Chile Referendum: Pinochet war nie weg

8. September 2022

Die Ablehnung der neuen Verfassung am 04.09.2022 hat die linke Bewegung in eine Mittelschwere Krise gestürzt. Wenn auch aufgrund von Umfragen absehbar war, dass der in einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeiteten neuen Verfassung abgelehnt werden würde, war doch die Klarheit der Ablehnung mit 62 Prozent der abgegebenen Stimmen überraschend. Während sich viele Erklärungen auf die Lügenkampagne der chilenischen Rechten stützen, ist nach Einschätzung der revista crisis diese Niederlage vor allem eine Niederlage des linken Reformismus, wie der hier übersetzte Beitrag meint:

Das Referendum über eine neue Verfassung in Chile vom 4. September 2022 wird als schwere ideologische und materielle Niederlage für den lateinamerikanischen progresismo in die Geschichte eingehen. Der Ausgang des Referendums, der Ergebnis eines Prozesses ist, der im Oktober 2019 auf der Straße und 1973 mit dem Staatsstreich von Pinochet und der CIA begann, zeigt allerdings auf, dass das chilenische Volk nach jahrzehntelanger Schocktherapie den strukturellen Faschismus, vertreten von der den Chicago Boys nahestehende Bourgeoisie, offenbar internalisiert hat. Gleichzeitig bedeutet die Ablehnung eine durchschlagende Niederlage der selbsternannten “linken” Sektoren, die dank der Unzufriedenheit des Volkes an die Regierung gekommen sind und die historischen Fehler des lateinamerikanischen Progressivismus reproduziert haben.

Man muss in Erinnerung halten, dass der erste neoliberale Prozess in Lateinamerika in Chile stattfand, nach einem pro-imperialistischen Staatsstreich, bei dem die gröbste strukturelle Gewalt des Kapitalismus und seine auf dem Antikommunismus basierende politische Doktrin durchgesetzt wurden. Chile wurde zum sozialen und wirtschaftlichen Laboratorium für den sozialen Kontrollmechanismus schlechthin: die Schock-Strategie.

Der durchschlagende Sieg der Ablehnung der neuen chilenischen Verfassung zeigt eine tiefgreifende politische Fehleinschätzung seitens der Linken auf, die sich sehr bemüht hat, die Ablehnung des Neoliberalismus zu dienen zu kanalisieren, ohne in der Lage zu sein, Forderungen des Volkes zu erfüllen, die über die Logik des Kapitals hinausgehen. Die Ablehnung der neuen Verfassung offenbart einen Prozess des ideologischen Wiedererstarkens der chilenischen Ultrarechten, der von einer ultrakonservativen bürgerlichen Empörung getragen wird, das darauf abzielt, den Status quo im Lande zu erhalten. Chile ist einer der weltweit führenden Exporteure von Kupfer, Lithium, Silber und Jod. Die chilenische Oligarchie, die sich um den Bergbau-, Export- und IT-Sektor gruppiert, stellt eine der reaktionärsten Klassen des kontinentalen Rentismus dar, die sich in der Pinochet-Verfassung wiederfindet, die als einzige auf der Welt Wasser als private Ressource anerkennt.

Die Mehrheit der Volksorganisationen und sozialen Bewegungen in Lateinamerika war überrascht und enttäuscht über den Sieg der Ablehnung in der Volksabstimmung in Chile. Rund 61,87 % der Wähler stimmten für die Ablehnung, 38,13 % für die Annahme, bei 14 % Wahlenthaltung, so dass die vorgeschlagene neue Verfassung nicht in Kraft treten konnte. Das bedeutet, dass die Volksorganisation und die sozialen Bewegungen eindeutig ihre Unfähigkeit bewiesen haben, das wahre Volk zu lesen, in dem 50 Jahre Faschismus stecken: ein ultrakonservatives Volk.

Das bedeutet, dass es ihr zwar gelungen ist, drei Jahre lang einen sozialen Aufstand aufrechtzuerhalten, der die historischen Forderungen der Mapuche-Völker und -Nationalitäten, der Frauen, der Studenten, der Dissidenten und der Arbeiterklasse gebündelt hat, dass dieser Aufstand aber immer noch eine organisierte Minderheit darstellt und nicht den Willen der Mehrheit. Darüber hinaus ist diese wirklich mobilisierte Minderheit – nicht nur Kollaborateure oder Sympathisanten – gespalten in diejenigen, die den Aufbau einer neuen Verfassung im Rahmen der bürgerlichen Demokratie als Triumph betrachten, und diejenigen, die die strukturellen Grenzen dieser Verfassung erkennen und sich aus einer – nennen wir es – ideologischen Ablehnung heraus positioniert haben.

Der Pinochetismus hat eine zutiefst und strukturell faschistische Gesellschaft geschaffen: Es gibt keinen Mangel an Menschen, die den Wahrheitsgehalt und die Schwere der während der Diktatur begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnen, und keinen Mangel an Menschen, die sie rechtfertigen. Fast 50 Jahre Faschismus – 17 Jahre Diktatur und 32 Jahre neoliberale Kontinuität – sind nicht ohne materielle Konsequenz geblieben. Die Subjektivität des Volkes wurde auf der Grundlage dieses Faschismus aufgebaut, und dieser Faschismus strukturierte die ultrakonservative Politisierung der großen Mehrheit. Die Volksorganisation und die sozialen Bewegungen sollten nicht noch einmal den Fehler begehen und weiterhin glauben, dass Aufstände das Ende der Mobilisierung sind und nicht nur eine Machtdemonstration. Einmal mehr hat sich gezeigt, dass ohne eine nachhaltige territoriale Arbeit, die sich auf die Lösung der materiellen Bedingungen der verarmten Arbeiterklasse konzentriert, kein Prozess sich selbst überwinden kann, um ein fortschrittliches politisches Projekt zu werden, geschweige denn ein antikapitalistisches.

Kurz gesagt, der überwältigende Unterschied zwischen der Ablehnung und der Annahme des chilenischen Verfassungsentwurfs stellt einen historischen politischen Moment dar, der uns sowohl die Grenzen Projekte des progresismo als auch die ideologische und materielle Reichweite des Reformismus im kapitalistischen System vor Augen führt. Die Vielfalt der Forderungen des chilenischen Volkes im Rahmen des Verfassungsprozesses spiegelt die Unwägbarkeiten wider, mit denen die Volksorganisation konfrontiert ist, die jahrzehntelang kriminalisiert, geschwächt und dezimiert wurde, die in den letzten drei Jahren gestärkt wurde, der es aber angesichts der Grausamkeit des freien Marktes noch nicht gelungen ist, die großen Mehrheiten zu politisieren und zu mobilisieren. Die extreme Rechte erneuert und radikalisiert sich rund um den Antikommunismus, der von der konservativen Struktur der Subjektivität des Volkes getragen wird und immer Hand in Hand mit dem Kleinbürgertum geht. Weder der Antikapitalismus noch ein würdiges Leben werden jemals in den Rahmen der bürgerlichen Demokratie passen. Der Neoliberalismus wurde geboren und wird in Chile sterben, aber nicht durch Gabriel Boric oder irgendeinen progresismo, sondern durch antikapitalistische Organisation, die jetzt ein klares politisches Szenario vor sich hat.

#Titelbild: Diktator Pinochet und sein demokratisch gewählter bürgerlicher Nachfolger Patricio Aylwin in trauter Einigkeit (zw. 1990 und 1994), Biblioteca del congreso nacional (https://www.bcn.cl/portal/), CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/cl/deed.en)

Schreibe einen Kommentar Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert