocken fallen herunter, der kalte Wind gibt uns den Rest. Dicht stehen wir zusammen, einer der Komparsen erzählt uns von einer anderen Filmproduktion, Jahre zuvor.

Ich war auch dabei und erinnere mich gut. Damals standen wir auf einem Platz mitten in der Altstadt und spielten die Bücherverbrennung nach. Die historischen Häuser waren in rote Hakenkreuzflaggen eingekleidet, die orangenen Flammen züngelten zwischen Kästner und Brecht und reflektierten sich in den Stahlhelmen der SS. Die Arme schossen in die Höhe: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“. Ich stand damals mit am nächsten am Feuer, in meiner HJ-Uniform war mir kalt und unwohl, Hitler tobte auf der Bühne, das Singen wurde lauter und lauter.

Der Mann spielte damals einen der SS-Offiziere. Er erzählt uns wie seine besten Freunde – ein Kripo-Beamter der Polizei Sachsen und ein jetziges Mitglied der AfD im Landkreis – sich freuten, in den SS-Uniformen zu stecken. Er wird unterbrochen von einem Anderen: „Scheisse ey, ihr durftet Uniformen anziehen und ich muss bei jedem Film einen Zivilisten spielen, es kotzt mich an, ich will auch eine Uniform“ Ich erkenne den Mann: Er stand bei Alice Weidels Wahlkampfveranstaltung mit dabei.

Der SS-Offizier erzählt uns, wie er und seine Freunde – der AfD-Parteisoldat und der Kripo- Beamte – vorhatten, in den SS Uniformen das Set zu verlassen um in Polen Kippen kaufen zu gehen. Sie wurden von der Security daran gehindert; mehr aus Pflichtbewusstsein als wegen allem anderen: Gelacht wurde über das Vorhaben zusammen.

Die Flamme der Feuertonne gibt kaum Wärme. Das Schneegestöber wird stärker.

„Und bitte!“

Diesmal rennen wir unsere 100 Meter. „Ey! Ische! Bleib stehen!“ Brülle ich durch die Flocken. Wir verfolgen eine Schauspielerin, sie dreht sich um, ruft etwas und wird überfahren. Der Pulk der SA-Männer bleibt schlagartig stehen, schwer atmend schauen wir auf die Leiche der Schauspielerin. „Weg hier, los!“ Wir laufen in eine Seitengasse, wie feige Schweine.

„Danke aus!“

Monate nach dem Dreh gehe ich feiern, an der Tür des Clubs steht die Security-Firma von dem Typen, der mit uns am Set Uniform-Selfies machen wollte. Eine Gruppe durchtrainierter Männer mit Boxerschnitt und bayerischer Tracht geht an der Schlange vorbei, sie grüßen die Securities, zeigen keinen Impfnachweis und gehen in den Club. Wenig später sehe ich sie an der Bar, sie begrüßen einen ihrer Kameraden auf der Tanzfläche mit Hitlergruß. Der Frei.Wild-Kutten-Träger ist aber gerade zu sehr damit beschäftigt zu Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ zu tanzen und sieht den Gruß genauso wenig, wie die Mitarbeiter des Clubs oder die Security.

Ich gehe nach Hause und laufe dabei meine 100 Meter durch das ehemalige jüdische Film-Viertel. Ein Freund ruft mich an: Er berichtet, wie vier der Securities einen Besucher des Clubs nach draußen gezerrt und verprügelt haben, dabei stützte sich einer mit seinem Knie auf den Hals des am Boden liegenden. Genauso geschah auch der rassistische Mord an George Floyd.

Am Ende der 100 Meter wird mir klar, wie viele andere diesen Spießrutenlauf gehen müssen. Tägliche Pöbeleien, rassistische Anfeindungen, sexistische Kommentare – zwar ohne Kostüm und Dreharbeiten, aber mit den gleichen 35% um sich herum und ohne das rettende „Danke aus!“.

Hinter dem Ruf nach einer Politik gegen den „links-grünen Mainstream“ oder die Altparteien, hinter dem Ruf nach konservativer Politik mit geschlossenen Grenzen versteckt sich am Ende des Tages eins: Der Ruf nach Faschismus, nach Ausgrenzung, Rassimus, Waffen. Der Ruf nach dem Recht in einer Uniform durch die Stadt zu marschieren.

Keiner der 35% wird das offen zugegeben, doch es hat nur einen Schauspieler in einer SA-Uniform und 100 Meter weg als Katalysator für diese Gesinnungsoffenbarung gebraucht.

Alles auf Anfang, wir machen es nochmal!

# Titelbild: Mert Kahveci

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. In den vergangenen Teilen dieser Serie widmeten wir uns unter anderem der Familie Quandt/Klatten, dem Imperium der Schaefflers, den Faschisten-Finanziers des Finck-Clans und zuletzt der Kaffeedynastie Jacobs, ehe es jetzt um den Clan hinter Kühne + Nagel geht.

Ob und welchen Senf Klaus-Michael Kühne zu sich nimmt, wenn er mal ein Würstchen verspeist, ist nicht bekannt. Vermutlich ist es kein Kühne-Senf. Denn auf dieses Produkt respektive seinen Hersteller dürfte er nicht gut zu sprechen sein. Aus gutem Grund: Selbst in seiner Geburtsstadt Hamburg halten viele Menschen Klaus-Michael Kühne für den Chef der in der Hansestadt angesiedelten Carl Kühne KG halten, die durch die Präsenz ihrer Produkte – vor allem der Kühne-Senfgläser – im Supermarktregal viel bekannter ist als der Logistikkonzern, dessen oberster Boss Klaus-Michael Kühne ist.

Tatsächlich ist der Altonaer Senf- und Saucenhersteller mit seinen rund 328 Millionen Jahresumsatz nur eine Klitsche im Vergleich zu Kühne + Nagel, das mit einem Jahresumsatz von gut 22 Milliarden Euro zu den größten Logistikdienstleistern, man kann auch Speditionen sagen, der Welt zählt. Trotz dieses gelegentlichen Missverständnisses ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg immer noch am bekanntesten. Nicht nur weil er dort geboren wurde und aufgewachsen ist (er ging übrigens mit dem Liedermacher Wolf Biermann auf dieselbe Schule), sondern vor allem durch seine Sponsorentätigkeit für den Hamburger SV. Zuletzt ist das Verhältnis wohl etwas abgekühlt, weil ein Verein, der in die Zweite Liga absteigt und dann auch noch zweimal den Aufstieg verspielt, natürlich nicht wirklich zu einem Siegertyp wie Kühne passt.

Dass Klaus-Michael Kühne im Lande nicht die Prominenz hat wie die anfangs erwähnten Chefs von Autokonzernen oder meinetwegen die Familien Albrecht oder Oetker, liegt nicht daran, dass er weniger Geld hat als diese. Mit einem Vermögen von geschätzten 16,5 Milliarden Euro (Stand November 2020) gehört Kühne zu den 20 reichsten Einzelpersonen in Deutschland, spielt also ganz oben mit. Seine geringe Bekanntheit hat eher damit zu tun, dass sein Unternehmen Kühne + Nagel in einer wenig spektakulären und sinnlich wenig inspirierenden Branche angesiedelt ist: der Logistik.

Wie bei so vielen Clans des deutschen Kapitals basiert auch der Reichtum des Kühne-Clans auf einer verbrecherischen Bereicherung in der Zeit des deutschen Faschismus‘. Die Firma war unter den Nazis ein Hauptprofiteur der so genannten „Arisierung“ jüdischen Eigentums. Ihr kam unter anderem eine Schlüsselrolle bei der so genannten „M-Aktion“ des faschistischen Regimes zu. Dabei wurde bis August 1944 in Frankreich und den Benelux-Ländern die Inneneinrichtung von rund 65.000 Wohnungen geflohener oder deportierter Juden abtransportiert.

Ein Blick in die Geschichte des Unternehmens kann also hilfreich sein. Laut Wikipedia wurde die Firma im Juli 1890 von den Geschäftsleuten August Kühne (1855 – 1932), dem Großvater von Klaus-Michael Kühne und Friedrich Gottlieb Nagel (1864 – 1907) in Bremen als „Speditions- und Commissionsgeschäft“ gegründet. Nach dem Tod Nagels ging die Firma in den alleinigen Besitz von Kühne über. 1910 wurde der jüdische Kaufmann Adolf Maass, der seine Lehre im Unternehmen gemacht und später die Hamburger Niederlassung aufgebaut hatte, Teilhaber von Kühne + Nagel. 1928 wurde ihm ein Anteil von 45 Prozent der Besitzanteile am Hamburger Zweig von Kühne + Nagel vertraglich zugesprochen. Im Jahr 1932 starb Firmengründer August Kühne und seine Söhne Alfred – der Vater von Klaus-Michael Kühne – und Werner übernahmen das Geschäft. Im selben Jahr soll es laut Wikipedia zu einer geschäftlichen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Alfred und Werner Kühne und Maass gekommen sein. In der Folge habe Maass die Firma im April 1933 ohne Abfindung verlassen. An anderer Stelle des Onlinelexikons heißt es, der jüdische Teilhaber sei aus der Firma gedrängt worden, was der Wahrheit vermutlich näher kommt. Jedenfalls wurde Werner Kühne schon am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Mit einem jüdischen Mitinhaber wäre das wohl nicht möglich gewesen. Maas und seine Ehefrau wurden 1945 im KZ Auschwitz ermordet.

Mit dem Herausdrängen des jüdischen Teilhabers und dem Parteieintritt Werner Kühnes waren die Weichen gestellt, um groß abzusahnen. In den 1940er Jahren profitierte die Firma Kühne + Nagel durch den Transport und den Einsatz ihrer Logistikstruktur von sogenanntem „Judengut“, dem Hausrat der Deportierten aus ganz Europa, den sich der NS-Staat angeeignet hatte. Die „M-Aktion“ des NS-Regimes war ein Bereicherungsprogramm für den Kühne-Clan, wie den Angaben bei Wikipedia zu entnehmen ist. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man an die Schicksale denkt, die hinter den folgenden Zahlen steckt.

Demnach hatte die verantwortliche NS-Dienststelle bis August 1944 in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg die Einrichtungen von rund 65.000 Wohnungen abtransportieren lassen. 500 Frachtkähne und 674 Züge seien dafür nötig gewesen. „Bei der Umsetzung half Kühne + Nagel“, heißt es nüchtern. Das Unternehmen sei direkt und mit Hilfe von Subunternehmen in allen besetzten westlichen Ländern aktiv gewesen.

Die Transporte aus den Niederlanden sind dabei am ausführlichsten recherchiert. K + N charterte beispielsweise einen eigenen Dampfer, um jüdisches Raubgut in das Deutsche Reich zu transportieren. Das erste Frachtschiff aus Amsterdam traf laut Wikipedia im Dezember 1942 in Bremen ein. Die Stückliste wies 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 32 Uhren, ein Grammophon und zwei Kinderwagen aus. Dabei handelte es sich um das Eigentum niederländischer Juden, die im Sommer 1941 in Konzentrationslager deportiert worden waren. Für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg führte Kühne + Nagel laut dem Historiker Wolfgang Dreßen „allein aus Paris […] zwischen 1941 und 1944 insgesamt 29 Kunsttransporte“ durch. In Südfrankreich suchte ein Mitarbeiter von Kühne + Nagel aktiv nach Möbeln. Laut Dreßen gab es eine äußerst enge Zusammenarbeit mit Behördenmitarbeitern und der deutschen Besatzung.

Für Historiker, die sich mit der Geschichte des Konzerns befasst haben, ist die Sache klar. Die Firma sei „mitverantwortlich für den Tod von Leuten, sie haben damit Geld verdient“, bewertete Dreßen das Geschehen. Und der Historiker Frank Bajohr vom Münchner Zentrum für Holocauststudien im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) sah in den Geschäften von Kühne + Nagel „eine relative Nähe zum Massenmord“. Der Historiker Johannes Beermann, der zu den M-Transporten forschte, wird bei Wikipedia mit den Worten zitiert, bei der Verschickung des zusammengeraubten Mobiliars der deportierten Juden habe die verantwortliche NS-Dienststelle Westen eng mit der Spedition zusammengearbeitet. Dreßen weist darauf hin, dass Kühne + Nagel nicht allein gewesen sei, denn andere große Logistikunternehmen seien ähnlich verstrickt gewesen. Allerdings war das Bremer Unternehmen führend in dem entstandenen verbrecherischen Wirtschaftszweig. Beermann erklärte, es sei dem Fuhrunternehmen gelungen, „sich so erfolgreich gegen potenzielle Mitbewerber durchzusetzen, dass Kühne + Nagel im Verlauf der ‚M-Aktion‘ quasi das Monopol auf diese lukrativen Staatsaufträge erhielt“.

Es versteht sich wohl von selbst, dass das verbrecherische Handeln der Firmenverantwortlichen mit dem Ende von Krieg und Faschismus nicht beendet war. Wohl eher pro forma wurden die Brüder Alfred und Werner Kühne durch amerikanische Stellen einer Untersuchung zu ihrer Rolle im Faschismus unterzogen. Aufgrund der Aktenlage wurden beide nicht „entnazifiziert“, sondern als „Mitläufer“ eingestuft. Damit hätte keiner der beiden die international tätige Spedition weiter führen dürfen. Doch man fand Mittel und Wege. Und man hatte mächtige Freunde.

