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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna

Der Bund der Kommunist*innen gehört als Teil des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“ zu den Organisator*innen der Revolutionären 1. Mai Demo in Berlin. Ist das nicht mittlerweile eher überholte linke Folklore?

So leichtfertig sollte man die Bedeutung der Demonstration nicht abtun: Sie gehört immer noch zu den größten regelmäßig stattfindenden Demonstrationen in Deutschland. Sie ist zehnmal größer als die Demo des DGB, die vormittags stattfindet und hinter der ein ganzer Gewerkschaftsapparat steht. Und sonst wird man dem Tag, dessen Tradition eine wichtige, nicht nur symbolische Bedeutung für die Arbeiter:innenklasse hat, auch nicht gerecht. Es geht um die Rechte der Arbeiter:innen und Ausgebeuteten. Es geht darum, sich zu wehren, grade in Zeiten von Wirtschaftskrise und nationalistischem Kriegstaumel. Wie kann das überholt sein? Natürlich bleibt es wichtig, genau diese Demonstration weiter zu führen.

Aber ähnelt es mittlerweile nicht eher einem Schaulaufen für Touris und die Leute kommen eigentlich nur noch, weil sie alten Kreuzberger Glamour erwarten? Konkret frage ich mich: Ist es die Arbeiter:innenklasse, die am Arbeiter:innenkampftag um 18 Uhr mit der Revolutionären-1.-Mai-Demo durch Neukölln und Kreuzberg ziehen wird?

Auch, na klar. Vermutlich nehmen an der revolutionären Demo mehr Arbeiter:innen teil, als an den meisten anderen Demonstrationen. Klar sind die Leute durchschnittlich eher jünger als bei der DGB-Demo, viele gehen halt noch zur Schule oder studieren. Dennoch sind sie Teil der Klasse und werden spätestens nach ihrer Ausbildung ebenso in den kapitalistischen Verwertungsfleischwolf geworfen wie die von uns, die arbeiten. Und natürlich kommen sie auch, weil wir eben die Klassenwidersprüche aufzeigen und Lösungen dafür anbieten.

Und wie sind die Lösungen?

Brot, Frieden und Sozialismus: Die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die eh schon wenig haben, nun auch noch am meisten unter der Inflation leiden. Konkret muss es also um höhere Löhne gehen, vor allem um bessere Tarifabschlüsse. Wir haben jetzt einen Verlust unserer Kaufkraft und brauchen auch jetzt mehr Geld, nicht erst in einem Jahr höhere Löhne. Es geht um Frieden in der Ukraine – aber auch im Jemen, Libyen, Afghanistan und überall. Das massenhafte Abschlachten der Armen für die Profitinteressen der Reichen muss ein Ende finden. Sofort.
Wir müssen über Aufrüstung reden, wofür Geld im Überfluss vorhanden ist und das gegenüberstellen zu allem, wofür angeblich kein Geld da ist, wie Schulen, Kitas, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Aber bekommt man das nicht besser hin im Schulterschluss mit den anderen Teilen der Arbeiter*innenklasse, konkret also dem DGB?

Der DGB kann natürlich gerne bei uns mitlaufen, wenn er sich hinter die Forderungen eines Revolutionären 1. Mai stellt. Wir werden ja auch vormittags auf der DGB-Demo mitgehen. Ob da jetzt alle 20.000 kommen werden, die abends zu uns kommen? Wahrscheinlich eher nicht, aber der organisierte Teil ist da.

Wie ist denn die Perspektive über den 1. Mai, über den hohen Feiertag hinaus? Wie geht es am 2. Mai weiter?

Unser Fokus liegt auf der Arbeit in und um unsere Kiezläden, der Roten Lilly in Neukölln, der Kommune65 im Wedding und dem Café Wostok in Lichtenberg, also konkret in der Stadtteilarbeit unserer Stadtteilkomitees. Da haben wir einen Einfluss auf den Kiez und bauen eine Linke von unten auf. Nachdem traditionelle Gruppen wie FelS, Avanti und ALB in der Interventionistischen Linken aufgegangen sind, haben deren Vertreter*innen leider faktisch überhaupt keine Vernetzung mehr in der Klasse, die meisten anderen postautonomen Gruppen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Uns geht es um revolutionäre Stadtteilarbeit. Wir organisieren unsere Nachbarschaft. Bei uns gibt es Sozialberatung, Hilfe bei Problemen mit dem Vermieter, Sprachschulen, Veranstaltungen, Lebensmittelausgaben, Kiezkantinen und machmal sogar Kino. Natürlich ist die Resonanz jeweils unterschiedlich, aber es stößt in jedem Fall auf Interesse. Auffällig dabei ist, dass eine klare kommunistische Perspektive im Kiez ankommt.

Woran machst du das fest?

Naja, man merkt ja schon, dass etliche Leute einerseits nachfragen, und andererseits auch klare Positionen einfordern und wir verstecken unsere Gesinnung ja auch nicht. Die Leute lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und der Behauptung, dass man nur einzelne Stellschrauben oder einzelne Gesetze ändern müsste, und dann ginge es ihnen besser. Die Menschen werden im Wortsinne radikaler, gehen an die Wurzel der Probleme und wollen grundlegende Veränderungen. Ja, das ist natürlich die Systemfrage und es ergibt keinen Sinn so zu tun, als würde man diese Systemfrage nicht stellen, nur um gefälliger zu sein.

Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin 17:00 U-Boddinstraße
„Brot, Frieden, Sozialismus – Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!“

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Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

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Im Mai hat die Kiezkommune Berlin-Wedding die Veranstaltungsreihe „Nein zum Krieg“ gestartet. Wir haben mit zwei der Organisator:innen, Noemi und Ernesto, gesprochen, wieso sie diese Reihe machen und was das mit ihrer Basisarbeit zu tun hat.

Wir freuen uns, dass ihr Zeit für dieses Interview hattet. Wollt ihr kurz euch und eure Arbeit vorstellen?

N: Ich bin seit etwa zwei Jahren dabei, ursprünglich wollte ich mich feministisch organisieren und bin so zur „Gruppe Ella Trebe“ gekommen, darüber bin ich quasi auch an die Basisarbeit gekommen und hab mich auch vermehrt in die Kiezkommune eingebracht. Wir arbeiten ja in mehreren Kommissionen, zu verschiedenen nachbarschaftlichen Themen bzw. Lebensbereichen der Arbeiterklasse: Bildung, Gesundheit, Geschichte, Gewalt gegen Frauen,Wohnen usw. Da ich selber auch im Kiez wohne, hatte ich natürlich viele Berührungspunkte mit den Alltagsproblemen, die es hier gibt und habe mich auf die kulturellen und sozialen Aspekte fokussiert.

E: Also bei mir gab es erst einmal eine theoretische Annäherung, ich hab irgendwann angefangen mich mit marxistischer Literatur auseinander zu setzen und kam zu einem kommunistischen Selbstverständnis. Es lag natürlich dann auf der Hand, dass ich mich dann auch praktisch einbringen wollte. Irgendwann kam ich auf den Laden und fand in den nachbarschaftlichen Projekten einen guten Ansatz. Es gibt ja einiges bei uns, so Nachhilfe-Angebote, offene Essensausgaben, Kiezspaziergänge, ein offenes feministisches Cafe & Mieter:innen Stammtische und eben auch verschiedene inhaltliche Veranstaltungen. Z.B hatten wir auch in den letzten Monaten eine Filmreihe gemacht in der wir die verschiedenen Themenbereiche zu denen wir arbeiteten vorstellten.

Ihr habt ja schon eine Filmreihe gemacht, in eurer aktuellen Veranstaltungsreihe zeigt ihr ja auch zwei Klassiker, Tarkovskys „Ivans Kindheit“ und „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ . Wie kamt ihr auf diese Reihe?

N: Also es sind ja nicht nur Filme, es gibt auch eine Diskussionsveranstaltung und eine Lesung. Das Kriegsthema ist zurzeit sehr präsent, nicht nur medial sondern auch im Alltag der Menschen im Kiez. Wir kommen ja z.B bei der Essensausgabe oder bei unseren Kiezspaziergängen sehr direkt mit den Nachbar:innen ins Gespräch. Da wird uns viel über die Auswirkungen, die sich in den Preissteigerungen niederschlagen, gesprochen. Teilweise haben Menschen schon Probleme ihre Nahrungsmittel zu kaufen und viele kleine Läden, die eigentlich auch im Kiez verwurzelt sind, heben ihre Preise, weil es sonst einfach nicht klappt. Aber die Frage bleibt ja bestehen: Wie sollen es sich die Menschen noch leisten wenn es immer prekärer wird? Oft ist dann die Haltung wie bei der Bäckerin bei mir um die Ecke, die dann sagt: „NATO und Putin sind doch alle Scheiße.“ Das können wir gut verstehen.

E: Ja vor allem auch seit den letzten Essensausgaben stellen wir uns auch auf Personen ein, die aus der Ukraine wegen dem Krieg fliehen mussten. Also es ist im Kiez schon präsent. Aber ich will auch auf einen anderen Aspekt eingehen. Wir haben die Reihe auch gemacht, weil wir eine Gegendarstellung wollen. Der gängige Diskurs in Deutschland und auch in einigen Teilen der Linken ist eine des Burgfriedens mit den eigenen Herrschenden. Nach dem Motto „Bist du nicht mit uns, dann bist du gegen uns“. Wir halten das für eine falsche Wahl und lassen uns da auch nicht reinzwängen. Trotzdem bestehen ja auch bei uns offene Fragen, wie eine antimilitaristische Praxis heute aussehen sollte. Klar haben wir einige Überlegungen dazu, aber wir denken, da muss aus einer linken und klassenbewussten Perspektive viel mehr gemacht werden. Die Reihe ist für uns ein Denkanstoß.

Ihr habt euch ja entschieden, auf vier verschiedene Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu schauen, wieso genau diese Auswahl?

N: Genau, wir zeigen ja den Film „Iwans Kindheit“, eine sowjetische Produktion zum Zweiten Weltkrieg, haben eine Diskussionsveranstaltung mit Genossen aus dem Iran, die zur Zeit des ersten Golfkriegs den Krieg boykottierten und Menschen zur Flucht verhalfen. Dann gibt es noch den Film „Dr.Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“, der sich mit dem Thema Atomkrieg auseinandersetzt. Als letzte Veranstaltung ist dann die Lesung aus „Im Westen nichts neues“, der ja der Antikriegsroman schlechthin ist.

E: Auf den ersten Blick scheint es etwas zusammenhangslos, aber wir haben uns bewusst für vier Aspekte entschieden, die uns in den letzten Wochen viel begegnet sind und wo wir denken, dass ein Blick in die Geschichte sehr fruchtbar sein kann. Natürlich ist das nicht ein umfassender Blick und es ist auch keine Analyse der aktuellen Lage. Aber wir denken, dass gerade der Blick in die Geschichte viele Anknüpfungspunkte für uns heute liefern kann.

Gerade die moralistische Argumentation, der wir in Deutschland begegnen, halten wir für gefährlich. Es wird dann Geschichtsrevisionismus betrieben und gesagt, dass es der erste Krieg seit 45 in Europa sei. Als ob es kein Jugoslawien gegeben hätte. Oder es werden gezielt Begriffe wie Vernichtungskrieg und Genozid kultiviert. Dass im Jemen seit 8 Jahren bombardiert wird oder aktuell wieder kurdische und ezidische Gebiete von der Türkei angegriffen werden, spielt dann aber keine Rolle. Vor allem wird sich gesellschaftlich zu selten gefragt, wieso es keine Rolle spielt.

N: Um wieder zu deiner Frage zurück zu kommen. Den ersten Film zeigen wir zum Anlass des Jahrestags der Befreiung. Es gab die letzten Wochen ja vermehrt Anschläge auf sowjetische Denkmäler. Wir denken es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn die Befreiung vom Faschismus mit russischem Nationalismus vermischt wird. Es sind genauso wenig „russische“ Denkmäler wie der Angriffskriegs Russlands „antifaschistisch“ ist. Das Gedenken an die 15 Völker der UdSSR und all jene Menschen, die ihr Leben für die Befreiung Europas vom Faschismus gaben, lässt sich für uns nicht nationalistisch vereinnahmen oder verklären.

Zu der Diskussionsveranstaltung in der zweiten Maiwoche: Es war uns wichtig, dass wir Fragen thematisieren können, die auch uns selbst beschäftigt haben. Sollte man sich auf die Seite einer Kriegspartei schlagen? Wie verhält es sich mit dem Recht auf Selbstverteidigung? Was heißt es, zu desertieren? Wir denken, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in Situationen waren, die Analogien aufweisen, kann uns da voran bringen. Es ist nicht der erste Krieg in der Geschichte und es gibt eben auch Erfahrungen, auf die wir als Linke zurückgreifen sollten, anstatt aus dem Bauchgefühl zu agieren. Vor allem sich dabei auf Ereignisse in Europa zu beschränken und andere historische Erfahrungen zu ignorieren ist kurzsichtig.

E: „Dr.Seltsam“ ist ja recht bekannt. Es geht um den Kalten Krieg,um die Atombombe, es ist eine Satire auf die Absurdität und zugleich das unmessbare Grauen, welches damit einhergeht. Wir sind auf das Thema gekommen, als wir darauf aufmerksam wurden, wie der Vorsitzende der Heinrich Böll Stiftung in Kiew von nuklearen Angriffen auf Russland sprach. Der ganze Diskurs ist absurd aber es werden ja auch konkrete Schritte unternommen. Russland will seine Atomwaffen an die Westgrenzen verlegen, Polen bittet die USA dort Waffen in Stellung zu bringen. Es wird zugleich vor Panikmache gewarnt, aber auch normalisiert, über die Möglichkeit eines Atomkriegs zu fabulieren.

Unsere letzte Veranstaltung soll uns nochmal an das Grauen des ersten Weltkriegs erinnern, daran, dass jeden Tag junge Menschen aus Zwang oder Nationalismus sterben und dass ein kapitalistischer „Krieg bis zum Sieg“ für die einfachen Menschen immer eine Niederlage bedeutet. Dass das „Heilige Vaterland“ gerade hierzulande mit einer heiligen „westlichen Demokratie“ oder „Freien Welt“ ersetzt wird, die Kriegstreiberei der Herrschenden aber die gleiche bleibt.

Ihr habt ja angerissen, dass euch persönlich auch viele Fragen aufgekommen sind, welche waren denn diese?

N: Einiges haben wir ja aufgegriffen, aber klar, es stellen sich auch noch unzählige Fragen z.B auch aus feministischer Perspektive: Es gab es ja auch Fortschritte für queere Menschen in der Ukraine und jetzt sind sie auch nochmal auf anderen Ebenen von den Konsequenzen des Kriegs betroffen, also dass z.B trans Personen das Land nicht verlassen können oder wie geflüchtete Familien von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Der Krieg ist komplex und dass suggeriert wird, es wäre ja ganz einfach, stimmt nicht. Die verschiedenen Faktoren von Wirtschaftsinteressen und Machtpolitik, der historischen Rolle vom Nationalismus bis zu z.b Rassismus an den Grenzen usw., spielen eben eine Rolle. Wir hoffen, mit unserer Reihe die Diskussion darum, wie antimilitaristische Politik in diesem Zusammenhang aussehen kann und vor allem wie sich eine solche Praxis im Kiez und mit der Nachbarschaft umsetzen lässt, anregen zu können.

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den raschen Aufstieg seines Unicorns zu einer Milliardenbewertung freuen kann. Für die tausenden im Unternehmen angestellten Arbeiter:innen dagegen werden mies bezahlt, stehen unter einem enormen Druck und sehen sich sexualisierten oder rassistischen Übergriffen von Vorgesetzten ausgesetzt. Nach der Kündigung eines Kollegen entwickelte sich deshalb in dem Unternehmen ein breiter Arbeitskampf auf vielen Ebenen, der bis dato andauert. Wir haben mit Yasha, Rider bei Gorillas in Berlin und Mit-Initiator des Betriebsrats, über den Arbeitsalltag und das Unternehmen gesprochen.

Kannst du uns am Anfang ein wenig über dich erzählen? Wie lange arbeitest du schon bei Gorillas?

Ich arbeite seit Januar als Rider bei Gorillas. Ich bin 28 Jahre alt und mache nebenbei meinen Master. Ich habe auch als Übersetzer gearbeitet, aber ich brauchte einen Job mit Sozialversicherung. In der Pandemie habe ich mich dann überall beworben, hier wurde ich genommen.

Ist das generell ein Ding bei Gorillas, dass viele studieren und den Job nebenbei machen wie du?

Eigentlich nicht. Ich denke, es ist abhängig von den Herkunftsländern. Die meisten, die aus Südostasien kommen, die studieren. Aber es gibt viele mit europäischen Pässen, die aber aus Südamerika kommen. Und die sind oft nur zum arbeiten hier. Vielleicht wollen sie in der Zukunft studieren, aber aktuell geht es ihnen darum, Geld zu verdienen, ein bisschen was an die Familien zu schicken.

Mein Eindruck wäre, die Belegschaft ist vorwiegend migrantisch. Ist das so?

Ja, natürlich. Deutsche haben wir, würde ich sagen, so vier auf hundert Fahrer.

Gibt es Herkunftsländer, die besonders stark vertreten sind?

Argentinien und Chile sind ganz vorne mit dabei. Einige sind aus Nordamerika, wie ich. Türkei ist repräsentiert, Südostasien ist auch gut mit dabei.

Die aktuelle Welle des Arbeitskampfes begann mit der Kündigung eines Kollegen. Aber die Kritik und Forderungen der Fahrer:innen gehen ja über den konkreten Fall hinaus. Worum geht es euch bei dem Protest?

Wahrscheinlich besteht da kein Zusammenhang, aber die Kündigung passierte direkt in der Woche, nachdem wir eine große Betriebsversammlung von 200 Arbeiter:innen durchgeführt haben. Dort haben wir den Wahlvorstand für einen Betriebsrat gewählt. Und da wollte auch das Management teilnehmen. Sie haben sehr viel Druck gemacht und wollten sich durch die Hintertür da reinschmuggeln. Im Nachhinein haben sie auch eine Mail geschickt und drohten gerichtlich gegen den Betriebsrat vorzugehen – was sie allerdings nicht gemacht haben.

Fünf Tage später kam die Kündigung dieses Kollegen. Er war am Ende der Probezeit und hatte in seinem Warenhaus die beste Leistung. Nicht dass das für uns ausschlaggebend wäre, aber es macht die Kündigung noch fragwürdiger. Es gab keinen richtigen Grund, niemand konnte das nachvollziehen und das hat die Leute empört.

Und natürlich, das knüpfte dann schon an die ganzen anderen Probleme an. Es gab schon im Januar einen offenen Brief, im Februar gab es auch schon mal Streiks. Und seitdem haben sich auch nochmal viele Sachen verschlechtert. Zum Beispiel haben sie die Körbe von den Fahrrädern abgenommen, sodass die Leute die Ware tatsächlich auf dem Rücken tragen müssen. Sie planten, die Pausen unbezahlt zu machen – ob sie das wirklich gemacht haben, wissen wir nicht, wir sehen das erst mit dem kommenden Gehalt.

Dazu gibt es ungleiche Entlohnung. Leute, die vergangenen Oktober angefangen haben, hatten die Möglichkeit nach einer bestimmten Stundenzahl eine Lohnerhöhung auf 12 Euro zu bekommen. Die, die später angefangen haben, haben diese Möglichkeit nicht und sind bei 10,50 Euro.

10,50 ist extrem niedrig …

Ja alles hier ist niedrig, 12 Euro sind ja auch niedrig. Aber dass es zusätzlich noch ungleichen Lohn für dieselbe Arbeit ist, ist natürlich noch schlimmer. Gegen die Niedrigkeit des Lohns müssen wir langfristig kämpfen, aber diese Ungleichheit kann vielleicht der Betriebsrat sogar kurzfristig lösen.

Dazu kommen viele Geschichten von sexueller Belästigung und rassistischem Verhalten durch Vorgesetzte. Das Unternehmen ignoriert das. Beförderungen in eine höhere Stelle sind extrem abhängig von Nepotismus. Einen transparenten Prozess gibt es nicht. Du musst mit deinem Vorgesetzten befreundet sein, auf dieselben Partys gehen, dann kriegst du eine Beförderung.

Wie ist der Betrieb aufgebaut? Ganz unten sind Rider, ganz oben wahrscheinlich der CEO. Wie siehts dazwischen aus?

Ganz unten sind die Rider. Ganz oben – keine Ahnung. Da gibts viele, es ist sehr hierarchisch aufgebaut. Wie das genau aussieht, ist für uns nicht transparent. Wir haben irgendwelche „rider Ops“, „rider supervisors“ oder „rider captains“, die haben da jetzt auch die Namen geändert, es gibt wohl auch irgendwas wie einen „rider champion“, keine Ahnung, was das sein soll.

Fahren diese Vorarbeiter auch selber Touren?

