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Von Carola Rackete und Momo

Es ist Zeit, das gewohnte „Weiter so“ zu hinterfragen. Etwas, was wir als Klimagerechtigkeitsbewegung immer von der Gesellschaft einfordern, doch wir sollten diese Frage genauso an uns richten. Dieser Text ist eine kritische Reflexion dieses „Weiter so“ einer Bewegung, die eine neue Richtung braucht, um den Wandel in existenziellen Zeiten zu meistern.

Als Reaktion auf die Veröffentlichung des Reports “Limits to Growth” wurde auf der Rio-Konferenz 1992 beschlossen, nachhaltige Entwicklung zu propagieren, um Kapitalismus mit Ökologie zu vereinen. Kurz danach starteten die Weltklimakonferenzen und in ihrem Umfeld die jährlichen Gegenproteste. Vernachlässigt wurde zunächst häufig, dass die eigentlichen Klimaschutzmaßnahmen lokal und national umgesetzt werden müssen. Daneben dominierte die fossile Lobby die Konferenzen und setzte den Rahmen für völlig unzureichende Ergebnisse.

Ein Jahr nach der desaströsen COP 2009 in Kopenhagen startete das erste Klimacamp im Rheinland. Das Camp diente der Vernetzung und als Ideenschmiede und war Grundstein der heutigen Bewegung. Besonders die massiven Proteste im Hambacher Forst 2018 und die jährlichen Aktionstage des Bündnisses Ende Gelände trugen dazu bei, die Forderung nach Klimagerechtigkeit anhand konkreter Themen in das Bewusstsein der deutschen Linken zu tragen. Ziel war, von der Zivilgesellschaft die nötige Radikalität einzufordern, die dem Ausmaß der Klimakrise gerecht wird. Eine Krise, die wir in Deutschland bis jetzt nur erahnen können, die aber für viele Menschen auf der Welt seit Jahrzehnten existenzbedrohend ist. Die von der Klimakrise Betroffenen, meist aus dem globalen Süden, fordern seit den Anfängen der Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland eine Bewegung, die die Intersektionalität der Kämpfe sieht. Das wäre eine Bewegung, die die Zusammenhänge von Unterdrückung als Kontinuität von Rassismus und Kolonialismus begreift und sie als grundlegende, für die Klimakrise verantwortliche Herrschaftsverhältnisse anerkennt und bekämpft.

Das Aufkommen der global agierenden Klimabewegungen Fridays For Future und Extinction Rebellion machten 2019 zum Jahr der Klimaproteste und manifestierten das Thema Klima in der Tagespolitik. Im Gegensatz zu den autonomen Bewegungen um den Hambacher- Forst oder jüngst Lützerath schlugen die Bewegungsgruppen wie Fridays For Future einen Kurs der Dialogbereitschaft ein. Diese Diskursverschiebung innerhalb der Bewegung hin zur Appell- und Dialogpolitik und zum Kuschelkurs mit Parteien führt dazu, dass das kämpferische Momentum verblasst und sich Realpolitik breitmacht. Zurzeit polarisiert der Aufstand der Letzten Generation als radikale Flanke die Bewegungsdebatten. Mit dieser Form der Radikalität ist es jedoch nicht getan.

Wir brauchen ökologischen Klassenkampf

Die Klimakrise ist ein Ergebnis von sozialer Ungerechtigkeit und globalen massiven Unterschieden in Machtverhältnissen. Könnten alle weltweit gleichberechtigt über fossile Energienutzung mitbestimmen, wären wir vermutlich nicht in einer Klimakrise, die zuerst für Menschen im globalen Süden existenzbedrohend ist. Die Forderung aus unserer Bewegung nach dem 1,5-Grad-Limit von Paris ist kein Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit. Nicht zuletzt, weil viele Staaten des globalen Südens seit Dekaden eine 1-Grad-Grenze fordern und das schon lange vor Paris. Der Begriff „1,5-Grad-Grenze“ abstrahiert die für viele Menschen schon lange existenzielle Frage der Klimakrise und führt zu einer technischen Debatte, geleitet von Naturwissenschaften und Klimamodellen. Er verschleiert ebenfalls den Weg, wie wir die Klimakrise eindämmen können: Nur durch tiefgreifende soziale Veränderung können wir zusammen Lösungen erarbeiten, die alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit berücksichtigen und sich gegen die Interessen von Konzernen, Nationalstaaten und Milliardär*innen richten, die das Problem verursachen. Als Klimagerechtigkeitsbewegung müssen wir Gegenmacht aufbauen und dafür müssen wir den Gerechtigkeitsaspekt für mehr Menschen im globalen Norden spürbar machen.

Wie machen wir also weiter?

Wir müssen weg von leeren Worthülsen wie “Systemwandel” und “climate justice” auf Klimademos, und hin zu Protesten, Waldbesetzungen und Organisierung der gesamten Bevölkerung. Der Ruf nach Klimagerechtigkeit muss aus praktischen Initiativen begreifbar werden und sowohl globale als auch lokale Verhältnisse berücksichtigen. Klimagerechtigkeit in Europa und weltweit heißt demnach auch, soziale Ungerechtigkeit und Klassenunterschiede abzubauen und klarzumachen, dass auch hier erhebliche Unterschiede in Konsum und Verantwortlichkeit für die Klimakrise existieren.

Es ist grundsätzlich notwendig, soziale Gerechtigkeit einzufordern. Aber gerade jetzt, während der zweiten russischen Invasion der Ukraine, läuft die Bewegung Gefahr, noch weiter gegen arme Menschen ausgespielt zu werden, welche unter steigenden Lebenshaltungskosten am meisten leiden. Zu lange hat die Bewegung verpasst, aufzuzeigen und umzusetzen, wie Klimaschutz soziale Gerechtigkeit im globalen Norden verbessern würde. Doch spätestens jetzt ist es unabdingbar, Lösungen sichtbar zu machen, die sowohl sozial als auch ökologisch sind. Falls wir diese Chance verpassen, verspielen wir möglicherweise jede Chance auf Klimaschutz – auch durch einen rechten Backlash der jetzt schon in Europa um sich greift.

Klosterbau verhindern – Basisarbeit machen

Innerhalb der Bewegung müssen wir klarstellen, dass es nicht darum geht, sich ein hübsches, politisches Kloster zu bauen, in das nur die bereits Politisierten Zutritt haben. Gesellschaftliche Veränderung können wir nicht erreichen, wenn wir uns komplett aus der Gesellschaft in eine abgeschlossene Parallelgesellschaft zurückziehen und uns darauf fokussieren, die bereits Bekehrten noch stärker zu politisieren. Die Auseinandersetzung mit der Zivilgesellschaft mag sicher eine Herausforderung sein, sie ist aber ein essenzieller Bestandteil von Bündnisarbeit und notwendig, um zu gewinnen. Ja, wir wollen und müssen gewinnen, nicht einfach nur Recht haben. Diese Organisierung für eine befreite klimagerechte Welt können wir uns mit allen vorstellen, die die Realität im Kapitalismus als erdrückend empfinden.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung bezieht sich immer wieder solidarisch auf die Revolution in Nord-Ostsyrien (Rojava), ohne aber umsetzen zu wollen, was diese erfolgreich vorgemacht hat: immer wieder das Gespräch mit jeder einzelnen Familie in jeder Straße zu suchen, um sich gemeinschaftlich mit allen zu organisieren. Das radikalste also, was die Klimagerechtigkeitsbewegung machen kann, ist Basisarbeit in der Gesellschaft.

Wenn wir proletarisch-prekär geprägte Menschen vergessen oder sie proaktiv aus unserer Politik ausschließen, da sie nicht in unseren Lifestyle passen, können wir nicht weiterkommen. Ein Beispiel: Es bringt nichts, gegen Autolärm im berliner Regierungsviertel zu protestieren, während die meistbefahrenen und damit auch meistverschmutzten Straßen durch prekäre Viertel verlaufen. Unsere Aktionen richten sich zu häufig nur an die Mächtigen und zielen auf Medienbilder ab. Doch wenn die Menschen, die vom Problem am meisten betroffen sind, in unserer Organisation weder bedacht noch einbezogen werden, dann können wir keine ernsthafte Gegenmacht aufbauen. Umgekehrt gibt es auch positive Beispiele von Gruppen, die sich mit Arbeiter*innen der Automobilzulieferer oder mit den Beschäftigten im ÖPNV für eine sozial-gerechte Transformation einsetzen wollen.

Welche Radikalität brauchen wir?

Angesichts der immer weiter fortschreitenden Klimakatastrophe ist es verständlich, dass der Ruf nach radikaleren Aktionsformen immer lauter wird, denn Appell- und Dialogpolitik sind gescheitert. Wie in den 80ern in der Friedensbewegung bereits umgesetzt, diskutiert die Bewegung vermehrt Sabotage. Die Letzte Generation nutzt das Mittel der Sachbeschädigung erfolgreich für Medienaufmerksamkeit und bringt sich in die Position einer radikalen Flanke mit polarisierenden Aktionen. Die Debatte um Sabotage wird jedoch teilweise geführt, als sei sie eine magische Pille, sie verliert aber tatsächlich einen fundamentalen Punkt aus den Augen: Eine Eskalation der Taktiken, in der immer weniger Menschen immer größere Risiken eingehen, ist nur ein Teil der Lösung. Eine soziale Veränderung schaffen wir nur durch die vielen, durch das Organisieren der Gesellschaft und eine Vielfalt von Beteiligungsformen. Zwar dürfen Aktionen gerne polarisieren, doch müssen wir insgesamt als Bewegung davor hüten, den Bezug zur Gesellschaft zu verlieren. Denn ohne breite Zustimmung und zivilgesellschaftliche Radikalität wird es unmöglich sein, eine Veränderung der Machtverhältnisse herbeizuführen. Um diese Vielfalt zu erreichen, müssen wir Klimaaktiven unsere Vorurteile gegenüber weniger Aktiven und auch unseren missionarischen Eifer ablegen, der andere soziale Probleme als nichtig erklärt. Wir müssen auf einer respektvollen Ebene mit anderen ins Gespräch kommen und ein Verständnis dafür kultivieren, dass im Grunde alle Menschen Teil von gesellschaftlichen Verbesserungen sein wollen, auch wenn unsere Vorstellungen darüber weit auseinandergehen mögen. Es ist richtig, Klimaverbrecher*innen klar zu benennen und ihre Macht anzugreifen, aber dem Großteil der Gesellschaft müssen wir immer wieder die Hand zu Gespräch und Beteiligung ausstrecken und nach gemeinsamen Anliegen suchen.
 
Darüber können wir schon heute viel von anderen lernen: etwa von der Deep-Canvassing-Strategie der LGBTQI community in Los Angeles, von der Zusammenarbeit von NGOs und Ölplatformarbeiter*innen in Schottland oder vom Projekt Larger Us in Großbritannien. Wir können uns dafür einsetzen, RWE und Wintershall als größte deutsche fossile Unternehmen zu enteignen, Mietpreise zu deckeln und Deutsche Wohnen zu vergesellschaften, kostenlosen ÖPNV fordern und damit Fahren ohne Fahrschein unmöglich machen, genauso eine Reduktion der Wochenarbeitszeit fordern und kostenlose Kinderbetreuung, Papiere und demokratische Beteiligungsmöglichkeiten für alle in Deutschland lebenden Menschen. Oder in den Worten von Chico Mendes: Environmentalism without class war is just gardening!

#Titelbild: eigenes Archiv.

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Vor dem Kölner Verwaltungsgericht klagen zwei Teilnehmerinnen einer Friedensdelegation nach Kurdistan gegen eine willkürlich verhängte Ausreisesperre

Als sich im Frühjahr 2021 der Angriffskrieg der Türkei gegen kurdische Gebiete im Nordirak zuspitzte, machte sich eine Friedensdelegation auf den Weg in die Autonome Region Kurdistan. Die Aktivist:innen setzten sich zum Ziel, an einer friedlichen Lösung des Jahrzehnte alten Konflikts mitzuwirken. Es beteiligten sich Parlamentarier:innen, Menschrechtsaktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen, Klimaaktivist:innen, Initiativen und Einzelpersonen aus 14 verschiedenen Ländern. „Die Friedensdelegation wurde in Südkurdistan von der Bevölkerung und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Oppositionsparteien als bedeutende Initiative für Öffentlichkeit zum Angriffs- und Besatzungskrieg der Türkei und für die Verhinderung eines innerkurdischen Geschwisterkrieges sehr begrüßt und dankbar aufgenommen – von fast allen, die wir getroffen haben“, berichtet Dr. Mechthild Exo, eine Teilnehmerin der Friedensdelegation.

Am 12. Juni 2021 wollte sich nun eine weitere Gruppe aus Deutschland auf den Weg in die Region machen. Nach der Gepäck- und Passkontrolle am Düsseldorfer Flughafen, wurden die Personen jedoch von Polizist:innen abgefangen und in einen „sehr heißen“ und „schlecht belüfteten“ Flur gebracht, berichtete eine der dort Festgesetzten, Ronja H. Über Stunden festgehalten, wurden alle einzeln angehört, in Räumen mit abgedunkelten Fenstern. 17 Personen bekamen eine befristete Ausreiseuntersagung für einen Monat in den Irak, welche mit einem Stempel in ihrem Pass, als auch einer inhaltsgleichen schriftlichen Erklärung untermauert wurde. Unter Anderem wird aus der angeführten Begründung deutlich, dass sich die deutschen Behörden um die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei sorgten, bzw. diese durch die geplante Reise „negativ belastet“ werden würden, heißt es in der Begründung. „Was die Beziehungen zur Türkei belasten sollte, ist dass das türkische Militär Menschenrechte verletzt, nicht selten mit dem Kampfgerät deutscher Rüstungskonzerne.“ so Klägerin Ronja H.

Zwei der dort Festgehaltenen, Theda Ohling und Ronja H. haben sich dazu entschieden, gegen das rechtswidrige Handeln der Bundespolizei mit einer sogenannten Fortsetzungsfeststellungsklage vorzugehen. Am 01.06.22 reichten sie die Klage beim Verwaltungsgericht Köln ein und verkündeten diese mit einer Pressekonferenz am darauffolgenden Tag. Auf dem Podium saßen, die Rechtsanwältin für Verwaltungsrecht Cornelia Ganten-Lange, die beiden Klägerinnen Theda Ohling und Ronja H., sowie die Friedensdelegationsteilnehmerin Dr. Mechthild Exo.

Auf rechtlicher Ebene wurde erklärt, dass die Verfügung, welche die Bundespolizei ausgestellt hatte, nur auf Behauptungen und Spekulationen beruhe und keine Tatsachen genannt wurden, welche diese rechtfertigen würden. Vielmehr sei festzustellen, dass die Delegationsreise gezielt verhindert und unmöglich gemacht wurde. Wie lange das Verfahren an Zeit in Anspruch nehmen wird, sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar.

Die Statements der Teilnehmer:innen der Pressekonferenz haben viele Fragen aufgeworfen, die bisher noch unbeantwortet sind. So auch die Frage wieso eine Friedensdelegation, welche sich gegen völkerrechtswidrige Angriffe stellt, eine Gefahr für politische Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei darstellen solle, und was dies über diese Beziehungen aussage. Die Kläger:innen hoffen im Zuge des Prozesses herauszufinden auf welcher Grundlage die Ausreise untersagt wurde. „Wir wurden wie Kriminelle behandelt. Auf die Toilette durften wir nur mit polizeilicher Begleitung. Die ganze Zeit über behielten die Polizeibeamten ihre Schutzwesten an“, berichtet Ronja H. Mechthild Exo stellte in diesem Zusammenhang fest: „Wir dürfen nicht zulassen, dass auf die türkischen Forderungen nach mehr Repression gegen kurdische politische und gesellschaftliche Strukturen, u.a. in Finnland und in Schweden, aber auch in Deutschland, eingegangen wird. Stattdessen müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln darauf drängen, dass die Verbrechen des türkischen Staates angeklagt werden.“ Dies bezieht sich auch auf das seit den 1990er-Jahren in Deutschland geltende Verbot kurdischer Organisationen, durch welches Kurd:innen in Deutschland andauernd kriminalisiert werden.

Neben der Verkündung der Klage wurde auf der Pressekonferenz auf den wieder aufflammenden Angriffskrieg der Türkei seit April diesen Jahres, auf kurdische Gebiete im Irak und Syrien aufmerksam gemacht. Theda Ohling, eine der Klägerinnen, stellte fest: „Bei den Angriffen aktuell, wie auch 2021 auf Südkurdistan handelte und handelt es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Staates.“ Es dränge sich die Frage auf: „Wieso geht unsere Gesellschaft mit Kriegen so unterschiedlich um? Warum bleiben manche Kriege im Schatten? Wird den Menschen, die von den Angriffen des türkischen Militärs in Kurdistan betroffen sind, weniger Wert beigemessen?“ betonte Ronja H. Mechthild Exo fügte hinzu: „Der türkische Staat droht mit einer weiteren Invasion und Besatzung von Gebieten im Norden Syriens. Im Schatten des Ukrainekrieges lassen die NATO-Staaten, einschließlich Deutschland als der wichtigste Partner der Türkei, diese Verbrechen gegen internationales Recht und Menschenrechte ohne Widerspruch zu.“ Betont wurde, dass auch zum jetzigen Zeitpunkt eine Friedensdelegation um Öffentlichkeit zu schaffen notwendig wäre.