So heißt es bei Wikipedia, in den Entnazifizierungsakten fänden sich Hinweise auf eine Intervention der CIA, die als „top secret“ klassifiziert war. Das Schreiben ist die Anordnung, dass Alfred Kühne zu entnazifizieren sei. Nach Informationen des Geheimdienst-Wissenschaftlers Erich Schmidt-Eenboom gehörte Kühne + Nagel zu den wichtigsten Tarnunternehmen der neu aufgebauten Organisation Gehlen, Vorgängerorganisation des Bundesnachrichtendienstes. Schmidt-Eenboom beurteilt die Bedeutung des Unternehmens wie folgt: „Die CIA hat 1955 eine Aufstellung sämtlicher Tarnfirmen des Gehlen-Apparates gemacht, und da rangiert Kühne + Nagel sehr weit oben. Zum einen die Bremer Zentrale, zum zweiten die Münchner Niederlassung und zum dritten war das Bonner Büro von Kühne+Nagel der Sitz von Gehlens Verbindungsmann zur Bundesregierung.“

Bekanntlich sahen die USA und ihre Verbündeten angesichts der „bolschewistischen Bedrohung“ aus dem Osten recht schnell nach Kriegsende über die Verbrechen der Nazis und ihrer Helfer hinweg. So auch im Falle des Kühne-Clans. Alfred und Werner Kühnes Konten- und Vermögenssperren und Anstellungsbeschränkungen wurden mit ihrer Entnazifizierung in die „Kategorie IV“ zum 1. Juli 1948 aufgehoben. Die Weichen für den Wiederaufstieg des Konzerns waren gestellt.

An all das wird Klaus-Michael Kühne natürlich nicht gern erinnert. Am Rande des Richtfestes der neuen Firmenzentrale am Bremer Weserufer erklärte er im Mai 2019 gegenüber dem NDR-Lokalmagazin „Buten un binnen“, er habe kein Verständnis dafür, dass das Thema „immer wieder hochgekocht wird“. Die Firma sei „damals Dienstleister gewesen und musste so etwas machen“. Das sei „der Zwang des Krieges“ gewesen. Diese Einlassung gleicht den Erklärungen früherer KZ-Wärter in Prozessen, so sie denn überhaupt vor Gericht kamen, sie seien doch nur „kleine Rädchen im Getriebe“ gewesen und man habe sie dazu gezwungen, auf Gefangene zu schießen.

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium; in Teil drei ging es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG; Teil vier widmete sich den Reimanns.

In Bielefeld steht die Rudolf-Oetker-Halle. Die ortansässigen Philharmoniker spielen dort auf, es finden Lesungen statt, die Halle ist denkmalgeschützt. Die Stadt bewirbt den „viel geschätzten Veranstaltungsort“ unter anderem wegen seiner „hervorragenden Akustik“. Der Namenspatron des Konzerthauses, Rudolf Oetker, war Sohn von August Oetker, dem Gründer des Pudding-Imperiums der heutigen Oetker-Gruppe. Als Erbe stand Rudolf dem 1891 gegründeten Familienkonzern vor, der bis heute eins der größten deutschen Traditionsunternehmen ist. Den Grundstein des heutigen Milliardenkonzerns bildete Backpulver, das sich, vermarktet mit dem professionellen Anstrich durch Doktortitel des Unternehmensgründers, bestens verkaufte. Sohnemann Rudolf Oetker starb 1916 während des Ersten Weltkrieges bei Verdun, nur kurz nachdem er in das Unternehmen eingetreten war. Die Familie stiftete die Bielefelder Konzerthalle, 1930 wurde sie eröffnet.

In der Heimatstadt des Multis, Bielefeld, steht – in Laufnähe zur Rudolf-Oetker-Halle – eine weitere Halle: die Bielefelder Kunsthalle. 1968 eröffnet und durch die Familie Oetker gestiftet hieß sie bis 1998 Richard-Kaselowsky-Haus. Richard Kaselowsky, den Rudolf Oetkers Witwe Ida Oetker nach dessen Tod geheiratet hatte, war glühender Nazi, Mitglied der NSDAP (wie auch Ida Oetker) und ab 1941 der Waffen-SS – und von 1920 bis zu seinem Tod 1944 Geschäftsführer des Konzerns. Der Oetker-Chef gehörte darüber hinaus auch dem „Freundeskreis Reichsführer SS“ an, in dem sich etliche deutsche Industrielle zusammengetan hatten und der unter anderem viele Millionen Reichsmark an den SS-Chef spendete.

Dass die Kunsthalle den Namen des bekennenden Nazis Kaselowsky trug, war keineswegs unumstritten. 1968 tobte um die Namensgebung der sogenannte „Bielefelder Kunsthallenstreit“, die lokale 68er-Bewegung mobilisierte sich darum herum, die Eröffnung war von Protesten begleitet. Denn dass Kaselowsky ein Nazi gewesen war, wusste man in der Stadt sehr wohl. „Nach dem Kaselowsky-Haus die Himmler-Uni?“, stand beispielsweise auf den damaligen Protestplakaten.

Über die Grenzen der Stadt hinaus hingegen war der Öffentlichkeit lange nur wenig über die Verstrickungen des Oetker-Clans in den deutschen Faschismus bekannt. Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker, der 1944 die Konzernleitung übernommen hatte, verhinderte zeitlebens jede Aufklärung. Deswegen stand Oetker lange nur für reaktionär-heimelige Nachkriegs-Pudding-Werbung, Kuchenrezepte oder die Ristorante-Fertigpizza und nicht für die gegenseitige Unterstützung von NS und deutschem Kapital

Zumindest im Kleinen änderte sich das vor wenigen Jahren, als auch größere Medien über die braune Vergangenheit des Konzerns berichteten. Anlass war, dass die Oetker-Familie den Historiker Andreas Wirsching mit einer Studie zu diesem Thema beauftragt hatte, die 2013 publiziert wurde. Noch später als viele andere Konzerne betrieb Oetker damit das, was in Deutschland „Aufarbeitung“ genannt wird. Nicht nur Rudolf-August Oetker war da bereits seit sieben Jahren tot, sondern auch die meisten Überlebenden der Zwangsarbeit, von der auch Oetker profitiert hatte.

Kein Blatt Papier“, Arisierungsprofiteure & Zwangsarbeit

In einem Interview mit dem Spiegel im Jahr 2013 anlässlich der Veröffentlichung dieser 400-seitigen Studie fasste es Wirsching so zusammen: „Zwischen Oetker und das NS-Regime passte kein Blatt Papier. Das gilt für die Familie wie für das Unternehmen. Wir haben keinen einzigen Beleg für eine Abgrenzung gefunden.“ Bemerkenswert ist dabei, dass die Oetkers in der Studie als in keiner Weise außergewöhnlich beschrieben werden: Kaselowsky sei zwar kein reiner Opportunist, sondern überzeugter Nazi gewesen, doch sei er damit laut Wirsching „ein typisches Beispiel für den fließenden Übergang von national-liberalem Bürgertum zu den Nationalsozialisten“. Wie viele andere habe er sich „von einem eher nationalliberalen Standpunkt aus nach rechts orientiert (…), die nationalsozialistische Alternative erschien als Chance“.

Diese „Chance“ wussten Konzernleitung und Familie zu nutzen, um Profitinteressen zu befriedigen, aber auch das eigene Sozialprestige zu steigern. So war Oetker ab 1933 mehrfach Nutznießer von sogenannten Arisierungen, am Beginn des Einstiegs ins Brauereibusiness etwa – bis heute ein Oetker-Geschäftsbereich – stand der Erwerb der Brauerei Groterjan, deren jüdische Besitzer brutal enteignet worden waren. Oetker war zudem in großem Stil oder auch mit kleineren Aktienpaketen an diversen Firmen beteiligt, die erheblich von Zwangsarbeit profitierten – wie an der Nähmaschinenfabrik Kochs Adler oder der Chemischen Fabrik Budenheim – ebenso wie an Firmen, die – wie der Schuhhersteller Salamander mit seinen „Schuhläufer-Kommandos“ – KZ-Häftlinge foltern ließen. Im Jahr 1937 war Oetker eines der ersten Unternehmen, das als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet wurde. Kaselowsky, der als Oetker-Geschäftsführer auch über die im Familienbesitz befindlichen „Westfälischen Neuesten Nachrichten“ verfügte, war laut der Wirsching-Studie „sofort bereit“, die einflussreiche bürgerliche Zeitung auf Bitte des Gauleiters hin „an die Partei abzutreten“.

Eine besondere „Chance“ ergab sich überdies für das Kerngeschäft der Oetkers – die Lebensmittelproduktion – durch die Aufrüstung und den 1939 begonnenen Krieg: „Bei Dr. August Oetker erkannte man, dass sich hier ein vielversprechendes Geschäftsfeld eröffnete“ – gemeint ist die Verpflegung der Wehrmacht, für die Oetker eng mit dem Heeresverpflegungsamt kooperierte. 1943 gründeten die SS, Oetker und die Hamburger Phrix-Werke gemeinsam die Hunsa-Forschungs-GmbH in Hamburg zur Entwicklung und Herstellung unter anderem von Nährhefe. Die Phrix war eines der ersten privatwirtschaftlichen Unternehmen, das – in Neuengamme – über ein eigenes KZ-Außenlager verfügte. Kaselowsky wusste – da ist sich der Historiker Wirsching sicher – genau, dass für das gemeinsame Unternehmen Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausgebeutet wurden.

In Litauen und Dachau

Auch Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker, Jahrgang 1916, war ein überzeugter Nazi. Er war Mitglied der NSDAP und folgte Kaselowsky 1942 in die Waffen-SS. Mit der Wehrmacht war Oetker im Herbst 1941 längere Zeit in dem kleinen Städtchen Varėna in Litauen stationiert, kurz nachdem dort 831 Juden, darunter 149 Kinder, ermordet worden waren. In der Wirsching-Studie heißt es, es sei sehr unwahrscheinlich, dass Oetker während seines Aufenthalts in Varėna nichts von diesem Massenmord erfahren habe. Nach seiner Rückkehr und dem Ausscheiden aus der Wehrmacht machte Oetker eine kleine Karriere in der Waffen-SS, unter anderem besuchte er die SS-Verwaltungsführerschule, die zur SS-Kaserne des Konzentrationslagers Dachau gehörte. 1944, nach Kaselowsys Tod, stieg er an der Firmenspitze auf und konnte seine Tätigkeit dort – nach einer kurzzeitigen Internierung nach Kriegsende und offizieller „Entlastung“ durch einen Entnazifizierungsausschuss im Jahr 1947 – fortsetzen. Gegen die Firma war zudem eine Vermögenskontrolle verhängt und ein bis 1947 tätiger Treuhänder eingesetzt worden, der allerdings sehr eng und offenbar teilweise auch entgegen seiner von der britischen Militärverwaltung vorgesehenen Rolle mit Oetker zu dessen Gunsten zusammengearbeitet haben soll.

Richard Kaselowsky und Rudolf-August Oetker sind nur zwei Angehörige des großen Oetker-Clans. Auch andere – etwa die eingangs erwähnte Ida Oetker sowie deren Tochter, Rudolf-Augusts Schwester Ursula Oetker, waren NSDAP-Mitglieder. Die beschriebenen Unternehmungen sind ebenfalls nur ein Ausschnitt der tiefen geschäftlichen Verstrickungen des weiterverzweigten Familienkonzerns in den deutschen Faschismus. Auch nach dem Krieg bestand ein Teil der in der NS-Zeit geknüpften Netzwerke für Oetker fort.

Aufarbeitung zur Imagepflege

Warum wurde dennoch, auch nach dem Tod des Patriarchen Rudolf-August Oetker, noch zwei Jahre lang im Kreise der Familie kontrovers diskutiert, ob man eine historische Studie zur Vergangenheit überhaupt in Auftrag geben sollte? Warum hat niemand der acht Kinder Rudolf-August Oetkers bereits vor dessen Tod eine solche vehement und öffentlich eingefordert und unabhängigen Historiker*innen Zugang zu den Archiven gewährt? Oftmals heißt es, die Firmenpatriarchen seien in vielen der traditionellen deutschen Industriellen-Familien nun einmal die Verhinderer der Aufklärung gewesen (Subtext: da kann man nix machen), die nachfolgenden Generationen hingegen offen für eine solche. Am Ende aber sind es die viel zu selten thematisierten ökonomischen Interessen und öffentlicher Druck, die – gegeneinander abgewogen – viel eher zu solchen späten Studien geführt haben dürften wie jene, die die Oetker Familie 2009 schließlich in Auftrag gab. Denn für ernsthafte Entschädigungszahlungen war es da in aller Regel längst zu spät. Der Imagepflege indes (und damit auch wieder dem Profitstreben) ist eine solche firmenfinanzierte Studie dann doch zuträglich.

Apropos Entschädigungen: Wegen der vielen da schon nachgewiesenen Beteiligungen an Firmen, die Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausgebeutet hatten, zahlte auch Oetker im Jahr 2000 in den seinerzeit von Bundesregierung und einer Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft aufgesetzten gemeinschaftlichen Entschädigungsfonds ein: Er umfasste insgesamt zehn Milliarden DM, fünf Milliarden DM davon hatten die Unternehmen eingezahlt. Ein Klacks im Vergleich zu den Vermögen, die die beteiligten Familien besitzen. Und ein Klacks im Vergleich zu den 180 Milliarden DM vorenthaltenen Löhnen, die deutsche Industrielle einer Rechnung des Wirtschaftshistorikers Thomas Kuczynski zufolge Zwangsarbeiter*innen schuldeten. Entschädigungen waren wohlgemerkt in der Rechnung Kuczynskis noch gar nicht enthalten.

Den Oetkers geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihre „Aufarbeitung“ wurde in der Tat vielfach anerkennend rezipiert. In verschiedenen Rankings der reichsten Deutschen landet die Oetker-Familie mit einem Vermögen von geschätzten sieben Milliarden Euro stets auf einem der vorderen Plätze. Die Oetker-Gruppe erzielt Unternehmensangaben zufolge zudem einen Jahresumsatz von 7,4 Milliarden Euro, 34.000 Menschen arbeiten für den Konzern. Dass dieser wirtschaftliche Erfolg nicht zuletzt auf der engen Zusammenarbeit mit dem NS aufbaut, gerät vor lauter Pudding und Verklärung zum Traditionsunternehmen allzu oft in Vergessenheit.