Wenn es Engpässe gibt, dann schon, aber nicht im Normalfall. Sie sind zur Kontrolle der Arbeiter:innen da und sie sind für die Fahrräder verantwortlich, die Ausrüstung, die Pausenzeiten. Seit einiger Zeit haben sie auch den Auftrag, uns offizielle Mahnungen zu geben – nach zwei Mahnungen ist man raus. Ähnlich wie bei Amazon sind sie auch dafür verantwortlich, den eigenen Vorgesetzten die Namen der Personen weiterzuleiten, die politisch aktiv sind. Wie ihr Verhältnis zu den Arbeiter:innen ist, ist von Warenhaus zu Warenhaus unterschiedlich. Hier ist ein ganz gutes Verhältnis, in anderen Standorten waren die Beziehungen zu den Vorgesetzten wirklich schlecht.

Neben den Riders und ihren Vorgesetzten gibt es auch noch Pickers und Inventory, Arbeiter:innen, die für die Zusammenstellung der Bestellungen zuständig sind. Auch die haben noch einen Supervisor, der für sie verantwortlich ist. Und dann jeweils einen Warehouse-Manager, der sitzt zwei Stunden pro Tag hier rum. Keine Ahnung, was er macht. Und über dem gibts keine Ahnung wie viele Positionen, aber die sieht man normalerweise nicht.

Das heisst, den CEO Kağan Sümer sieht man im Arbeitsalltag eher nicht.

Ne, nie gesehen. Also vor zwei Wochen haben wir ihn mal bei einem Protest gesehen, aber ansonsten nie.

Wie viel Arbeiter:innen hat Gorillas in Berlin insgesamt?

Wenn wir nur die Arbeiter:innen zählen, würde ich sagen, um die 2000. Es ist eine Schätzung, ganz so klar ist das nicht. Es gibt auch viele von Leiharbeitsfirmen wie Zenjob, die mal einen Tag hier arbeiten.

Wie viele erreicht ihr mit euren Forderungen?

Interessante Frage. Wir haben ein Netzwerk aufgezogen mit Kolleg:innen aus anderen Städten Deutschlands, den Niederlanden und London. Wir haben also auch Leute erreicht weit über Berlin hinaus, Leipzig, Köln, Hamburg, Groningen, Amsterdam. In Berlin haben wir die größte Basis.

Kannst du ein bisschen über deinen Arbeitsalltag erzählen. Das ganze Konzept klingt für mich nach der Garantie für einen Scheissjob. Irgendwer ruft an, bestellt ein Brötchen und dieses Unternehmen garantiert, dass die knapp über Mindestlohn bezahlten Fahrer:innen das innerhalb von zehn Minuten vorbei bringen. Ist das nicht schon auf Stress angelegt?

Ja. Allerdings hängen diese zehn Minuten immer vom Vorgesetzten ab, ob das durchgesetzt wird oder nicht. Ich habe in den ersten Wochen richtig viel Druck auf mich selbst gemacht, das rechtzeitig zu liefern. Dann habe ich kapiert, dass das nicht so wichtig ist. Ich fahre, wie ich will und halte an jeder roten Ampel. Und niemand mault mich deshalb an. Das geht. Aber es gibt Leute, für die ist dieser Job viel wichtiger als für mich. Und die sind immer unter Druck. Und da gibt es Kündigungen und keiner kriegt es mit, weil sie sich nicht mit den Kolleg:innen vernetzt haben. Alle, die hier länger arbeiten, sagen, dass sich der Arbeitsalltag nochmal verschlechtert hat und viele Kolleg:innen verschwunden sind, gekündigt wurden oder gekündigt haben.

Und klar gibt‘s Leute, die wollen aufsteigen. Die machen dann richtig viel Druck auf sich selbst. Und es gibt eine Statistiken, die erfassen, wie viele Bestellungen man an einem Tag gemacht hat, wer der Schnellste war. In manchen Warenhäusern haben sie Tabellen, da wird der beste Picker, der schnellste Rider ausgeschrieben und die anderen, die weiter unten in der Liste sind, müssen dann den Grund hinschreiben, warum sie nicht so viel geschafft haben. Das ist aber abhängig von den lokalen Leitungen.

Also wenn man einen „guten“ Vorarbeiter hat, dann ist die Lage erträglicher …

Was ist ein guter Vorarbeiter? Das sind die, die auf unserer Seite sind. Das gibt‘s tatsächlich, aber es sind nicht viele. Die stecken uns Informationen aus Managementkanälen. Es gibt auch Leute da oben, die uns unterstützen, die das aber nicht öffentlich machen, weil sie den Job nicht verlieren wollen. Und die sind schon gefährlich für die Firma, weil es kommt dadurch viel Scheisse raus.

Wie würdest du die Unternehmenkultur beschreiben? Weil von aussen sieht das wirklich aus wie der Prototyp so einer irren Start-up-Kultur.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass das für unseren CEO so eine Lockerroom-Kultur hier ist. Es gibt auch viel so Macho-Gehabe. Es gibt Warehouses, da haben erleben Frauen Situationen, dass Vorgesetzte sie in die Wangen kneifen zur Begrüßung. Es gibt ein Warenhaus, wenn die nicht genügend Rider haben, rufen sie in anderen Standorten an und fordern ausschließlich weibliche Fahrerinnen an. Die Vorgesetzten da belästigen diese Frauen, rufen sie an und fragen so: Hey, wo bist du, willst du heute Abend was mit mir machen? Diese Erfahrungen kann man sich auf der Instagram-Seite GorillasRiderLife ansehen.

Hat das Management bislang irgendwelche Zugeständnisse gemacht?

Kleinigkeiten, wie das zum Beispiel die Regenausrüstung gewaschen wurde oder wir neue Regen-Ponchos bekommen haben. Aber von den 19 Forderungen, die wir haben, ist bislang keine erfüllt worden. Nicht alle sind kurzfristig zu erfüllen. Aber manche sind sehr dringend. Zum Beispiel Fahrräder, die nicht alle drei Tage kaputt gehen. Alleine in diesem Warehouse gab es in letzter Zeit vier Arbeitsunfälle, einige davon mit Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Einige der Forderungen könnte das Management leicht erfüllen: Ein oder zweimal die Woche eine halbe Stunde Treffen der Arbeiter:innen. Aber auch auf sowas wird überhaupt nicht reagiert. Oder in Sachen Arbeitsschutz: Wir haben in einer Sicherheitsschulung gelernt, dass das Maximalgewicht unserer Rucksäcke zehn Kilo nicht übersteigen soll. Das wird immer noch überschritten. Oder Schuhe, Sommerjacken und so weiter – diese Ausrüstung müssten sie eigentlich stellen. Arbeitshandys zum Beispiel – wir benutzen immer noch unsere privaten Handys. Die Kunden können uns auch nach der Schicht erreichen und belästigen, das ist schon mehrmals passiert. Da gibt es keinen Datenschutz.

Vor einigen Wochen hatten wir erkämpft, dass sie uns zusicherten, ausstehende Löhne zu bezahlen, aber auch das haben sie nicht bei allen gemacht. Wir haben das dann recherchiert und an die Medien geschickt.

Zum Abschluss: Welche Form von externer Unterstützung wünscht ihr euch?

Das ist eine schwere Frage, wir haben darüber keine einheitliche Meinung. Wir haben diese Solidaritätskampagne, in deren Rahmen man Geld spenden kann. Gut wäre auch unabhängige Solidaritätsaktionen durchzuführen, die den Kampf sichtbar machen. Und dass die Arbeiter:innen sehen, es gibt Unterstützung aus der Öffentlichkeit. Damit man sieht, es handelt sich nicht nur um eine kleine radikale Gruppe – das ist ja die Lüge des Managements.

Außerdem rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen auf, die wir ankündigen. Aber da ist es wichtig, dass sich Externe eher im Hintergrund halten und sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Arbeiter:innen eine Versammlung haben, sollte man sich, wenn man von außen kommt, lieber ein bisschen zurückhalten, statt sich als Arbeiter:in auszugeben. Ansonsten: Alle Aktionen, die nicht falsch sind, sind gut. Vielleicht gibt‘s da ja auch noch mehr als mit jetzt einfallen.

Ruft ihr eigentlich zu einem Boykott auf oder ist das kontraproduktiv?

Wir wollen selbst keinen machen. Aber wir sind hier ja angestellt, wir kriegen Stundenlohn, keine Pauschale pro Bestellung. Deswegen ist es mir persönlich scheissegal. Aber wenn man schon da bestellt, dann kommt den Fahrer:innen wenigstens entgegen, weil in den 5. Stock Hinterhaus in zehn Minuten Lieferzeit ist schwierig. Und Trinkgeld in bar, nicht über die Online-App.

# Titelbild: Gorillas Workers Collective

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Ein Jahr weltweiter Corona-Pandemie liegt hinter uns. Ein Jahr, bestimmt durch „Lockdown“ und Unsicherheit. Ein Jahr, dass immense Gewinne für wenige und Verzweiflung für Milliarden, rasante Umweltzerstörung, weitere Kriege und Unterdrückung brachte. Ein Jahr, dass die Gewalt und Morde an Frauen weltweit weiter steigen ließ. Als Gastbeitrag veröffentlichen wir die erste Ausgabe der neuen Printzeitung „Die Kommune“.

An diesem Punkt setzen wir an und wollen in unserer Zeitung die Frage aufwerfen, wie eine politische Strategie von links und unten in dieser Zeit aussehen kann. Wir wollen die wichtige Basisarbeit in Stadtteilen und in Betrieben vorstellen, internationalistische Gruppen zu Wort kommen lassen, die praktisch gegen den globalen Kapitalismus viele Brücken quer durch die Welt schlagen. Wir stellen den Kampf von Frauen gegen Gewalt und Feminizide vor. Und wir berichten über den Aufbau von Gegenmacht, also der Macht der Vielen gegenüber der Macht der Wenigen. 

Das Frühjahr 2021 gibt uns auch die Möglichkeit an große Kämpfe gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu erinnern und Kraft und Ideen aus ihren Erfahrungen zu schöpfen. Dieses Jahr jährt sich nicht nur die große Pariser Commune zum 150. mal, sondern auch der mitteldeutsche Aufstand von 1921. Wir wollen als Sozialist*innen daran erinnern, dass wir alle auch heute noch in der Tradition der vielfältigen Erfahrungen der weltweiten Arbeiter*innenbewegung, der anti-kolonialen Kämpfe und der Kämpfe von Frauen gegen das patriarchalische System stehen. Diese Tradition ist zugleich Verantwortung und Rückhalt für die Klassenkämpfe die notwendigerweise folgen werden.

Die Auswirkungen der Corona- und Wirtschaftskrise zahlen wir alle in unterschiedlichem Ausmaß bereits. Das bis zum Kollaps überlastete seit Jahren kaputt gesparte Gesundheits- und Pflegesystem. Nicht nur in den Städten gerade auch in der Provinz. Der deutliche Anstieg von häuslicher Gewalt, die wiederkehrende Mehrfachbelastung von Kindererziehung, Haushalt und Lohnarbeit, die im letzten Jahr vor allem auf dem Rücken von Frauen abgeladen wurde. Das tägliche Gesundheitsrisiko dem sich all diejenige aussetzen müssen, die sich trotz Pandemie seit mehr als einem Jahr jeden Tag in die vollen Bahnen zur Arbeit quetschen müssen, aber ihre Verwandten und engen Freunde nicht sehen dürfen. Jobverlust, Kurzarbeit, weiter steigende Mieten in den Großstädten damit die Renditen der Immobilienkonzerne steigen können. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Diesem Klassenkampf von oben sagen wir den Kampf an. 

Diese Zeitung soll auch zur Veränderung anstiften. Der einzig fruchtbare Kampf gegen das patriachalische System, die weltweite Umweltkatastrophe und den zerstörerischen Neoliberalismus ist der Kampf in und mit der Basis, unserer Klasse, der Ausgebeuteten und Unterdrückten. An diesem Kampf müssen sich alle beteiligen, denn er ist alternativlos. Möglichkeiten wie sich alle einbringen können gibt es unzählige. 

Diese Zeitung soll auch aufrufen in der Tradition des revolutionären 1. Mai aktiv zu werden, nicht auf die holen Versprechungen der Regierungen und ihrer selbsternannten „Opposition“ zu vertrauen. Sozialistische globale Veränderungen entscheiden sich nicht an der Wahlurne sondern auf den Straßen, Gassen, Pfaden und Routen der Kämpfenden für eine menschliche Welt.

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Bei Gewerkschaften denkt man vor allem an jene Arbeiter*innenverbände, welche die wirtschaftlichen und sozialen Interessen von Lohnabhängigen gegenüber den Arbeitgeber*innen vertreten und dabei auch mal zu kämpferischen Mitteln greifen. Da die meisten Gewerkschaften hierzulande schon seit längerem zu zahnlosen Bittstellern verkommen sind, ist es mehr als erfrischend, in einem neuen Zusammenhang von der Gründung eines unabhängigen, kämpferischen Interessenverbundes zu berichten, nämlich von einer Mieter*innengewerkschaft.

Die Initiative Mieter*innengewerkschaft Berlin arbeitet seit diesem Jahr am Aufbau einer Organisation, die für die kollektiven Interessen von Mieter*innen eintreten und Kämpfe für Wohn- und Freiraum vereinen will. Ähnliche Ansätze werden beispielsweise in England seit 2015 (ACORN) und seit 2017 auch in Barcelona (Sindicat de llogateres) verfolgt, am bekanntesten ist jedoch sicherlich die Gewerkschaft Hyresgästföreningen in Schweden. Diese existiert schon seit 1915 und agierte mit Mietstreiks, Besetzungen und Massendemos so radikal und erfolgreich, dass sie heute über 500.000 Haushalte bei Miettarifverhandlungen vertritt. Die Gewerkschaftsmitglieder, ergo: Mietparteien, sind dadurch nicht dem „freien“ Markt ausgeliefert und können durch ihre knapp 10.000 gewählten Vertreter*innen auf lokaler und nationaler Ebene maßgeblich mitreden.

In Berlin befinden sich die Aktivist*innen noch in der Gründungsphase. Nach dem Organisierungs- und Aufbauprozess ihrer Gewerkschaft stehen hier noch Kämpfe an, die in Schweden schon gefochten wurden: um ein gesetzlich verankertes Streikrecht für Mieter*innen etwa oder um das Aktivieren eines kollektiven Bewusstseins, dass durch gemeinschaftliche Organisation so etwas wie Mitbestimmung auch in der Frage des Wohnens überhaupt möglich ist. Da ist die mit ihren zahlreichen Initiativen von unten gewachsene Mieter*innenbewegung in Berlin doch eine gute Basis für gewerkschaftliche Organisation oder? Das lower class magazine sprach dazu mit Mio von der Initiative Mieter*innengewerkschaft Berlin.

In Berlin gibt es ja diverse Initiativen und Gruppen, die schon länger versuchen, Druck auf die Akteur*innen des entfesselten Immobilienmarktes auszuüben. Zwischen Volksbegehren zu Enteignung, interkiezionalem Abwehrkampf und nachbarschaftlichen Kleinst-Zusammenschlüssen: Wo positioniert ihr die Arbeit euer Gewerkschaft unter diesen verschiedenen Ansätzen?

„Wir wollen das Rad nicht neu erfinden. Wie du sagst gibt es viele starke Initiativen aber es ist eine Art Flickenteppich. Einerseits gibt es große Mieter*innenvereine, welche aber meist auf individuelle Rechtsberatung konzentriert sind, andererseits eine Vielzahl von Initiativen für kollektive Kämpfe, die aber immer wieder bei Null anfangen müssen und nicht langfristig arbeiten können. Wir wollen diese Lücke füllen, eine langfristig arbeitende Struktur schaffen, die neue kollektive Rechte erkämpfen und durchsetzen kann. Wenn sich Gruppen dem anschließen wollen, freut uns das natürlich sehr. Wir streben eine föderative Struktur an, ähnlich der FAU, in der die Autonomie der einzelnen Sektionen oder Syndikate sehr wichtig ist.“

Wenn der Begriff „Gewerkschaft“ fällt, kann der „Streik“ nicht weit sein. Siehst du den Mietstreik perspektivisch als realistisches und probates Kampfmittel um die fest im Sattel sitzende Immobilienwirtschaft in Verlegenheit zu bringen?

„Die Miete zu verweigern ist der stärkste Hebel, den wir als Mieter*innen haben. Uns ist aber auch klar, dass für einen größeren Mietstreik Bedingungen erfüllt werden müssen, von denen wir noch weit weg sind. Wir sind juristisch gesehen an dem gleichen Punkt wie die Arbeiter*innengewerkschaften, bevor es ein gesetzliches Streikrecht gab – nur, dass es für viele schwieriger ist, die eigene Wohnung aufs Spiel zu setzen als den Arbeitsplatz. Aber wir haben auch andere Mittel: Zum Beispiel können wir parallel zum Bummelstreik oder zum „Arbeiten nach Vorschrift“ alle Mängel in mehreren Häusern erfassen – und dann gleichzeitig die Mieten senken. Oder den Immobilienunternehmen mit Imageschaden drohen. Bei Heimstaden hat das zum Beispiel schon gewirkt.“

Das schwedische Wohnungsunternehmen Heimstaden Bostad AB ist ein alter Hase in Europa, wenn es um verwalteten Leerstand, Luxussanierungen und Umwandlungen in Eigentumswohnungen im großen Stile geht. Im Spätsommer letzten Jahres wurde bekannt, dass das Unternehmen knapp 150 Häuser mit über 4.000 Wohnungen in Berlin-Mitte und im Wedding kaufen will. Das Ganze gerne ohne große mediale Öffentlichkeit und mit einer möglichst intransparenten Informationspolitik gegenüber den Mieter*innen. Diese wurden jedoch auf den anstehenden Deal aufmerksam und machten sich Sorgen über ihre zukünftige Wohnsituation. Sie riefen mit Unterstützung der Mieter*innengewerkschaft die Stop-Heimstaden!-Kampagne ins Leben. Das Ziel unter anderem: Den Senat zum Ausüben des sogenannten Vorkaufsrechts bewegen und damit dem fortschreitenden Ausverkauf ihres Wohnraums aktiv entgegentreten.

Die Kampagne kann als eure erste kämpferische Aktion gesehen werden oder? Wie ist denn dort der Stand und was habt ihr noch vor?

„Tatsächlich kam der Kampf gegen Heimstaden für uns sehr überraschend. Wir haben uns entschieden, die ca. 13 Häuser von Heimstaden im Wedding zu unterstützen, als erstes Kampffeld. Doch plötzlich wurden daraus über 150 Häuser, die der schwedische Konzern aufkaufen wollte. Das hieß für uns: Flyern in halb Berlin, Hausgemeinschaften unterstützen, berlinweite Vernetzungstreffen organisieren und vieles mehr. Die ersten Wochen unterstützten wir die Mieter*innen für den Vorkauf der Häuser. Nachdem Heimstaden unter dem Druck unser Vernetzung eine Abwendungsvereinbarung unterschrieb, beginnt eigentlich jetzt erst unsere richtige Aufgabe: Wir wollen ein Heimstaden-Syndikat aufbauen, in dem sich die neu entstandenen Hausgemeinschaften organisieren, um zusammen kollektive Rechte zu erkämpfen. Unser Ziel für 2021 ist es, Heimstaden eine rechtliche Vereinbarung für alle Mieter*innen abzuringen, die unter anderem ein Umwandlungs- und ein Modernisierungsverbot umfasst.“

Die Vernetzung und (Selbst-)Organisierung der Mieter*innen also als notwendiges Fundament für darauf aufbauende und höhere Ziele.

„Genau, aber nicht nur Vernetzung als Selbstzweck. Bisher läuft das bei der Heimstaden-Vernetzung gut an! Es ist toll zu sehen, wie sich Hausgemeinschaften bilden, allein das ist schon ein Erfolg. Wenn Nachbar*innen sich kennenlernen und sich bei Problemen zusammentun, ist das in einer neoliberalen und anonymisierten Gesellschaft ein Schritt in die richtige Richtung. Langfristig wollen wir auf dieser Grundlage wie gesagt das Heimstaden-Syndikat bilden – und danach Syndikate für die Mieter*innen bei jede*r Eigentümer*in, wo es notwendig ist. Insofern ist die Gewerkschaft ein Werkzeug für uns Mieter*innen, um kollektiv unsere Interessen gegen Eigentümer*innen durchzusetzen und das Machtverhältnis zu verändern. Denn das ist eigentlich unser Ziel: Kollektive Rechte wie Tarifrecht oder ein Mitbestimmungsrecht, bis wir als Mieter*innen die Häuser selbst verwalten. Denn wie bei jeder echten Gewerkschaft ist unser großes Ziel, uns selbst überflüssig zu machen.“

Auch in anderen Städten, wie zum Beispiel in Dresden oder Frankfurt, entstehen gerade Initiativen für Mieter*innengewerkschaften, es könnte fast von einer Welle die Rede sein. Die Berliner Initiative steht mit ihnen wie auch mit Gewerkschaften in ganz Europa in losem Kontakt und beobachtet aufmerksam ähnliche Konzepte aus Paris, Barcelona und Göteborg. Speziell aus der eingangs erwähnten schwedischen Historie kann einiges gelernt werden, denn wie Mio abschließend bemerkt: „So weit wie die, sind wir noch lange nicht. Aktuell sind wir im Initiativenstatus, aus der die echte Gewerkschaft entstehen wird. Dafür bauen wir zunächst eine stabile Struktur auf, sammeln Gründungsmitglieder und üben uns weiter in ersten Kämpfen!“

# Titelbild: Mieter*innengewerkschaft, Demo am 08.11.2020

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Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man in Politik und Wirtschaft die „Held:innen des Alltags“ schätze, gingen einher mit realer Missachtung von Löhnen, Arbeitsdruck und Gesundheitsschutz. Unser Autor Frederik Kunert ist Integrations-Erzieher an einer Berliner Grundschule und schreibt über Mehrbelastung, fehlende Gegenwehr und die zynische „Corona-Prämie“.