# Video Pressekonferenz: https://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDUhttps://www.youtube.com/watch?v=xiWnefFaoDU

# Für mehr Informationen: www.defend-kurdistan.com
# Für mehr Informationen: https://civaka-azad.org/

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Einfach gegen Krieg zu sein, ist noch keine politische Position. Die Friedensbewegung in Deutschland aber muss eine klare Haltung einnehmen – sonst droht ihr, dass sie für die Interessen des Kapitals instrumentalisiert wird.

Krieg, bis Putin aufgibt!

Berlin erlebte am Sonntag nach Beginn der Invasion der Ukraine durch den russischen Staat die größte „Friedensdemonstration“ seit dem Irakkrieg. Über 100.000 Menschen seien auf die Straße gegangen. Die Teilnehmer:innen gehörten unterschiedlichen politischen Richtungen an – von linksorientierten Menschen bis hin zu Vertreter:innen von FDP/CDU/SPD/Grüne. Der Tenor allerdings war, dass „Putins Krieg“ gestoppt werden müsse. Und zwar in dem Sinne, dass Putin als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg in der Ukraine kritisiert wurde.

So eine Sicht auf den Krieg verschleiert aber seine Ursache: den Konflikt zweier imperialistischer Blöcke, nämlich einerseits dem Block NATO/EU und andererseits dem russischen Imperialismus mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion und seinem Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Der Angriff des russischen Staates ist ein katastrophaler Eskalationsschritt – aber eben ein Schritt, dem viele weitere vorausgingen. Seit dem Ende der Sowjetunion waren es NATO und EU, die ihren Machtbereich nach Osten ausdehnten und Russland dabei zunehmend einkreisten. Die Ukraine wurde besonders seit den Maidan-Protesten 2013/14 Schauplatz des Konfliktes der beiden imperialistischen Blöcke, wobei auch hier NATO und EU ihren Einfluss aggressiv ausweiteten.

Bei der Mehrheit der ersten „Friedensdemonstrationen“ ging es nicht um diesen imperialistischen Konflikt. Sie positionierten sich nicht gegen den imperialistischen Krieg, sondern allein gegen den russischen Staat. Auf den wenigsten Demonstrationen wurde Kritik an NATO/EU geübt, die mit ihrer seit 30 Jahre anhaltenden Offensive zur Eskalation beitrugen und beitragen. Unterm Strich deckt sich die Stoßrichtung von „Friedensdemonstrationen“ wie der genannten in Berlin also in wesentlichen Punkten mit dem Interesse des Blocks NATO/EU.

So eine „Friedensbewegung“ ist nicht nur bequem für den deutschen Imperialismus, sondern spielt ihm sogar in die Karten: Bundeskanzler Scholz zog die „Friedensdemonstrationen“ in seiner Regierungserklärung heran, um weitere Eskalationsschritte und die zusätzlichen 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr zu legitimieren. Und auch in der Springer-Presse gab es Lob für die Demonstrationen. Obwohl die meisten Demo-Teilnehmer:innen sich sicher aufrichtig Frieden wünschen, kann die Botschaft solcher Veranstaltungen von den Herrschenden leicht als „Krieg, bis Putin aufgibt!“ ausgelegt werden.

Wo steht der Hauptfeind?

Weil die aktuelle militärische Offensive vom russischen Staat ausgeht, kommt der Bevölkerung Russlands im Kampf gegen den Krieg zentrale Bedeutung zu. Sie befindet sich in der Position, dem russischen Imperialismus von innen empfindlichen Schaden zufügen und ihm die Kriegsführung erschweren zu können.

Es gibt in Russland bereits zahlreiche Proteste gegen den Krieg, woran sich auch Linke beteiligen. Sie müssen propagieren, den Krieg zwischen Nationen in Klassenkampf umzuwandeln – gegen Putin und die hinter ihm stehenden Großkapitalisten. Die Masse der Bevölkerung Russlands hat in diesem Ukraine-Krieg nichts zu gewinnen. Sie muss dessen immense Kosten tragen, unter Sanktionen leiden und ihre Söhne als Kanonenfutter hergeben.

Auch in Deutschland müssen Linke die Invasion der Ukraine durch den russischen Staat verurteilen und sich mit der Anti-Kriegs-Bewegung in Russland solidarisieren. Dabei sollte aber auch klargemacht werden, dass es sich um einen imperialistischen Krieg handelt und dass solche Kriege eine notwendige Folge des Konkurrenzkampfes im imperialistischen Weltsystem sind.

Die Hauptaufgabe von Linken in Deutschland ergibt sich allerdings aus der Position, in der sich die Arbeiter:innenklasse Deutschlands befindet. Denn sie lebt unter der Herrschaft eines der wichtigsten Staaten des NATO/EU-Blocks und der deutsche Imperialismus bemüht sich seit Jahren, seine Machtposition in Europa und darüber hinaus auszubauen. Dabei soll auch militärische Stärke eine wichtige Rolle spielen, weshalb Politiker:innen fast aller bürgerlicher Parteien sich seit Jahren für eine Aufrüstung der Bundeswehr aussprechen.

Für die Interessen des hinter ihm stehenden Kapitals hat auch der deutsche Staat zur aktuellen Eskalation des Konflikts mit dem russischen Imperialismus beigetragen. Deutlich wird das unter anderem daran, dass ernsthafte Verhandlungen mit der russischen Regierung verweigert wurden. Diese hatte im Dezember 2021 Forderungen gegenüber USA und NATO aufgestellt. Darunter: keine weitere NATO-Osterweiterung und der Abzug von NATO-Waffen, die sich in Nähe der Grenze Russlands befinden. Doch für die NATO kam es nicht in Frage, ernsthaft über diese Forderungen zu sprechen und Kompromisse einzugehen – nicht einmal, als die NATO-Geheimdienste wussten, dass es bei weiterer Verhandlungsverweigerung zu Krieg kommen werde. Die Regierungen der NATO- und EU-Staaten nahmen und nehmen die tausenden Kriegstoten wohl wissend in Kauf.

Seit Beginn der Invasion verfolgt der deutsche Imperialismus diese Linie weiter: mit Waffenlieferungen an das ukrainische Militär, Sanktionen gegen den russischen Staat, der Forderung, die Ukraine solle EU-Mitglied werden – und vor allem mit der Ankündigung massiver militärischer Aufrüstung. Deeskalationsversuche gab es keine. Die Interessen des Kapitals sollen ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden.

Das ist die Politik des deutschen Staates. Dieser sollte im Fokus der Friedensbewegung in Deutschland stehen. Er ist ihr direkter Gegner und auf ihn kann sie am besten Druck ausüben – nicht auf die russische Regierung 1.800 Kilometer entfernt. Zudem ist der Kampf für das Ende des Krieges in der Ukraine unmittelbar verknüpft mit dem Kampf gegen die Wurzel der ständigen Kriegsgefahr, also dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus bzw. Imperialismus. Und den kann man nur Zuhause führen.

So wie die Anti-Kriegs-Bewegung in Russland Druck auf den russischen Staat macht, den Krieg zu beenden, muss auch die Friedensbewegung in Deutschland Druck auf den deutschen Staat machen. Statt dass dieser den Konflikt weiter mit eskaliert, muss seiner Aggression Einhalt geboten werden. Er muss dazu gedrängt werden, Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu ermöglichen, damit das Blutvergießen ein Ende haben kann und es Aussicht auf einen Abzug der russischen Truppen gibt. Ein Ende der Kämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten löst zwar den imperialistischen Konflikt nicht auf, aber je länger der Krieg dauert desto mehr Verluste müssen die Bevölkerungen hinnehmen, desto größere wirtschaftliche Kosten müssen sie tragen und desto gefährlicher kann sich die internationale Lage zuspitzen.

Die Heuchler entlarven

Die kapitalistischen Parteien und die großen Medien in Deutschland sind sich aktuell weitgehend einig. Kritik an weiterer Eskalation und Aufrüstung gibt es kaum. Man steht zusammen im „Konflikt zwischen Putin und der freien Welt“ (Scholz). Oder wie ein Vorgänger von Scholz es zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausdrückte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Einheit von herrschender Politik und großen Medien ermöglicht ihnen, die Bevölkerung Deutschlands von allen Seiten mit ihrer imperialistischen Propaganda einzudecken und NATO/EU als die „richtige Seite“ in einem Kampf von Gut und Böse darzustellen.

Aber dennoch besteht aktuell großes Potential, die in der Bevölkerung weit verbreitete Erzählung der Herrschenden ins Wanken zu bringen. Denn an zahlreichen Beispielen können Linke zeigen, dass es den Herrschenden nicht um das Wohl von Menschen geht, wie sie selbst ständig behaupten, sondern dass sie die Interessen des Kapitals vertreten und dafür buchstäblich über Leichen gehen. Hier sind einige eindrückliche Beispiele entlarvender Widersprüche:

  • Politiker:innen und Journalist:innen zeigen sich jetzt tief betroffen angesichts des Leids der Kriegsopfer in der Ukraine. Doch wie war das bei den Kriegen von NATO-Staaten wie in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak? Da haben die gleichen Parteien und Medien Kriegspropaganda betrieben und das Leid ihrer Opfer runtergespielt.
  • Plötzlich müsse man sofort hart gegen den russischen Staat vorgehen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Aber kein Wort und keine Kritik bezüglich der Bomben, die der türkische Staat als NATO-Mitglied in den gleichen Tagen auf mehrheitlich kurdisch-besiedelte Gebiete in Rojava/Nordsyrien und Kurdistan-Nordirak wirft – stattdessen gibt es sogar freundschaftliche Social-Media-Posts. Und genauso wenig Kritik gibt es auch am saudischen Staat, der seit Jahren mit Waffen aus USA und Deutschland ausgerüstet die Bevölkerung des Jemens massakriert.
  • Als Azerbaidschan mit Hilfe des NATO-Mitglieds Türkei 2020 Armenien überfiel wurde das nicht nur nicht verurteilt, Politiker:innen aus CDU/CSU ließen sich für Kriegslobbyismus sogar von Azerbaidschan bezahlen.
  • Menschen, die jetzt vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, wird aktuell von Politik und großen Medien viel Aufmerksamkeit gegeben und Verständnis entgegengebracht – aber eben nur den passenden Flüchtenden. Diejenigen Menschen, die von Afrika über das Mittelmeer flüchten, sollen dort weiter ertrinken. Selbst an der Grenze Ukraine-EU müssen unzählige in der Kälte zu überleben versuchen, weil sie nicht dem Bild der Herrschenden der EU-Staaten entsprechen. Und auch Ukrainer:innen in Deutschland waren und sind der kapitalistischen Politik egal, solange sie nur überausgebeutete Arbeiter:innen sind, durch deren Arbeit deutsche Unternehmen Extraprofite erzielen können; als LKW-Fahrer, Pflegerinnen oder Reinigungskräfte. Es geht eben nicht um Schutz für Geflüchtete oder das Wohl von Ukrainer:innen – es geht darum, Notlagen von Menschen für imperialistische Propaganda auszunutzen.
  • Häufig hört man auch, dass man einem Diktator wie Putin härter hätte entgegentreten sollen und dass man mit Diktatoren eben nicht zusammenarbeiten dürfe. Aber das gilt natürlich nur, wenn der entsprechende Diktator ein Bösewicht ist, also nicht den NATO/EU-Block unterstützt. Im Februar noch war Außenministerin Baerbock in Ägypten. Dort herrscht eine brutale Militärdiktatur, unter der faktisch jede Opposition verboten ist und zehntausende politische Gefangene in den Knästen sitzen, in denen auch gefoltert wird. Aber mit Militärdiktator Sisi arbeitet der deutsche Staat gerne zusammen, weil der ägyptische Staat als Partner im internationalen Konkurrenzkampf des Imperialismus nützlich ist und den EU-Staaten außerdem lästige Geflüchtete vom Hals hält. Allein 2021 gab es aus Deutschland Waffen im Wert von 4,34 Mrd. Euro für die Diktatur.
  • Schließlich die 100-Mrd.-Euro-Aufrüstung: Sie macht eindeutig klar, dass die kapitalistischen Parteien die Bevölkerung all die Jahre angelogen haben, als sie sagten, menschenwürdige Pflege, mehr Rente oder bessere Bildung oder nur Luftfilter in Schulen während der Corona Pandemie könnten nicht finanziert werden.

Was soll man diesen Leuten noch glauben? Es ist offensichtlich, dass es ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung geht, sondern um die Interessen des Kapitals.

Die tatsächliche Friedensbewegung

Erfreulicherweise werden aktuell zunehmend linksorientierte Kundgebungen und Demonstrationen in Abgrenzung zu FDP/CDU/SPD/Grüne organisiert. Sie verurteilen den Angriffskrieg des russischen Staates, stellen sich aber auch gegen die massiven militärischen Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Es beteiligen sich dort Gruppen mit durchaus unterschiedlichen Positionen und nicht alle sind antikapitalistisch. Aber hier kann sich eine Massenbewegung für den Frieden herausbilden, die vom deutschen Imperialismus unabhängig ist und den Eskalationskurs der Bundesregierung nicht mitgeht.

Es ist unsere Aufgabe als Linke, uns an dieser Bewegung zu beteiligen und deutlich zu machen, dass die Bevölkerung Deutschlands nicht zwischen russischem und NATO/EU-Imperialismus wählen muss. Denn diese Alternative ist falsch. Es gibt keinen friedlichen Imperialismus. Kein Imperialismus nutzt der Masse der Bevölkerung – weder in der Ukraine oder in Deutschland noch sonst wo. Stattdessen braucht es einen Kampf gegen die Herrschenden im eigenen Land und eine Befreiung vom Kapitalismus, um eine dauerhaft friedliche Welt zu ermöglichen.

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Im Oktober 2021 hat Mesut Bayraktar seinen dritten Roman „Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ (UNRAST Verlag) veröffentlicht. Darin erzählt er die Geschichte seines Onkels Aydin, der 1982 aus der türkischen Stadt Trabzon am Schwarzen Meer nach Deutschland gekommen war, um in der BRD zu arbeiten. Neun Jahre später, Aydins Körper und Geist waren bereits durch die Räder der deutschen Industrie gebrochen, der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte sein Inneres zerfressen, wird er wegen Drogenhandel abgeschoben und verliert wenig später den Verstand. 2019 stirbt er in seiner Heimat an Krebs.

Die Erzählung ist ein Versuch, diese neun Jahre in Deutschland nachzuvollziehen und nachvollziehbar zu machen. Beides gelingt auf schmerzhafte Weise. Doch der Text ist mehr als das. Er ist vielschichtig und besteht neben der anachronisch entfalteten Haupthandlung aus philosophischen Gedanken, eingestreuten Parabeln und politischen Reflexionen. Darüber hinaus erzählt Bayraktar nicht nur die Geschichte seines Onkels, sondern auch seine eigene Gegenwart, in der die Familiengeschichte weiter wirkt.

Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ von Mesut Bayraktar, UNRAST Verlag, 148 Seiten, 14 Euro“

Die große Stärke des Romans liegt zweifelsfrei in der bestechenden, schockierenden, wahrhaftigen Sprache, die Bayraktar zu finden in der Lage ist. Sie vermag es, die Leser:innen die Gewalt erahnen zu lassen, die Aydin stellvertretend für seine Klasse durch das System der Herrschenden in Deutschland erleiden musste. Bayraktars Stil erinnert dabei an das Schreiben des französischen Schriftstellers Edouard Louis, der die Tradition der Arbeiter:innenliteratur in der Folge von Annie Ernaux und Didier Eribon erneuern konnte und auch in Deutschland auf ein breites Interesse gestoßen ist.

“Wenn ich an meinen Onkel denke, dann denke ich daran, was ihm verweigert wurde – das ist Klassengewalt.“

Im Oktober 2021 jährte sich das „Anwerbeabekommen“ mit der Türkei, mit dem die BRD dem seit Mitte der 50er-Jahre herrschenden Arbeitskräftemangel durch türkische Arbeiter*innen begegnen wollte, zum 60. Mal. Das Abkommen war gleichzeitig ein Paradestück des Klassenkampfs von oben. Zukünftige hohe Lohnforderungen konnten hiermit schon vor ihrem Aufkommen verhindert werden, da die türkischen Arbeiter:innen aufgrund ihrer schwächeren Position im Vergleich zu einheimischen Arbeiter:innen keine aggressiven Forderungen stellen konnten.