Zuletzt geriet Oetker – in Wirtschaftsblättern – in die Schlagzeilen mit einem Mega-Deal in der Getränkelieferdienstbranche. Und bei gewerkschaftlich interessierten durch die damit verbundenen Lohndumping-Methoden: Das Unternehmen Durstexpress, das zur Oetker-Familie gehört, hatte Ende Januar Hunderten Fahrer*innen und Lagerarbeiter*innen gekündigt und ihnen nahegelegt, sich nach der Kündigung beim Lieferdienst Flaschenpost neu zu bewerben – einem ehemaligen Konkurrenten, der mittlerweile auch zu Oetker gehört, aber seine Angestellten zu deutlich ungünstigeren Arbeitsbedingungen und niedrigeren Löhnen beschäftigt.

Und Bielefeld? Dort ist der Streit um den Einfluss der Oetkers und den Umgang der Stadt mit deren Nazi-Vergangenheit nie wirklich abgeebbt. Noch drei Jahre nachdem das Kunsthaus den Beinamen Richard-Kaselowsky-Haus verlor, wurde – 2001 – auf Wunsch des damals noch lebenden Rudolf-August Oetker eine Bielefelder Straße nach Kaselowsky benannt. Es war ein Geburtstagsgeschenk der Stadt an ihren wohl (einfluss)reichsten Sohn. Erst 2017 wurde der Straßenname wieder gestrichen – da war die Wirsching-Studie schon lange publiziert.

# Titelbild: Richard Kaselowsky und Hermann Göring 1937;
Foto: Walter Chales de Beaulieu; Logo Gemeinfrei; Montage LCM

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Die Lobbyorganisation der türkischen Regierungspartei AKP in Deutschland hat einen neuen Vorsitzenden gewählt. Die Besetzung dieses Postens steht sinnbildlich für die aktuellen Entwicklungen innerhalb des Regimes.

Die Union Internationaler Demokraten (UID), zuvor bekannt als Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die sich selbst zwar als politisch-neutral beschreibt, aber vor allem in Deutschland als Vorfeldorganisation der AKP tätig ist, hat einen neuen Vorsitzenden: Köksal Kus. Dieser setzte sich gegen Erdogans Favoriten Bülent Güven durch. Ein Hinweis auf den wachsenden Einfluss der faschistischen Kräfte im AKP-MHP-Bündnis.

Wer ist Köksal Kus? Selbst die Tagesschau berichtet davon, dass der neue Kopf der AKP-Lobby ein grauer Wolf ist. Er war mehrere Jahre lang aktives Mitglied der „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V.“, einem Sammelbecken für Organisationen und Gruppen der Grauen Wölfe. Seit 1979 lebt er in Deutschland, wie es heißt, weil er durch seine Beteiligung an der faschistischen Ülkücu-Bewegung „Bekanntschaft mit der Politik“ gemacht hat. Ende der 70er Jahre gab es viele Angriffe auf, politische Morde und Massaker an Linken, Alevit*innen, Gewerkschafter*innen und allen anderen, die nicht ins Weltbild der Faschisten passten. Viele der damaligen Täter flohen nach Deutschland, so wie auch nach dem Massaker in Sivas 1993, bei dem 34 alevitische Künstler*innen und Intellektuelle ermordet wurden. Die Übergriffe gingen auch in Deutschland weiter, wie der Mord am türkischen Kommunisten Celalattin Kesim durch graue Wölfe 1980 in Berlin zeigte.

Über den Hitler-Fan und Begründer der Ülkücu-Bewegung Alparslan Türkes schreibt Kus auf Facebook: „Am Jahrestag seines Todes gedenke ich seiner mit Barmherzigkeit (…). Millionen jungen Menschen – einschließlich meiner selbst – hat er geholfen, mit nationalen Werten und Gefühlen aufzuwachsen.“ Türkes hatte 1977 in einem Brief türkischen Kameraden in Deutschland geraten, sie sollen doch von den „Erfahrungen der NPD profitieren.

Im Kampf gegen den Kommunismus sah man die deutschen Nazis als Verbündete, bevor man sich eher weniger radikalen Parteien zuwendete und vor allem Mitglieder in der CDU unterbrachte, um dort die eigenen Positionen befördern zu können.

Ebenso postete er zum Gedenken ein Foto des Verstorbenen Mafiosi Abdullah Catli, der wegen Drogenhandels verurteilt war und an mehreren politischen Morden beteiligt gewesen ist. Der Aktivist Kerem Schamberger weist auf Facebook daraufhin, dass Catli unter anderem am Mord an 7 Mitlgliedern der türkischen Arbeiterpartei beteiligt war, dem sogenannten Bahcelievler-Massaker 1979. Verbindungen zum Papst-Attentäter und zum Anschlag auf ein armenisches Mahnmal in Paris werden ihm nachgesagt. In der Schweiz saß er wegen Drogenhandels im Gefängnis, brach jedoch aus und wurde in der Folge von Interpol gesucht. Einige Berühmtheit erlangte Catli vor allem durch seinen spektakulären Tod, den sogenannten „Susurluk-Skandal“. Denn zu den Todesopfern des Autounfalls zählten neben dem bereits erwähnten Mafiosi Catli und seiner Frau auch ein hochrangiger Polizeifunktionär, Hüseyin Kocadag. Schwer verletzt überleben konnte den Unfall der Parlamentsabgeordnete Sedat Edip Bucak. Bei Catli fand man einen vom damaligen Innenminister unterschriebenen Pass. Mehrere weitere Pässe, Rauschgift und Handfeuerwaffen mit Schalldämpfer wurden ebenfalls in dem Autowrack gefunden. Die Verbindung von Staat, Faschisten und organisiertem Verbrechen trat so ans Licht der Öffentlichkeit. „Dieser Unfall deckte die Zusammenarbeit und gemeinsamen Interessen von rechtsextremen Gewalttätern, die aufgrund politischer Verbrechen gesuchten wurden, in mafiösen Aktivitäten involviert waren und die die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützten, einerseits, und hochrangigen Verwaltungsbeamten, Polizeiführungskräften, Spezialeinheiten, bekennenden Militanten und Dorfschützern andererseits auf.“, hieß es im Human Rights Report von 1998 zu diesem Vorfall. Die Verbindung von Grauen Wölfen und dem organisierten Verbrechen kommen immer wieder zum Vorschein, wie auch vor kurzem als ein weiterer AKP-MHP-Lobbyist, der von Erdogan persönlich nach Brüssel geschickt wurde, an der EU-Grenze mit 100 Kilogramm Heroin erwischt wurde.

Mit der Wahl von Kus zum Vorsitzenden der UID setzt sich eine Tendenz fort, die sich seit einiger Zeit innerhalb der AKP-MHP-Koalition abzeichnete. Wie verschiedene türkische und kurdische Medien berichten, nehmen Personen des organisierten Verbrechens immer mehr politische Machtpositionen an. Viele Mafiosi wurden erst vor kurzem durch eine von Erdogan erlassene Amnestie aus den Gefängnissen entlassen. Unnötig zu erwähnen, dass im Rahmen der Amnestie keinerlei linke oder kurdische Gefangene freigelassen wurden. Dr. Yektan Turkyilmaz vom Forum für transregionale Studien in Berlin, beschreibt, dass der Einfluss der türkischen Mafia auf die Politik mit schwindender Stärke des Staates täglich zunimmt. Man könne mit Sicherheit sagen, dass die Mafia den Staat mehr nutze, als der Staat die Mafia, so Turkyilmaz.

#Titelbild: Gemeinfrei via Pixabay

Frederik Kunert arbeitet als Integrationserzieher an einer Grundschule in Berlin und beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Politik in der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung.

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Der Autor Herbert Renz-Polster geht in seinem neuesten Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ der Frage nach, was die Anhänger rechtspopulistischer Parteien eint. Es sei weder wie vielfach vermutet das Bildungsniveau, noch die ökonomische Lage, sondern vielmehr ihr schon in der Kindheit entstehender stärkerer Hang zum Autoritarismus. Unser Autor Frederik Kunert fasst die Erkenntnisse des Buches zusammen.

Der ehemalige Kinderarzt und Autor zweier pädagogischer Bestseller hält viele Erklärungsmuster für das Erstarken des Rechtspopulismus für zu einfach. So ist z.B. die These, AFD-Anhänger zählten zu den „Abgehängten“ der Gesellschaft nicht haltbar. Vier von fünf AFD-Anhänger*innen bezeichnen ihre wirtschaftliche Lage als gut bis sehr gut, die Mehrheit der AFD-Wähler*innen kam aus bürgerlichen Verhältnissen, die Soziologin Cornelia Koppetsch nennt es gar den „Aufstand der Etablierten“, so sehr sieht sie die AFD in der Mittelschicht verwurzelt. Auch Donald Trump hatte bei den Wahlen 2016 in allen Einkommensschichten eine Mehrheit, nur nicht bei den Ärmsten. Auch das fehlende Bildungsniveau taugt nicht als Erklärung. Die AFD findet nicht unerheblichen Anklang in akademischen Kreisen, eine Partei der „Bildungsversager“ ist sie nicht. Durch Fragen nach der realen Lebenssituation lassen sich Anhänger*innen des Rechtspopulismus nicht identifizieren. Erst durch Fragen nach den konkreten Ängsten bekommt das rechte Lager langsam Kontur: 90 bis 95% der AFD-Wähler*innen fürchten beispielsweise die Bedrohung der „deutschen Sprache und Kultur“, hätten „Angst vor dem Islam und vor Kriminalität“. Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan bestätigt, dass es oft gar nicht um die vielbeschworenen Verlust- oder gar Existenzängste geht, sie spricht hierbei von „einer Sehnsucht nach Eindeutigkeiten“: der Hang zu Recht und Ordnung, die Angst vor Überfremdung oder davor, die eigene Bedeutung verlieren zu können, all das sind Gefühle, die die Rechtspopulisten einen. Kurz gesagt: Was sie eint, ist der Hang zum Autoritarismus.

Im Folgenden versucht der Autor dies zu belegen. So vergleicht er beispielsweise anhand der USA die Befunde von Studien zum Thema Gewalt in der Erziehung mit den Zustimmungswerten für Donald Trump in einer Region. Auch wenn Gewalt in der Erziehung in den USA allgemein weit verbreitet ist (etwa 70% stimmen der Aussage zu, manchmal sei es nötig Kinder mit ein paar guten, harten Schlägen zu disziplinieren) und die Erziehung durchschnittlich autoritärer gestaltet wird, so zeigt sich: Dort wo die Zustimmung zu Gewalt in der Erziehung am höchsten ist, ist auch die Zustimmung für Donald Trump am größten. Die ersten 22 Staaten mit den höchsten Zustimmungswerten zu der Frage „Ist es okay, Kinder zu schlagen?“ gingen allesamt an Trump. Andersrum sieht es ähnlich aus, wie die von der Kinderschutzorganisation Save the Children zusammengetragenen Daten zeigen: Von den zehn bestplatzierten Bundesstaaten in ihrer Liste, also denen, in denen Kinder am sichersten aufwachsen können, ging kein einziger an Trump.

In Deutschland wird die Stärke der rechten Szene in der ehemaligen DDR oft damit erklärt, sie sei die Antwort auf schwierige Lebensbedingungen und eigene Ausgrenzungserfahrungen nach der Wende. Die Autoritarismusforscherin Prof. Gerda Lederer untersuchte jedoch kurz vor dem Fall der Mauer Kinder und Jugendliche in der DDR und kam zu dem Befund, dass diese in allen untersuchten Domänen höhere Autoritarismus-Werte aufwiesen als die Kinder und Jugendlichen in der BRD, dazu zählten Ablehnung von Ausländern sowie Gehorsam gegenüber Autoritäten und den Eltern. Die Erfahrungen der Wende können also nicht die Ursache gewesen sein. Vielmehr scheint die Art der Erziehung eine entscheidende Rolle zu spielen, wenn es um die Entwicklung von autoritären Ansichten geht.Kurz gesagt: Strenge Kindheiten scheinen mit „strengen“ politischen Überzeugungen einherzugehen.

Renz-Polster stellt zwei grundlegende Sichtweisen bzw. Weltbilder gegenüber: eine Weltsicht der Verbundenheit, in der die Welt als ein guter Ort gesehen wird, dem man mit Zuversicht und Vertrauen begegnen kann und die andere Weltsicht, die die Welt als gefährlichen Ort wahrnimmt, der chaotisch und unsicher ist und den es zu kontrollieren gelte. Er nennt sie „Vertrauen“ und „Kontrolle“ und beschreibt, wie die meisten Menschen zwischen den beiden Weltsichten schwanken, während die Autoritären die Welt ausschließlich als bedrohlich sehen und sie deshalb kontrollieren wollen, ob mit Gewalt, Eroberung, Unterjochung, Stärke oder Kampf. Die Unterschiede zwischen beiden Weltbildern prägen dann auch das Bild vom Kind und damit die Erziehung, die man diesem Kind zuteil werden lässt, ob die Beziehung zum Kind von Verbundenheit und Gemeinsamkeit oder von Kontrolle und Distanz, von Vertrauen oder Gehorsam betont ist, ob es um die Eingrenzung oder die Ermächtigung des Kindes geht. Da die Aushandlungsprozesse innerhalb der Familie im Grunde Politik sind, ist eigentlich klar, warum diese frühen Erfahrungen mit Hierarchien und Konformität in unsere spätere politische Weltsicht eingehen. „Als Kind erfahren wir zum ersten Mal, was es heißt, regiert zu werden“, so fasst es die Linguistin Elisabeth Wehling zusammen. Und wer in der Familie Fürsorge und Verbundenheit erlebt hat, wird sich auch später eher für Fürsorge und Verbundenheit einsetzen und nicht für Ausgrenzung und Hass.

Auch die psychoanalytische Sozialwissenschaft konnte empirisch nachweisen, dass „Kinder, die eine auf Unterdrückung und Unterwerfung beruhende Erziehung erfahren haben, als Erwachsene zur gewaltsamen Unterdrückung anderer neigen.“ Der Autoritarismusforscher Detlef Oesterreich sagt hierzu: „Rechtsautoritarismus ist das Ergebnis einer das Kind überfordernden Sozialisation. Kinder, die in ihrer Kindheit einer sozialen Realität gegenüberstehen, die sie nicht bewältigen können, sind gezwungen, sich in den Schutz und die Sicherheit von Autoritäten zu flüchten.“ Die in der Pädagogik mittlerweile allgemein anerkannte Bindungstheorie von John Bowlby bestätigt ebenfalls: „Faire, hilfsbereite, zugewandte Erziehung fördert faires, hilfsbereites, zugewandtes Verhalten.“ Renz-Polster zieht weitere psychologische Befunde (bspw. zur „theory of mind“) zur Stützung seiner These heran.