Analog zu den als „Helden und Heldinnen der Corona-Krise“ gefeierten Beschäftigten im Gesundheitsbereich, wird auch den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas und Schulen ins Gesicht gespuckt: Mit der „Dankesprämie“, für die Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich feiern lässt.

In seiner Pressemitteilung als regierender Bürgermeister vom 5.5.2020 spricht er von einer „einmaligen Dankesprämie“ von bis zu 1.000 Euro für alle Beschäftigten, „die in der Corona-Krise außergewöhnliche Leistungen erbracht haben und in Serviceeinrichtungen einer erhöhten gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt waren.“ Zu diesen Beschäftigten zählt er explizit die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, sowie in den Schulhorten.

Ohne die Arbeit dieser Beschäftigten hätten auch einige andere systemrelevante Berufe nicht in dem Maße weiter ausgeführt werden können, wie es der Fall war. Sie übernahmen die Notbetreuung und setzten sich so einem erhöhten Infektionsrisiko aus. Auch jetzt, in der zweiten Welle, sind sie diesem Risiko weitestgehend ausgesetzt. Hygienekonzepte sind in Einrichtungen mit mehreren Hundert Kindern in der Praxis oft nicht umsetzbar. Der Schutz der pädagogischen Fachkräfte scheint oft nicht von Belang. Wichtig ist dagegen offenbar eher, alles um jeden Preis am Laufen zu halten und ein abermaliges Schließen der Schulen und Kitas zu verhindern.

Politiker:innen überschlugen sich im Verlauf der ersten Welle mit Komplimenten und Dankesreden an die „Heldinnen und Helden des Alltags“ und manch einer träumte gar davon, soziale Berufe würden endlich ihrem gesellschaftlichen Stellenwert angemessen bezahlt. Schließlich zeigte die Corona-Krise wie schon lange kein Ereignis vor ihr, welche Berufe „systemrelevant“ – eigentlich eher: relevant für die Gesellschaft – sind und welche eigentlich kein Mensch braucht. Hedgefonds-Manager:innen und Vermieter:innen gehören jedenfalls nicht zu denen, die die gesellschaftlichen Abläufe am Leben halten.

Den offenen Widerspruch zwischen der Bezahlung vieler Berufe und ihrer gesellschaftlichen Relevanz beschrieb schon der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bullshit-Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit“: „Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt. Auch hier ist es schwierig, ein objektives Maß zu finden, aber einen Eindruck kann man sich mit einer einfachen Frage verschaffen: Was würde geschehen, wenn diese ganze Berufsgruppe einfach verschwinden würde? Man kann über Krankenschwestern, die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr oder Automechaniker*innen sagen, was man will, aber eines liegt auf der Hand: Würden sie plötzlich verschwinden, die Folgen wären sofort spürbar und katastrophal. Auch eine Welt ohne Lehrer*innen oder Hafenarbeiter*innen würde schnell in Schwierigkeiten geraten und selbst ohne Science-Fiction-Autor*innen oder Ska-Musiker*innen wäre sie sicher weniger schön. Dagegen ist nicht ganz klar, wie die Welt leiden würde, wenn alle Private-Equity-Manager*innen, Lobbyist*innen, Public-Relations-Berater*innen, Versicherungsfachleute und Rechtsberater*innen für Konzerne auf ähnliche Weise verschwinden würden.“ Schnell wurde aber doch klar, dass man außer etwas Beifall und eventuell einer Prämie nicht viel zu erwarten hat. Wie wenig war trotz aller vorhanden Skepsis dann doch ein Schlag ins Gesicht.

Viele soziale Einrichtungen werden von freien Trägern getragen, auch viele Ganztagsbetreuungen an den Schulen gehören zu den freien Trägern. Daraus entsteht eine oftmals gespaltene Belegschaft: einige haben noch alte Verträge und sind beispielsweise beim Senat angestellt und somit im öffentlichen Dienst, andere sind bei den freien Trägern angestellt. Oftmals werden die Tarifverträge angepasst, jedoch nicht immer. Den Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes wurden ihre Dankesprämien ausgezahlt. Ähnlich differenzierend und spaltend lief es bzgl. der Prämie auch im Pflege-Bereich.

Die freien Träger mussten nun die Gelder für die Dankesprämie beantragen, um sie ihren Beschäftigten ebenfalls zahlen zu können. Relativ schnell und problemlos erhielten sie die Gelder. Allerdings reichten diese Gelder für eine Prämie von bis zu 1.000 Euro, wie Michael Müller es großspurig angekündigt hat, von vorne bis hinten nicht. Auf alle Mitarbeiter*innen verteilt, wäre eine Prämie von etwa 50 Euro pro Person dabei herausgekommen. Viele freie Träger verzichteten auf die Zahlung dieser „Prämie“, die sich doch eher wie Hohn und Spott anfühlen würde. Ein Erzieher beschriebt das Gefühl vieler Mitarbeiter*innen gegenüber dem RBB so: „Nach dem Motto: Diejenigen, die für das Land Berlin arbeiten, haben es gut und die anderen müssen sehen, wo sie bleiben. So hört sich das für mich an.“

Auf einen offenen Brief zu dieser Thematik reagierte der Bürgermeister bisher nicht. Nicht nur dieser schlechte Witz einer „Prämie“, auch die aktuell ablaufenden Vorgänge in den Einrichtungen sind ein Schlag ins Gesicht der pädagogischen Fachkräfte. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW sieht die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen und Kitas kritisch: „Konkrete und verbindliche Maßnahmen – Fehlanzeige! Die Sommerferien hätte die Senatorin besser nutzen können. Insbesondere, um sich mit den Beschäftigtenvertretungen dazu auszutauschen, wie Bildung in Zeiten von Corona aussehen kann“, kritisierte die Vorsitzende der GEW-Berlin, Doreen Siebernik. Weiter sagt sie: „Die Kolleg*innen fühlen sich in den Schulen allein gelassen. Es herrscht riesige Unsicherheit, wie der Schulalltag mit den einzuhaltenden und mitunter widersprüchlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen und vor dem Hintergrund tausender fehlender Lehrkräfte aussehen soll. Wir verstehen das Bedürfnis nach einem geregelten Schulstart. Aber wir halten es für unverantwortlich, die Gruppen- und Klassengrößen wieder auf das Vor-Corona-Niveau anzuheben und auf Abstandsregeln zu verzichten. Auch die Erfahrungen mit dem Lernen in kleinen Gruppen sind unbeachtet geblieben.“

Leider bleibt die GEW auch hier wie so oft zahnlos. Politische Streiks sind verboten und demnach ausgeschlossen. Für bessere Arbeitsbedingungen, ein anderes Schulsystem oder ähnliche „Utopien“ darf nicht gestreikt werden. Lediglich für Tarifforderungen ist dies zulässig und auch hier hat die GEW in den letzten Jahren einige Mitglieder mit ihrer weichen Verhandlungsstrategie verschreckt. Viele Erzieher*innen sind bereit, lange zu streiken, um wenigstens endlich angemessen bezahlt zu werden, die GEW gibt sich jedoch oft mit Warnstreiks und anschließenden faulen Kompromissen und minimalen Lohnerhöhungen zufrieden.

Michael Müller hingegen scheint für seine Kandidatur für den Bundestag bestens vorbereitet zu sein: Das eine sagen und das andere tun, das klingt nach SPD-Politik in Reinform.

# Titelbild: flickr Uwe Hiksch

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Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, waren in der Nacht vom 16. auf den 17. August von Berliner Beamten festgenommen worden. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei, von Schlägen, Beschimpfungen und Misshandlungen ist die Rede.

Eine Pressemeldung der Berliner Polizei zu dem Vorgang gibt es nicht, eine schriftliche Anfrage von lower class magazine blieb bislang unbeantwortet. Wir haben uns mit den beiden jungen Männern getroffen und mit ihnen über den Vorfall gesprochen.

Ihr habt auf Instagram eure Begegnung mit der Berliner Polizei vom vorvergangenen Wochenende öffentlich gemacht. Was ist an diesem Abend geschehen?

Jecki: Wir waren zu zweit mit zwei Freundinnen im Mauerpark, haben Musik gehört und gechillt. Es war schon etwas später, ein bisschen dunkel und schon menschenleerer. Da kam so ein Typ vorbei, der Glasflaschen gesammelt hat. Der wollte eine halbvolle Flasche von uns nehmen, wir haben gesagt, er soll die nicht mitnehmen. Dann gab es eine verbale Auseinandersetzung, der Typ hat angefangen, uns zu beleidigen und so. Aber dann ist er zunächst wieder gegangen.

Nach zwanzig Minuten kam er wieder, aber nicht allein. Ein Kumpel von ihn, eine Frau waren dabei und sie hatten jetzt zwei Kampfhunde. Dann haben sie meine Bruder angegriffen und es kam zu einer Auseiandersetzung.

Gab es während des Angriffs rassistische Bemerkungen?

Jecki: Ja, die haben ihn auch N**** genannt und so.

King_S: Er hat seinen Hund auf mich gehetzt. Ich habe davon auch Bissverletzungen.

Was ist dann passiert?

Jecki: Wir sind dann weggegangen, zur Tram an der Bernauer. Wir sind losgefahren, ein paar Stationen später kam dann aber die Polizei rein. Einer der Beamten hat gesagt, wir sollen mitkommen. Ich habe gefragt, warum. Er hat nichts dazu gesagt, sondern mich nur aufgefordert, aufzustehen und mich umzudrehen. Ich habe wieder gefragt, warum. Auch da hat er nicht geantwortet, sondern direkt versucht, mich mit Gewalt festzunehmen. Dann hat er meinen Bruder am Nacken gepackt. Sie waren sehr grob zu ihm, sodass auch drei, vier Passantinnen sich beschwert haben und gefragt haben, warum die so mit ihm umgehen. Er hat nur gesagt, das gehe sie nichts an.

King_S: Dann hat er mich aus der Bahn rausgeholt. Und als ich draußen war, hat er mir ins Ohr gesagt: „Du Wichser, du wirst sehen, was ich mit Dir mache.“ Meine Handschellen waren sehr fest, man sieht ja immer noch die Narben. Ich sagte: Können Sie bitte meine Handschellen lockern? Aber ich wurde nur beschimpft, als Arschloch, als Affe. Und ich wurde bedroht. Er hat mich dann hinter das Auto mitgenommen, sein Bein war vor meinem und er hat zwischen den Handschellen nach oben gerissen. Er hat mich so auf den Boden geworfen und auf dem Boden war eine Bordsteinkante, da bin ich dann mit dem Kopf dagegen. Ich habe nur noch Blut gesehen und gesagt: Mein Kopf blutet. Und er antwortete nur: Halt deine Fresse, Halt dein Maul.

Du warst zu diesem Zeitpunkt auch schon festgenommen, Jecki?

Jecki: Ich war da noch in der Tram. Sie haben ihn zuerst rausgezogen. Und als sie mich rausgezogen haben, habe ich nur gesehen, wie er bewusstlos auf dem Boden lag.

King_S: Als ich da lag knieten sich ein Polizist auf meine Beine, einer auf meinen Nacken. Und ich habe dann irgendwann keine Luft mehr gekriegt. Auch als ich schon am Boden lag und blutete, haben sie nicht aufgehört, mich zu schlagen. Ich hatte ja viel Blut verloren und wurde einfach bewusstlos. Dann kam irgendwann ein Krankenwagen, ich kann mich noch erinnern, dass ich kurz aufgewacht wird und eine Krankenschwester meinen Kopf gestützt hat. Ich wurde dann ins Krankenhaus gebracht. Ich habe immer gefragt, wo sie meinen Bruder hinbringen, aber es hat niemand geantwortet.

Bei Dir ging es dann in die Gefangenensammelstelle?

Jecki: Mich haben sie in einen nahegelegnen Polizeiabschnitt gefahren. Von dort dann zu einem anderen Abschnitt. Dann wurde ich wieder entlassen. Ich habe die auch gefragt, was sie mit meinem Bruder gemacht haben. Einer hat mich angeguckt und meinte, er wäre gestolpert und dumm hingefallen. Er hatte ein Lächeln im Gesicht, als er das sagte. Ich habe die ganze Zeit Fragen gestellt, warum, wieso, dies und das, weil die uns keinen Grund genannt haben, warum sie uns festnehmen. Aber auch das Fragen hat denen anscheinend nicht gepasst, der eine hat mich dann als Arschloch bezeichnet. Und es gab immer wieder Übergriffe. Etwa bei der Fahrt von der Tramstation zum Abschnitt habe ich mit den Handschellen das Fenster ein wenig runtergemacht, weil mir warm war. Dann hat einer von denen die Handschellen verdreht, dass sie noch enger werden. Als wir auf dem Abschnitt waren, habe ich schon beim ersten Schritt aus dem Auto ein Knie abbekommen. Da waren fünf, sechs Beamte um mich rum. Ich hab ein paar Tritte bekommen und sie meinten, ich solle mein Maul halten, wenn ich auf dem Abschnitt bin und dass ich mich benehmen soll.

Hat man euch irgendeine Anzeige vorgelegt? Irgendeinen Grund, warum sie euch mitgenommen haben?

Jecki: Sie haben uns angezeigt wegen Widerstand und weil wir sie angeblich beleidigt hätten.

Das bezieht sich aber ja, wenn überhaupt, auf die Zeit nach der Verhaftung. Das Delikt, wegen dem man euch überhaupt erst mitgenommen hat, hat man euch nicht mitgeteilt?

Jecki: Nein. Wir haben vermutet, dass sie wegen dieser Auseinandersetzung davor gekommen sind. Aber gesagt haben sie uns nichts, also wissen wir es eigentlich auch nicht.

Du hast ja ein Attest vom Arzt bekommen, was für Verletzungen hast du davongetragen?

King_S: Vor allem die Wunden am Kopf. Zwei der Platzwunden mussten genäht werden. Aber ich hatte auch noch eine verletzte Schulter von der Festnahme. Und Bisswunden von dem Hund, aber das war ja vor der Festnahme.

Hattet ihr ähnlich schlechte Erfahrungen mit der Polizei schon zuvor?

King_S: Für mich ist es das erste Mal, dass ich so von Polizisten geschlagen wurde. Aber jetzt, da das passiert ist, will ich es auch öffentlich machen. Das kann ja jedem jederzeit passieren.

Jecki: Bei mir genauso. Derartige Gewalt von Beamten habe ich bisher noch nie erlebt, das war das erste Mal.

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Die an vermeintlichen „Ermittlungspannen“ reiche Geschichte der Serie von rechten Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Drohungen in Neukölln bewegt sich einem weiteren Höhepunkt entgegen: Wie die Berliner Generalstaatsanwaltschaft verlautbaren ließ, gebe es Anhaltspunkte für die Befangenheit eines Staatsanwalts, der nun zusammen mit einem weiteren Kollegen versetzt worden sei.

Der Sachverhalt ist brisant: Durch die Auswertung von Chatnachrichten eines der Verdächtigen in der rechtsterroristischen Anschlagsserie, des AfD-Mitglieds Thilo P., wussten die Behörden seit längerem, dass P. den Oberstaatsanwalt Matthias F. nach einem Vernehmungstermin bei F. für einen Verbündeten hielt. Matthias F. habe durchblicken lassen, auf der Seite der Rechten zu stehen, prahlte P. einem weiteren damaligen AfD-Mitglied gegenüber. Die Information wurde von einem zweiten Staatsanwalt weder weitergegeben, noch verwendet, verschwand also einfach im Verfahrensverlauf.

Dass jetzt überhaupt etwas geschieht, dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eher daran liegen, dass die Verantwortlichen einem öffentlichen Desaster zuvor kommen wollte, als dass irgendwelche ohnehin kaum existenten Kontrollmechanismen gegriffen haben. Informationen dieses Magazins zufolge liegt der Sachverhalt nämlich seit einiger Zeit Journalist*innen zweier Tageszeitungen vor, die an dem Fall recherchierten. Man kann vermuten, dass die Generalstaatsanwaltschaft davon Wind bekommen haben muss, woraufhin sie die Flucht nach vorne antrat, um „jedem Anschein einer nicht sachgerechten Bearbeitung“, wie es in der Pressemitteilung der Behörde heißt, entgegenzuwirken.

Nun ist Matthias F. nicht irgendein Staatanwalt – was skandalös genug wäre. Der Oberstaatsanwalt leitete die Abteilung Staatsschutzdelikte und war in dieser Funktion mit zahlreichen Strafverfahren gegen Linke betraut. In der Szene hat man ihn in guter Erinnerung. Er gilt als Scharfmacher, Hardliner, einer, der aus Gesinnung handelt. Auch unter Anwält*innen, so erfuhr lower class magazine, galt F. als stramm rechts.

Im Lichte der jetzigen Erkenntnisse stellen sich zahlreiche Fragen im Fall der Anschlagsserie neu: Warum wurde, nachdem die Ausspähung eines der späteren Opfer vom Verfassungsschutz an die Polizei und von selbiger an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wurde, keine Anklage eröffnet? Warum gab es für Thilo P. und Sebastian T. nie Untersuchungshaft – obwohl beide Wiederholungstäter sind und klar eine Gefahr für weitere Opfer ausging? Und warum wurde das Verfahren gegen einen LKA-Beamten, der sich mit Thilo P. in einer einschlägig bekannten Kneipe privat getroffen haben soll, so schnell eingestellt?

Das Problem, dass sich im Fall des Matthias F. zeigt, ist dabei keineswegs eines, das mit zwei Versetzungen behoben werden kann. Die jetzt bekannt gewordenen Informationen legen zwar Nahe, dass sich der Staatschutzchef und der Faschist zumindest vor ihrem Plausch nicht kannten, aber das macht die Sache nicht weniger beängstigend. Denn es zeigt sich, dass in Justiz- und Polizeiapparat neben denen, die sowieso schon organisierte Neonazis sind, auch an sehr hohen Stellen Leute sitzen, die im Fall des Falles durchaus Sympathien für diejenigen hegen, die dem Tag X entgegenfiebern. Gerade in Berlin hätte man das auch vorher wissen können: Hier wirkte bis zu seiner Wahl in den Bundestag für die AfD der damals schon offene Rassist Oberstaatsanwalt Roman Reusch.

Die Reaktionen aus der sich als „mitte-links“ vermarktenden Koalition sind angesichts dieser Problematik verstörend. Anstelle wirklicher Maßnahmen tritt das Bedürfnis alles rasch für erledigt zu erklären, bevor es öffentliche Empörung verursachen kann. So kommentierte als einer der ersten der Grüne Justizsenator Dirk Behrend auf Twitter: „Ich danke der Generalstaatsanwältin für diesen konsequenten Schritt. Es darf keinen Zweifel daran geben, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtsextreme Straftaten verfolgen.“ Der Sound der Nachricht trifft den generellen Umgang mit der „Pannenserie“ in Neukölln. Man soll nicht zweifeln und rasch weitergehen. Es gibt hier nichts zu sehen.

#Titelbild: Rasande Tyskar/CC BY-NC 2.0

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Übersteht die erodierende Eurozone die zunehmenden Auseinandersetzungen um die gegenwärtige Krisenpolitik, die in Brüssel wie in Berlin toben?

In der aktuellen Neuinszenierung der Eurokrise haben Hitlervergleiche mal wieder Konjunktur. Den Aufschlag machte der maltesische Botschafter in Finnland anlässlich des Jahrestages des Sieges über den Nazifaschismus. Vor 75 Jahren habe Europa und die Welt „Hitler gestoppt“, wer würde nun aber Angela Merkel stoppen, frage der Diplomat auf Facebook. Merkel sei gelungen, woran Nazideutschland gescheitert war, sie habe Hitlers Traum erfüllt, „Europa zu kontrollieren“.

Solche Vergleiche waren schon einmal in Mode: Auf den Höhepunkt der ersten großen paneuropäischen Schuldenkrise, als der damalige Bundesfinanzminister Schäuble ab 2010 daran ging, unter Beifall der deutschen Öffentlichkeit die Länder Südeuropas einem drakonischen neoliberalen Sparregime zu unterwerfen, wurden bei Gegendemonstrationen in Griechenland oder Spanien immer wieder Merkel oder Schäuble in Naziuniformen oder mit Hitler-Bärtchen dargestellt.

Derartige Frechheiten sind im Jahr 2020 allerdings nicht mehr drin: Der Botschafter musste umgehend zurücktreten, während Maltas Außenministerium eine Entschuldigung für den „unsensiblen“ Kommentar an Berlin richtete. Die Moral aus der Geschichte: Es ist nicht klug, Deutschland böse zu machen, denn die BRD hat in der Eurozone das Sagen.