Doch es wäre fatal, den Roman auf dieses Jubiläum zu verkürzen. Denn die Geschichte von Aydin ist universal. Seine Niederlage ist stellvertretend für die Tragödien der Arbeiter:innen auf der ganzen Welt, die für die Profitlogik entmenschlicht und zerstört, ja schlicht geopfert werden. Und der Kampf Bayraktars gegen das Vergessen ist stellvertretend für die Rebellion der Massen gegen ihre Unterdrücker:innen, die auch darin bestehen muss, die Geschichten der Unterdrückung zu erzählen, die normalerweise nicht erzählt werden. Der Text vermag vor allem eines: Er schürt Wut auf die herrschende Klasse. Er erschafft Bilder die bleiben und die ein Sich-zur-Wehr-Setzen provozieren. Diese Wut kann stets ein neuer Beginn sein, sich gegen das System aufzulehnen, dass Aydin und so viele andere bis heute zerquetscht hat. Mit „Aydin“ hat Mesut Bayraktar einen herausragenden Roman geschaffen. Es lohnt sich, ihn zu lesen.

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Der frühere Direktor des Institute of Working Class History in Chicago, William A. Pelz, hat kurz vor seinem Tod ein englischsprachiges Manuskript zur Analyse der oft fast vergessenen Deutschen Revolution von 1918/1919 verfasst, welches 2018 bei Pluto Press unter dem Titel A People‘s History of the German Revolution herausgegeben wurde. Der Historiker untersucht die bewegenden Kriegsjahre 1914 bis 1918, die kleineren und größeren Aufstände und Streiks von gewöhnlichen Arbeiter_innen an der Front und zuhause, die zur Beendigung des Ersten Weltkrieges signifikant beitrugen, sowie die Ergebnisse des Jahres 1918, welche die Novemberrevolution in Teilen der deutschsprachigen Gebiete einläutete.

William A. Pelz, (1951-2017) war Geschichtsprofessor am Elgin Community College. In anschaulicher Weise erzählt Pelz auf knappen 180 Seiten anhand von Stimmen von Zeitzeug_innen, primär aus der Arbeiterklasse, wie sich die Ereignisse zutrugen und wer die treibenden Kräfte der Kämpfe zur Beedigung des Krieges und zum Aufbau von Sowjet-Gegenmacht waren.

Er beleuchtet dabei die weit verbreitete Arbeiterkultur, welche von der damaligen Sozialdemokratischen Partei (SPD) um die Jahrhundertwende offensiv aufgebaut worden war. In der SPD waren damals alle Sozialist_innen organsiert – reformorientierte sowie revolutionäre. Erst im Gefolge der 1914 bewilligten Kriegkredite und damit der Unterstützung des imperialistischen Krieges, kommt es um die Fraktion von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zur Spaltung. Zu dieser Zeit konnten Arbeiterfamilien ihre Einkäufe in einer sozialistischen Kooperative tätigen, sich Bücher aus der sozialdemokratischen Bücherei ausleihen, sich in einem Arbeitersportverein körperlich betätigen, in einem Arbeiterchor mit anderen Genoss:innen singen und vieles mehr. Diese Arbeiter-Gegenkultur entpuppte sich im Laufe der Kriegsjahre als zentral für die Verbreitung subversiver Pamphlete und der breiteren Organisierung gegen den Krieg und für eine deutsche Sowjetrepublik.

Mit viel Liebe zum Detail schildert Pelz, wie zum Beispiel eine junge Näherin ihrem Vater beim Schmuggeln von verbotener Literatur half und dann ein ganzes Jahr lang die gesamte Familie Marx‘ „Kapital“ laut las und bei der Heimarbeit diskutierte. Auch zeichnet Pelz eine kritische Geschichte der Massen in Deutschland bei Kriegsausbruch: Die in den Geschichtsbüchern viel zitierte Kriegsdemonstration von 50.000 in Berlin am 1. August 1914 stellt er den wenige Tage zuvor stattfindenden Anti-Kriegs-Demonstrationen mit bis zu 200.000 Teilnehmenden gegenüber. Im July 1914 sollen nach seriösen Quellen bis zu 1 000 000 in ganz Deutschland gegen den Krieg protestiert haben.

Pelz wird nicht müde, die elementare Führung der Frauen und der Jugend darzulegen: während der Großteil der Männer an die Front bestellt wurde, waren es die Frauen die Heim und Arbeit schmissen – sie waren diejenigen, die die Kinder groß zogen, draußen, in oft vor dem Krieg als rein ‚männlich‘ besetzten Industrien wie der Metallindustrie, Geld verdienen gingen, zu Hause gleichzeitig den Haushalt bewältigten und durch die ganze Stadt jagten, um etwas Essbares zu finden. Frauen waren die ersten, die bei Hungerprotesten Läden einrannten und alles Essbare einpackten. Frauen waren auch oft die Vorreiterinnen, die streikend die Beendigung des Krieges forderten. Diese Dynamiken beschreibt auch Dania Alasti fesselnd in Frauen der Novemberrevolution. Kontinuitäten des Vergessens, welches ebenfalls 2018 erschienen ist.

Pelz ermöglicht der Leserin verschiedene Einblicke in den Alltag und die alltäglichen Kämpfe der Arbeiterklasse während der Kriegsjahre – und weist auf die Radikalisierung der Frauen und der Jugend 1918 hin. Er begnügt sich aber nicht nur mit den Geschehnissen an der Heimatfront, sondern beleuchtet auch die Desillusionierung der deutschen Soldaten an der Kriegsfront. Aus Memoiren und Briefen rekonstruiert er ein Bild von teils sehr früh schon Befehle verweigernden Soldaten und glühenden Nationalisten, die im Zuge der Kämpfe mehr und mehr verstehen, dass dies nicht ihr Krieg, sondern lediglich der Krieg der Herrschenden ist. Diverse komisch anmutende Anekdoten über Fraternisierung von deutschen, französisch-algerischen und britischen Soldaten im Grabenkampf, zeigen ein komplexeres Bild der Alltäglichkeit im Krieg, wo sich Arbeiter und Arbeiter gegenüberstehen.

Die Monate und Tage der Novemberrevolution selbst lesen sich wie ein Krimi – die Euphorie der Massen, der Aufbau demokratischer Sowjetstrukturen, der Räte in Städten wie Kiel, Bremen, Hamburg, Berlin und München, die taktischen und strategischen Fehler der sich von der SPD abgespaltenen USPD und der neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, sowie der letzendliche Verrat der SPD lassen mitfiebern und mitzittern, obwohl man das Ende der Geschichte bereits kennt.

Es sind vor allem die vielen Zitate einfacher Arbeiter:innen, die diese Erzählung so spannend und auch so emotional machen. Eine schöne, klassenkämpferische Einführung über ein, auch in Deutschland, wenig diskutiertes Kapitel unserer Widerstandsgeschichte.

Pelz, William A. (2018): A People‘s History of the German Revolution. Pluto Press- London, 180 Seiten, £16.99.

#Titelbild: wikimedia.commons

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Vom 5. bis zum 11. September findet der „Lange Marsch“ der kurdischen Bewegung in Deutschland statt – dieses Jahr unter dem Motto „Ji Bo azadiya Rêber APO, bi hev re Serhildan“ („Für die Freiheit Abdullah Öcalans gemeinsam zum Aufstand“). Mehrere hundert Jugendliche werden zu Fuß von Hannover bis Hamburg marschieren und an verschiedenen Stationen Kundgebungen abhalten. Wir haben mit Diyar von der kurdischen Studierendenorganisation Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan (YXK) über die Ziele und Hintergründe der politischen Wanderung gesprochen.

Der jährlich durchgeführte „Lange Marsch“ ist ja seit vielen Jahren eine Institution in der kurdischen Bewegung Deutschlands. Was ist die politische Funktion dieser Veranstaltung? Welche Ziele verbindet ihr mit ihr?

Politische Ziele hat der Meşa Dirêj, der Lange Marsch, viele. Zum einen geht es um die Mobilisierung der Bevölkerung. Das sieht man auch an der diesjährigen Route wieder sehr gut. Wir starten in Hannover, von dort geht es nach Lehrte, dann nach Celle und Unterlüß, Lüneburg, Binsen, Harburg und Hamburg. Da sind einige Gebiete dabei, in denen sehr viele Kurd*innen leben, etwa eine riesige ezidische Gemeinschaft rund um Celle. Wir wollen den Menschen zeigen: Wir sind auf der Straße, ihr könnt daran teilnehmen, wir kommen auch bei euch vorbei. Der Lange Marsch ist auch immer ein Marsch der Bevölkerung aus den jeweiligen Gebieten, die auf der Route liegen. Er soll der Bevölkerung Hoffnung geben.

Zugleich geht es darum, dem Spezialkrieg gegen die kurdische Bewegung entgegenzuwirken. In Rojava wie hier besteht er zum einen in Einschüchterung und Mutlosigkeit, zum anderen aber auch darin, dass man versucht, die Kurd*innen den Ideen Öcalans zu entfremden. Man sagt ihnen: Okay, macht euer Ding, kulturell oder sonstwie, aber haltet euch von der Arbeiterpartei Kurdistans und Abdullah Öcalan fern. Da wird zum einen kriminalisiert und zum anderen werden liberale Integrationsprojekte instrumentalisiert. Damit soll Öcalan als Repräsentant und Ideengeber und die Bevölkerung auseinandergerissen werden. Der Lange Marsch ist traditionell auch gegen diese Art der Kriegführung gerichtet.