Betrachtet man nun die Erziehungs- und Bildungssysteme in diesem Land, kann einem angst und bange werden. So sind z.B. in der NUBBEK-Studie nur 7% der Kindertagesstätten als „gut“ oder „sehr gut“ bewertet worden, während 10% als „schlecht“ bewertet wurden und der Rest dazwischen liegt. Die Forschung zeigt aber, dass Kinder von einer Kindergartenbetreuung nur dann profitieren, wenn diese Einrichtungen „gut“ oder „sehr gut“ sind. Die Kritik an der Situation der Schulen des Landes würde vermutlich den Rahmen des Textes sprengen. Dass in Ihnen noch immer Ordnung, Gehorsam und Disziplin die obersten Gebote sind und sie deshalb selbst eine autoritäre Institution sind, dürfte unstrittig sein.

Ein weiterer wichtiger Befund, der im Buch angeführt wird, ist folgender: „Je ungleicher Einkommen und Chancen in einem Land verteilt sind, desto autoritärer denken und empfinden seine Bürger.“ Das beste Beispiel hierfür sind die USA: ein reiches Land, das bei sozialen Messwerten wie Frühgeburtlichkeit, Kindesmisshandlung, Säuglingssterblichkeit, Schulabbruchsraten, sexuellem Missbrauch, sowie Teenagerschwangerschaften und Drogenkonsum von Jugendlichen miserabel abschneidet.

Insgesamt ist das Buch ein Aufruf darüber nachzudenken, wie wir mit unseren Kindern umgehen und welche Erfahrungen wir ihnen mit auf den Weg geben wollen, wie wir also die Entwicklung autoritärer Persönlichkeiten unterbinden können, bevor es zu spät ist. Politische Überzeugungen und der Hang zum Autoritarismus lassen sich mit zunehmendem Alter immer schwerer bekämpfen, vor allem nicht mit „sinnvollen“ Argumenten. Als Linke sind wir aufgefordert, die Kleinsten in unserer Gesellschaft wieder stärker in den Blick zu nehmen, dazu gehört nicht nur eine allgemeine Kritik am Erziehungs- und Schulsystem und seiner konstanten Unterfinanzierung und fehlerhaften Konzeption, sondern auch die Unterstützung aller in der sozialen Arbeit Tätigen in ihren Kämpfen für bessere Bedingungen und der Aufbau eigener Strukturen der Erziehung. Die „Kinderladen-Bewegung“ kann hier ein Bezugspunkt sein, von dem wir lernen können. Es könnte eine Chance sein, den Rechten nicht mehr bloß „Hinterherzurennen“, sondern langfristige Projekte auf den Weg zu bringen und wieder selbst Initiative zu ergreifen.

# Titelbild: privat

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Kristian Stemmler

Es war ein heißer Sommertag in den späten 80ern, ich kann mich noch gut erinnern. Die Heidefläche vor dem Haus meiner Oma in der Lüneburger Heide war knochentrocken. Wie es genau zu dem Feuer kam, weiß ich nicht mehr genau. Ich meine, mein Bruder und ich wollten die trockenen Pflanzen kontrolliert abfackeln, was natürlich extrem leichtsinnig war. Jedenfalls stand eine Ecke der Fläche plötzlich in Flammen und ein Feuerring breitete sich in rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Wir, mein Bruder, ein herbeigeeilter Freund und ich, versuchten das Feuer auszutreten oder mit Decken auszuschlagen – doch wenn es an einer Stelle eingedämmt war, flammte es an einer anderen Stelle wieder auf.

Warum ich das erzähle? Weil mir diese Episode aus jungen Jahren in den Sinn kam, als ich zum Jahreswechsel – bekanntlich die Zeit, in der man gern Bilanz zieht und leicht ins Philosophieren kommt – über die Lage der Linken nachdachte. Wenn ich mir das Fortschreiten der unterschiedlichen Kämpfe im abgelaufenen Jahr 2020 ansehe, dann erscheinen mir unsere verzweifelten Versuche von damals, das Feuer einzufangen, als eine passende Analogie. Wo man heutzutage auch hinschaut, in allen gesellschaftlichen Bereichen schlagen Flammen hoch oder sind zumindest Glutnester auszumachen. Wenn man meint, man habe das Feuer an einer Stelle eingedämmt, flammt es anderer Stelle wieder auf. Es ist ein Flächenbrand.

Kaum verwunderlich ist daher, dass viele radikale Linke an einer gewissen Überforderung leiden. Schon die Beurteilung der Frage, wo es am meisten brennt, wirft Probleme auf. Und von der Antwort hängt nicht zuletzt ab, worauf man seinen Blick richtet und für welches Engagement man die begrenzte Zeit und Kraft einsetzt.

Unterstütze ich zum Beispiel Seebrücke, weil ich was gegen die katastrophale Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln tun will und gegen das Ertrinken auf dem Mittelmeer? Oder blockiere ich mit einer Friedensgruppe die Zufahrt zu einem Werk von Rheinmetall? Oder solidarisiere ich mich mit Baumbesetzern? Oder schließe ich mich doch einer Antifa-Gruppe an, um Nazistrukturen aufzudecken und Nazis zu bekämpfen?

Natürlich ist das jetzt etwas konstruiert, da eine solche rationale Abwägung auch im Leben von Linken eher selten vorkommt. Man kommt doch oft eher durch Freunde oder Bekannte zu einer politischen Gruppe und damit auch zu einem Thema oder auch durch ein bestimmtes Ereignis, das einen umtreibt. Nichtsdestotrotz interessiert man sich als politischer Mensch ja auch für andere Themenbereiche und versucht sich ein Bild von der Gesamtlage zu machen. Dabei kommt man leicht zu der Frage, wo die Probleme und Gefahren die größten sind, wo es „am meisten brennt“.

Das ist, kaum überraschend, nicht endgültig zu beantworten. Jede Bewegung, jeder Kampf beansprucht für sich wichtig zu sein – und das durchaus zu recht. Die Friedensbewegung kann darauf verweisen, dass von der Zivilisation nicht viel übrig bleiben wird, wenn der Frieden nicht bewahrt wird. Die Klimabewegung kann wiederum konstatieren, dass wir vom Frieden nicht viel haben, wenn die Natur zum Teufel geht. Die Antifa kann argumentieren, dass der Frieden und eine gerettete Umwelt wenig bringen, wenn die Faschisten wieder ans Ruder kommen. Und wer sich gegen Repression engagiert, kann allen drei Bewegungen entgegenhalten, dass sie eines Tages nicht mehr effektiv gegen Krieg, den Klimawandel und Nazis protestieren und kämpfen können, wenn das Versammlungsrecht weiter eingeschränkt wird und immer mehr radikale Linke im Knast sitzen.

Mit anderen Worten: Jeder Kampf hat seine Berechtigung und jeder ist wichtig. Das gilt auch für die Kämpfe, die hier noch gar nicht erwähnt wurden, also etwa in den Betrieben, gegen Rassismus, gegen den Mietenwahnsinn und die Gentrifizierung, für Hartz-IV-Empfänger*innen, Drogensüchtige, Obdachlose. Für radikale Linke gibt es alle Hände voll zu tun, es wird nicht weniger und es ist letztlich egal, an welcher Stelle sie versuchen, Flammen auszutreten, um an die Analogie vom Anfang anzuschließen. Es gibt aber folglich auch keinen Grund, die eigene Bewegung, den eigenen Kampf für bedeutsamer zu halten als andere.

Vielleicht kann man das als Wunsch fürs neue Jahr formulieren: dass sich diese Einsicht noch mehr durchsetzt. Denn noch zu oft sind die Kämpfe der Linken zu unverbunden, geradezu isoliert voneinander. Es kann und muss hier noch viel mehr zusammengeführt werden.

Eine gelingende Verbindung von Kämpfen kann aber nur da stattfinden, wo sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es in dieser Gesellschaft zwar viele Brandnester gibt, aber nur einen Brandherd, nur eine Brandursache: den Kapitalismus. Alle in diesem Beitrag geschilderten Krisenphänomene sind auf dieses System zurückzuführen und ein gemeinsamer Kampf setzt voraus, dass man sich zuerst auf eine Agenda einig:
Der Kapitalismus muss weg, mit Stumpf und Stiel!

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Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.

Diese Reihe widmet sich den Superreichen der Bundesrepublik, die den traditionsreichen „Familienunternehmen“ vorstehen, von der Politik jeder Couleur hofiert werden und so gut wie nie zum Gegenstand wutbürgerlichen Aufbegehrens werden. Teil eins der Serie widmete sich der Familie Quandt/Klatten, Teil zwei drehte sich um das Schaeffler-Imperium. Im vorliegenden dritten Teil geht es um die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG.

Die Toleranz der Polit-Elite gegenüber NS-Verbrechen hat in Deutschland eine eigene Ökonomie. Wenn ein paar hundert Glatzköpfe sich mit Fahnen und Lautsprecherwagen die Springerstiefel in den Bauch stehen und unter der Losung „Opa war ein Held“ ein gebührendes Andenken an die Kriegsverbrechergeneration fordern, kommt so gut wie niemand auf die Idee, eine Straße nach den jeweiligen Großvätern zu benennen.

Nun ist aber Michael Stoschek kein Hängengebliebener ohne Haupthaar, sondern einer der reichsten Deutschen. Und auch der Milliardär Stoschek hat einen deutschen Opa. Der hieß Max Brose. Und auch den wollte der Coburger Stadtrat zunächst nicht ehren, weil der Herr Großpapa typisch für seine soziale Schicht am großen deutschen Konjunkturprogramm von 1933 bis 1945 ganz reichlich teilgenommen hatte. Aber das wiederum beleidigte den Michael Stoschek. Nur weil der Opa an Zwangsarbeit verdiente, Rüstung für Hitlers Weltmachtstreben produzierte, NSDAP-Mitglied und „Wehrwirtschaftsführer“ war, konnte ihm doch keiner die Straße verwehren. Wo kämen wir da hin?

Der Herr Stoschek entschloss sich also, nunmehr weniger von dem Geld, das er aus dem Betrieb des Nazi-Opas geschlagen hatte, an die Stadt Coburg weiterzugeben. Und nach einiger Zeit sah man dann auch im Stadtrat ein: Non olet. Und wenn das Geld nicht stinkt, wie kann dann der stinken, der einst begann, es zu akkumulieren? Also kam 2015 doch die Ehrung und so hat die Stadt Coburg – gebührend für die „erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“, wie sie sich ab 1939 stolz nannte – nun eine Max-Brose-Straße.

Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Woher kommt so viel Patte, dass man in der Lage ist, eine Stadt zu erpressen, eine Straße nach dem eigenen Nazi-Opa zu benennen? Die Antwort ist: Letztinstanzlich von eben jenem Nazi-Opa. Denn Max Brose begründete eine Unternehmensdynastie und der gehört eben auch noch sein Enkel Michael Stoschek sowie dessen Schwester Christine Volkmann an.

Die ersten Anfänge sind nicht genau rekonstruiert, aber insgesamt geht der Reichtum des Clans auf die Gründung eines Unternehmens für Automobilausrüstung zurück, das der da 24-jährige Max Brose 1908 in Berlin eintragen ließ. 1919 tut sich Brose mit seinem langjährigen Geschäftspartner Ernst Jühling zusammen, und beide schlängeln sich mal erfolgreicher, mal weniger erfolgreich durch die entstehende Auto-Industrie der Weimarer Republik. Sie werden reich, aber natürlich gibt es auch Krisen.

Aber es ging immer wieder bergauf. So etwa, als 1932 ein richtig mieses Jahr war, dann aber zum Glück der deutschen Bourgeoisie Hitler kam und ab 1933 ordentlich das Business ankurbelte. Selbst der den von ihm porträtierten Unternehmerfamilien stets sehr wohlwollend gesonnene Historiker Gregor Schöllgen schreibt in seiner Unternehmensgeschichte „Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008“: „Es ist erstaunlich, wie schnell die deutsche Automobilindustrie aus dem Tief des Jahres 1932 herausfindet. […] Hinter diesem Erfolg steckt ein Name: Am 11. Februar 1933 hat erstmals ein Reichskanzler die Internationale Automobil- und Motorradausstellung in Berlin eröffnet. Es ist zugleich die erste öffentliche Amtshandlung Adolf Hitlers in seiner neuen Funktion.“

Im Juni 1933 stellt Max Brose seinen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP. Er wird auch noch Mitglied in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, in der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation, im Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps“, im „NS-Reichsbund für Leibesübungen“, in der Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ sowie in der „Deutschen Arbeitsfront“. Er ist hochrangiger Funktionär der Industrie- und Handelskammer Coburg und „Wehrwirtschaftsführer“. Vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS wird Brose als „national, ohne weitere Bindungen“ eingestuft. 1935 attestierte ihm Obersturmbannführer Linke in der Führerbeurteilung des Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps: „Weltanschauliche Festigung: Guter Nationalsozialist“.

Kurz: ein klassischer unbelasteter und nur durch äußeren Druck sich anpassender deutscher Unternehmer, wie wir sie nur allzu gut kennen.

Brose leidet immens unter dem Nationalsozialismus: 1935 macht er sich an einen Neubau einer standesgemäßen Villa. Zuvor im Eigentum des von Nazis gefolterten und vertriebenen Juden Abraham Friedmann, wird man nach dem Krieg aber gottseidank feststellen, dass der Kauf seitens Broses voll und ganz ordnungsgemäß war. Welcher Ordnung er gemäß war, diese Frage verbot sich schon unmittelbar nach Kriegsende.

Broses Umsatz – so Schöllgen – erreicht bis 1944 „ungebremst nicht gekannte Dimensionen“. Ab 1939 beginnt Brose mit der Fertigung von Rüstungsgütern, der Krieg steht ja vor der Tür. Die Firma Brose blüht in dem Maße auf, in dem faschistische Aggressionsarmee voranschreitet. Das Repertoire: Der Klassiker, der Brose 20-Liter-Kanister; Aufschlagzünder; Panzergeschosse; Sprenggranaten. Alles mögliche, bis hin zur Luftfahrtausrüstung.

Wer produziert nun? Viele Frauen, denn Arbeiter wurden massenhaft eingezogen. Und Zwangsarbeiter:innen. Für 1942 nennt Schöllgen 200 sowjetische Kriegsgefangene, 60 Kroaten und etwa 20 Franzosen. In Broses Werk gab es von der Wehrmacht vereidigte „Hilfswachleute“ und Geschäftspartner Jühling forderte die Gestapo auf, flüchtige kroatische Fremdarbeiter:innen wieder einzufangen. In der Firma hängt nun aus: „Allen Nichtbefugten ist jeglicher Verkehr mit den kriegsgefangenen Sowjetrussen verboten!“ Und in einem namentlich von Brose gezeichneten Schreiben heisst es zum Umgang mit den Gefangenen: „Humanitätserscheinungen sind keineswegs am Platze!“

Broses Umsatz explodiert bis 1944. Dann geht‘s mit dem Hitler-Faschismus zu Ende. Aber glücklicherweise hatte Max Brose ja mit dem Faschismus gar nichts zu tun, also hört die Unternehmensgeschichte der Broses hier nicht auf.

Alles nur Mitläufer

Der stets wohlgesonnene Auftragshistoriker Schöllgen trifft ungewollt den Punkt: Nach der Niederlage des Hitler-Faschismus war klar, dass Coburg „nicht unter sowjetische, sondern unter westliche, unter amerikanische Herrschaft gerät, und das wiederum erklärt, dass Max Brose, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist, der kommenden Entwicklung gelassen entgegensieht.“

Brose hat, das sollte die weitere Geschichte zeigen, allen Grund dazu, denn in der heraufziehenden Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus machte sich der Westen prompt an die Wiederverwendung noch nahezu jedes Nazi-Verbrechers. Es folgte zwar eine Episode, in der Brose und seinem Kumpan Jühling von den US-Behörden die Firmenleitung entzogen worden war. Die endete aber rasch. Jühling wird als „Mitläufer“ eingestuft, Brose zunächst als „Minderbelasteter“, dann ebenfalls als „Mitläufer“. Wohl bekomm‘s und weiter gehts.

1948 kehrt Brose zurück an die Firmenspitze und es geht ab ins Wirtschaftswunder, denn das – ja von wem eigentlich? – in Ruinen zurückgelassene Land will wieder aufgebaut werden. Dazu kommt, dass nach dem Krieg ja bekanntlich vor dem Krieg ist – in diesem Fall des Koreakriegs, bei dem die USA rund 5 Millionen Menschen umbrachten und der in der Bundesrepublik eine wirtschaftliche Boom-Phase auslöste.

Brose positioniert sich voll und ganz auf dem Markt für Automobil-Zulieferer und kann bald expandieren. Arbeitskraft ist genügend vorhanden, Absatz auch. Und so wird die Firma Brose das, was sie heute ist, eines der Aushängeschilder der deutschen Automobilindustrie.

Billige Lohnkosten im Ausland

1968 stirbt Max Brose. Seine Tochter Gisela führt das Unternehmen einige Jahre, dann übernimmt Michael Stoschek, der heute amtierende Erbe der Familiendynastie. Damals nimmt das Unternehmen rund 1000 Arbeiter:innen aus und erwirtschaftet 50 Millionen D-Mark. Heute sind es nach Unternehmensangaben 25 000 bei einem Umsatz von 6,2 Milliarden Euro (Stand 2019).

Einen Einblick in den Arbeitsalltag dieser Beschäftigten zu gewinnen, ist nicht einfach – gibt es doch gerade für die Produktionsanlagen im Ausland kaum Quellen. Wer subjektive Eindrücke aus deutschen Werken lesen will, kann das auf der Plattform kununu, auf der anonym Erfahrungen mit Unternehmen eingestellt werden können – allerdings selten von Produktionsarbeiter:innen genutzt. Wiederkehrende Themen sind: Eine auf extremem Druck basierende Arbeitskultur, miese Kommunikation, Arbeitsplatzunsicherheit durch Stellenstreichungen und Leiharbeitsverhältnisse, die den „untersten“ Teil der Arbeiterklasse bei Brose in Deutschland bilden.

Die Löhne – ist man nicht gerade Leiharbeiter – sind, wie bei allen deutschen Unternehmen von Welt, so ausgerichtet, dass es im Mutterland keinen Aufstand gibt, dafür aber eine Reihe von Fabriken in Niedriglohnländern existieren. Auch Brose hat die seit den 1970er-Jahren andauernde allgemeine Tendenz zur Verlagerung von Produktionstätigkeiten und Wertschöpfung ins Ausland mitgemacht.

1988 beginnt Brose in Großbritannien und Spanien zu produzieren. Schon damals hat die Internationalisierung klare Gründe: In Großbritannien werden „im Jahresdurchschnitt fast 110 Stunden mehr gearbeitet als in der Bundesrepublik, und das bei deutlich günstigeren Lohnkosten und einer Nutzung der Maschinen im Dreischichtbetrieb“, schreibt Schöllgen.

Und wenn das schon in Großbritannien so viel günstiger ist, wie wird es erst in Slowenien, Brasilien, Indien, China sein? Von den späten 1980ern an baut Brose sich insgesamt 64 Standorte in 24 Ländern auf. Die Mehrheit der Beschäftigten des „deutschen“ Unternehmens arbeitet heute nicht in Deutschland und nicht zu den mit der IG Metall ausgehandelten Bedingungen (auch wenn Brose selbst im Inland gelegentlich versucht, den Tarif zu untergraben).

Und was bekommt man im Ausland so? Ein Inserat für Produktionsarbeiter:innen im slowakischen Prievidza verspricht „742 bis 1000 Euro“ Brutto fürs Malochen im Dreischichtbetrieb. In Mexiko, dem Eldorado für Billigproduktion und Union-Busting, verdienen die Brose-Arbeiter:innen so wenig, dass es für den Konzern günstiger war, auf eine weitergehende Automatisierung der Produktion zu verzichten. Für einen ganzen Tag Arbeit gibt es um die 30 US-Dollar, schreibt die Wirtschaftswoche. Kein Wunder, dass dann gilt: Die Arbeiter:innen sind „durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter“ – der ist natürlich Deutscher.

Dieser Prozess der Verlagerung ins Ausland ist keineswegs abgeschlossen. Die Standorte in Niedriglohnländern, die zudem oft keine oder kaum gewerkschaftliche Organisation kennen, wird durch die sogenannte Corona-Krise beschleunigt. Während das Unternehmen bereits vor Covid-19 ankündigte, etwa 2000 Stellen in der Bundesrepublik abzubauen, meldete es in den vergangenen Jahren den Ausbau der Produktionskapazitäten etwa in China oder Mexiko.

Hilflose Gewerkschaften

Die Antwort der zuständigen IG Metall ist dürftig. Als Brose in Coburg kurzfristig Stellen abbauen will, heisst es nur: Die Gewerkschaft „beobachtet“ die Situation sorgfältig, aber man habe ja eine Betriebsvereinbarung, die bis 2024 betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Und dann? Bei anderer Gelegenheit kritisierten IG-Metall-Gewerkschafter zwar die „Steinzeitmethoden“ von Brose und ähnlichen Betrieben in der Corona-Krise, aber mehr als ein Appell an einen anderen „Unternehmergeist“ war dann auch nicht drin. Im Oktober 2020 wurde kurz symbolisch gestreikt – aber auch das bleibt völlig wirkungslos.

Am Ende geht es der IG Metall um die Aushandlung von „sozial verträglichem“ Arbeitsplatzabbau, Abfindungen und langsamen Kündigungen. Brose bezahlt die für die Abwicklung nötigen Summen aus der Porto-Kasse. Und wer erwirtschaftet die? Na die Arbeiter:innen in Produktionsstandorten irgendwo anders, die fortan für deutlich niedrigere Lohnkosten produzieren.

Michael Stoschek kann den Gewerkschafts“widerstand“ jedenfalls gelassen sehen. Während die IG Metall Pressemitteilungen ohne erkennbare Wirkung schreibt, sammelt der Brose-Erbe Sportwagen und lässt sich auf Ferrari-Modellen basierende Unikate anfertigen. Seine Tochter Julia verwirklicht sich als Kunstsammlerin, Sohn Maximilian gönnt sich neben dem Brose-Anteil eine Helikopter-Charter-Firma.

#Bildquelle: pixabay

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Ich bin mal wieder einige Tage zu spät, aber ich habe den Islamismus-Artikel von Kevin Kühnert im Spiegel gelesen und er ist dümmer als ich dachte. Ich dachte, ich wüsste was so ungefähr die Thesen sind: „Die Linke muss sich zu Islamismus verhalten und das Thema nicht den Rechten überlassen“. Der Artikel aber er ist noch ein bisschen flacher als das und im Wesentlichen ein Mix aus grobem Unsinn und leeren Phrasen.

Er beruft sich dabei auf einen abstrakten Humanismus, der es immer schlecht findet, wenn Menschen sterben. Das ist schön und gut, aber jetzt auch nicht sonderlich links. Dann meint er man solle mal „Hegel, Feuerbach, Marx lesen“, was mich die Frage stellen lässt, ob er auch nur die leistete Ahnung hat, wer diese Personen sind und was sie überhaupt geschrieben haben. Ich gehe davon aus, dass er auf eine Art Religionskritik anspielen will, wobei unklar bleibt, was das Argument sein soll, außer dem Allgemeinplatz, dass Religion Privatsache sein sollte. Die Ideologiekritik von Marx zu verstehen jedoch heißt vor allem, dass man den Islamismus nicht bekämpft, indem man sich “zu Wort meldet“, sondern indem man die politischen Interessen dahinter erkennt und die gesellschaftlichen Ursachen nachhaltig bekämpft.

Der Beitrag glänzt vor allem mit Abstraktion und ist erstaunlich unpolitisch. Es geht um Islamismus, der eine nicht näher bestimmte „Ideologie“ ist.
Wie sie inhaltlich aussieht und wie sie funktioniert, was sie von anderen unterscheidet oder mit anderen gemein hat, kommt nicht vor. Es geht um „die Täter“, aber es gibt keine politischen Akteure mit Interessen und keine gesellschaftlichen Institutionen, die das tragen. Er adressiert die „politische Linke“, aber wer das konkret sein soll und vor allem was diese abstrakte Gruppe – außer „sich zu Wort melden“ – tun soll, bleibt offen.

Dass es eine riesige linke Bewegung gibt, die in den letzten Jahren den IS besiegt und einen Völkermord verhindert hat, nämlich die kurdische Freiheitsbewegung, wurde bereits zuhauf angeführt. Umgekehrt ist es wahr, dass es in Deutschland einen bürgerlichen Antirassismus gibt, der ein Einfallstor für Islamismus bietet. Eine Art von Diversity-Politik, die islamischen Religionsunterricht und islamische Theologie in deutschen Bildungsinstitutionen von Verbänden, wie DITIB oder IGS organisieren lässt. Diese unterstehen jeweils dem türkischen bzw. dem Iranischen Regime. Antirassismusdemos, die mit eben solchen Verbänden gegen antimuslimischen Rassismus demonstrieren.
Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Inklusionsprojekte mit führenden Figuren der Milli Görüs Bewegung finanziert. Im SPD-Vorstand soll der Zentralrat der Muslime ein- und ausgehen. Erdogan persönlich instrumentalisiert gerade einen antirassistischen Duktus, um seine türkischislamische Großmachtpolitik zu legitimieren. Kühnerts Kritik bleibt abstrakt, weil eine konkretere Auseinandersetzung mit den Akteuren dieser „linken“ Politik bedeuten würde, dass sie vor allem von den mitte-links Parteien getragen und forciert werden, vor allem weil sie sich dadurch eine große Wählerbasis erhoffen. Dass da ein „unangenehmes Schweigen“ herrscht aus Angst, man könnte Wähler verlieren ist klar.

Besorgniserregend naiv ist dagegen die Vorstellung, ihre Politik wäre geleitet von abstrakten Werten, auf die man sich wieder besinnen müsse und nicht knallharten Interessen, über die man sich bewusst ist. Deshalb muss man auch kein Wort verlieren, über Waffendeals mit Erdogan, die direkt an seine IS-Söldner gehen oder an Saudi-Arabien, die den Islamismus nicht erst seit gestern global und nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent finanzieren. Es wirkt an dieser Stelle fast redundant zu ergänzen, dass der politische Islam im letzten Jahrhundert vor allem von den Westmächten als Bollwerk gegen den Sozialismus hochgezogen wurde.

Die breite Zustimmung, auch die der Rechten, zu seinem Beitrag, ist nicht überraschend, denn genau auf diese Zielgruppe zielen solche Beiträge ab. Die verlogene Rhetorik einer Politik, die von menschenrechtlichen Prinzipen geleitet sein will, fällt dabei besonders ins Auge, weil sie seit jeher als Legitimation für Militäreinsätze herhalten musste.
So war es bei Jugoslawien, beim Irak und bei Libyen. Kühnert hat in der Vergangenheit schon deutlich gesagt, dass er militärische Interventionen im Ausland nicht ausschließt. Wir dürfen gespannt sein, wie er dafür auf diese Argumentation nochmal zurückkommen wird.
Nebenbei: Dass Kühnerts Beitrag viel Lob aus der linken Parteienlandschaft erhalten hat, ist auch nicht weiter überraschend. Die Linkspartei gibt sich schließlich regierungsfähig und staatstragend.

#Titelbild: Stefan Müller (climate stuff)/CC BY 2.0

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An Halloween sollten Linke nicht nur nach rechts schauen, bevor sie eine Straße überqueren. Es könnten Nazis mit Pick-ups unterwegs sein, die sie „erschrecken wollen“. Aber ganz im Ernst: Das Hamburger Abendblatt, reaktionäres Leib- und Magenblatt der hanseatischen Bourgeoisie, hat am 22. Oktober doch allen Ernstes folgende Schlagzeile produziert: „Fahrer wollte Demonstranten offenbar nur erschrecken“ – und das als Überschrift zu einem Beitrag über den rechten Anschlag auf Demonstranten, der fünf Tage zuvor am Rande einer AfD-Veranstaltung mit Parteichef Jörg Meuthen im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg geschehen war (lower class magazine berichtete).

„Der Nazi tut nichts, der will nur spielen“ scheint das Motto zu sein. Rechte Gewalt und andere rechte Aktivitäten werden hierzulande ja seit Jahren und Jahrzehnten von Politik, Polizei und Konzernmedien nach Kräften verharmlost. Aber dies ist wirklich eine ebenso haarsträubende wie unverfrorene Variante. Noch mal zum Mitschreiben, was passiert ist: Ein 19 Jahre alter Nazi oder zumindest AfD-Sympathisant hat an diesem 17. Oktober unweit des Bürgerhauses von Henstedt-Ulzburg, in dem Meuthen zu seinen Fans sprach, drei Aktivist*innen mit einem schweren Pick-up auf dem Bürgersteig gezielt angefahren und alle drei verletzt. Laut Zeugenaussagen hat der Täter die Menschen regelrecht gejagt.

Wie kann man angesichts dieser Tat einen solchen Bullshit schreiben? Den Text zur Überschrift hat ein Abendblatt-Redakteur namens Wolfgang Klietz verbrochen. Der war früher zeitweise Polizeireporter in der Zentralredaktion des Blattes und ist mittlerweile Redakteur der Regionalausgabe Norderstedter Zeitung, zu deren Verbreitungsgebiet Henstedt-Ulzburg gehört. Offenbar hat er aus der Zeit als Polizeireporter noch einige Kontakte zur Polizei oder weiß zumindest, wie man die herstellt und was man da zu schreiben hat, um sich bei unseren „Freunden und Helfern“ beliebt zu machen.

Dieser Lohnschreiber beginnt seinen Beitrag mit dem Satz: „Der Fahrer des Pick-ups, der am Sonnabend in Henstedt-Ulzburg mehrere Menschen angefahren hat, wollte seine Opfer offenbar nur erschrecken.“ Davon seien „mittlerweile die Ermittler des Staatsschutzkommissariats überzeugt, die den Fall untersuchen“. Für die These spreche, dass der Wagen langsam gewesen sei und die Verletzungen nicht schwerwiegend seien. Messerscharf schlussfolgert der Herr Klietz, ein Anschlag komme „als Tatmotiv nun kaum noch infrage“.

Wenn man mal davon ausgeht, dass sich ein Abendblatt-Redakteur nicht irgendwas aus den Fingern saugt, dürfte der Kollege mit einem Beamten des Kommissariats 5 der Bezirkskriminalinspektion Kiel 5 gesprochen haben, des Staatsschutzkommissariats, welches in diesem Fall ermittelt. Und der wird wohl sinngemäß gesagt haben: „Du, der 19-jährige hat uns ganz glaubhaft versichert, dass er den Leuten nur einen Schrecken einjagen wollte.“ Ganz offensichtlich hat der Täter bei seiner polizeilichen Vernehmung diese Schutzbehauptung aufgestellt.

Der Skandal besteht darin, dass zumindest ein Ermittler des Staatsschutzes so etwas durchsteckt und ein reichweitenstarkes Medium das Ganze verbreitet – mit dem klaren Ziel, die Tat zu verharmlosen. Dass die Darstellung im Hamburger Abendblatt nicht die offizielle Linie der Polizei und der die Ermittlungen führenden Staatsanwaltschaft Kiel widerspiegelt, lässt sich immerhin vermuten. Jedenfalls teilte die Landespolizei Schleswig-Holstein am Montag auf ihrem Twitter-Account mit, die Darstellung im Abendblatt treffe „nach jetzigem Ermittlungsstand“ nicht zu. Es gebe „derzeit noch keinen feststehenden Sachverhalt, der die Motivation des Fahrers darlegt“. Darüber sei der Redakteur bereits informiert worden.

Die Räuberpistole vom „Erschrecker“ im Pick-up ist nicht die erste Kommunikationspanne in der Sache. Noch am Abend des 17. Oktober stellte die Polizeidirektion Bad Segeberg eine Pressemitteilung zu den Vorgängen in Henstedt-Ulzburg online, die den Anschlag das erste Mal auf skandalöse Weise relativierte. Obwohl das sonst durchaus üblich ist, wird die Tat in der Überschrift nicht einmal erwähnt: „Versammlungsgeschehen vor dem Bürgerhaus – Bilanz der Polizei“.

Wie man sich anhand der Pressemitteilungen der Polizeidirektion Bad Segeberg an den Vortagen schnell überzeugen kann, werden sonst viel harmlosere Vorfälle schon in der Überschrift deutlich benannt. Das zeigen bereits zwei wahllos gegriffene Beispiele von Meldungen aus Henstedt-Ulzburg vom 5. Oktober. Über der einen steht „Hund bringt 79-jährige Radfahrerin schwer verletzt zu Fall“, über der anderen „Betrunkener Mann schlägt 15-jährigen Radfahrer“. Die Überschrift zum Geschehen am 17. Oktober hätte also etwa heißen können: „19j-ähriger fährt drei Personen auf Bürgersteig an“.

Wie in einem schlechten Schüleraufsatz werden in der Mitteilung die Ereignisse im üblichen Beamtensprech nacherzählt, beim Beginn der Demo angefangen. Dabei wird dem kritischen Leser schnell klar, in welche Richtung das Ganze laufen soll. Auf dem Vorplatz des Bürgerhauses hätten sich Demonstranten aus dem „bürgerlichen Spektrum“ versammelt. Mit Einlassbeginn seien 50 bis 60 „Personen der linken Szene (Antifa)“ im Zufahrtsbereich des Bürgerhauses aufgetaucht. Weiter heißt es da: „Diese Personengruppe führte eine nicht angezeigte Spontandemonstration durch. Es kam zu Pöbeleien und Handgreiflichkeiten gegenüber Besuchern der AfD-Veranstaltung und Polizeibeamten.“ Auch das ist vermutlich schon Fake News, da zumindest nach Darstellung der Organisator*innen der Demo und weiterer Augenzeug*innen Handgreiflichkeiten eher von AfD-Sympathisant*innen ausgingen. Nach der langen Vorrede kommt die Segeberger Polizei schließlich auf den eigentlichen Vorfall zu sprechen. „Demonstranten der rechten und linken Szene gerieten außerhalb des Veranstaltungsgeländes aneinander“, heißt es da. Und weiter: „Dabei wurde im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert.“

Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass der Täter über den Bürgersteig auf die Demonstrant*innen zugefahren war. Dass dies mit Absicht geschehen war, daran konnte es kaum Zweifel geben. Es waren etliche Polizist*innen vor Ort, die das Geschehen vielleicht nicht unmittelbar gesehen haben, aber schnell am Tatort waren. Wenn es ein Unfall gewesen sein soll, fragt sich zudem, warum Polizei und Staatsanwaltschaft in einer späteren Mitteilung erklärten, der Fahrer sei kurz nach dem Vorfall festgenommen worden. Was die Polizeiinspektion Bad Segeberg mit dieser Presseerklärung bezweckte, liegt auf der Hand: die „böse Antifa“ als angereiste Störer zu definieren, die Ärger gemacht haben, dessen Folge dann dieser „Unfall“ gewesen ist.

Die unhaltbare Mitteilung der Polizei vom Tattag trug vermutlich dazu bei, dass die Pressearbeit zu dem Vorgang recht schnell bei der Staatsanwaltschaft Kiel landete, die sich am Montag gegenüber Medien schon wesentlich realistischer äußerte. So zitierte die junge Welt den Kieler Oberstaatsanwalt Henning Hadeler mit den Worten, es werde gegen den Fahrer wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr ermittelt. Geprüft werde aber auch, ob eine Tötungsabsicht vorgelegen habe. Ein Sachverständiger sei hinzugezogen worden.

Doch auch in einer gemeinsamen Presseerklärung vom 20. Oktober von Staatsanwaltschaft Kiel und Polizeidirektion Kiel zu dem Fall wird das Wort „Anschlag“ tunlichst vermieden. Auch hier wird versucht, die terroristische Tat dadurch zu relativieren, dass sie mit einer angeblichen Auseinandersetzung zwischen Demonstrant*innen und den vier Rechten in Verbindung gebracht wird. Zum Aufruf an Zeugen, sich zu melden, heißt es, die Ermittler interessiere besonders,ob es bereits vor der Tat zu einem Konflikt oder einer Auseinandersetzung zwischen den vier Personen und den Demonstrationsteilnehmern gekommen ist“. Selbst wenn dem so wäre – berechtigt das dazu, Leute mit einem schweren Pick-up anzufahren?

Aufschlussreicher wäre es, mehr über die Herkunft und die politische Anbindung des Täters und seiner drei Spießgesellen zu erfahren. Im Kreis Segeberg treibt der Neonazi Bernd Tödter sein Unwesen, dem das Rechercheportal Exif.org vor einem Jahr einen ausführlichen Beitrag widmetet, in dem vor seiner Gefährlichkeit gewarnt wurde. Er gelte als „besonders gewaltbereiter, manipulativer und skrupelloser Akteur der extrem Rechten“, heißt es in dem Text.

Als junger Mann hatte Tödter 1993 mit einem Kumpanen einen Obdachlosen so verprügelt, dass der starb, saß dafür zwei Jahre in Haft. In Hessen baute er die später verbotene Kameradschaft „Sturm 18“ auf, zu der auch Stephan Ernst gehörte, mutmaßlicher Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Im Mai 2016 kam Tödter zum wiederholten Mal in Haft. Mit Unterstützern hatte er mehrere Personen misshandelt, die „Sturm 18“ nicht beitreten oder austreten wollten. Nach der Entlassung kehrte der Nazi in den Kreis Segeberg zurück, versucht seitdem, dort neue Strukturen aufzubauen. Wie es heißt, seien dabei vor allem junge Leute im Fokus, wie die vier, die am 17. Oktober offenbar mit dem Vorsatz nach Henstedt-Ulzburg gekommen waren, Ärger zu machen.

#Titelbild: privat, AfD Angreiferauto

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Zwei ehemalige Berliner Polizeischüler wurden am Freitag vom Landgreicht Berlin vom Vorwurf freigesprochen „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ verwendet zu haben. Den beiden Angeklagten war vorgeworfen worden bei einem Basketballspiel in Berlin am 27. April 2018 „Sieg Heil“ gerufen zu haben, als sie dort privat einen Geburtstag feierten. In der ersten Instanz waren die beiden Angeklagten B. und W. noch zu Geldstrafen verurteilt worden. Ein dritter in der ersten Instanz Angeklagter hatte seine Berufung zurückgezogen und ist damit rechtskräftig verurteilt. Nach Angaben der B.Z. ist er auch seinen Job als Polizist los. Die beiden jetzt Freigesprochenen dürfen, sofern das Urteil rechtskräftig wird, ihren Job behalten.

Das Verfahren war zur Anklage gekommen, weil zwei Sozialarbeiter*innen, zusammen mit von ihnen betreuten Jugendlichen, im selben Block waren, wie die Angeklagten. Die Gruppe der Angeklagten war den beiden schon vor den von Ihnen beobachteten und gehörten „Sieg Heil“ Rufen unangenehm aufgefallen. Sie hätten bei Ballkontakten von Schwarzen Spielern „Affengeräusche“ gemacht und als Cheerleader auftraten „Ausziehen“ gebrüllt. Der Anwalt von B. bezeichnete das vor Gericht als „unflätiges Verhalten“. Teil der juristischen Auseinandersetzung war diese Zurschaustellung von rassistischem und chauvinistischen Gedankengut aber nicht. Der Angeklagte B. Habe dann, was er auch vor Gericht eingeräumte, „den Adler gemacht“, also die Arme ausgebreitet, und „Sieg“ gerufen. Die beiden Zeug*innen haben dann gesehen und gehört, wie die beiden anderen Angeklagten W. Und F. „Heil“ gerufen haben, was der Angeklagte W. im Verfahren vehement bestritt.

Die Sozialarbeiter*innen kontaktierten daraufhin den Sicherheitsdienst, damit die pöbelnde Gruppe der Halle verwiesen werden konnte was dann, nach Aufnahme einer Anzeige und Gegenüberstellung, auch geschah. Dass es sich bei den Angeklagten um angehende Polizisten handelte wurde erst im Laufe der ersten Gerichtsverhandlung klar.

Im Laufe des Prozesses wurden auch weitere Polizeischüler, die auf der Geburtstagsfeier waren, als Zeugen gehört. Diese gaben an weder „Sieg“ noch „Heil“ gehört zu haben. Einem von ihnen, H., hatte der in der ersten Instanz rechtskräftig verurteilte F. allerdings gestanden „Heil“ gerufen zu haben.

Ein in der jetzigen Verhandlung zentraler Punkt war die Frage, ob es denn in der Halle laut gewesen sei. Diese angenommene Laustärke war dann auch ausschlaggebend für den Freispruch. Der vorsitzende Richter und die beiden Schöffinnen sahen es nicht als erwiesen an, dass erstens der „Sieg“ brüllende Angeklagte B. die – trotz der zwei Zeug*innenaussagen – nicht als gesichert gewerteten „Heil“-Rufe der beiden neben ihm Sitzenden gehört habe. Zweitens müssten die „Heil“-Rufe, die das Gericht wie gesagt nicht als erwiesen ansah, so leise gewesen, dass der Vorsatz, diese an die Öffentlichkeit zu richten, nicht nachzuweisen sei.