Der zunehmende Machtanspruch Berlins wurde zuletzt beim Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts zu Anleihekäufen der EZB evident. Karlsruhe entschied, dass eins der wichtigsten Anleiheprogramme der Europäischen Zentralbank (Public Sector Purchase Programme – PSPP), mit dem Schuldtitel europäischer Krisenländern aufgekauft wurden, um die dortige Zinslast im Gefolge der Eurokrise zu mindern, nicht verfassungsgemäß sei. Die Anleihekäufe seien nach Ansicht Karlsruhes „im Verhältnis zu ihren Nebenwirkungen unverhältnismäßig“. Die Bundesregierung und der Bundestag müssten folglich die Aufkäufe auf ihre „Verhältnismäßigkeit“ prüfen, erst nach einer Prüfung durch Berlin könnten sie fortgesetzt werden.

Darüber hinaus wurde ein diesbezügliches Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) für unrechtmäßig und nicht bindend erklärt. Im Dezember 2018 hatte das EuGH das EZB-Anleiheprogramm ohne Abstriche gebilligt. Sowohl der EuGH als auch die EZB handelten laut dem Bundesverfassungsgericht entgegen europäischem Recht. Deutschlands „Verfassungsschützer“ sind damit de facto dazu übergegangen, sich per Selbstermächtigung zur höchsten Instanz europäischer Rechtsprechung zu erklären – und den EuGH zu entmachten. Es ist ein kalter Justizputsch.

Binnen drei Monaten hat sich die EZB den Karlsruher Vorgaben zu beugen, ansonsten muss die Bundesbank laut Richterspruch aus dem europäischen Aufkaufprogramm aussteigen. Alles, was die EZB macht, soll von Berlin auf seine „Verhältnismäßigkeit“ geprüft werden. Karlsruhe fordert somit letztendlich ein exklusives Mitsprache- und Vetorecht Berlins bei diesbezüglichen geldpolitischen Entscheidungen der EZB.

Vermittels der schwammigen Formulierung von der „Verhältnismäßigkeit“ vom Anleihekäufen übergibt das deutsche Gericht Berlin, wo Anleihekäufe als Ausdruck südeuropäischer Misswirtschaft gelten, damit einen juristischen Hebel, um in einer schweren Systemkrise die expansive Geldpolitik der EZB zu torpedieren.

Die EZB selbst reagierte auf den Karlsruher Richterspruch, indem sie erklärte, nicht daran gebunden zu sein, da nur der Europäische Gerichtshof für sie zuständig sei. Europäisches Recht hat laut EU-Verträgen Vorrang vor nationalem Recht. Die französische EZB-Präsidentin Christine Lagarde erklärte, den expansiven geldpolitischen Kurs fortzusetzen und notfalls „anzupassen“. Dem Urteil aus Karlsruhe wird von europäischer Seite aus also offiziell keinerlei Bedeutung beigemessen.

Europäische und deutsche Institutionen – die EU-Kommission sowie EZB und das Bundesverfassungsgericht samt Bundesbank – befinden sich also, von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet, auf Kollisionskurs; mit ungewissem Ausgang.

Ein Schlupfloch, dass die totale Eskalation vermeiden könnte, besteht zumindest in dem Umstand, dass Karlsruhe über ein älteres Aufkaufprogramm der EZB – das besagte bilioneschwere PSPP – urteilte, während das aktuelle Corona-Anleiheprogramm (PEPP) ausdrücklich nicht Objekt des Urteilsspruchs des Verfassungsgerichts war. Das aktuellere PEPP könnte also selbst bei einem Rückzug der Bundesbank aus dem PSPP zumindest theoretisch noch weiterlaufen. Nichtsdestotrotz ist laut der Entscheidung des Verfassungsgerichts nun die wichtigste geldpolitische Maßnahme, die seit Ausbruch der Eurokrise den Bestand der Eurozone gewährleistete, teilweise grundgesetzwidrig. Das Eskalationspotenzial, das dem Karlsruher Urteil innewohnt, wird aber erst vor dem Hintergrund des bisherigen Krisenverlaufs in Europa voll verständlich.

Als die große transatlantische Immobilienblase 2007/08 platzte in infolge dessen Länder wie Spanien, Portugal, Irland und Griechenland ab 2009 unter ihrer Schuldenlast zusammenzubrechen drohten, formte sich in Europa eine spezifische Krisenpolitik heraus. Die war allerdings gerade nicht Produkt einer konsistenten politischen Strategie, sondern der in der Krise sich massiv verschiebenden Machtverhältnisse. In Gestalt des damaligen Bundesfinanzministers Schäuble konnte Berlin als klassischer „Krisengewinner“ weitgehend seinen harten Austeritätskurs in der Eurozone durchsetzen, die Einführung von „Schuldenbremsen“ in den Verfassungen der Zonenländer forcieren und so ein zu einem preußischen Kasernenhof zugerichtetes Europa schaffen. Das schäublerische Spardiktat verheerte viele südeuropäische Volkswirtschaften, die sich – wie etwa Griechenland – nie mehr vollständig von der Berliner Rosskur erholten und sich nun abermals mit einem dramatischen Wirtschaftseinbruch konfrontiert sehen.

Das einzige relevante Instrument, das dem Austeritätskurs Schäubles entgegenwirkte, war die expansive Geldpolitik der EZB unter Draghi und Lagarde, die durch Aufkäufe von Anleihen im Umfang von inzwischen knapp drei Billionen Euro die Zinsen niedrig hielt und die zaghafte Konjunkturbelebung in der Peripherie der Eurozone unterstützte. Die Krisenpolitik in Europa war also gewissermaßen schizophren, weil ein knallhartes Sparregime mit einer ultralockeren Geldpolitik einherging.

Dieselbe Konstellation ist auch in der Corona-Rezession in Europa zu beobachten. Während die Bundesrepublik einerseits das größte Konjunkturpaket ihrer Geschichte auflegte, blockierte Berlin andererseits alle europäischen Initiativen zu einer nennenswerten, gemeinsamen Konjunkturpolitik als „Vergemeinschaftung von Schulden“. Die konjunkturpolitische Blockadehaltung Merkels auf europäischer Ebene führte dazu, dass die EZB abermals zu einer extremen Gelddruckerei überging, bei der Anleihen der südeuropäischen Peripherie aufgekauft werden, damit diese Länder sich ebenfalls Konjunkturmaßnahmen leisen können.

Die Frage von Konjunkturprogrammen in Krisenzeiten ist aber eine europäische Machtfrage. Das konnte selbst Spiegel-Online in einem seltenen lichten Moment erkennen. Die üppigen Konjunkturprogramme der Bundesrepublik, die sich auf rund 39 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beliefen, seien für „unsere Partner in der EU denn auch ein Grund zur Besorgnis“, hieß es in einer Kolumne, da deutsche Konzerne mit den üppigen „Staatshilfen im Rücken“ ihre europäischen Konkurrenten „plattmachten oder aufkaufen“ könnten. Für gewöhnlich prüfe die EU-Kommission deswegen solche Subventionen sehr streng, doch in der Krise würden nun in dieser Hinsicht beide Augen zugedrückt.

Der gegenwärtige Krisenschub wird somit zum Kampf um die ökonomische und politische Machtstellung innerhalb der Eurozone missbraucht. Während Berlin das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten ohne Störfeuer aus Brüssel auflegt und ähnliche Maßnahmen für die europäische Konkurrenz blockiert, könnten nun, mit Rückendeckung aus Karlsruhe, die Anleihekäufe der EZB unter Beschuss genommen werden, die die Zinslast der südeuropäischen Krisenstaaten absenken, die trotz der Berliner Blockadehaltung über Verschuldung ähnliche Programme starten.

Die Krise wird in Berlin vor allem als Chance zur Festigung der eigenen Dominanz in der Eurozone gesehen – wie schon während der Eurokrise ab 2009. Das Schäublerische Spardiktat, das ja an seiner offiziellen Zielsetzung spektakulär scheiterte, ist Resultat des Bestrebens Berlins, das ökonomische Übergewicht der Bundesrepublik, welches das Fundament der politischen Dominanz Berlins in der Eurozone bildet, möglichst stark zu vergrößern. Während die Bundesrepublik – auch dank des strukturell zur Wirtschaftsleistung unterbewerteten Euro – einen exportgetriebenen Aufschwung erfuhr, mussten die europäischen Konkurrenten lange Jahre in Rezession oder Stagnation verharren, was den ökonomischen Abstand zwischen Zentrum und Peripherie der Eurozone immer weiter vergrößerte. Zumeist ließ man damals die Krisendynamik für sich arbeiten, indem man den damaligen „Schuldenstaaten“ solange nennenswerte Hilfen verweigerte, bis sie aufgrund eskalierender Zinsen und einbrechender Konjunktur zur Hinnahme des Schäublerischen Spardiktates und damit zur Aufgabe weiter Teile staatlicher Souveränität – vor allem in Haushaltsfragen – bereit waren.

Berlin agiert als Garantiegeber der Eurozone, insbesondere des Euro, in der man sich als krisengebeutelter europäischer Staat verschulden kann, ohne dass gleich eine Inflationswelle die Volkswirtschaft verwüstet. Die Angst vor dem Absturz in die „Dritte Welt“ hält somit die Peripherie Europas in der „deutschen“ Eurozone. Dessen ist sich Berlin auch bewusst und in diesem Kontext muss auch das Karlsruher Urteil betrachtet werden. Durch eine bewusste Eskalation der Eurokrise werden der südlichen Peripherie mittels steigender Zinslast die Daumenschrauben angezogen und damit weitere Souveränitätseinbussen aufgenötigt, die ja strategisches Ziel deutscher Europapolitik sind.

Das Karlsruher Urteil deutet aber auch darauf hin, dass es innerhalb der deutschen Funktionseliten eine wachsende reaktionäre Fraktion gibt, die sich durchaus ein Ende der Eurozone vorstellen könnte. Der Umstand, dass der Euro der französische Preis für die Wiedervereinigung war, ist in diesen Kreisen unvergessen. Folglich tobt im deutschen Staatsapparat ein Machtkampf zwischen einer europaskeptischen und einer proeuropäischen Fraktion.

Die bekannten Vorteile des Euro für den Exportweltmeister BRD, die eine regelrechte deutsche Transferunion in der Eurozone etablierte, bei der deutsche Handelsüberschüsse maßgeblich – als faktischer Schuldenexport – zu den europäischen Schuldenbergen beitrugen, erschöpfen sich aufgrund der Wirtschaftseinbrüche immer mehr.

Auch die globale, außereuropäische Exportförderung aufgrund der strukturellen Unterbewertung des Euro gegenüber der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik wird aufgrund der erodierenden Globalisierung tendenziell abnehmen. Die Eurozone ist durch deutsche Exportüberschüsse und Spardiktat ausgepresst worden wie eine Zitrone – das Bestreben, diese nun möglichst kostengünstig zu entsorgen, gewinnt innerhalb der reaktionären Strömungen im Staatsapparat der Bundesrepublik an Popularität.

Die Strategie Berlins, die Krisen als Chance zur Festigung der eigenen Dominanz zu nutzen, erklären aber weder das Aufkommen der besagten Krisen, noch den Aufstieg der BRD als europäischer „Krisengewinner“. Die Eurokrise bilden nur die spezifisch europäische Verlaufsform des historischen Krisenprozesses, den das kapitalistische Weltsystem durmacht – und bei dem beständig wachsende Schuldenberge eine hyperproduktive Warenwirtschaft an einem kreditfinanzierten zombiehaften Scheinleben halten. Sobald eine Schulden- oder Spekulationsblase platzt, setzt ein abermaliger Krisenschub ein. Das war 2008 der Fall und ist es auch diesmal. Die Pandemie war nur der Auslöser, und nicht der Grund für die Krise.

Direkt verantwortlich ist für die Krise also niemand, aber alle nationalen Akteure bemühen sich, sie zu ihrem Gunsten zu wenden. Die BRD konnte dabei, wegen ihres ökonomischen Übergewichts die Krisenpolitik maßgeblich formen. Möglich gemacht wurde diese Dominanz Berlins durch die Agenda 2010 als eine spezifisch deutsche, autoritäre Antwort auf den Krisenprozess. Die Prekarisierung des Arbeitslebens, die Herausbildung einer breiten Unterschicht in der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bildeten die Voraussetzung für die Exportweltmeisterschaften der Bundesrepublik in den darauf folgenden Jahren.

Es besteht ein eindeutiger kausaler Zusammenhang zwischen der Intensivierung der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in der BRD einerseits und der Ausbildung der europäischen Schuldenberge andererseits. Bevor die Agenda 2010 in Gestalt des deutschen Spardiktats zu einem europaweiten Exportschlager werden konnte, war sie die Grundlage der erfolgreichen Exportoffensiven der deutschen Industrie in der Euro-Zone. Das real rückläufige Lohnniveau in Deutschland ging einher mit einer Steigerung der Produktivität der hochentwickelten deutschen Industrie. Hieraus ergab sich eine für das Kapital sehr vorteilhafte Entwicklung der Lohnstückkosten (des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware) in Deutschland, die weit unter dem EU-Durchschnitt blieben. Die Euro-Einführung und die damit einhergehende Durchsetzung der Agenda 2010 hatten eine förmliche Explosion der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber der Euro-Zone zur Folge. Inzwischen belaufen sie sich auf rund 1 500 Milliarden Euro.

In Südeuropa – das aufgrund des Euro nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die Exportoffensiven des deutschen Kapitals reagieren konnte – führten die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse zur Ausbildung von Defiziten, von Schuldenbergen in eben demselben Ausmaß. Es gibt keine Ausgleichsmechanismen in der Eurozone, die den deutschen Exportüberschüssen, die einer Deindustrialisierungskampagen gleichkommen, entgegenwirken würden, da sie von Berlin als Transferunion verteufelt werden. Die Mathematik hat es aber nun einmal so eingerichtet, dass der Überschuss des einen zwangsläufig das Defizit des anderen darstellt. Diese Tatsache gehört auch zu den größten Tabus der deutschen Krisenideologie, die sich ja immer wieder gerne über die Schuldenberge im Ausland empört, die man selber exportiert.

Die krisenbedingte Zwang zur Schuldenbildung, die das System am Laufen hält, läuft somit nicht in allen Ländern gleich ab. Es bilden sich Ungleichgewichte bei den Handelsbilanzen heraus, bei denen Länder mit Handelsüberschüssen diese in Defizitländer exportieren, die sich verschulden müssen. Genau durch diese Handelsüberschüsse und die damit einhergehenden Handelskriege, die etwa Trump ganz offen führt, wird die Krisenkonkurrenz zwischen den Nationalsaaten ausgetragen. Vermittels dieser nationalen Auseinandersetzungen um Handelsbilanzen wird aber objektiv der Krisenprozess befeuert, bei dem die Verlierer einen dauerhaften sozioökonomischen Abstieg in die wachsende Periphere erfahren. Der Umstand, dass die Bundesrepublik sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bei Einführung des Euro, auf einseitige Exportfixierung ausrichtete, verschaffte ihr die Position eines „Krisengewinners“. Weil die Krise aber in der ganzen Welt um sich greift, gehen der deutschen Wirtschaft langsam die Zielländer für ihre Exportoffensiven aus.

Das zeigt sich auch dadurch, dass ein europapolitischer Kamikazekurs innerhalb der an Einfluss gewinnenden, reaktionären Fraktionen der deutschen Funktionseliten immer populärer wird. Offensichtlich wird auch der schwindende Einfluss Merkels, die nicht mehr in der Lage ist, die Auseinandersetzungen intern zu regeln. In Reaktion auf diese Angriffe konservativer und europaskeptischer Kräfte innerhalb des deutschen Partei- und Staatsapparates ging Merkel am Mittwoch an die Öffentlichkeit, um den „EZB-Anleihenkäufen demonstrativ den Rücken“ zu stärken, wie es die FAZ formulierte. Hierbei verweis Merkel auf die globalen Ambitionen Europas, die nur realisiert werden könnten, wenn der Euro „international mehr Gewicht“ habe. Zudem stellte die Kanzlerin eine stärkere wirtschaftspolitische Koordination der Eurozone in Aussicht, um die EZB zu entlasten, und Konjunkturpolitik durch Konjunkturprogramme zu realisieren – und nicht durch Anleihekäufen der Notenbank. Zu diesen Instrumenten einer stärkeren europäischen Wirtschaftspolitik solle auch ein sogenannter „Wiederaufbaufonds“ des EU-Kommission zählen, der mit einer massiven Aufstockung des EU-Haushalts verbunden wäre. Eventuell haben die Karlsruher Verfassungshüter schlicht den Bogen überspannt. Das Urteil von Karlsruhe wird somit entweder als der Anfang vom Ende der Eurozone in die Gescheite einhegen, oder als der Beginn erneuter spannungsreicher Integrationsbemühungen.

Den Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa beschrieb der Autor in seinem Buch Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa.

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Gastbeitrag von Migrantifa Berlin zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den deutschen Faschismus

In Deutschland wird am 8. Mai die Befreiung vom Nationalsozialismus gefeiert. An diesem Tag im Jahre 1945 unterzeichnete der Oberbefehlshaber der Wehrmacht eine Kapitulationserklärung im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin Karlshorst. Dieser Sieg über den Faschismus ist dieses Jahr 75 Jahre her. Und so sehr dieser in der einen Hinsicht eine Befreiung war, so sehr blieb diese unvollständig.

Eine wirkliche Entnazifizierung hat nie stattgefunden, denn tausende ehemalige Mitglieder und Funktionäre der NSDAP haben in Spitzenpositionen in Politik, Justiz, Staatssicherheit und der Wirtschaft den Wiederaufbau bürgerlicher Institutionen in der BRD maßgeblich beeinflusst. Es ist also kein Wunder, dass es eben jener Staat mit seiner Politik und seinen Institutionen ist, der sich schützend vor jene stellt, die den rechten Terror auf Deutschlands Straßen wieder zum Alltag machen und die Faschisten in den eignen Reihen duldet. Und auch die Politik der sogenannten bürgerlichen Mitte ist mitschuldig, denn sie ist es, die rassistische Ideologien tagtäglich in die Tat umsetzt. Sei es durch das Asyl- und Grenzregime, die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte oder die Razzien in migrantischen Communities und racial profiling Taktiken der Polizei, angetrieben von der Debatte über vermeintlich kriminelle Clans.

Während die bürgerliche Politik damit beschäftigt ist, sich als Vorreiter im Kampf gegen Antisemitismus zu inszenieren und sich mit der angeblichen Aufarbeitung der NS-Zeit durch die angeblich existierende Erinnerungskultur selbst auf die Schulter klopft, haben Aufdeckungen wie zum Beispiel im Zuge des NSU-Komplexes oder der Recherche zu Hannibals sogenannter Schattenarmee immer wieder aufs neue verdeutlicht, wie erfolgreich faschistische Strukturen sich innerhalb der Polizei, der Bundeswehr und dem Verfassungsschutz etabliert haben und von dort aus militante parastaatliche Strukturen decken, mitaufbauen, finanzieren und bewaffnen. Es steht außer Frage, dass die Faschist*innen kein einheitlicher Block mit kohärenter Ideologie sind, jedoch agieren verschiedene rechtsextreme Strukturen inner- und außerhalb des Staatapparates, durch Netzwerke und personelle Überlappungen erfolgreich miteinander und haben durch die AfD auch einen politischen Arm in den Parlamenten.

Angesichts dieser Verstrickungen sind Solidaritätsbekundungen seitens der Vertreter*innen des bürgerlichen Staats nach einem terroristischen Anschlag wie dem in Hanau nichts als Heuchelei, denn der politische Wille dem rechten Terror in Deutschland ein Ende zu bereiten ist schlichtweg nicht vorhanden. Stattdessen fordern Vertreter des Staates sowie bürgerliche migrantische Institutionen mehr Überwachung und Polizeischutz für migrantische Einrichtungen. Diese Forderung scheint fast zynisch im Anbetracht der Tatsache, dass Polizei und Staatsapparate bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufs Neue beweisen, dass sie eine Bedrohung für die Leben migrantischer Menschen darstellen.

Dass der Staat kein Interesse daran hat, rechten Terror effektiv zu bekämpfen, wurde einmal mehr durch die Trivialisierung des Terroranschlags in Hanau durch den BKA-Abschlussbericht unterstrichen. Obwohl die begangene Tat als rassistisch bewertet wird, behauptete das BKA, der Täter Tobias Rathjen sei „kein Anhänger einer rechtextremistischen Ideologie gewesen“. Dass, Rathjen vor seiner Tat im Internet seinen Vernichtungsfantasien gegenüber rassifizerten Menschen freien Lauf ließ, scheint für die Behörde ebenfalls kein Hinweis auf das Vorhandensein einer solchen Ideologie zu sein; stattdessen wird auf Rathjens psychische Verfassung eingegangen und das Bild eines weiteren Einzeltäter gesponnen.

Von diesen „Einzeltätern“ und „Einzelfällen“ gibt es in Deutschland viele: die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, der Mordanschlag in Mölln, den NSU-Komplex, die Morde an Oury Jalloh in Dessau, Burak Bektaş und Luke Holland in Berlin oder den Anschlag in Halle, um nur ein paar zu nennen.

Tatsächlich ist seit dem Anschlag in Hanau am 19. Februar, bei dem weiteren 9 Geschwistern das Leben genommen wurde, fast kein Tag vergangen, an dem es keine faschistischen Angriffe gab. In den drei Tagen nach Terrorattentat wurden Hakenkreuze und rechte Parolen auf eine Emmendinger Moschee geschmiert, ein Brandanschlag auf eine Shisha-Bar und einen Döner Imbiss in Döbeln verübt sowie Schüsse auf eine Shisha Bar in Stuttgart abgegeben. Am 7. April wurde der 15-jährige Arkan Hussein K., der als Ezide mit seiner Familie vor Genozid und Terror nach Deutschland floh, in Celle von einem Faschisten erstochen. In der Nacht zum 23. April wurden in Berlin Autos von migrantischen Personen mit dem Wort „Kanacke“, Hakenkreuzen und „88“ markiert, wenige Tage später brannte im bayrischen Waldkraiburg ein türkischer Supermarkt, nachdem er zuvor mit „Ausländer raus“ und Hakenkreuzen beschmiert wurde. In Essen wurde eine ganze arabische Familie samt Großmutter wegen einer „Ruhestörung“ von der Polizei verprügelt und am 30. April wurde ein 21-jähriger Syrer in Halle angegriffen und schwebt derzeit in Lebensgefahr. Während viele sich immer noch in der Ignoranz ihrer Nicht-Betroffenheit wägen, ist rechter Terror in Deutschland wieder Alltag. Und die Menschen, die ihm ausgesetzt sind, leben mit einer alltäglichen Angst um das Leben der eignen Familie und ihrer Freunde – ein Zustand, der für viele schwer zu ertragen ist.

Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs, der vulgärste Ausdruck einer rassistischen und faschistischen Ideologie, die tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist. Hinzu kommen die tagtäglichen Erniedrigungen, Beleidigungen und Diskriminierungen, in der Schule, bei der Arbeit, auf der Straße und in den Ämtern, die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, die Verdrängung aus unseren Nachbarschaften durch steigende Mietens sowie die Lager in Deutschland und an den europäischen Außengrenzen, in denen Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie in menschenunwürdigen Verhältnissen dem Tod überlassen werden. Jeden Tag wird deutlicher, dass wir als migrantische Menschen uns nicht auf den Staat verlassen können, um unsere Leben zu schützen und ein Leben in Würde zu führen. Deswegen müssen wir unseren Schutz selbst organisieren, indem wir kommunale Strukturen innerhalb unserer Kieze und außerhalb des Staates aufbauen.

Die Notwendigkeit migrantischer Selbstorganisierung

Radikale migrantische Selbstorganisierung, die sich an den materiellen Bedürfnissen unserer Gemeinschaften hier in Deutschland ausrichtet, ist dafür von großer Bedeutung. Viele migrantische Linke richten ihre Kämpfe ausschließlich an den Kämpfen in den (ehemaligen) Heimatländern aus. Dadurch verpassen sie es, die Generationen der hier Aufgewachsenen mitzunehmen und eine breitere Masse in der Bevölkerung anzusprechen. Zudem macht der alleinige Fokus auf die Politik unserer Herkunftsländer, auf Grund der Konflikte, die in vielen unserer Herkunftsregionen vorherrschen, es uns oft schwierig Menschen außerhalb der kleinen Kreise der migrantischen Linken zusammenzubringen. Um kommunale migrantische Strukturen in Deutschland aufzubauen dürfen wir uns nicht anhand von ethnischen und religiösen Linien spalten lassen – wir müssen zusammenarbeiten, besonders in Anbetracht der Bedrohung durch die Faschist*innen. Der Fokus auf das gemeinsame Leben in Deutschland und die Organisierung in unseren Nachbarschaften ist hierfür essentiell.

Eine Zusammenarbeit mit der deutschen Linken ist für den Aufbau solcher Strukturen im Anbetracht der gegenwärtigen Machtverhältnisse von absoluter Notwendigkeit. Allerdings muss die Basis dieser Zusammenarbeit sein, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Allzu oft werden wir nicht ernst genommen, weil wir nicht in der „Szene“ sozialisiert wurden und nicht dieselbe, vermeintlich radikale, Politik verfolgen. Oft wird über uns gesprochen, anstatt uns für uns selbst sprechen zu lassen. Oft müssen wir uns unseren Subjektstatus erst erkämpfen, denn es wird uns mit einem Paternalismus begegnet, der uns lediglich zum Objekt der Organisierung macht, während die Probleme und Bedürfnisse unserer Gemeinschaften nicht ernst genommen werden. Hierbei geht es nicht um irgendeine imaginierte Identität, sondern die konkrete Ausrichtung einer Politik, die unsere Leute nicht anspricht, nicht ernst und nicht wahrnimmt. Stattdessen werden wir immer wieder mit der Enttäuschung konfrontiert, wenn die Realität der migrantischen Arbeiter*innenklasse nicht der imaginierten Idealvorstellung der deutschen Linken entspricht.

Auf Augenhöhe zusammenarbeiten bedeutet auch, Widersprüche auszuhalten, einander geduldig und wohlwollend entgegenzutreten, voneinander zu lernen und die verhärteten Fronten auf beiden Seiten aufzubrechen. Migrantische Menschen müssen erkennen, dass für uns mehr Repräsentation in der herrschenden Klasse nicht das Ziel eines emanzipatorischen anti-rassistischen Kampfes sein kann. Das bedeutet nicht, dass nicht kleine Verbesserungen unserer Situation durch kleine Reformen des bürgerlichen Staates erzielt werden können. Diese Reformen dienen jedoch auch dazu, das System zu stabilisieren und die existierenden Herrschaftsverhälntnisse aufrecht zu erhalten. Und es sind eben jene Herrschaftsverhältnisse, die auf der Unterdrückung, Ausbeutung und Ermordung unserer Geschwister in Deutschland und im globalen Süden beruhen. Unsere Gesichter in der herrschenden Klasse repräsentiert zu sehen, bedeutet, dass wir die Unterdrückung unserer eigenen Leute legitimieren und uns zu Kompliz*innen der rassistischen Politik dieses Staates machen. Wir müssen lernen unsere Allianzen an politischen Kämpfen anstelle von bloßen Identitäten auszurichten. Das bedeutet, was uns mit der deutschen Linken verbindet ist, dass wir einen gemeinsamen Feind haben: das kapitalistische System. Rassismus ist dabei kein Nebenwiderspruch dieses Systems, sondern Teil seines Fundaments.

Kommt raus zum Tag des Zorns am 8. Mai!

Die Solidarität, von der immer alle reden, muss in die Tat umgesetzt werden. Es wird höchste Zeit. Deswegen wollen wir den 8. Mai nutzen um gemeinsam aktiv zu werden und haben zum Tag des Zorns aufgerufen. Zorn, weil wir keinen Grund haben die Befreiung vom Faschismus zu feiern, während der Faschismus in Deutschland auf dem Vormarsch und rechter Terror in Deutschland wieder Alltag ist. Zorn, weil der einzige Einzeltäter der bürgerliche Staat ist, für den das Leben von linken und migrantischen Menschen nichts wert ist, und weil wir es Leid sind irgendwelche Forderungen an ihn aufzustellen. Beteiligt euch, werdet kreativ, geht auf die Straße, organisiert eigene Aktionen, geht eure Kieze verschönern, schaut euch die Kundgebungen auf dem Hermannplatz und dem Protestboot Anarche an. Schulter an Schulter gegen den Faschismus!

Mehr Infos unter: Migrantifa Berlin Twitter, Instagramm, Facebook

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Berlin will Weltstadt sein, und da muss aufgewertet werden. Am Neuköllner Hermannplatz steht ein besonders prestigeträchtiges Großprojekt an, der Umbau des Karstadt-Kaufhauses. Was das bedeutet ist klar: Gentrifizierung, Mietsteigerung, Verdrängung. In diesem Fall ist aber auch besonders interessant, wer hinter diesem Projekt steht: Der österreichische Milliardär René Benko. Dessen Vita hat es in sich. Unser Autor Ahmad Gharibi über den österreichischen Großinvestor und seine Verbindungen.

Seit nun mehr als einem Jahr versucht die Signa-Holding des Immobilienmoguls René Benko die Berliner Öffentlichkeit vom Abriss und Neubau des Karstadt-Gebäude am Hermannplatz zu überzeugen. Der Platz gehört zum Bezirk Neukölln, das Gebäude selber steht in Friedrichshain-Kreuzberg. Im Mai 2019 stellte Signa ihren Plan vor dem Stadtentwicklungsausschuss von Friedrichshain-Kreuzberg vor und erhielt drei Monate später eine deutliche Ablehnung. Anfänglich noch recht öffentlichkeitsscheu, änderte Signa daraufhin ihre Strategie und startete eine breit angelegte PR-Kampagne.

Mit Unterstützung der Beratungsfirma Joschka Fischer & Company – ja, DER Joschka Fischer – lenkt der Konzern die Diskussion seitdem auf Themen wie urban gardening, den Bau von Sozialwohnungen und eines „multikulturellen” Ärztehauses sowie der notwendigen Verkehrswende am Hermannplatz. Gleichzeitig werden gezielt lokale Akteur*innen wie z.B. die Hilfsorganisation Karuna e.V. oder der Initiator des Berliner Fahrradvolksentscheides Heinrich Strößenreuther in die Öffentlichkeitsarbeit einbezogen. Signa schafft es vermehrt, über diese vermeintlich nachhaltig-sozialen Projekte Stimmen für ihren Plan zu gewinnen und so eine Debatte über ihre langfristigen Ziele zu verhindern.

Bezeichnend ist dabei, dass sowohl andere Vorhaben und Beteiligungen von Signa, als auch René Benkos Vorgeschichte und geschäftliches Umfeld in der öffentlichen Diskussion kaum bis gar nicht thematisiert werden. In Anbetracht der stadtpolitischen Bedeutung des Hermannplatzes ist ein Blick auf diese Aspekte aber notwendig, um Signas Vorgehen im Kontext ihrer unternehmerischen Gesamtstrategie einordnen zu können.

Die Signa-Holding

Im Jahr 2000 gegründet, ist die Signa-Holding mittlerweile dergrößte private Immobilienkonzern Österreichs, mit unzähligen Tochterunternehmen, Privatstiftungen und einer in Delaware angemeldeten Briefkastenfirma. Signa ist jedoch schon lange kein reiner Immobilienkonzern mehr. Seit 2013 existieren zwei getrennte Kerngeschäftsbereiche unter den Namen Signa Real Estate (Immobilien) und Signa Retail (Handel). Die Immobiliensparte verwaltet einen Bruttovermögenswert von 19 Milliarden Euro und gehört zu den aggressivsten Akteur*innen beim Aufkauf und der „Aufwertung” von innerstädtischen Immobilien. Signa plant in dutzenden Städten Bauprojekte in zentralen Lagen und will bei den allermeisten die bestehenden Gebäude abreißen und neue errichten. Unter anderem baut die Firma momentan in Wien ein zweites KaDeWe, in Hamburg den Elbtower und in Berlin den Stream-Tower für Zalando.

Die Handelssparte hat ca. 45.000 Beschäftigte, ist in 20 Ländern aktiv, erwirtschaftet einen jährlichen Umsatz von 7,2 Milliarden Euro und ist in Deutschland durch die Übernahme von Galeria Kaufhof und Karstadt bekannt geworden (zu allen Konzernzahlen siehe hier). In letzter Zeit investiert die Signa Retail vermehrt in Firmen aus teils sehr unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen. Die Spanne reicht vom Logistikunternehmen Fiege-X-Log über den Vertreiber von Luxuskonsumgütern Eataly bis hin zum Reiseanbieter Thomas Cook. Zusammen mit der Investition in das Immobilienanalyse-Start-Up realxdata, dem Kauf des Online-Marktplatzes Hood.de und der Kooperation mit Amazon wird das langfristige Ziel von Signa deutlich:Der Konzern ist dabei, analogen und digitalen Handel inklusive eigener Distributionswege zu kombinieren und so einen „Marktplatz der Zukunft“ zu entwickeln. „So entsteht eine einzigartige Möglichkeit für stationäre als auch reine Online-Konzepte, gemeinsam mit Karstadt Warenhaus das innerstädtische Flächenangebot bedarfsorientiert zu nutzen und somit noch näher am Kunden zu sein”, so der Vorstandsvorsitzende der Galeria Karstadt Kaufhof GmbH, Stephan Fanderl.

In Wolfsburg ist die Signa Real Estate dabei schon einen Schritt weiter. Denn sie baut in enger Kooperation mit VW nicht nur ein Gebäude, sondern das gesamte Stadtviertel Nordkopf zu einem Marktplatz um. Konzerne sind dort dann nicht nur näher bei ihren Kund*innen, sondern Menschen leben als Kund*innen von Konzernen in „Mischquartieren mit flexibler Nutzung, in denen Angebote für Wohnen, Arbeiten und Leben verschmelzen [und] die funktionale Trennung von Standorten nach Nutzungsarten an Bedeutung verliert”, wie es in einer Projektbeschreibung des Konzerns heißt.

Letztendlich bedeutet das, dass die Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz, von Freizeit und Arbeit, von privatem und öffentlichem Raum komplett aufgehoben wird. Die Stadt wird endgültig zur Fabrik, in der jede Interaktion, jeder Gegenstand und jeder Raum von den Verwertungsinteressen der Konzerne bestimmt und diesen unterworfen sind.

Der Firmengründer

Der Kopf hinter diesen Entwicklungen ist der 42-jährige René Benko aus Innsbruck. Aus bürgerlichen Verhältnissen stammend, gehört er mittlerweile mit geschätzten fünf Milliarden Euro Vermögen zu den reichsten Menschen der Welt. Neben seiner Betätigung im Immobilien- und Handelssektor, hält Benko je 25% an der Kronen Zeitung und dem Kurier – zwei einflussreichen Boulevardzeitungen in Österreich – und gilt als einer der einflussreichsten Menschen in Österreich. Er begann Anfang der 2000er Geld zu machen, indem er Dachböden in Innenstädten renovierte und anschließend weiterverkaufte.

Federführend machte er Signa mit dieser Geschäftslogik immer größer, nur dass er bald vom Handel mit Dachböden zu Hotels, Ärztehäusern und ganzen Einkaufszentren wechselte. Im Juni 2013 zog sich Benko urplötzlich aus der operativen Führung der Signa-Holding zurück und wurde Vorsitzender des eher informellen Beirats. Nach eigenen Angaben stand das in keinem Zusammenhang zu einem Gerichtsverfahren, das kurz zuvor gegen ihn aufgrund eines Korruptionsverdachtes eröffnet worden war.

Musterfall von Korruption”

Italienische Fahnder*innen hatten im Zuge anderer Ermittlungen eine schriftliche Vereinbarung zwischen dem ehemaligen Premier von Kroatien Ivo Sanader und Benkos Steuerberater aus dem Jahre 2009 gefunden. In dieser steht Medienberichten zufolge, das Sanader 150.000 Euro erhält, sollte ein in Italien anhängiges Steuerverfahren zu einem „positiven Ende“ komme. Als die besagte Vereinbarung geschlossen wurde, war der gebürtige Mailänder Silvio Berlusconi Ministerpräsident in Italien. Er war zu der Zeit der wohl einflussreichste Mensch der Stadt, in verschiedenste Korruptionsaffären verwickelt und wurde selber 2013 wegen Steuerbetruges verurteilt.

Allerdings kam es anscheinend nie zu der Zahlung an Sanader und auch das Verfahren in Italien gegen die Signa-Tochter läuft nicht im Sinne der Firma. Das Dokument aber reichte als Beweis, um 2012 ein Verfahren gegen Benko und seinen Berater zu eröffnen. Die Richterin Marion Zöllner spricht in erster Instanz von einem „Musterfall an Korruption” und verurteilt beide zu einem Jahr Haft auf Bewährung. Benkos Anwälte legen Einspruch ein und werden dabei öffentlich unterstützt vom Generalanwalt der Generalprokuratur Harald Eisenmenger. Dieser war zumindest zeitweise Burschenschaftler der Aldania Wien und Ex-Mitglied der extrem rechten Vereinigung Corps Arminia Turicensis. Schlussendlich wird das Urteil jedoch 2014 in letzter Instanz vom Obersten Gerichtshof in Wien bestätigt und René Benko ist von da an rechtskräftig wegen Korruption vorbestraft.

Benko und die Politik

Benkos damaliger Steuerberater und einer seiner Anwälte im Verfahren sind wiederum sehr aufschlussreich in Bezug auf sein politisches Umfeld in Österreich. Sein Steuerberater Michael Passer war von 1989-1993 für die FPÖ Vizebürgermeister in Innsbruck, Benkos Geburtsort und die Stadt, in der er sein erstes großes Kaufhausprojekt umgesetzt hatte. Passer und Sanader wiederum kennen sich schon aus Innsbrucker Zeiten, beide waren dort an der Führung eines lokalen Unternehmens beteiligt. Des weiteren war Passer von 1995-2011 mit Susanne Riess verheiratet, die von 2000-2003 in der ersten ÖVP/FPÖ-Regierung Vize-Kanzlerin und Bundesparteiobfrau der FPÖ war. Sie ist mittlerweile Vorstandsvorsitzende der Wüstenrot Bausparkassen- und Versicherungsgruppe und sitzt im Beirat von Signa. Zufälligerweise war Benkos zeitweiser Anwalt, Dieter Böhmdorfer, unter derselben Regierung wie Riess Justizminister. Böhmdorfer war langjähriger Anwalt des ehemaligen FPÖ-Obmannes Jörg Haider und wie dieser während des Studiums in der Wiener Burschenschaft Silvania. Das letzte Mal in der Öffentlichkeit war Böhmdorfer, als er die FPÖ bei der Anfechtung der Präsidentschaftswahl 2016 vertrat. Zu alledem wird im Mai 2019 das “Ibiza-Video” veröffentlicht, in dem Heinz-Christian Strache im Sommer 2017 behauptet, dass Benko über illegale Konstrukte Geld an die FPÖ gespendet hat. Unmittelbar vor der anstehenden Veröffentlichung des Skandal-Videos hat Strache Benko angerufen.

Diese vielen Verbindungen zur FPÖ bedeuten aber nicht, dass seine Beziehungen zu anderen Parteien minder eng wären. Der ehemalige Bundeskanzler Alfred Gusenbauer von der SPÖ sitzt im Beirat von Signa und ist einer der ersten einflussreichen Unterstützer*innen von Benko. Und wenn Benko alljährlich zum Empfang in sein Nobelhotel Park Hyatt Wien einlädt, gibt sich das who-is-who der österreichischen Politik und Wirtschaft die Klinke in die Hand.

Ein besonderes enges Verhältnis scheint Benko zu Kanzler Sebastian Kurz von der ÖVP zu haben. Ende 2017 ist der Möbelhändler Kika-Leiner kurzfristig gezwungen, eine Luxusimmobilie in der Mariahilfer Straße in Wien zu verkaufen. Aus verschiedenen Gründen musste der Kauf bis zu einer gewissen Frist abgewickelt werden, nur waren in Österreich gerade Weihnachtsferien und die zuständigen Behörden geschlossen. Kanzler Kurz ließ das zuständige Bezirksgericht aufschließen, beorderte die leitenden Beamt*innen aus dem Urlaub zurück und ermöglichte so die fristgerechte Abwicklung des Geschäfts zugunsten von Signa. Ein Regierungssprecher kommentierte: „Der Zugang der Bundesregierung ist, eine serviceorientierte Verwaltung anzubieten. Das gilt insbesondere für Bürgerinnen und Bürger und natürlich auch für Unternehmen, wenn es um die Rettung von heimischen Arbeitsplätzen geht.“ Signa kaufte im darauffolgenden Jahr die Möbelhauskette komplett auf und entließ jeden Fünften der knapp 6000 Mitarbeiter*innen.

Diamanten, Geldwäsche und Krieg

Auch bei Regierungsreisen von Sebastian Kurz sitzt Benko gelegentlich mit im Flugzeug und am Verhandlungstisch. Im Mai 2018 und im März 2019 fliegen sie gemeinsam in die Vereinigten Arabischen Emirate zu Gesprächen mit Mohammed Bin Zayed. Dieser ist Kronprinz von Abu Dhabi, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, in den blutigen Jemen-Krieg verwickelt und mutmaßlicher Geldgeber von Milizen im Irak und Syrien. Nach dem ersten Besuch schrieb Signa auf Twitter, dass man „die Gelegenheit für Gespräche u.a. mit dem Staatsfond Mubadala” genutzt habe. Dem Staatsfond von Abu Dhabi gehört die Falcon Private Bank, die wiederum bis 2016 die zweitgrößte Gesellschafter*in der Signa-Holding war. Die Familie Benko Privatstiftung kaufte der Bank alle Anteile ab, nachdem deren Verwicklung in einen Geldwäschering öffentlich wurde. Der sogenannte 1MDB-Skandal ist ein Paradebeispiel für organisierte Wirtschaftskriminalität mit globalem Ausmaß, in den Regierungsmitglieder aus vor allem Malaysia, internationale Finanzinstitutionen und Beraterfirmen verwickelt waren.