Dieses Jahr spielen aber zudem noch andere Themen eine Rolle, die sich auch in der Route widerfinden: In Celle etwa wurde Anfang des Jahres der Jugendliche Arkan Hussein Khalaf ermordet – geflohen vom Genozid des Islamischen Staats, der von der Türkei und den Imperialisten unterstützt wurde und dann ermordet von einem Faschisten in Deutschland. Das ist ein Thema: Die global erstarkenden faschistischen Kräfte, gegen die wir mobil machen wollen. Sengal, als die Heimat der Ezid*innen wird natürlich ein Thema sein – die Region, die zuerst vom IS und jetzt immer noch von der Türkei angegriffen wird.

Und dann natürlich in Unterlüß der ganze Themenkomplex Antiimperialismus und Antimilitarismus. Als Rheinmetall-Standort ist der Ort ein Symbol für deutsche Kriegstreiberei. Hier geht es darum, dem deutschen Staat die Maske herunterzureißen. Auch der kurdischen Bevölkerung wird immer eingebläut: Hier ist alles friedlich, der Krieg ist ja weit weg und hat nichts mit hier zu tun. Dabei ist Deutschland mit seinen Waffenexporten und seiner Weiterentwicklung von Technologien für kriegführende Nationen – aktuell etwa gut sichtbar an den Drohnenprogrammen der Türkei – an vielen Kriegen beteiligt. Da wollen wir da ansetzen, wo die Kampagne „Rheinmetall entwaffnen“ schon viel Arbeit gemacht hat.

Und um eine letzte Station zu nennen: In Lüneburg wollen wir gemeinsam mit den Internationalist*innen dort gegen die Kriminalisierung der Bewegung angehen – wo ja mittlerweile Antifa-Fahnen zu verbotenen Fahnen erklärt werden, nur weil sie kurdischen Symbolen ähneln. Diese Kriminalisierung ist für uns auch ein Symbol für die Verbreitung der Ideen Öcalans. Wo man sieht, es ist nicht mehr so getrennt: Hier die kurdische Bewegung, dort deutsche Solidaritätsstrukturen. Sondern das wächst zusammen und es entsteht ein neuer Internationalismus – und das macht dem deutschen Staat Angst.

Was hat das alles mit Abdullah Öcalan zu tun?

Gerade auch in diesem Entstehen eines neuen Internationalismus zeigt sich, dass die seit Jahrzehnten andauernde Isolationshaft von Öcalan nicht einfach ein Angriff auf eine unliebsame Person ist. Schon in den Umständen seiner Verhaftung – dem internationalen Komplott gegen ihn – spiegelt sich wider, dass es bei seiner Gefangennahme um ein internationales Kräfteverhältnis geht. Aber dieser Angriff ist auch einer gegen sich auf Grundlage seiner Ideen neu entwickelnde internationale Bewegungen – etwas, was vor allem seit der Revolution in Rojava immer mehr aufblüht. Insofern ist die Isolation Öcalans auch ein Angriff auf alle gegen Unterdrückung und Kolonialismus gerichteten Bewegungen.

Für deutsche Linke war die zentrale Position Öcalans für die kurdische Bewegung immer schwer zu verstehen, viele sahen darin eine Art Personenkult. Was für eine Rolle spielt Öcalan eigentlich in der kurdischen Bewegung?

Öcalan selbst betont immer, man soll in ihm nicht die einzelne Person sehen, die eine Organisation leitet. Sondern er wollte in seiner eigenen Biographie immer die kurdische Gesellschaft insgesamt analysieren. Wenn wir zurückschauen in die Zeit, als die PKK entstand, dann waren davor diejenigen Kurd*innen, die sich irgendwie für Kurdistan eingesetzt haben, aus der Mittelschicht oder aus führenden Clans und Stämmen. Öcalans Generation dagegen kam von unten. Öcalan war ein armes Dorfkind, worin sich auch nochmal die Klassenfrage widerspiegelt. Und er wirft dann die Frage auf, wie können wir uns als kurdische Gesellschaft entwickeln, aber nicht einfach dadurch, dass man da ein paar Stromleitungen verlegt, sondern indem man die Frage stellt: Wie können wir eine Gesellschaft, die immer, wenn sie versucht hat, Widerstand zu leisten, geschlagen wurde, wie können wir dieser Gesellschaft wieder ein Selbstbewusstsein geben?

Er war nie jemand, der sich über der Gesellschaft gesehen hat. Er hat in seinem eigenen Leben das Leben der ganzen Bevölkerung gesehen: Als er die eigenen Eltern und ihre Lebenssituation sah, als er zur Schule ging und die kurdische Sprache verboten war. Er ist Teil der Bevölkerung und nicht ein externer Führer. Und was die Bevölkerung in ihm sieht, ist, dass er in dem Kampf, den er führt, nie versucht hat, sich selbst zu bereichern oder nach vorne zu bringen.

Wenn man solche Fragen der Leitung und Führung analysiert, ist es wichtig, zu fragen: Wie wird geführt? Durch Befehlsgewalt oder durch eigene Erfahrung und Vorleben. Weil wenn man – wie Öcalan – sich selbst als Teil einer unterdrückten Bevölkerung sieht und in sich die Prozesse zur Befreiung anstößt, um die dann auch auf die Bevölkerung zu übertragen, dann ist das eine Führung nicht für einen selbst, sondern die der Bevölkerung Kraft geben soll.

Aktuell finden ja wieder schwere Angriffe der Türkei auf die kurdische Bewegung statt, nicht nur in Rojava, wo die Weltöffentlichkeit zumindest gelegentlich noch hinsieht, sondern auch im Grenzgebiet zwischen dem Nordirak, Südkurdistan, und der Türkei. Worum geht es bei diesem Besatzungsversuch?

Um das zu verstehen, ist es wichtig, sich die aktuelle Lage des türkischen Faschismus zu vergegenwärtigen. Seit 2015, als die Friedensgespräche mit der PKK abgebrochen wurden, befindet sich der türkische Staat in einer krassen Krise. Die Wirtschaft bricht ein, die Stabilisierung, die Erdogan versprochen hat, hat nie eingesetzt. Zugleich gibt es eine politische Legitimationskrise, was man etwa bei den Wahlen in Istanbul gesehen hat. Die Allmachtsvorstellungen des AKP-MHP-Regimes bröckeln. Und das kennt man ja aus der Geschichte des Kapitalismus und Faschismus: Dort, wo eine innere Krise nicht mehr lösbar erscheint, setzt man auf Krieg gegen die eigene Gesellschaft, aber eben auch Expansion. Erdogans neoosmanische Kolonisationspolitik soll auch innere Probleme überdecken.

Das ist das eine Moment. Aber es geht natürlich auch um einen gezielten Krieg gegen Kurd*innen, gegen eine organisierte und kämpfende Bevölkerung. Im Moment geht es dabei vor allem um die strategisch bedeutende Region Haftanin, von der aus die Türkei plant, weitere Regionen in Südkurdistan einzunehmen. Vor allem die Guerilla und die Bewegung in den Kandil-Bergen sind das Ziel dieser Operation. Sie sollen umstellt und isoliert werden.

Der Krieg ist dabei derzeit in einer heißen Phase: täglich gibt es Drohnenangriffe, täglich finden Truppenbewegungen statt und täglich findet auch eine ökologische Kriegführung statt, also ganze Wälder, wie etwa am Berg Cudi, werden in Brand gesetzt, um einerseits der Guerilla Bewegungsräume zu nehmen, zum anderen aber auch, um die Bevölkerung zu vertreiben, das Land unbewohnbar zu machen.

Aber wichtig ist auch etwas anderes zu betonen – weil man sich hier oft mit einem allzu realistischen Blick so etwas gar nicht vorstellen kann: Der Guerilla-Widerstand hält. Hier kann man sich oft gar nicht vorstellen, wie so kleine Einheiten von jeweils zwei, drei Leuten gegen Heere von tausenden Soldaten ankommen. Da sieht man einen Wandel weg von der klassischen Guerilla-Kriegführung etwa der 1990er. Wo es vorher große Einheiten, vielleicht in Bataillonsstärke gab, sehen wir heute eher viele Aktionen von sehr kleinen Einheiten, die aber insgesamt zu viel größeren Verlusten bei der türkischen Armee führen. Das schwächt auch die Moral der türkischen Armee. Viele Soldaten wollen da nicht hin, sie haben ein Haftanin-Syndrom, weil sie wissen, die Chance, nicht mehr rauszukommen, ist hoch.