Das Gericht ist damit wohl einem alten Trick aus der rechten Fußballfanszene auf den Leim gegangen. Zum einen sind „Sieg“- Rufe bei weitem nicht so üblich, wie vom Gericht angenommen, auch nicht beim Fußball. „Das war in den 90er Jahren in den Stadien vor allem in Ostdeutschland so, dass Leute „Sieg“ gerufen haben und die anderen im Wechsel dann „Heil“. So dass die Leute einzeln nicht belangt werden konnten. Später sind Fanszenen darauf umgestiegen, das nicht mehr ganz so eindeutig zu machen und nur noch „Sieg“ zu rufen“, erklärt Max Kulik, aktiver Fußballfan dem LCM. „Fanszenen die permanent „Sieg“ rufen sind aber auf jeden Fall verdächtig, der Nachweis ist natürlich schwierig. Im Verlauf der Zeit haben sich dann durch die Umpolitisierung von Ultras Fanszenen gebildet, die das nicht mehr ganz eindeutig herleiten, die das einfach rufen, weil das schon immer gerufen wurde.“

Der Zeuge und Polizeischüler H. hat übrigens wegen des Verfahrens den Kontakt zu allen Angeklagten abgebrochen. Er finde der Vorwurf sei „schwerwiegend“ und gehe nicht mit dem zusammengehe, wofür er stehe.

Rassismus, Chauvinismus und ein Hang zum laxen Umgang mit Nazis in den eigenen Reihen sind in der jüngeren Vergangenheit immer wieder an die Öffentlichkeit geraten. Nach den diversen Skandalen der letzten Zeit um Chatprotokolle und rechte Preppergruppen innerhalb des Polizeiapparats, ist der hier verhandelte Fall ein weiterer in in einer langen Reihe von sogenannten Einzelfällen.

Sollte H. Seine konsequente Haltung weiterhin durchziehen, wird er in Zukunft also wohl öfter Selbstgespräche führen müssen. Der in der ersten Instanz verurteilte F. wird sich hingegen wohl ärgern, dass er nicht auf die Milde und das Verständnis des Gerichts gewettet hat.

# Titelbild: Christian Zeiner, CC BY-SA 2.0, Symbolbild, Mercedes Benz Arena, Alba Berlin vs. BBC Bayreuth 2011

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Es gibt ein Foto, auf dem ist ein türkischer Soldat einer Spezialeinheit zu sehen. Aus seinem Mund hängt lässig eine Zigarette, sein Kopf ist an den Seiten kahlgeschoren, das verbliebene Haupthaar ist akkurat frisiert. Sein Blick zeigt ungetrübten Stolz, er streckt den rechten Arm in die Kamera, der die Trophäe zur Schau stellt. Aus dem rechten Arm baumelt ein Menschenkopf, unsauber am Hals abgesägt. Der Menschenkopf sieht stoisch nach unten. Weil der Menschenkopf irgendwann einmal zu einem kurdischen Menschen gehört hat, ist für die Soldaten klar: Hier wurde ein Terrorist gefangen.

Das Bild ist keine Fiktion. Es ist ein Screenshot aus einem Video, das irgendwann nach 2017 in Sirnak, einer Region im kurdischen Südosten der Türkei aufgenommen wurde. Und es ist das Bild, an das ich beim Lesen von Cemile Sahins neuem Roman „Alle Hunde sterben“ eigentlich auf jeder der 237 Druckseiten denken musste.

Sahins Buch ist aufgebaut wie eine Netflix-Serie, aber wie eine der guten, Black Mirror etwa. Es spielt in einem Hochhaus im Westen der Türkei, das 17 Stockwerke hat. Aber eigentlich spielt es in den Köpfen der neun Menschen, die in neun Episoden ihre Geschichten erzählen. Die neun Geschichten handeln aber alle von einer Geschichte und diese Geschichte ist ihrerseits keine Fiktion, sondern sie wird überall auf der Welt jeden Tag wieder und wieder aufgeführt: „Ich schleiche durch die Wohnung mit zwei Paar Socken, und ich verstehe: hinter der Tür kommt ein Zimmer, und hinter einem Zimmer kommt eine Wand. Und vor der Wand hängt eine Fahne, und wenn wir ihre Fahne sehen, wissen wir, in welchem Land wir sind. Wir sind in diesem Land. Und wenn uns ein Soldat hier sieht, dann packt er uns und stellt uns vor ihre Fahne.“

Wenn einer nicht vor der Fahne stehen will, weil die Fahne ihm und seinen Nachbarn, seinen Eltern, Tanten, Onkeln, Kindern, Großeltern und Freunden schon bis zum Ersticken in den Mund gestopft wurde, beginnt die Story. Es gibt dann Terroristen. Und weil diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben, es nicht dulden können, dass es Terroristen gibt, gibt es Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten, Spitzel. Deren Aufgabe ist es, alle zu fangen, die nicht Terroristen sind, sondern sein könnten. Also ziehen sie los und gehen ihrem Beruf als Helden der Nation nach. Für diesen Beruf haben sie Werkzeuge wie jeder Handwerker: Stricke, Fäuste, Gewehre, Pistolen, eine Ratte.

Mit den Werkzeugen bearbeiten sie die Gegenstände ihres Handwerkes, die Menschen, von denen sie wissen, sie sind Terroristen. Nur sind diese Gegenstände eben keine Gegenstände, sondern Menschen, also geht in ihnen etwas vor. Was aber in ihnen vorgeht, ist für die Außenstehenden oft egal: Für diejenigen, die die Fahne aufgehangen haben sowieso, es sind ja Terroristen; für die Soldaten, Polizisten, Sondereinheiten und Spitzel auch, es sind ja Terroristen; für die Handelspartner des Landes, in dem die Terroristen aufgehangen, zu Tode gequält, erschlagen und in den Wahnsinn getrieben werden auch, weil die Fahne verspricht lukrative Geschäfte; für die Urlauber, die in das Land fahren, in dem die Fahne hängt auch, denn sie machen ja nicht in dem 17-stöckigen Hochhaus Urlaub, sondern in einem hübschen Hotel, in dem es keine Terroristen gibt.

Cemile Sahin hat versucht, die Verheerungen einzufangen, die das Foltern, Bespitzeln, Erschießen und Erniedrigen in denjenigen auslöst, an denen es angewandt wird. Was macht es aus jemandem, wenn sein Großvater mit dünnen Seilen, mit denen man Schaden anrichten kann, an einen Baum gefesselt und abgeknallt wurde wie ein Hund? Was macht es mit Familien, die auseinandergerissen werden, und bei denen die einen nicht wissen, wo die anderen sind? Was macht es mit einem, die Gebeine der toten Mutter in einem Plastiksack herumzuschleppen? Und was kann noch aus jemandem werden, der gezwungen wurde, eine Ratte zu fressen?

„Alle Hunde sterben“ spielt in einem Land, das zu einem Knast geworden ist. Einem Land, in dem nicht nur der wirkliche Knast oder das 17-stöckige Hochhaus, in dem niemand aus freien Stücken lebt, ein Knast sind, sondern jeder Milimeter seines Territoriums. „Die Zukunft ist klein, und das Gefängnis ist groß“, sagt eine der Protagonist*innen.

Ein solches Land muss paranoid sein. „Denn jeder Anzug könnte zu einem Spitzel gehören, da jeder Anzug auf einem Spitzel sitzt. Und jeder Spitzel ist ein Mann im Anzug, der womöglich aus einem Auto gestiegen ist.“ Wo die Spitzel sind, sind die Soldaten nicht weit. Und die kommen dann nachts und treten Türen ein, aber man ist natürlich auch tagsüber nicht sicher, denn wer nachts kommt, kann auch tagsüber kommen. Die Soldaten in dem Roman sind wie eine Plage. Sie fallen ein und zerstören. Sie zerstören Häuser, Dörfer, Gräber, Menschen.

Das zu lesen, ist beklemmend. Es ist eine Qual und was anderes als eine Qual könnte es sein? Es ist eine Qual vor allem deshalb, weil man sich eben nicht daraus retten kann, indem man sich sagt: Es ist ja nur ein Roman. Weil es halt nicht nur ein Roman ist, sondern all das wirklich passiert. Der Nationalismus existiert wirklich, der Faschismus existiert wirklich, seine Soldaten existieren wirklich und die Menschen, die als Terroristen zu Freiwild erklärt werden, existieren auch wirklich.

Insofern ist Sahins Buch nicht einfach eine kunstvoll gemachte Erzählung. Es ist wirklich gute Literatur, aber nicht aus den Gründen, die im bürgerlichen Feuilleton angeführt werden, der immer so tut, als sei Literatur eine Art Rotwein, den man schwenkt, an ihm riecht, den Gaumen runterschüttet und danach sagt: Ah, das hat der Winzer aber vorzüglich gemacht, ich nehme drei Kisten. Die eigentliche Pointe des Buches liegt jenseits der Druckseiten in der Wirklichkeit. Denn das Buch stellt die unausgesprochene Frage: Was hast DU eigentlich getan, damit das aufhört?

#Titelbild: Zehra Dogan; Bildquelle: ANFenglish

Cemile Sahin / Alle Hunde Sterben / Aufbau Verlag / 239 Seiten / 20,00 €

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Im Zuge der Wahl Donald Trumps fand ein bemerkenswerter Wandel innerhalb der deutschen Rechten statt. Einst als unnatürliches Völkergemisch, als Inbegriff des Kapitalismus und der Globalisierung geschmäht, sind die USA heute zum Sehnsuchtsort der Rechten geworden – Ein Gastbeitrag von Ivan Klinge.

Es ist der 15. August 2020, in Berlin findet eine der mittlerweile zahlreichen Kundgebungen von Reichsbürgern, Verschwörungsideologen und Neonazis statt. Mittendrin, zwischen allen bekannten Neonazimarken und schwarz-weiß-roten Flaggen, ist auch eine Flagge der Vereinigten Staaten zu sehen. Was vor 10 Jahren undenkbar war, ist im Jahr 2020, dem es an Überraschungen nicht mangelt, Normalität geworden. Vor Jahren noch Erzfeind der „freien Völker“ und Marionette der „Ostküstenkapitalisten“, sind die USA seit 2016 und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zum neuen Verbündeten der globalen Rechten geworden.

Wo es früher noch „Witze“ über Joghurt und die Kulturlosigkeit der USA gab, gehört heute die „Make America Great Again“- Mütze zum Repertoire der Rechten, genau wie Anti-Antifa T-Shirts mit Donald Trump darauf. Denn wie so oft lohnt sich ein Blick zur Rechten, wenn es um die Einschätzung angeblich konservativer Akteure geht – im Gegensatz zum deutschen Bürgertum erkennen Rechte nämlich ihre Leute. So auch bei Trump. Schon 2016 traten in Neonazi-Podcasts wenige Tage nach Trumps Wahlsieg Neonazis mit Trump-Fanartikeln auf. Sie wussten schon damals, gerade wurde einer von ihnen zum Präsidenten gewählt. Und während sich das deutsche Bürgertum über die impulsive Art und die unzureichende Allgemeinbildung des Präsidenten amüsierte – und gleichzeitig chauvinistisch feststellte, dass er ja wohl von der amerikanischen Unterschicht gewählt wurde und nicht vom aufgeklärten Bürgertum – setzte Trump sein rechtes Programm um und veränderte die Gesellschaft nachhaltig. Denn im Gegensatz zur nie vollendeten Mauer nach Mexiko, kam die Steuerreform zugunsten der Oberschicht sehr schnell.

Im Jahr 2020 ist unverkennbar, was Trump ist, wofür er steht und wer ihn unterstützt. Im Zuge der BLM-Bewegung und dem Aufstehen der Bürger*innen der USA gegen die strukturell rassistische Polizei hat sich eine reaktionäre Gegenbewegung gebildet, die bewaffnet durch Städte zieht und gewillt ist, für ihr weißes Amerika zu kämpfen. Für die Aktivist*innen in den USA ist dabei besonders gefährlich, wie gewaltbereit und bewaffnet diese rechten Milizen sind.

Einen Vorgeschmack ihres Mobilisierungspotentials gab es im Frühjahr 2020, als Regierungsgebäude in demokratisch regierten Bundesstaaten als Reaktion auf die lokalen Coronamaßnahmen von schwer bewaffneten Männern besetzt wurden. Seitdem marschieren sie landesweit regelmäßig auf, mit dem vorrangigen Ziel, Linke, Migrant*innen und People of Colour einzuschüchtern und für ein weißes Amerika zu kämpfen. Vor Gewalt und auch vor Mord schrecken sie dabei nicht zurück. Es wurden bereits Antifaschist*innen ermordet – eines der bekannteren Opfer ist Heather Heyer, die 2017 von einem Neonazi getötet wurde. Die Rechten wähnen sich 2020 im lange herbeigesehnten „Race War“, dem Rassenkrieg. Die Sehnsucht nach selbigem ist der Rechten immanent, der apokalyptische Wahn ist auch in der deutschen Rechten präsent und immer Teil ihrer Ideologie gewesen: Für Volk und Nation im heiligen Endkampf – dem „Ragnarök“ – sterben und zu töten.

Verstärkt wird das Ganze noch durch antisemitische Ideologien wie die von „Qanon“ verbreiteten Verschwörungstheorien. Kern dieser Thesen ist, dass Trump mit dem US-Militär Vorkämpfer gegen die degenerierte, pädophile, kindermordende globale Elite ist. Das Erkennungszeichen der Anhänger der QAnon-Theorie, der Buchstabe Q, ist mittlerweile auch auf rechten Kundgebungen in Deutschland zu finden. Im deutschen Ableger sind so die US-Truppen in Deutschland von verhassten Besatzern zu Verbündeten der Verschwörungsideolog*innen geworden, die nur darauf warten, Deutschland zu „befreien“. Zwar ist im Gegensatz zu den USA, in denen sich schon mehrere Politiker der Republikaner zu QAnon bekennen, in Deutschland noch kein Politiker öffentlich als Anhänger in Erscheinung getreten. Das kann (und wird) sich aber noch ändern, gerade in der AfD als Sammelbecken von Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern ist es wohl nur eine Frage der Zeit bis zum offenen Bekenntnis Einzelner.