Die vielleicht schillerndste Figur rund um René Benko ist Beny Steinmetz. Er ist durch den Handel mit Diamanten aus Angola reich geworden und weltweit aktiv im Minengeschäft. Aus den Panama Papers wird ersichtlich, dass sein Konzern über die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca an dutzenden Briefkastenfirmen beteiligt war. Über dieses Netzwerk bezahlte Steinmetz, so die Vorwürfe, politische Entscheidungsträger*innen, um so z.B. in Guinea während der Herrschaft Lansana Contés an lukrative Aufträge zu kommen. Auch aufgrund dieser Vorfälle laufen gegen ihn in mehreren Staaten Ermittlungen wegen Korruption, Urkundenfälschung, Geldwäsche und Bestechung. Es ist unklar, ob er noch in irgendeiner Form an Signa beteiligt ist; sicher ist aber, dass er einer der wichtigsten Geldgeber Benkos während dessen Einstieg bei Karstadt war. Als die Ermittlungen öffentlich bekannt wurden, kaufte Signa Steinmetzs Anteile auf. Beim dafür notwendigen Geld half zum damaligen Zeitpunkt die Falcon Private Bank.

(K)ein gern gesehener Gast

Auch in Anbetracht dieser Informationen hat sich im Juni 2019 die „Initiative Hermannplatz – karSTADT ERHALTEN” gebildet. Die Anwohner*innen aus Kreuzberg und Neukölln lehnen das Projekt, den Konzern und seinen Gründer grundsätzlich ab. Mittlerweile unterstützen mehr als 30 stadtpolitische Gruppen die Initiative und mobilisieren gemeinsam umliegende Bewohner*innen und Gewerbetreibende gegen die Pläne von Signa.

Und wie stehen lokale Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und Medien zu Benko und Signa? Die Journalist*in Nina Kugler schreibt für die Morgenpost Artikel über das Projekt und moderierte die Eröffnung von Signas „Dialog-Cafe” im Oktober 2019. Die IHK lud Benko zu ihrem wirtschaftspolitischen Frühstück im November ein und war voll des Lobes für den „Ausnahme-Unternehmer“. Berlins Bürgermeister Michael Müller findet man könne eine dreistellige Millioneninvestition nicht einfach absagen und posierte im Dezember im KaDeWe mit Benko vor der Kamera. Und der Bezirksstadtrat für Bauen in Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt, der die Pläne letztes Jahr noch abgelehnt hatte, prüft mittlerweile wie ein Dialog zwischen Signa, „Expert*innen” und Anwohner*innen ermöglicht werden kann.

Besonders eifrige Unterstützer*innen von Signa sind die Neuköllner SPD und ihr Bezirksbürgermeister Martin Hikel. Die Partei forderte den Senat auf, das Projekt an sich zu ziehen. Für Hikel „passt es zum aufstrebenden Nord-Neukölln” und er sieht darin „eine Chance für den Bezirk”. Zu wem es dementsprechend im Umkehrschluss nicht passt, sind unter anderen die (post-)migrantischen Anwohner*innen und Gewerbetreibenden im Kiez. Welche Chance Hikel ihnen gibt, veranschaulicht er sehr deutlich im aktuellen Kampf gegen „Clan-Kriminalität”: Hier nämlich lässt er hunderte von Beamten mit Kevlar-Weste und Maschinengewehr im Anschlag unversteuertem Tabak und Kohlenmonoxid-Werten in Shisha-Bars hinterherjagen.

# Titelbild: Karstadt am Hermannplatz 1936, FORTEPAN / Lőrincze Judit, CC BY-SA 3.0
Trümmer nach der Sprengung durch die SS, 1945, Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 de
Karstadt am Hermannplatz, 2012, Jörg Zägel, CC BY-SA 3.0
Collage: Lowerclassmagazine

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Deutschland hat ein existenzbedrohendes Problem. Kriminelle Ausländerclans. Libanesische, arabische, türkische und kurdische Großfamilien halten das Land im festen Würgegriff ihrer orientalischen Hände. Sie kassieren Hartz-IV, während sie in Luxuskarossen durch die Gegend protzen, die sie mit Drogengeschäften und Einbrüchen finanzieren. Sie gehen mit Messern und Schusswaffen aufeinander los, um ihre Reviere abzustecken. Ganze Bezirke kontrollieren sie, machen Teile deutscher Großstädte zu No-Go-Areas. Sie nutzen die Gutmütigkeit der Deutschen, die ihnen Asyl gewährten, schamlos aus, um sich endlos zu bereichern. Hierarchisch gegliedert, gleichen sie einer durchorganisierten Armee, die den Behörden immer und immer wieder durch die Lappen geht. Sie bedrohen unser friedliches Zusammenleben. Sie erpressen, plündern und morden. Wer ihrer Herr werden will, muss Stärke zeigen. Es braucht Law&Order. Es braucht die Abschaffung von Asylgesetzen. Es braucht die Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung. Und es braucht starke deutsche Jungs wie Herbert Reul und Martin Hikel.

So geht jene Erzählung, die seit Jahren gebetsmühlenartig in den Zeitungsartikeln der Leitmedien, in Dokumentarfilmen, Action-Serien, Büchern, politischen Reden und Lageeinschätzungen der Polizei wiederholt wird. Wöchentlich stürmen schwer bewaffnete Polizeieinheiten Shisha-Bars und andere migrantische Gewerbebetriebe – begleitet von den Reporterteams einer sensationalistischen Hauptstadtpresse, deren Berichterstattung zum Thema sich kaum noch von der auf Nazi-Hetzseiten unterscheidet. Frei nach der Devise: Was man sich über den Ausländer schlechthin nicht mehr zu sagen traut, über das Clan-Mitglied darf es gesagt werden.

Der so geschaffene Diskurs verfehlt seine Wirkung nicht: Je weiter man von „Brennpunkten“ wie Berlin-Neukölln oder Dusiburg-Marxloh entfernt lebt, desto eher bekommt man den Eindruck, dort gehe es zu wie in Medellin zur Zeit Pablo Escobars. Wer aber genauer hinsieht, den Stimmen Gehör schenkt, die wirklich in Neukölln leben und von den dutzenden Razzien, den willkürlichen Kontrollen, den rassistischen Zuschreibungen und der medialen Hetze betroffen sind, dem ergibt sich ein anderes Bild.

Wir sind tausend Leute. Natürlich kennen sich da nicht alle“

Einer der Anwohner, die derzeit gegen die Stigmatisierung der Shisha-Bars in Neukölln angehen, ist Mohammed. Zusammen mit anderen Einzelpersonen organisierte er Veranstaltungen, auch einen Flash-Mob zum Shisha-Rauchen. Warum er aktiv wird? Weil er es sich gar nicht so richtig aussuchen kann. „Ich habe eine sehr persönliche Motivation“, sagt er im Gespräch mit lower class magazine. „Ich heiße Mohammed Ali Chahrour. Ich habe einen Nachnamen, der als Clan-Name geführt wird.“

Wenn in den Medien von den „Clans“ die Rede ist, sind es immer dieselben Namen, die auftauchen: Remmo, Al-Zein, Abou-Chaker, Miri – und eben auch Chahrour. Man wird nicht falsch liegen, wenn man behauptet, es gibt kaum libanesische oder palästinensiche Namen, die dem Durchschnittsdeutschen geläufiger sind als diese. Mit Sicherheit würde eine Umfrage ergeben, dass unter den Deutschen ein – sagen wir – Arafat Abou-Chaker deutlich prominenter ist als die libanesische Nationalikone Fayruz oder der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch.

Wenn man einen dieser prominenten Nachnamen trägt, begleitet das ein Leben lang. „Als ich noch in der Schule war hatten wir einmal so eine Woche zur Berufsorientierung“, erinnert sich Mohammed. „Ich habe mich bei der Polizei angemeldet. Ich war 15 und dachte, das wäre irgendwie lustig. Ich habe dort dann bei den Eignungstests als Bester abgeschnitten. Dann kamen zwei Polizeioffiziere zu mir und sagten: ‚Das hast du echt super gemacht, Mohammed. Als wir die Namensliste bekommen haben, dachten wir nur: Was kommt da auf uns zu. Wenn du eine Zukunft bei uns einschlagen willst, wir helfen dir. Aber du musst deinen Namen ändern, wenn du bei der Polizei in Berlin anfangen willst.‘ Also bei all dem Lob: Eigentlich bist du raus, es sei denn du verleugnest deine Identität.“ Die Vorurteile haben sich bis heute nicht geändert: „Wenn ich beruflich mit der Polizei telefoniere und meinen Nachnamen nenne, gibt es auf der anderen Seite der Leitung diese kurze Pause, wo du die Verwunderung merkst. Ich nehme das mit Humor“, scherzt er.

Auch im Gespräch merkt man Mohammed an, wie die Debatte auf ihn wirkt. Er betont wieder und wieder, er sei gegen Kriminalität. Und für einen starken Staat – solange auf Grundlage von Rechtstaatlichkeit gehandelt werde. Aber das derzeit gängige Vorgehen gegen die „Clans“ sei weder rechtsstaatlich, noch Teil einer funktionierenden Strafverfolgung. „Es geht um Sippenhaft“, kritisiert Mohammed. „Wovon sprechen wir denn eigentlich, wenn wir von Großfamilien sprechen? Meine Familie, wenn wir alle nach dem Nachnamen nehmen, sind in Berlin um die tausend Leute. Da zu erwarten, dass sich alle kennen, ist Blödsinn“, so Chahrour. Auch dieses Bild von einem Paten, der wie ein König über die Familie herrscht, sei eine Erfindung. Was hier vielmehr gemacht werde, sei eine Umkehr der Beweislast der Strafverfolgung. Nicht kriminelle Handlungen würden verfolgt, sondern Menschen, weil sie Mitglied einer Familie sind – und damit per se als potentielle Kriminelle gelten.

Die offiziellen Papiere deutscher Behörden geben Mohammed Ali Chahrour recht. Der Begriff des Clans bleibt schwammig, das Phänomen wird unter dem abstrusen Titel „ethnisch abgeschottete Subkulturen“ beschrieben. Suggeriert werden soll: Die hängen alle miteinander zusammen. Die „Großfamilie“ ist die kriminelle Organisation. Dieser Narrativ hat Auswirkungen. Er bereitet Familien wie der von Mohammed Ali Chahrour Sorgen. Wenn man, wie Mohammed, im Alter von sechs Monaten das erste Mal einen Abschiebebescheid zugestellt bekommen hat, ist es nicht einfach nur eine Phrase, wenn die Mutter wieder anfängt, zu sagen: Wir sitzen auf gepackten Koffern.

Ähnlich wie er selbst, so sagt Mohammed, sehen das viele in Neukölln. Die andauernden schwer bewaffneten Razzien der Polizei seien für viele eine Demütigung. Für die Barbetreiber, sagt der Neuköllner, sei es sowieso einschüchternd. Aber auch für die Gäste: „Ich habe kürzlich mit jungen Syrern gesprochen, die haben gesagt: Wir sind hier her vor dem Krieg geflüchtet und wir werden hier jeden Freitag, Samstag mit Maschinengewehren durchsucht.“

Abgesehen von den sozialen Auswirkungen sei so ohnehin keine Strafverfolgung zu machen, meint Chahrour. „Um es mal so zu sagen: Ich glaube nicht, dass irgendwer kriminelle Geschäfte in den Bars der Sonnenallee und Karl-Marx-Straße organisiert, wenn man weiß, dass da jeden Freitag Abend die Polizei einreitet. Und dann findet ihr unverzollten Tabak? Sorry Leute, aber dann seid ihr genauso blöd, wie die Bullen aus 4Blocks.“

Die medial inszenierten Razzien, der Generalverdacht gegen ganze Bevölkerungsgruppen – das ist für Mohammed nicht mehr als ein „Spiel mit dem Rassismus“ – gerade auch seitens jener Partei, in der Mohammed Ali Chahrour eigentlich Mitglied ist: Der SPD. Die stellt mit Martin Hikel den Bezirksbürgermeister in Neukölln. Und der möchte sich gerne als der große Saubermann gegen die kriminellen Ausländerclans inszenieren. Tradition hat das in der Neuköllner Sozialdemokratie: Schon Hikels Amtsvorgänger Heinz Buschkowsky nutzte gerne rassistische Ressentiments, um am rechten Rand zu fischen.

Da kommen Stimmen wie die Mohammeds wenig gelegen: „Man versucht, auf mich einzuwirken und mir meine Meinung zu verbieten. Ich finde das schamlos. Die, die mich da angreifen, verstehen nicht, dass da auch meine Nächsten angegriffen werden.“

Maschinengewehre gegen Ordnungswidrigkeiten

Ähnlich wie Mohammed spricht sich auch Melissa König* gegen die Clan-Hetze aus. Die 22-jährige arbeitete in einer Wilmersdorfer Shisha-Bar, hat eine der Razzien miterlebt. Und: in ihrem Freundeskreis sind viele, die „bekannte Nachnamen“ tragen, wie sie sagt. Für die Jungs mit den klingenden Namen bedeutet das aber in den seltensten Fällen eine Eintrittskarte in ein sorgenloses Leben aus Crime&Glamour. Sondern Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, komische Fragen bei Job-Bewerbungen und racial profiling durch die Polizei. „Einmal war ich mit einem dieser Freunde im Auto unterwegs und wir kamen in eine normale Verkehrskontrolle“, erinnert sich Melissa. „Alle anderen durften nach kurzer Kontrolle weiter, uns haben sie komplett durchsucht und das Auto auseinandergenommen– auch mich als Beifahrerin. Ich habe ja nachgefragt bei der Polizei, warum das jetzt so ist. Aber man konnte mir keine logische Begründung geben.“

Die Stelle in der Shisha-Bar hatte Melissa eigentlich nur als Zweitjob – um nach dem Umzug nach Berlin ein bisschen was dazu zu verdienen. Aber auch sie merkte, wie im Bekanntenkreis die mediale Dauerbeschallung ankommt. „Ich habe irgendwann nur noch gesagt, ich kellnere, wenn mich jemand gefragt hat. Sonst glauben immer gleich alle, man macht etwas mit Geldwäsche.“ Die meisten Klischees über die Shisha-Bars kann Melissa nicht bestätigen. Weder sei ihr Chef kriminell gewesen, noch habe sie sich als Frau unwohl gefühlt. Im Gegenteil, in der „deutschen Gastro, wo ich auch gearbeitet habe, habe ich viel mehr übergriffiges Verhalten erlebt. Und da ist im Unterschied zur Shisha-Bar niemand eingeschritten.“

Auch nachdem sie ihren Nebenjob aufgegeben hatte, war Melissa öfter an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz – als Gast. Einmal, als sie mit einer Freundin dort war, wurde sie auch Zeugin der gängigen Berliner Polizeipraxis. „Die sind mit Maschinengewehren reingekommen und haben die Leute da drei oder vier Stunden festgehalten. Meine Freundin wollte aufs Klo, durfte aber nicht. Die Beamten waren sehr unfreundlich. Viele Gäste waren sehr verängstigt“, erzählt König. Das Szenario hinterlässt, auch wenn keine inkriminierenden Gegenstände gefunden werden, Eindruck. „Würde ich meinen Chef nicht kennen und wüsste nicht, was er für ein Mensch ist – ich hätte selber gedacht, der muss ja ein Schwerkrimineller sein, wenn da 70, 80 schwer bewaffnete Polizisten reinstürmen.“

In den meisten Fällen führen die martialisch durchgeführten Polizeieinsätze zu nichts. Gefunden wird unverzollter Tabak oder es werden Ordnungswidrigkeiten festgestellt, wie zum Beispiel erhöhte CO-Messwerte. Wenn kleine Mengen an Drogen auftauchen, über die jeder Berghain-Türsteher milde lächeln würde, gilt schon das als Erfolg. Richtige Funde wie Waffen sind eine äußerste Seltenheit.

Eine Kleine Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Anne Helm dokumentiert die Dimensionen der Show-Razzien eindrucksvoll. Alleine zwischen dem 27. Mai und dem 6. September 2019 rückte in Neukölln 14 Mal eine Armada von Polizisten „im behördenübergreifenden Verbund“ aus, um sich diverse Kleingewerbetreibende vorzunehmen. Dabei waren insgesamt 772 Dienstkräfte im Einsatz, die 4398,5 Einsatzkräftestunden ableisteten. Beteiligt waren neben der Bundespolizei und Berliner Dienststellen der Polizei das Finanzamt, das Ordnungsamt sowie verschiedene Stellen des Zollamts. Im Rahmen der Einsätze wurden „wurden insgesamt 978 Personen, 72 Lokale, 385 Kraftfahrzeuge und 22 sonstige Objekte kontrolliert beziehungsweise aufgesucht.“ Das Ergebnis: 197 Ordnungswidrigen, also Dinge wie „Verstoß gegen ordnungsgemäße Kassenführung“, Verstöße gegen das Nichtraucherschutzgesetz, Jugendliche, die sich in der Bar aufhalten oder Verstöße gegen die Pfandverordnung. Und 56 Mal der Verdacht auf eine Straftat: Darunter entweder der geringe Besitz von Betäubungsmitteln und Delikte wie „Fahren ohne Fahrerlaubnis“ oder Beleidigung – ein Delikt also, der ohne den martialischen Einsatz gar nicht zustande gekommen wären.

Der große Durchbruch bleibt bei den Massenrazzien – erwartungsgemäß – aus. Weder die geklaute Goldmünze aus dem Bode-Museum, noch Drogendepots oder die zur Verurteilung realer oder imaginierter „Clan-Chefs“ so gierig herbeigesehnten Beweise werden sich in Neuköllner Bars finden lassen. Das wissen alle Beteiligten.

Die Wirkung des Vorgehens ist aber eine andere, weiß Melissa König. „Auch mein ehemaliger Chef klagt, dass ihm die Kunden wegbleiben nach der Razzia. Und ich kenne viele andere Shisha-Bar-Betreiber, denen es ähnlich geht.“ Warum die Behörden das machen? Auch darauf hat Melissa eine plausible Antwort: „Der Kiez verändert sich. Die, die jetzt nach Neukölln ziehen, die wollen keine Sishabars oder Männercafes. Mit Kriminalität hat das gar nicht so viel zu tun. Die wollen ja auch keine türkischen und arabischen Gemüsehändler.“

Bankster welcome!

Dass es sich bei der Offensive gegen die „kriminellen Clans“ um einen Teil des Saubermachens für Investoren, Touristen und betuchte Zugezogene handelt, vermutet auch Alia Kutlu. Die Neuköllnerin engagiert sich in verschiedenen Initiativen gegen Gentrifizierung in Neukölln – zum Beispiel gegen den Mega-Neubau am zentralen Hermannplatz. Und auch Kutlu hat an Veranstaltungen gegen den Clan-Generalverdacht mitgearbeitet. „Beides hängt zusammen“, so Kutlu gegenüber lcm. „Das Projekt am Hermannplatz wird das Leben in der Nachbarschaft komplett verändern.“ Für Alia und ihre WG ist es ohnehin schon so, dass sie nicht darauf rechnen, in Neukölln langfristig bleiben zu können. „Wenn wir jetzt aus unser Wohnung raus müssten, würden wir in Neukölln nichts mehr finden. Aber es sind eben nicht nur Mieter betroffen, sondern auch die Gewerbetreibenden. Die passen langfristig nicht zu dem, was hier im Bezirk geplant ist. Gewerbemieten steigen, die kleinen migrantischen Läden, die wir hier haben, werden so nicht weiter hier sein“, befürchtete die Mittzwanzigerin. Gerade in den migrantisch geprägten Teilen Neuköllns spüre die Bevölkerung das. „Die Leute merken ja, dass die Bevölkerung ausgetauscht wird. Sie sehen, dass die neuen Läden, die aufmachen, nicht für sie sind. Ich meine, wer sitzt denn in diesen ganzen Hipster-Läden? Die Leute merken natürlich: Wir sind hier nicht mehr willkommen“, so Kutlu.

Die Razzien seien ein „politisches Muskelspiel“: „Vorreiter war da ja der CDU-Politiker Herbert Reul mit seiner sogenannten Taktik der tausend Nadelstiche. Da wird dann eben jede Kleinigkeit zum Fall für die Kavallerie. Flaschen ohne Pfand, erhöhte Messwerte – und das wird mit Maschinengewehren gemacht.“ Das Vorgehen findet Alia Kutlu rassistisch: „Es reicht, dass du Türke, Kurde, Araber bist. So wird dieser Generalverdacht ausgeweitet.“ Ausgeblendet werde dabei, wo eigentlich die Ursachen von Kriminalität liegen. „Die hat ja Gründe: eine enorme Prekarität. Wo wächst Kriminalität? Wo Leute arm sind, wo keine Perspektive ist.“ Man habe sich viele Jahre überhaupt nicht um Neuköllnerinnen und Neuköllner gekümmert. „Aber jetzt hat man ein Interesse an der Aufwertung des Viertels. Und da erfüllt die ganze Debatte um Clans einen Zweck. So ein Martin Hickel, der freut sich, wenn ein René Benko kommt und Milliarden investiert. Und wenn Leute verdrängt werden, die ärmer sind, damit reichere herziehen können. Kapitalinteressen und Politik verfolgen hier eine gemeinsame Agenda.“

Da übrigens dreht man dann nicht jeden Cent zweimal um auf der peniblen Suche nach dubiosem Geschäftsgebahren. Der Name des österreichischen Immobilienspekulanten Benko, der den Hermannplatz aufhübschen soll, fällt aktuell immer wieder im Spendenskandal um die faschistische Partei FPÖ und ihren geschassten Chef Heinz-Christian Strache. Und Benko ist vorbestraft – wegen Korruption.