Am Ende nochmal zurück nach Deutschland: Auf welche Bündnispartner*innen setzt ihr für den langen Marsch, wie wollt ihr andere Bewegungen einbinden?

Schon vor dem langen Marsch haben wir als kurdische Jugendbewegung ja die Kampagne „bi hev re serhildan“, gemeinsam zum Aufstand, ausgerufen – das war ja auch als eine Einladung an verschiedene Bewegungen gedacht, mit denen wir in den letzten Jahren zusammenarbeiteten, etwa Fridays For Future oder Migrantifa. Dabei geht es uns um die Schaffung einer gemeinsamen Front gegen die Angriffe des Faschismus weltweit. Im Rahmen dieser Kampagne haben viele gemeinsame Aktionen und Diskussionen über strategische Ziele angefangen.

Wir rufen alle diese Bewegungen dazu auf, auf dem Marsch ihre eigenen Farben zu zeigen, eigene Aktionen, Veranstaltungen einzubringen. Das ist auch jetzt schon geplant, so wird etwa das Programm in Lüneburg von feministischen Organisationen von vor Ort gestaltet werden; oder in Unterlüß eben mit „Rheinmetall entwaffnen“. Es gibt schon eine gute Grundlage und wir rufen die verschiedenen Bewegungen dazu auf, die Chance des Langen Marsches zu nutzen, um auch in der kurdischen Bevölkerung ihre eigenen Ideen stärker zu verbreiten. Denn was wir brauchen, ist ein gemeinsamer kollektiver Lernprozess.

#Titelbild: ANF

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Nachdem im Nachgang der Proteste gegen den G20 Gipfel in Hamburg 2017 die linke Medienplattform linksunten.indymedia verboten wurde, initiierten die drei Journalist*innen Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze einen Soliaufruf mit Linksunten. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat sie nun wegen der angeblichen Verwendung der Symbole eines verbotenen Vereins, sowie der Unterstützung dieses Vereins angeklagt. Das Lower Class Magazine sprach mit Peter Nowak über das Verfahren, die Geschichte von Indymedia und den Zusammenhang mit dem Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Glückwunsch! Ihr habt es mit dem Verfahren gegen euch direkt vor den Staatsschutzsenat vor dem Landgericht geschafft.
Ja, das war eher überraschend. Wir hatten eher erwartet, dass das runtergestuft wird. Das gibt aber natürlich auch die Möglichkeit politisch dagegen vorzugehen.

Wie kam es zum Verfahren gegen euch?
Nach dem Verbot von linksunten.indymedia haben wir einen Aufruf zur Solidarität mit linksunten.indymedia gemacht. Wir haben Indymedia als Autoren genutzt, sogar mit Namen, weil das für uns ein Medium der Gegenöffentlichkeit war. Wir haben Artikel aus anderen Zeitungen veröffentlicht, teilweise auch Artikel, die nirgendwo sonst veröffentlicht wurden. Wenn eine Zeitung, in der wir publiziert haben, verboten worden wäre, hätten wir uns ja genauso solidarisiert und stehen auch dazu. Linksunten.indymedia war für uns eben ein Medium. Und deswegen haben wir dazu aufgerufen, dass andere Einzelpersonen und Gruppen auch sagen, dass sie auf Indymedia publiziert haben und sich solidarisieren. Das wird uns jetzt als Unterstützung eines verbotenen Vereins ausgelegt.

Warum wurde gerade Indymedia verboten?
Indymedia wurde Ende der 90er Jahre gegründet. Das hing mit der technischen Entwicklung zusammen und mit dem Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung. Genau daraus ist das entstanden, als Medium der Gegenöffentlichkeit. 1998 in Seattle, 2001 in Genua, bei allen Camps waren Indymediazelte. Als Teil der Gegenöffentlichkeit war Indymedia immer Repression ausgesetzt. Bei Demonstrationen wurden z.B. gezielt Indymediazelte angegriffen.

Gibt es da konkrete Beispiele?
Der Höhepunkt war 2001 in Genua, als die Schule in der Indymedia war – alles ganz offiziell angemeldet – angegriffen wurde. Das war die berühmte Diaz-Schule, die auch Schlafplatz von Globalisierungskritiker*innen war, wo dann hunderte Personen festgenommen und misshandelt wurden. Das wurde damals auch als Angriff auf Indymedia wahrgenommen. Das Verbot von Linksunten steht in dieser Tradition. Immer wenn es große Gipfelproteste gab, die dann auch nicht nur im legalen Rahmen abliefen – das war in Genua damals genauso wie in Hamburg – wurden diese Medien angegriffen. Nach Hamburg wurde das ja auch so offen gesagt. Linksunten war eins der wenigen Verbote, das sie durchsetzen konnten. Das war ein Bauernopfer damit die eigene Handlungsfähigkeit gezeigt werden konnte. Der Staat wollten demonstrieren, dass sie auch gegen Linke vorgehen können. Immer wenn Gipfel nicht so abliefen, wie der Staat es wollte, dann nimmt man sich die Medien vor, weil die darüber berichten, Bilder und Fotos verbreiten. Und dieser Zusammenhang, der ja eigentlich offensichtlich ist, wird nach unserem Eindruck gar nicht so wahrgenommen.

Inwiefern?
Nach Genua war die Empörung, darüber, dass Indymedia angegriffen wurde riesig, bis weit in die liberalen Kreise hinein. Ich kann mich noch erinnern, dass die taz und die Frankfurter Rundschau das tatsächlich so diskutiert haben: Da wird ein neues Medium angegriffen. Damals wurde auch der Begriff Medienaktivismus ernst genommen, im Sinne, dass gesagt wurde das ist eine neue Form von Medien, aber die sind im Grunde Journalisten, die die neuen technischen Mittel nutzen. Und uns ist aufgefallen, dass das im Fall von Linksunten längst nicht so war. Nicht nur bei den liberalen Medien, sondern auch in Teilen der Linken. So ein kurzes Gedächtnis ist ja eigentlich fatal.

Denkst du, dass Indymedia noch den gleichen Stellenwert hat, wie vor zehn Jahren?
Vor zehn Jahren war die Sondersituation, dass Indymedia und dieser Medienaktivismus ganz neu waren. Das hat sich heute verlagert. Die technischen Mittel werden heute in ganz unpolitischen Sachen verwendet. Dann werden auf social media eben keine Demofotos sondern Katzen und Frühstücksbilder veröffentlicht. Aber das hat heute nicht mehr den Stellenwert, weil die politische Bewegung, die globalisierungskritische Bewegung nach Genua an ihre Grenzen gestoßen ist. Immer dann wenn es einen neuen Zyklus an Protestaktivismus gab, hatte Indymedia einen größeren Stellenwert, wie 2007 in Rostock – wo es auch viele Behinderung gab. Die Aufbruchstimmung, die es damals gab, dass Indymedia das Medium dieser basisdemokratischen Bewegung ist, gibt es heute nicht mehr.

Wie bewertest du das Verfahren gegen euch?
Unsere ganze Initiative ist ja von der Stoßrichtung nicht linksradikal, sondern man könnte fast sagen zivilgesellschaftlich-liberal. Und dass dann trotzdem die Kriminalisierung auf dieser Ebene stattfindet, zeigt natürlich schon, dass versucht wird, nicht nur ein Medium zu verbieten, sondern jegliche Kritik an diesem Verbot zu kriminalisieren. Das ist die gleiche Logik wie bei den ganzen „Terrorismus“paragrafen. Das ist eine totalitäre Sache, man kann eigentlich gar nicht mehr gegen ein Verbot vorgehen ohne kriminalisiert zu werden. Wenn selbst eine Initiative, wie die unsere, als Unterstützung für einen verbotenen Vereins, der übrigens als solcher nie existiert hat, gewertet wird!