Dass die USA von Besatzern und Globalisten zu Verbündeten werden, ist also kein Zufall. Es ist auch Resultat der Präsidentschaft Trumps. Diese war und ist Katalysator und Verstärker der amerikanischen Rechten und somit Bindeglied zur europäischen Rechten. Durch ihn fühlen sich Rassist*innen in Uniform erst recht ermuntert, ihre White-Supremacy-Ideologie immer offener und direkter auszuleben. Durch ihn bekommen Antisemiten enormen Aufwind, die Zahl antisemitischer Angriffe in den USA steigt seit 2016 an und wird durch den Präsidenten selbst angefacht. Dabei beeinflussen sich die amerikanische und die europäische Rechte seit Jahren regelmäßig gegenseitig, ein bekanntes Beispiel dafür sind die „Turner-Diaries“, die von den Vereinigten Staaten aus das Konzept des „führerlosen Widerstandes“ propagieren und auch im Deutschland der 90er-Jahre bekannt machten. Eine weitere Präsidentschaft Trumps würde die amerikanische Rechte (und so auch die europäische) weiter dramatisch stärken, ganz zu schweigen davon, dass es fraglich ist, ob das demokratische US-System mit seinen „Checks and Balances“ vier weitere Jahre Trump überleben würde oder in eine rechte Autokratie bzw. eine „gelenkte Demokratie“ münden würde. Dabei kommt auch die Frage auf, ob Trump im Falle einer Niederlage selbige überhaupt akzeptieren würde, oder nicht stattdessen seine Anhänger mobilisieren und sich selbst zum Sieger erklären würde.

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Es war ein bedrückender Moment, als vorm Magdeburger Landgericht Schilder mit den Namen aller Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 verteilt wurden, die Zahl der anwesenden Personen aber nicht ausreichte. So mussten viele zwei Schilder halten. War das ein weiterer Grund, um an die Zivilgesellschaft zu appellieren, sich doch endlich an die Seite der Guten zu stellen und gegen Rassismus auf die Straße zu gehen? Die Bühne ist da, aber die Zuhörenden fehlen. Emily Williams von megaphon.org mit einer Einschätzung

Am 21. Juli 2020 begann der Prozess gegen den Attentäter von Halle. Nach dem gescheiterten Versuch, eine gut besuchte Synagoge in Halle zu stürmen und die dort Anwesenden zu ermorden, tötete der Mann aus Eisleben am 9. Oktober 2019 auf der Flucht zwei Menschen. Der Mann schoss der Passantin Jana L. in den Rücken und richtete Kevin S. in einem Dönerimbiss hin. Der Täter wurde auf der Flucht gefasst und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Angeklagten zweifachen Mord und weitere schwere Straftaten vor. Ihm droht die Höchststrafe.

Der Prozessauftakt in Magdeburg versprach großes Medieninteresse. Ein Bündnis mehrerer Initiativen und Gruppen hatte prozessbegleitend zu einer Kundgebung auf der Wiese vor dem Landgericht aufgerufen. Dort wurden dann die Schilder mit den Namen der Todesopfer verteilt. Es gab ein Mikrofon, einige Pavillons mit Infomaterial und ein paar Bierbänken standen auf der begrünten Freifläche. Auch ein Zelt für die Presse war vorbereitet worden. Das Gelände der Kundgebung war überschaubar und durch die anliegenden Straßen begrenzt. Im Schatten der Bäume saßen mit etwas Abstand ein paar Menschengruppen, mit und ohne Gesichtsmasken. Einige in schwarz gekleidet, andere eher hippiebunt. Die meisten waren sehr jung und mit dem Habitus einer zukünftigen intellektuellen Elite unterwegs. Am Wiesenrand, mit Blickrichtung zum Landgericht ausgerichtet, standen zwei junge Männer mit einer Israelfahne zwischen ihren Händen. Die Versammlung stand unter dem Motto „Solidarität mit den Betroffenen – Keine Bühne dem Täter“ und es war engagiert mobilisiert worden. Der Einladung zur Mahnwache folgten trotzdem nur etwa 120 Personen, Magdeburger*innen waren vielleicht zehn darunter. Redebeitrage waren kaum zu verstehen, wurden träge abgelesen und hatten den Esprit einer sehr langweiligen Hörspielkassette. Wir sind uns einig: Es können nicht alle Reden halten. Das ist nun mal so. Einen Text auf einer solchen Mahnwache in ein Mikrofon vorzulesen, als handele sich um eine Einkaufsliste, ist das Privileg der Nichtbetroffenheit.

Ich fühlte mich äußerst unwohl. Das lag aber nicht am mehr oder weniger ausgeprägten Redetalent der Sprechenden, sondern dem Kennen der Anwesenden. Zwischen dauerbeleidigten Mackern, die sonst am liebsten Frauen sexistisch beleidigen, die Antifas an Öffentlichkeit und Nazis verraten, , die mit Staatsschutz und Polizei kooperieren, die antimuslimisch und rassistisch hetzen und das N-Wort zitieren, ist es aber nicht nur für Frauen schwer, den Opfern rassistischer Gewalt zu gedenken. Auch außerparlamentarische Politik ist ein schmutziges Geschäft. Wer nicht spurt, wird gemobbt.

Aber ausgerechnet diese Arschgeigen haben jetzt in den sozialen Medien die Deutungshoheit über die Prozessbegleitung. Politprofis, die jahrelang nur aus der Arbeit derjenigen im Hintergrund profitieren und deren Karriere darauf baut, ihre Gesichter in Kameras zu halten, wenn etwas klappt und sich zu distanzieren, wenn es schief geht. Dampfplauderer, die immer dann eine „gewaltfreie“ Alternative zu allem aus dem Arsch ziehen sobald die Gefahr besteht, eine antifaschistische Initiative könnte mit linken Inhalten erfolgreich in die Zivilgesellschaft mobilisieren. Genau jene, die sich immer wieder unaufgefordert zur Gewaltfreiheit bekennen und damit versprechen, alle sofort auszuliefern, die sich dem Konsens der Wirkungslosigkeit nicht beugen. Diejenigen, die am höchsten jüdischen Feiertag und der steten Mahnung vor weltweitem Antisemitismus nicht schützend vor der Synagoge standen aber zu jeder Antifademo ihre Israelfahnen mitschleppen. Ausgerechnet jene, die im April 2018 durch Halle zogen und den Islam als „die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung und Morden in der ganzen Welt“ denunzierten, sind nun auch jene, die über den Attentäter als Frauenhasser, Antisemiten und Rassisten berichten aber zuerst ihre eigene Haltung reflektieren müssten. Dazu aufgefordert, rasten sie aus. Solidarität sei das Gebot der Stunde, um dem rechten Terror die Stirn zu bieten. Nur Solidarität kann uns noch retten. Uns alle. Also haltet gefälligst die unsolidarische Klappe und stimmt uns zu. Auch wenn wir uns falsch verhalten. Wir sind die Guten.

Für Frauen ist Präsenz in diesem Umfeld gefährlich. Du mußt nicken oder bist Feindbild. Die Entsolidarisierung ist längst vollendet. Es gibt da für viele kein Miteinander mehr. Für manche stellen sich die Fragen anders: Wie fahrlässig ist meine Sichtbarkeit in diesem Umfeld? Werde ich dort fotografiert, mit weiteren Artikeln geoutet, meine Personendaten veröffentlicht, weil ich es wage, mich als Frau politisch zu äußern und die anwesenden Macker meine Kritik nicht aushalten? Kleben die Macker mir ein Fadenkreuz auf die Stirn, damit Täter wie in Halle neue Ziele finden? Mit Sicherheit.

Wer möchte sich aber auch neben eine Israelfahne stellen, um den Juden und Jüdinnen in Deutschland die Ausreise nach Israel zu empfehlen. Ein Verweis nach Israel ist eine bevormundende Antwort im Kampf gegen Antisemitismus. Juden und Jüdinnen sind Freunde, Kollegen und Nachbarn. Weil sie in Deutschland leben möchten, müssen wir dafür sorgen, dass dies gefahrlos möglich ist. Wir müssen mit den Lebenden solidarisch sein, nicht erst mit den Toten. Ich gebe diese Idee nicht auf. Antisemitismus passiert hier und ein Sicherheitsversprechen durch eine Ausreiseempfehlung ist keine Lösung. Der Täter versuchte in die Synagoge in Halle an der Saale einzubrechen, er wollte die Anwesenden töten. Die Menschen hinter der lebensrettenden Holztür hatten Todesangst. Antisemitismus ist kein Import und der Islam ist nicht die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung und Morden in der ganzen Welt. In Halle an der Saale tötete am 9. Oktober 2019 ein 28-jähriger Deutscher in rasendem Hass zwei Menschen. Einer Holztür und der Ladehemmung seiner selbstgebauten Waffen ist es unter anderem zu verdanken, dass nicht mehr Menschen ermordet wurden.

Der Attentäter stammt aus Eisleben. Die Geschichte des Antisemitismus in Eisleben findet man direkt auf dem Marktplatz. Dort steht eine gut vier Meter große und 1,5 Tonnen schwere Bronzeskulptur des wohl bekanntesten Judenhassers seiner Zeit: Martin Luther. Überall in der Region, von Wittenberg bis nach Halle, wird der Begründer des Protestantismus bis heute geehrt. „Was wollen wir Christen nun tun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden?“, schrieb Luther. In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ forderte er „brennende Synagogen“. In seiner letzten Predigt in Eisleben, 1546, fordert er die vollständige Austreibung der Juden aus der Stadt. Der Attentäter von Halle wurde in der Lutherstadt Eisleben geboren, ging auf das Martin- Luther-Gymnasium und auf die Martin-Luther-Universität in Halle.

Antisemitismus muss in Deutschland nicht importiert werden, die Wiege steht hier. Deutschen muss man keine ideologische Nähe mit Rechten unterstellen, sie sind es selbst. Juden und Jüdinnen des Landes zu verweisen erfüllt Antisemiten einen innigen Wunsch. Der Halle-Attentäter begründete seine Mordlust völkisch-nationalistisch. Er wollte Deutschland als Schutzraum der weißen Herrschaft gegen Muslime und Schwarze verteidigen, die in seinem Weltbild von einer jüdischen Macht gesteuert würden. Er dämonisiert Juden und entmenschlicht Muslime. Der Täter beschrieb die von ihm als „Krise“ erlebte Zuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015 als Bedrohung seines identitären Weiß- und Deutschseins. Nationalismus tötet, denn Nationalismus produziert Ausschlüsse und verschafft einem Kollektiv eine gemeinsame Identität, die zu Gewalt führen wird, wenn diese als bedroht gilt. Nationalismus ist die Rechtspraxis zum Völkischen. Diese wahrheitswidrige Erzählung der angeblichen Grenzöffnung und unkontrollierten Zuwanderung im Jahr 2015 ist das Leitmotiv der Neuen Rechten und begünstigte die Wahlerfolge der AfD. Nach dem Weltbild des Täters sei für die Bedrohung des Kollektivs eine jüdische Elite verantwortlich. Damit greift er auf das antisemitische Narrativ der jüdischen Weltherrschaft zurück. Der Halle-Attentäter ist Incel („Involuntary Celibate“), Rassist, Nationalist und Antisemit.

Die Antworten der vor dem Landgericht in Magdeburg stehenden Linksliberalen auf das Attentat am 9. Oktober 2019 in Halle überzeugen mich nicht. Auch eine mitreißend gehaltene Rede hält keinen Attentäter auf. Die langweiligen auch nicht. Ich weiß, dass der deutsche Staat strukturell und offen rassistisch, auf dem rechten Auge mindestens sehschwach und auf dem linken äußerst rabiat ist. Ich erwarte von einem Staat weder Schutz noch Gerechtigkeit. Ein Staat ist kein Freund, sondern ein Konstrukt. Nationalismus produziert Ausschlüsse und befördert Rassismus. Rassismus, Sexismus und Antisemitismus sind in der bundesdeutschen Wirklichkeit Alltagskultur. Von einer solidarischen Linken erwarte ich darum, dass der Umgang miteinander solidarisch ist, dass keine Ausschlüsse reproduziert werden, dass Frauen nicht psychiatrisiert und nicht sexistisch attackiert werden, dass Kritik am Nationalismus zugelassen wird, dass Religionskritik nicht nur „den Islam“ meint und dass Solidarität vom einmaligen Medienspektakel zur täglichen Praxis wird. Davon sind wir in Magdeburg noch weit entfernt.

Meine Solidarität gilt täglich allen Betroffenen rassistischer Politiken und Gewalt. Ich bekämpfe Rassismus, auch wenn er von Linken kommt. Und ich erkenne Incels am Verhalten gegenüber Frauen, auch wenn sie versuchen, ihren Frauenhass mit linker Rhetorik zu begründen. Ich weiß, dass der Kampf gegen Antisemitismus niemanden gegen Rassismus immunisiert. Der Halle-Attentäter war beides: antisemitisch und rassistisch. Und ein Frauenhasser.

Was unternehmen wir gegen solche Typen? Wie verhindern wir, dass weiße Männer ihren unerfüllten Herrschaftsanspruch in Gewalt übersetzen und zur Tötungsmaschine werden? Um mir diese Fragen in Ruhe zu stellen, bin ich gegangen. Schon am zweiten Prozesstag war die Wiese dann wieder menschenleer. Statt vieler Pavillons auf dem Grün gab es nur noch einen auf dem Plattenweg. Zum Glück hatte niemand mehr Schilder mit Namen der Todesopfer rechter Gewalt dabei, es gab nicht mal annähernd genug Hände. An den kommenden Prozesstagen werden sowohl die Wiese als auch die Plätze im Gerichtssaal leer bleiben.

# Titelbild: wikimedia commons, CC BY-SA 3.0, Lutherstatue in Eisleben

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