*Name von der Redaktion geändert

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Die Herren Wolf-Traugott Freiherr von Werthern und Emmanuel Graf von Spee gedenken das Fußvolk aus seinen Behausungen zu entfernen, auf dass Geld gemacht werden kann – doch eine Hausgemeinschaft in der Mariannenstraße 34 will nicht spuren.

Wo sich ohne körperliche Mühen Geld machen lässt, ist bekanntlich der Adel nicht weit. Verbürgten vor einigen Generationen noch komplizierte Feudalrechte den Landbesitz der noblen Herren, ist man heute eben Immobilienunternehmer. Und so gehört es zum guten Ton, dass Wolf-Traugott Freiherr von Werthern und Emmanuel Graf von Spee auch einige Ländereien in Kreuzberg ihr eigen nennen.

Den beiden blaublütigen Gentrifizierern gehört die Wildhorn RP II GmbH (und diverse andere GmbHs von Wildhorn RP I bis VI). Die Wildhorn RP Zwei kaufte 2009 ein Haus in der Mariannenstraße 34 – also beste Szenekiezlage nahe Kotti. Und auch ansonsten ein Glücksfall, denn die Wohneinheiten der entsprechenden Immobilie waren schon 1998 in Eigentumswohnungen aufgeteilt worden. Also nur noch die zehnjährige Sperrfrist abwarten – und schon rollt der Rubel. Doch, Überraschung, in dem Haus wohnen Menschen.

„Uns wurde vor ein paar Wochen ein Brief zugestellt, dass unsere Wohnungen verkauft werden sollen. Für 4700 bis 4800 Euro je Quadratmeter wurden sie auch uns angeboten – natürlich ohne Maklerkosten. Sehr entgegenkommend!“ erzählt Karla, die seit mehreren Jahren in der Mariannenstraße 34 wohnt, gegenüber lower class magazine. „Kaum jemand von uns kann sich diese Summen leisten und wir waren wirklich über die immensen Preise überrascht, die hier für teilweise sanierungsbedürftige Wohnungen verlangt werden.“ Für Karla beginnt ein Alptraum. Schon jetzt geht mehr als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete drauf. Sie hat Familie und Freunde in Kreuzberg, viele ihrer sozialen Aktivitäten spielen sich hier ab. Hoffnung, etwas Neues in dem von Aufwertung und Yuppie-Zuzug geplagten Viertel zu finden, hat sie nicht.

16 Wohneinheiten in der Mariannen 34 sind betroffen. Im Internet wirbt die David Borck Immobiliengesellschaft schon für den „renovierten Altbau nahe Paul-Lincke-Ufer“. Bei dem angegebenen Preis kommt man für eine Zwei- bis Dreizimmerwohnung rasch auf eine Halbe- bis Dreiviertelmillion.

Dass die horrenden Preise den Altmieter*innen keine Chance lassen, scheint auch dem Investor klar zu sein. Er kalkuliert die Verdrängung nicht nur als Nebeneffekt mit ein, er betreibt sie bewusst. „Wie Sie bereits wissen, werden diese Arbeiten zu Unruhen unter den Mietern führen und einige Mieter werden voraussichtlich ausziehen, was eindeutig in unserem Interesse liegt, da wir dann die leer stehenden Wohnungen sanieren und sie anschließend zu einem weitaus höheren Preis vermieten können“, schreibt die Wildhorn Capital Sàrl in ihrem Jahresbericht schon 2016.

Für die Rentner*innen, Student*innen und Familien in der Mariannenstraße hat die Profitsucht der Immobilienfürsten drastische Konsequenzen. „Die Kündigung gilt auch für Leute, die 20, 30 Jahre in diesen Wohnungen gelebt haben“, klagt Karla. „Hier leben Menschen, die ihr ganzes Leben in diesem Kiez gewohnt haben. Menschen, die ihr soziales Umfeld in den umliegenden Straßen aufgebaut haben und vieles verlieren werden.“ Und jede*r weiß: Umziehen in Berlin heißt Wegziehen aus Kreuzberg. „Eine Wohnung in Kreuzberg zu finden, die einigermaßen bezahlbar ist, ist nahezu unmöglich. Und rechtlich haben wir keine Chance gegen die Verdrängung vorzugehen.“

Aber: Die Attacke der Krautjunker mit den lächerlichen Namen hat auch ihr Gutes. Die Hausgemeinschaft sei zusammengerückt, meint Karla. Und man habe sich mit anderen vernetzt, der Mietergemeinschaft, den Initiativen GloReiche und Bizim Kiez, dem #200-Häuser-Netzwerk. Ein Hoffest veranstalteten die Mieter*innen schon und wenn die Verdränger in spe zu Hausbesichtigungen anrücken, unterstützt man sich gegenseitig. „Es ist toll zu wissen, dass man an einem Strang zieht und auch einfach mal nebenan klingeln kann, wenn einem etwas was auf dem Herzen liegt“, schwärmt die Kreuzbergerin.

So bedrückend die Lage ist, die letzte Messe sei noch nicht gelesen, fügt Karla hinzu. „Wir wünschen uns eine solidarische Unterstützung aus dem Kiez. Es gibt viele Häuser, die mit steigenden Mieten, Eigenbedarfskündigungen oder Schikane von Vermieter*innen zu tun haben. Es ist wichtig, diese Entwicklung öffentlich zu machen und sich dagegen zu organisieren. Nur so können wir den Druck auf potenzielle Käufer*innen aufrechterhalten“, meint XY. Für die Mariannenstraße 34 jedenfalls gelte: „Wir werden nicht aufgeben und bis zum Schluss kämpfen.“

# Titelbild: Hoffest in der Mariannenstraße 34, Quelle: Privat

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Ruth ist Mitte 30 und arbeitet seit 7 Jahren im Wombat‘s City Hostel. Zuerst ein Jahr in Wien und anschließend in Berlin an der Rezeption. Vor viereinhalb Jahren hat sie den Betriebsrat mitgegründet. Seitdem ist sie auch Betriebsrätin.

Das Wombat‘s City Hostel schließt zum 31.8. Warum?

Zumindest vorerst schließt das Haus. Wir gehen davon aus, dass es – genau wie zum Beispiel damals der „Wintergarten“ in Schöneberg – irgendwann wieder eröffnet wird. Nur eben ohne uns Gewerkschaftsmitglieder.

Wie kam es zu der Schließung?

Wir haben 2015 als erstes Hostel in Deutschland einen Betriebsrat gegründet und anschließend sind die meisten von uns Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder geworden und haben für einen Tariflohn gestreikt. Als Betriebsrat sind wir von der Geschäftsleitung in Wien und auch dem Management vor Ort in Berlin von Beginn an bekämpft worden. Das erste Wombat‘s Hostel wurde 1999 in Wien eröffnet und von da bis zur Betriebsratsgründung konnten die Besitzer Alexander Dimitriewicz und Marcus Praschinger alle, die ihnen nicht passten einfach so feuern. Meine Vermutung ist, dass es ihnen deutlich gegen den Strich gegangen ist, dass sie plötzlich die Beschäftigten in Berlin nicht mehr so einfach kündigen konnten, obwohl wir Einiges aufgedeckt haben, was nicht so gut lief und viele gute Dinge für die Belegschaft durchgesetzt haben, die sie eigentlich nicht tun wollten. Unsere Chefs haben viel Geld für juristische Beratung ausgegeben und sind uns trotz konstanter Zermürbungsversuche nicht los geworden. In dem offiziellen Aushang an die Belegschaft steht eindeutig, dass es dem Wombat‘s Berlin wirtschaftlich hervorragend geht, aber dass unsre Chefs „so“ nicht weitermachen wollen. Daraus geht für mich eindeutig hervor, dass das Haus geschlossen wird, weil sie keine Lust auf Mitbestimmung der Belegschaft und Einhaltung der Rechte von Arbeiter*innen haben.

Welche Methoden hat die Geschätsleitung konkret gegen euch angewendet?

Ich hab mal ein Buch über Union Busting-Methoden gelesen und wir haben eigentlich so gut wie alles durch – nur einen Privatdetektiv haben sie meines Wissens nicht auf uns angesetzt. Konkret bedeutet das: Das Management hat von Anfang an versucht, uns als Belegschaft zu spalten. Es wurden/werden immer noch Lügen über uns Gewerkschaftsmitglieder erzählt um uns zu diffamieren. Von einem Tag auf den anderen wurde den Gewerkschaftsmitgliedern gesagt, dass sie ihre Arbeit schlecht machen; wir haben haufenweise Abmahnungen mit Kündigungsandrohung aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen bekommen; vom Management wird man entweder ignoriert, angeschrien oder sie spielen Lieder mit beleidigendem Inhalt, wenn man in ihr Büro kommt – also so Psycho-Spielchen, dass man sich super unwohl fühlt und dann von selbst geht. Die Reinigung wurde ausgegliedert und die Geschäftsleitung hat zugegeben, dass ihnen die Ausgliederung teurer kommt als interne Reinigung. Und der letzte Schritt, bevor sie bekannt gegeben haben, dass sie das Hostel schließen, war einfach ohne Grund Lohnbestandteile von besonders aktiven Gewerkschaftsmitgliedern einbehalten. Als wir trotzdem geblieben sind, begonnen haben, den fehlenden Lohn einzuklagen, so was dauert leider ca. 1 Jahr, weil die Gerichte so langsam sind, und begonnen haben, einen Soli-Darlehen zu organisieren, damit wir nicht deshalb einknicken müssen, haben sie wohl gemerkt, dass wir uns nicht zermürben lassen und uns weiterhin für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen werden. Bitter ist allerdings, dass neben Outsourcing auch sachgrundlose Befristungen zur Spaltung von Belegschaften benutzt werden und, dass das legal ist. Anfang des Jahres hat unser Chef begonnen, die Verträge von befristeten Gewerkschaftsmitgliedern nicht mehr zu verlängern. Ich würde das auch als Union Busting-Methode werten, allerdings handelt es sich bei Outsourcing und Befristungen nicht um Gesetzesverstöße, obwohl es meiner Meinung nach nur dazu dient, Belegschaften klein zu halten und zu spalten.

Am 8. März habt ihr auf der zentralen Frauen*streik-Aktion vor der Charité einen Redebeitrag gehalten. Hier habt ihr auch die sexistischen Ausmaße der Einschüchterung beschrieben. Was ist da genau passiert?

Wo soll ich da nur anfangen. Es gab ganz verschiedenes. Jahrelang ist der Leiter der Reinigung zu Schichtbeginn und Schichtende ohne zu klopfen in die Damenumkleide gekommen um „sich eine Bürste auszuleihen“. Die Umkleide der Frauen konnte man von innen nicht verschließen, d.h. es ist oft zu sehr unangenehmen Situationen gekommen. Die Kolleginnen aus der Reinigung haben ihm dann mal zu Weihnachten eine Bürste geschenkt, aber er ist weiterhin in ihre Umkleide gekommen. Als sich eine Kollegin nach Jahren dem Betriebsrat anvertraut hat, hat die Geschäftsleitung das Ganze heruntergespielt. Auch wenn das Ganze zeitlich sogar mit #meetoo zusammenfiel, hat er nur eine mündliche Verwarnung bekommen. Als wir ziemlich genau vor einem Jahr einen neuen Manager bekommen haben, hat er eine Kollegin aus der Reinigung auf Etage gemeinsam mit ihrem Abteilungsleiter, der Typ, der nicht klopfen kann, angeschrien und so unter Druck gesetzt, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekommen hat. Außerdem hat er sein Büro mit Peniszeichnungen und einem Dildo dekoriert und Anfang März wurde er dabei beobachtet, wie er gemeinsam mit zwei Managern „Cunt“, „Cock Sucker“ und „Dick-Tation“ mit Sprühkreide vor das Hostel gesprüht hat.

Habt ihr von andern Belegschaften Solidarität erhalten?

Ja, es war wirklich sehr ermutigend, dass immer mehr Belegschaften nicht nur zu unseren Protesten gekommen sind, sondern wir uns auch zwischendurch gegenseitig ermutigt haben. Durch den Austausch haben wir gemerkt, dass eigentlich immer Outsourcing und Befristungen eine Rolle spielen. Deshalb haben wir mit Beschäftigten des Charité Facility Managements (CFM), des CPPZ, des Botanischen Garten, der BVG und verschiedenen Tochterfirmen der BVG, der Vivantes Service Gesellschaft und von verschiedenen Unis eine Initiative gegen Outsourcing und Befristungen gestartet. Solidarität haben wir aber auch noch von vielen Anderen erfahren wie z.B. Beschäftigten des Anne-Frank-Zentrums, der Berliner Bäderbetriebe, von Integral e.V. und sogar international von Las Kellys, Reinigungskräften aus Spanien, die auch gegen ihre prekären Arbeitsbedingungen aufstehen, und verschiedenen Zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir waren und sind echt immer wieder überwältigt!

Was kann man tun um sich mit euch zu solidarisieren?

Man zu unsrer Protest-Demo am 31.08.2019, dem Tag, an dem das Wombat‘s Berlin schließt kommen. Wir starten um 16.30 Uhr am Charitéplatz um uns mit den Beschäftigten des CFM zu solidarisieren, die seit 13 Jahren für Insourcing kämpfen und Richtung Wombat’s Hostel um für rechtliche Konsequenzen von sozialschädlichen Unternehmen und ein Vorkaufsrecht für Belegschaften bei Unternehmensschließungen zu protestieren.

#Titelbild: aktion.arbeitsunrecht
Nach einer Party im Hotel sollen Teile des Managements in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2019 obzöne Bilder und Sprüche auf den Gehweg und die Alte Schönhauser Straße vor dem Hostel Wombat’s gesprüht haben.

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Nach vielen Fehlinformationen über die BDS Kampagne, der antirassistischen Queer-Bewegung und die Ereignisse beim Radical Queer March in Berlin am Samstag, den 26. Juli, sprachen wir mit Inna, die den Queers for Palestine Block beim Radical Queer March mitorganisiert hat. Inna, 36, ist eine in Berlin lebende Soziologin und seit vielen Jahren Aktivistin in feministischen, LGBTIQ, migrantischen und Palästina-solidarischen Bewegungen.

Du bist Teil des spontan organisierten Queers for Palestine Blocks im Radical Queer March. Warum hattest du das Bedürfnis nach einem solchen Block?

Weil es empörend ist, dass antirassistische radikale Queers, einschließlich Jüd*innen, als antisemitisch gebrandmarkt werden, weil wir Freiheit und Menschenrechte für Palästinenser*innen unterstützen. Für mich als radikale Lesbe und als jüdische Frau ist es wichtig, für mich selbst zu sprechen. Als israelische Staatsbürgerin ist es meine Pflicht, gegen die von Israel begangenen Verbrechen zu sprechen.

Die Ausladung von den Organisator*innen des Radical Queer March richtete sich gegen BDS-Aktivist*innen und setzte BDS undifferenziert mit Antisemitismus gleich. Kannst du erklären, was BDS genau ist und worin das Problem mit dieser Gleichsetzung besteht?

Es gibt eine bewusste politische Strategie, BDS als antisemitisch darzustellen. In Wirklichkeit ist BDS eine gewaltfreie antirassistische Bewegung. Es ist kein Boykott gegen Einzelpersonen; Jüd*innen und Israelis werden nicht boykottiert. Es ist ein Boykott gegen Institutionen, die an der Unterdrückung von Palästinenser*innen beteiligt sind. Es gibt große Probleme des Antisemitismus in Deutschland, Europa und anderswo, und anstatt sich mit diesen wirklichen Problemen zu befassen, gibt es einen rassistischen Diskurs, der die BDS-Bewegung beschuldigt und die deutsche weiß-vorherrschaftliche Rechte außer Acht lässt. Es geht überhaupt nicht darum, mit Antisemitismus umzugehen. Es geht darum, den Antisemitismus zu instrumentalisieren, um den palästinensischen Solidaritätskampf zu verunglimpfen. Es ist unglaublich, was in Deutschland passiert – viele nichtjüdische Deutsche halten sich für die ultimativen Expert*innen für Antisemitismus und haben kein Interesse daran, Jüd*innen und unseren gelebten Erfahrungen zuzuhören. Ich bin auf viele Deutsche gestoßen, die sich mit der antideutschen Ideologie identifizieren, die völlig ignorieren, was linke Jüd*innen zu sagen haben. Es ist, als würden wir für sie nicht existieren, wenn wir nicht die Jüd*innen sind, die sie von uns erwarten. Es ist nur eine Form der weißen Vorherrschaft, wirklich. Vielleicht kommt dies historisch gesehen aus einer gut gemeinten Überlegung, um dem Antisemitismus zu begegnen, aber es landet schlussendlich genau dort, beim Antisemitismus.

Am Samstag schlossen sich 500 Menschen dem antikolonialen und antiimperialistischen Queers for Palestine Block auf dem alternativen CSD-Marsch in Berlin an. Das ist ein großer Erfolg! Eines der wiederkehrenden Themen war der Kampf gegen das Pinkwashing in Israel.

Genau. Alle Rechte, die wir als Queers in Israel haben, wurden hart erkämpft. Es ist das Verdienst der LGBTIQ-Bewegung, nicht des Staates. Die derzeitige Regierung ist sehr homophob. Der Staat nutzt jedoch unsere Rechte, um ihn fortschrittlich erscheinen zu lassen und gleichzeitig Kriegsverbrechen zu begehen. Das ist nicht akzeptabel. Es ist derselbe Horror, den wir bei allen Unternehmen erlebt haben, Coca Cola usw., die LGBT-Rechte nutzen, um fortschrittlich zu wirken und gleichzeitig die Rechte von Arbeiter*innen zu missbrauchen und weltweit Umweltschäden zu verursachen. Pinkwashing ist sowohl staatlich als auch gesellschaftsrechtlich.

Was brauchen wir jetzt, damit queere, antikoloniale Bewegungen in Deutschland wachsen können?

Wir müssen zusammenkommen und unsere Gemeinschaft aufbauen und sie feministisch und intersektional gestalten. Der sogenannte antideutsche Diskurs ist rassistisch und de-humanisierend gegen Palästinenser*innen und ist auch antisemitisch.

Was bedeutet dies für antirassistische und antikoloniale Jüd*innen?

Es gibt viel Hass gegen Jüd*innen, die nicht der nationalistischen Idee entsprechen, dass wir in den Nahen Osten gehören, in dem angeblich unser Staat liegt und der ein sicherer Ort für uns sei. Jüd*innen sollten sicher sein, wo wir sind. Unser Zuhause ist da, wo wir sind. Dafür müssen wir kämpfen.

# Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Eleonora Roldán Mendívil

# Titelbild: Queers for Palestine Block auf dem Radical Queer March am 26. Juli 2019 in Berlin, http://bds-kampagne.de/wp-content/uploads/2019/07/Radical-Queers-March-2019-marching.jpg

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In Berlin treffen wieder zwei Lager aufeinander. Es geht um Rassismus, um Kolonialismus und um die Frage was linke Politik eigentlich in Deutschland heute bedeutet. Dies mal geht es aber auch darum, welche queeren Menschen das Recht haben, im öffentlichen Raum Kämpfe zu führen und zu verteidigen. Wir waren auf dem diesjährigen Radical Queer March in Berlin und haben die Diskussionen im Vorhinein, die Situation vor Ort und die Debatten im Nachhinein verfolgt.

Am vergangenen Samstag fand um 12 Uhr der kommerzielle 41. Cristopher Street Day (CSD) Marsch in Berlin mit mehr als einer Millionen Teilnehmenden vom Kurfürstendamm bis zum Brandenburger Tor statt, bei dem, wie jedes Jahr, unter anderem der obligatorische USA-Truck vertreten war. Daneben wurde um 18 Uhr auch zu einem alternativen „Radical Queer March“ aufgerufen, der vom Mariannenplatz im Herzen Kreuzbergs startete. Vor der Demo kam es jedoch zu Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber möglichen Teilnehmenden.

Nachdem am 15. Juli, auf Facebook Bodo Niendel auf der Seite des Radical Queer March Berlin die Frage stellte, wie sich Organisator*innen des Radical QueerMarch zu Antisemitismus verhalten würden und ob Aktiven der Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) die Teilnahme untersagt werden würde, brach eine große Diskussion aus. Die Organisator*innen des Radical Queer March bezeichneten dabei BDS und dessen Aktive platt und ohne Argumentation als antisemitisch.

Alle Radikalen Queers, die sich solidarisch mit Palästina zeigen und BDS unterstützen seien Antisemit*innen, und deshalb auf der Demo nicht willkommen und würden auch aktiv ausgeschlossen werden, hieß es.