Das ist ja genau wie beim Verbot der PKK.
Im Grunde ist das die Fortsetzung. Was bei kurdischen oder bei türkischen linken Gruppen derzeit praktiziert wird, wird im Fall von Indymedia auch angewandt. Das wird dann dort, bei kleineren und isolierten Gruppen erst Mal ausprobiert und da ist die Resonanz und Solidarität über die unmittelbar Betroffenen hinaus recht gering, wie auch im Verfahren gegen Linksunten. Nach dem Motto: Wenn das halt schon kriminalisiert wird, dann lässt man lieber die Finger davon. Und das ist genau die falsche Herangehensweise. Wenn sie merken, dass das einfach durchzusetzen ist, wird das auch an anderen Punkten gemacht. Deswegen sollte man das auch nutzen, um dieses Vorgehen zu diskutieren

Denkst du dass das Verbot von Linksunten bestand haben wird?
Der Prozess zum Verbot wurde ja schon zwei Mal verschoben. Die haben anscheinend tatsächlich Probleme. In Deutschland werden sie das wahrscheinlich durch kriegen, aber das muss auch europarechtlich bestand haben. Und da gibt es wohl einige Hinweise, dass das nicht so einfach ist. Das ist jetzt eine relative bequeme Situation für den Staat. Die sitzen das aus. Es gibt kein Verfahren, aber das Verbot bleibt bestehen. Und sie können wie bei uns jetzt Prozesse führen, wegen angeblicher Verletzung des Verbots, weil das Verbot rechtlich zwar noch nicht geprüft, aber vollzogen ist. Theoretisch könnte das Verbot vom europäischen Gerichtshof aufgehoben, aber bis dahin trotzdem Leute verurteilt werden, weil sie gegen ein letztlich unrechtmäßiges Verbot verstoßen haben. Aber das ist eine Frage von Jahren und solange besteht das Verbot. Deswegen wollen wir nicht einfach still warten sondern fordern offensiv, dass das Verbot aufgehoben wird.

Gibt es Unterstützung, die ihr in eurem Verfahren haben wollt?
Wir wollen das koppeln. Wir freuen uns über Unterstützung, sehen das aber als Unterstützung für das Indymedia-Projekt. Wir wollen noch vor der Sommerpause eine Veranstaltung machen, um den 20. Juli herum, zur Erinnerung an die Repression gegen Indymedia in Genua und auch fast zwei Jahre nach dem Verbot von Linksunten, gerade auch um den Zusammenhang herzustellen. Das beste wäre für uns generell Indymedia zu unterstützen. Und klar, Spenden für Anwaltskosten sind immer willkommen.

Interview: David Rojas Kienzle

Bild: Marco Verch CC-BY 2.0

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Der IS kontrolliert keine Gebiete in Syrien mehr. Das ist ein Grund zur Freude. Doch der Krieg ist keineswegs vorüber.

Im Spätherbst 2014 standen Milizionäre der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der nordsyrischen Kurdenmetropole Kobanê. Es sah schlecht aus. Dschihadisten twitterten schon, man werde die Stadt von den ungläubigen Kommunisten säubern. Der IS kontrollierte damals ein riesiges Gebiet, sowohl auf dem Territorium des Irak, wie auch in Syrien.

Doch der Jubel der islamistischen Mörder war verfrüht. Sie hatten die Rechnung ohne jene Bewegung gemacht, die seit über 40 Jahren im Kampf gegen die NATO, insbesondere den türkischen Staat, im Mittleren Osten überlebt. Knapp fünf Jahre später sieht die Karte Syriens und des Iraks vollständig anders aus. Der IS hat die letzten Gebiete, die er verbissen hielt, verloren. Viele seiner in- wie ausländischen Anführer sind tot oder in Gefangenschaft der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF), des Bündnisses zwischen kurdischen, assyrischen, arabischen Milizen zur Verteidigung des Aufbaus eines Rätesystems im Norden Syriens.

Nicht nur Syrien kann aufatmen. Der blutige Krieg, das haben die Sprecher*innen der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) immer wieder betont, war einer für die gesamte Menschheit. Sein Resultat ist die Zurückdrängung einer politischen Kraft, deren Herrschaft für Millionen Menschen, insbesondere für Frauen, im Mittleren Osten nichts als Unterdrückung, Tod und Erniedrigung bedeutete. Man muss es so deutlich sagen: Die immer noch in den USA wie Europa verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat zusammen mit ihren syrischen Verbündeten von YPG und YPJ weitere Genozide etwa im irakischen Jesidengebiet genauso verhindert wie Terroranschläge in Europa oder den Vereinigten Staaten.

Wie kam dieser Sieg zustande? Klar, eine kluge Bündnispolitik spielte eine Rolle; und klar, viel Diplomatie mit denen, die nur darauf warten, das demokratische Projekt in Nordsyrien auszulöschen, wurde betrieben.

Aber all dies wäre nichtig gewesen ohne die hunderttausenden Menschen, die im zivilen politischen Aufbau und in den militärischen Selbstverteidigungseinheiten tagtäglich ihr Bestes gaben. Und viele von ihnen gaben das letzte, was ihnen noch geblieben war: Ihr Leben. Der Preis für diesen Sieg war hoch. Alle, die in diesem Krieg oder im zivilen Aufbau im Norden Syriens einen Beitrag leisteten, haben Menschen verloren, die ihnen sehr nahe standen. Es gibt keine Mutter im Norden Syriens, die nicht eine Tochter oder einen Sohn beweint; keine Schwester, die nicht ihren gefallenen Bruder vermisst und kein Kind, das nicht seinen Onkel oder seine Tante in den Krieg ziehen und nicht mehr wiederkommen sah. Und es gibt unter den Internationalist*innen niemanden, der/die nicht Trauer und Wut über den Verlust von Anna Campbell, Kevin Jochim oder Lorenzo Orsetti fühlt.

Die Trumps und Macrons dieser Welt können sich den Sieg auf die Fahnen schreiben, errungen haben nicht sie ihn, sondern die tausenden Genoss*innen, die in den Schützengräben und Stellungen, auf den Häuserdächern und in den verschachtelten Straßen im Häuserkampf fielen. Dieser Sieg ist ein Sieg der Şehîds, der Gefallenen. An sie sollten wir denken, wenn wir in diesen Tagen jubeln und feiern.

Und wenn wir an sie denken, merken wir auch: Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber der Krieg geht weiter. Denn das, wofür sie starben und wofür wir anderen überlebten, ist nicht nur die Zerschlagung einer besonders grausamen Miliz. Sie fielen im Kampf für eine bessere Welt, eine Welt jenseits der kapitalistischen Moderne und jenseits staatlicher, imperialistischer und kolonialer Unterdrückung.

Dieser Krieg geht weiter. Im Mittleren Osten lauern diejenigen, die das kleine befreite Gebiet im Norden und Osten Syriens auslöschen wollen: Das Erdogan-Regime, das es militärisch überrennen will; die Trump-Administration, die es in die Knie zwingen und entpolitisieren will; Moskau und Damaskus, die es dem Assad-Regime unterwerfen wollen. Die Phase, die nun beginnt, wird eine der Neuordnung der Bündnissysteme sein. Die USA wollen ihren Krieg gegen den Iran, die Türkei streben nach der Expansion des von ihr kontrollierten Territoriums. Die Karten werden, wieder einmal, neu gemischt.

Doch der Krieg geht nicht nur irgendwo weit weg, jenseits der Empörungsschwelle der Bevölkerungen der reichen westlichen Nationen weiter. Er geht auch hier weiter. Auch in Deutschland wird der Staat erneut ausholen, um die Kurdinnen und Kurden, die türkische Exilopposition und alle, die mit ihnen zusammenarbeiten, anzugreifen, zu verfolgen und einzusperren.

Wenn es soweit sein wird, dann sollten wir daran denken: Wir alle haben eine Schuld abzutragen. Wir als revolutionäre Linke sowieso, denn es war die kurdische Bewegung, die uns auf einen gangbaren Weg zurückführte, auf dem wir heute unsere ersten kindlichen Schritte gehen können. Aber auch alle anderen stehen in der Schuld der Gefallenen der Syrisch-Demokratischen Kräfte. Es wird genügend Gelegenheiten geben, um zumindest anzufangen, diese abzutragen.

#Titelbild Rodi Said/Reuters

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Als das Erdogan-Regime das nordsyrische Afrin Anfang 2018 militärisch besetzte, wurden hunderttausende Menschen vertrieben. Ein Besuch bei Geflüchteten in Til Temir.

Seit einigen Wochen werden die Angriffsdrohungen der Türkei gegen die verbleibenden beiden Kantone der demokratischen Selbstverwaltung im Norden Syriens, Kobane und Cizire, konkreter. Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan will die Auslöschung aller kurdischen Verbände. Schon Anfang 2018 durfte er, unterstützt von den USA, Russland und Deutschland, diesen Vernichtungswillen an einer nordsyrischen Provinz – Afrin – erproben. Das Gebiet wurde besetzt, türkisiert, geplündert, hunderttausende wurden vertrieben. Heute wird Afrin von islamistischen Terrorbanden und der türkischen Armee verwaltet.

Unser Reporter in Syrien, Bernd Machielski, besuchte Ende November Til Temir, eine Stadt, in deren Umgebung zahlreiche geflüchtete Familien aus Afrin Zuflucht fanden. Er sprach mit dem Vorsitzenden der lokalen Kommune, Bave Demhat, über den Krieg in Afrin. (mehr …)

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