BDS ist eine gewaltfreie Bewegung, die von hunderten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Palästina ins Leben gerufen wurde, um den Boykott, den Abzug von Investitionen und Sanktionen gegenüber dem israelischen Staat gemäß Internationalem Recht durchzusetzen. Die Kampagne fordert das Ende der illegalen Besatzung palästinensischer Gebiete, die 1967 von Israel besetzt wurden, sowie die Gleichberechtigung für Palästinenser*innen und Israelis in Israel selber. Auch kämpft die Kampagne für das Recht, dass vertriebene Palästinenser*innen wieder in ihr Land zurückkehren dürfen und nicht verstreut und entrechtet, teils unter menschenunwürdigen Bedingungen in Flüchtlingslagern zusammengepfercht überleben zu müssen. BDS wird von zahlreichen Organisationen, die für soziale Gerechtigkeit einstehen, sowie von antirassistischen Kämpferinnen wie den Marxistinnen Angela Davis und Tithi Bhattacharya aktiv unterstützt.

Als Antwort auf diese Ausladung und Gleichsetzung von BDS mit Antisemitismus, formte sich daraufhin kurzfristig ein Queers for Palestine Block, der zur aktiven Teilnahme antikolonialer und antiimperialistischer Queers und Freund*innen aufrief. Hierauf gab es zwei unterschiedliche Reaktionen. Auf der einen Seite befürworteten einige die Ausladung durch den Radical Queer March und bezeichneten BDS Befürworter*innen als Rassist*innen. Sie forderten zudem, die Ausladung von Palästina-solidarischen Queers aufrechtzuerhalten. Um dies zu unterstreichen wurden unter anderem Bilder von nackten, verpügelten queeren Palästinenser*innen gepostet. Auch wurden jüdische Befürworter*innen von BDS offen als Nazis bezeichnet. Auf der anderen Seite, wurde von mehrheitlich Jüden*innen, Araber*innen und andere nicht-weißen Menschen immer wieder betont, wie BDS in einer Tradition antikolonialer und antirassistischer Boykott-Bewegungen steht und wie die platte Unterstellung des Antisemitismus in die zionistische Logik einer jüdisch-Ashkenazim, also weiß-vorherrschaftlichen udn kolonialen Ideologie des israelischen Staates spielt, der jede Kritik an seiner Entstehung und Politik als „antisemitisch” zurückweist.

Dieser unbegründete Antisemitismusvorwurf wurde als erneuter Versuch gewertet, Stimmen zum Schweigen zu bringen, die sich solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf zeigen – dieses Mal von queeren palästinensischen und jüdischen Menschen.

Am 25. Juli veröffentlichten die Organisator*innen des Radical Queer March eine Stellungnahme, in der sie sich für „die pauschale, undifferenzierte Gleichsetzung vom BDS mit Antisemitismus“ entschuldigten. Dennoch würden sie „bestimmte Methoden und Argumentationsgänge von Teilen des BDS […] durchaus kritisch“ sehen und stuften diese – wieder ohne genauere Beispiele oder Argumente – „als eindeutig antisemitisch“ ein. „Vergleiche von der israelischen Politik mit dem deutschen Nazi-Regime sowie die Art und Weise, wie der pinkwashing-Vorwurf gegen Israel vorgebracht wird“ gehörten für sie dazu.

Pinkwashing in Israel

Pinkwashing ist eine Propaganda-Taktik, bei der vor allem westliche Staaten LGBTQI* Rechte für ihre Staatspropaganda bzw. offizielle Demokratie-Marketingkampagnen, sowie als Rechtfertigung für Krieg und Vertreibung missbrauchen. Dadurch soll ihr Image als progressive und liberale Nationen gefördert und von Staatsrepression, Menschenrechtsverletzungen und struktureller Unterdrückung abgelenkt werden. Israel betreibt schon seit Jahren eine Politik des Pinkwashings. Sie lenken von ihren rassistischen und menschenverachtenden Verbrechen gegenüber Palästinenser*innen und anderen nicht-weißen Bevölkerungen in Israel ab und verschleiern so die konstante Besatzungssituation in Palästina. Dabei werden gezielt Palästinenser*innen, sowie andere benachbarte arabische, mehrheitlich muslimische Länder als besonders homo- oder transphob dargestellt. Hier steckt eine Ziviliationslogik dahinter, in der Israel sich als Verfechter von LGBTQI* Rechten – im Sinne des Westens – darstellt, gleichzeitig aber LGBTQI* Palästinenser*innen ermordet und sie ihres Landes beraubt.

Im Sommer 2014 wurden bei den Angriffen auf Gaza mindestens 2200 Menschen getötet. Darunter waren palästinensische Lesben, Schwule, Trans und Queers. Durch den Missbrauch von LGBTQI*-Rechten legitimiert der israelische Staat seine Position als Besatzungsmacht und damit auch die Entrechtung der „rückständigen und queer-feindlichen“ Palästinenser*innen. Erst im Juli hat der israelische Staat, palästinensische Häuser in Ostjerusalem zerstört, um die Bewohner*innen aus der Stadt zu vertreiben zum Beispiel.

Weißsein und (Anti)Rassismus

Während des Radical Queer Marches hat sich offenbart, um welche Radikalität es geht. Der Queer for Palestine Block war mit einer antirassistischen und queeren Politik präsent und stellte sich aktiv gegen koloniale Besatzungen und Kapitalismus, was durch viele Sprechchöre in diesem Sinne deutlich wurde. In diesem Block waren überwiegend nicht-weiße LGBTQI* sicht- und hörbar, während beim Radical Queer March die weiße Mehrheit sich, von diesen unliebsamen „Anderen“ zu distanzieren suchte.

Eine der Demostrierenden, Leil Zahra Mortada, beschrieb die Situationfolgendermaßen: „Ich ging den ganzen Marsch umher, zur erwarteten Weißen Vorherrschaft; im Gegensatz zum Queers for Palestine Block, der eine schöne und herzerwärmende Mischung aus Queers und unseren Verbündeten war. Queers, die weiß, Schwarz, Braun, PoC [People of Color, lcm], Latinx, Migrant*innen, Asylsuchende, Palästinenser*innen, Israelis, Jüd*innen, Türk*innen, US Staatsangehörige, Iraner*innen, Indigene, Undokumentierte, Sexarbeiter*innen, Anarchist*innen, Antifa…“ sind.

Was beim Radical Queer March wirklich passierte

Als kurz bevor der Radical Queer March losging hat eine Person versucht, Plakate mit der Aufschrift „Queers for a free Palestine. Fight against: racism, islamophobia, homo/transphobia, antisemitism, apartheid!“ (Queers für ein freies Palästina. Kampf gegen Rassismus, Islamophobie, Homo-/Transphobie, Antisemitismus, Apartheid!) herunterzureißen. Doch queere nicht-weiße und jüdische Aktivist*innen haben sich gegen diese physische Gewalt zur Wehr gesetzt. Der Versuch der Einschüchterung war nicht erfolgreich. Nach kurzer Zeit des Laufens erschienen zahlreiche Polizist*innen in kompletter Kampfausrüstung und schnitten mit einer Kette den Queers for Palestine Block und die dahinter laufenden Demonstrant*innen vom kurzen Frontblock ab. Die Organisator*innen des Radical Queer March gaben der Polizei an, dass der Queers for Palestine Block nicht zum Radical Queer March gehöre und nicht willkommen sei. So forderte die Polizei von dem bis dahin auf 500 Menschen angewachsenen Queers for Palestine Block, den Radical Queer March durchlaufen zu lassen, während der Weg für den antikolonialen Block versperrt blieb. Die Demonstrierenden des Queers for Palestine Blocks forderten jedoch ein, weiterlaufen zu dürfen. Die Parole „it’s not radical to call the police“ (Es ist nicht radikal, die Polizei zu rufen) hallte durch die Reihen. Diese hoch angespannte Situation hätte sehr leicht eskalieren können und zu Verletzungen und Ingewahrsamnahmen von Demonstrant*innen führen können. Auch Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und Menschen ohne Papiere, die sich im antikolonialen Block aufhielten hätten ernsthafte Konsequenzen hieraus bekommen können.

„Indem du die Polizei rufst, hast du dich weiter in rassistische und fremdenfeindliche Politik vertieft, den nicht-weißen Körper als den gefährlichen, nicht gebändigten, hasserfüllten und unzivilisierten“ darzustellen, so Leil Zahra. Nach einiger Zeit der Angst und Verwirrung, dämmerte es wohl den Organisator*innen des Radical Queer March, dass es politisch katastrophal ist, die Bullen auf die wenigen nicht-weißen Teilnehmer*innen einer „linken“ Demo zu hetzen. Die Polizei zog jedoch erst ab, als sich der Radical Queer March ohne den Queers for Palestine Block bereits weiterbewegt hatte. Der Radical Queer March ließ also einen großen Block von antirassistischen, antikolonialen und antiimperialistsichen mehrheitlich nicht-weißen Queers allein mit der Polizei zurück. Jegliche Behauptungen im Nachhinein, die Organisator*innen des Radical Queer March hätten die Polizei nicht gerufen ist somit irrelevant, da sowohl im Vorhinein in Sozialen Medien genau der Rückgriff auf die Repressivkräfte des Deutschen Staates angekündigt wurde, als auch die Tatsache, dass bei der Polizeikette keine*r der Organisator*innen des Radical Queer March eingeschritten ist für sich spricht.

Das erste Gefühl welches sich im Queers for Palestine Block breit machte war, trotz niedriger Erwartungen, Fassungslosigkeit. Wie konnten diese selbsternannte radikalen Queers die Polizei auf Migrant*innen, Asylsuchende und andere hetzen? In der deutschen Polizeigeschichte sind zahlreiche rassistische Angriffe und Morde an Schwarzen, migrantischen, asylsuchenden, Trans und queeren Menschen bekannt. Hätte man wirklich einen Dialog führen wollen, dann hätte im Vorhinein ein Plenum einberufen werden müssen um sich argumentativ auszutauschen und die Frage zu stellen: Was bedeutet queere linke Politik heute? Die Organisator*innen des Radical Queer March entschieden sich jedoch dafür, mit dem repressiven Staatsapparat gegen „die Anderen“, die Ausländer*innen, die Unliebsamen zu arbeiten.

Dies ist nicht nur ein Verrat an radikale queer-feministische Politik, sondern auch ein Verrat an die einstigen Aufstände gegen brutale Polizeirazzien und Repressalien in Stonewall Inn 1969, die die Geburtsstunde für die weltweite radikale Lesben- und Schwulenbewegung war. Denn hier waren es proletarische Schwarze und Latinx Queers – mitunter viele Sexarbeiter*innen –, die sich gegen die rassistische, homo- und transfeindliche Politik der Stadt New York aktiv zur Wehr setzen.

Bis Redaktionsschluss gab es keine Stellungnahme des Radical Queer March Berlin zu den Geschehnissen am Samstag. In den Sozialen Medien regnet es jedoch nur so von Rechtfertigungen, die es leider auch in linke Medien schaffen, wie ein tatsachenverdrehender Artikel im neuen deutschland zeigt.

Wir müssen uns organisieren!

Insgesamt war der Queers for Palestine Block spontan und kurzfristig ins Leben gerufen worden. Folglich war dieser recht unorganisiert. Die Menschenmasse war recht lose, und unkontrolliert. Es gab auch keine klaren Ansagen. Der antikoloniale Block hat es jedoch immer wieder geschafft, sich zu sammeln. Improvisierte Parolen wurden genauso gerufen wie alt-bekannte aus der antipatriarchalen, antikapitalistischen und Palästina-solidarischen Bewegung. Trotz aller Hindernisse entstand so ein Gefühl des starken kollektiven Zusammenhaltes. Der Queers for Palestine Block wurde außerdem immer größer, da auch Teilnehmende des Radical Queer March sich ihm anschlossen.

Das anarchistisch-feministische Hausprojekt Liebig34 zeigte sich solidarisch und sagte die After-Demo-Party des Radical Queer March kurzerhand ab, da sie die Zusammenarbeit mit der Polizei und schon gar nicht diese für die Durchsetzung der eigenen politischen Ziele zu nutzen tolerierten. Auf Twitter schrieben sie: „Keine Bullen bei Pride! Wir denken nicht, dass es Zeit für eine Party ist, nach dem, was heute in #radicalqueermarch passiert ist. Also sagen wir die Party bei #Liebig34 ab.“

Ein voller Erfolg: Doch wie geht es weiter?

Trotz der unsicheren Situation, und der möglichen Gewaltaussetzung in dieser Demo, versammelten sich viele mutige Menschen, die ihre gelebten Realitäten von Rassismus und kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung nicht länger von weißen linken, selbsternannten Radikalen bestimmen lassen und zum Schweigen gebracht werden wollten. Das wahre Gesicht der heuchlerischen weißen, mal sich „antinational,“ mal „antideutsch“ nennenden Linken ist an diesem Tag deutlich zum Vorschein gekommen.

Letzten Samstag konnte jedoch auch gezeigt werden, dass palästinensische, jüdische, pro-palästinensische und solidarische Stimmen mit antikolonialen Kämpfen nicht länger zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen werden können. Auch und vor allem nicht in queeren und feministischen Räumen. Die Organisator*innen des Queers for Palestine Block sind überwiegend queere Frauen*, die sich aktiv für ein freies Palästina einsetzen und in verschiedenen politischen Gruppen arbeiten. Weitere Aktionen sind in den kommenden Wochen und Monaten geplant. Nach der Demonstration wurde in einer großen Feedback-Runde Ideen gesammelt, wie eine Demonstration kontrollierter und organisierter verlaufen müsste, wie man sich besser vernetzen kann und welche konkreten Methoden, Strategien zur Mobilisierung genutzt werden können.

Für weitere Vernetzungen, Aktionen und Informationen kann man sich mit den Organisator*innen über die Facebook-Seite Palästina spricht Palestine speaks oder auch mit Berlin Against Pinkwashing in Verbindung setzen.

Der Radical Queer March war nicht radikal. Deutsche Linke haben versucht marginalisierte und antikoloniale Stimmen zu ächten, zu verbannen, zu kriminalisieren, zum Schweigen zu bringen und sind letzten Endes daran gescheitert. Radikal bedeutet nun mal die Probleme an der Wurzel packen, und zwar feministisch, antikolonial, antiimperialistisch und antirassistisch. Alles andere ist Heuchelei.

# Titelbild: Queers for Palestine beim Radical Queer March Berlin am 26. Juli 2019, http://bds-kampagne.de/wp-content/uploads/2019/07/Radical-Queers-March-2019-mit-Pal%C3%A4stinenserinnen-und-Fahne.jpg

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In Berlin organisieren sich seit gut drei Jahren Auszubildende aus den 15 verschiedenen Pflegeschulen der Stadt. Im Rahmen dieser regelmäßigen unabhängigen Pflegestammtische wird jährlich die »Walk-of-Care«-Demonstration für bessere Bedingungen in der Pflegeausbildung organisiert. Dieses Jahr fand die Demo zum ersten mal zeitgleich in Berlin, Stuttgart, Aachen und Hamburg statt. Wir sprachen mit zwei Pfleger*innen aus Berlin über den Ruf der Pflege und ihre Vorstellungen für ein würdiges Gesundheitssystem.

Last uns doch einfach damit anfangen was der Pflegestammtisch ist und wer sich dort organisiert. Wann ging das denn los und mit welcher Intention seit ihr gestartet?

Daria: Los ging es damit, dass es eine große Demotivation während der Ausbildung gab. Wir haben festgestellt, dass wir uns untereinander eigentlich gar nicht kannten. Wir wussten nicht, was an anderen Schulen so läuft und wir kannten auch kaum Leute aus den anderen Kursen.

Dann haben einige angefangen sich untereinander zu vernetzen. Auch mit den anderen Schulen. Welche Probleme habt ihr? Was steht bei euch im Fokus? Worüber können wir uns austauschen? Vor uns haben ja schon so viele die Ausbildung gemacht. Es sind ja auch immer wieder ähnliche Probleme. Können wir diese negative Stimmung gemeinsam überwinden und das Schlechte, was generell über diese Ausbildung gesagt wird, wieder in ein positives Bild wandeln. So ist der Stammtisch als Vernetzung von Auszubildenden entstanden. Das war Ende 2015.

Andre: Es ist einfach auch krass zu sehen, was passiert. Viele Jugendliche haben ja auch eine Sehnsucht, mehr zu machen. Einen Sinn und Zweck in ihrer Arbeit zu sehen und sich für ihren Beruf zu engagieren. Nicht umsonst gibt es an den DRK-Kliniken mittlerweile die BIZ-Pflegekonferenz, bei mir an der Wannseeschule gibt es ebenfalls jedes Jahr eine Konferenz, die wir Auszubildenden organisieren.

Aus der Vernetzung ist dann auch schnell der »Walk of Care« entstanden. Welche Forderungen habt ihr seitdem formuliert? Habt ihr damit schon etwas bewirkt?

Daria: Also es gibt ein paar Forderungen, auf die wir uns im Kollektiv geeinigt haben. Zum einen, dass die Personalbemessung am Pflegebedarf gemessen werden muss und nicht an irgendwelchen Untergrenzen, wie es derzeit der Fall ist. Wir wollen auch eine gute Regelung für Fort- und Weiterbildung. Also beispielsweise Freizeitausgleich und Bezahlung, denn das findet ja neben der eigentlichen Arbeit statt und ist notwendig, um gut arbeiten zu können.

Es gibt auch die Forderung, dass wir eine gute Praxisanleitung brauchen. Das sind die Menschen, die uns zeigen, wie der Beruf praktisch geht. Das ist leider in vielen Fällen nicht selbstverständlich.

Das liegt auch daran, dass die Pflegekräfte auf den Stationen meistens total ausgelastet sind mit der Arbeit und keine Zeit für die Schüler*innen haben.

Es ist halt etwas anderes wenn du Sachen in der Schule theoretisch lernst, aber dann auf Station mit Menschen zu tun hast, und es immer ordentlich machen musst. Das ist ja am Ende auch eine Gefährdung für Patienten, wenn du es dort nicht praktisch lernst. Das will niemand von uns. Dieser unmögliche Spagat zwischen Theorie und Praxis fördert auch ungeheuer die Frustration bei uns jungen Leuten. Das ist ein innerer Konflikt den wir Schüler*innen mit uns selbst ausfechten müssen und der dazu führt, dass viele einfach die Reißleine ziehen. Wir haben innerhalb der Pflegeausbildung eine der höchsten Abbruchquoten. Ungefähr jede dritte Person bricht die Ausbildung ab. Auch deshalb haben wir den Pflegestammtisch gegründet.

Wie waren denn die Reaktionen auf eure Forderungen bei den Kolleginnen und Kollegen?

Daria: Ich will noch sagen: Unsere Forderungen sind jetzt nicht super radikal, aber doch richtungsweisend. In den DRK-Kliniken waren einige Auszubildende dermaßen frustriert. Die wollten einfach streiken, weil niemand auf sie gehört hat. Aus dieser Drohung ist dann die selbstorganisierte Pflegekonferenz entstanden. Das war ein großer Erfolg für uns.

Andre: Generell finden die Auszubildenden die Forderungen super. Sie würden ja massiv davon profitieren. Auf den Stationen ist es sehr unterschiedlich. Da merkt man, wie die Rahmenbedingungen auf manche Menschen über Jahre schon eingewirkt haben. Mir wird dann gesagt: „Ja ja, fordert mal. Es wird sich eh nix ändern.“ Die haben innerlich schon den Pflexit gemacht und mit dem Beruf an sich abgeschlossen.

Daria: Sie haben halt die Hoffnung aufgegeben, dass sich was ändert. Ich glaub viele wollten vor uns den Kampf schon kämpfenm aber wussten vielleicht nicht wie und jetzt haben sie keine Kraft mehr. Da war sicher auch oft die persönliche Grenze erreicht. Wir haben einfach Glück, dass wir die Gruppe haben.

Beschäftigt ihr euch als Auszubildende auch mit den allgemeinen Forderungen für ein Ende der Ökonomisierung der Pflege und mehr Personal im Krankenhaus?

Daria: Natürlich ist es für uns alle auch Thema, denn wir werden ja bald auch selbst damit konfrontiert sein. Allerdings haben wir im Rahmen des Stammtischs auch keine einheitliche Meinung dazu. Aber wir sprechen natürlich darüber.

Andre: Mich beschäftigt schon die Frage, ob ein Krankenhaus wirklich Gewinne erwirtschaften muss. Das ist ja ein riesiger ethisch-moralischer Konflikt, dass Unternehmen Gewinne erwirtschaften und Renditen zahlen mit Menschen, die krank sind. Das ist dann aus meiner Sicht auch gesellschaftlich eine zentrale Frage. Wollen wir Krankheit wirklich mit einem Preis versehen?

Es gibt ja genügend Leute die sagen: „Der Markt wird das schon richten“. Nein tut er eben nicht und das zeigt die Pflege. Diese ganzen Rahmenbedingungen führen dazu, dass in der Pflege die Verweildauer nur 8-12 Jahre ist. Das ist einfach nicht viel und das motiviert auch niemanden, in diesem Beruf zu arbeiten. Aber das wollen wir zusammen ändern.

# Der Autor Björn Tvätt arbeitet in der Redaktion der Weddinger Stadtteilzeitung „Plumpe“ und in Nachbarschaftsinitiative „Kiezkommune Wedding“

#Bildquelle: Facebook, @PflegeKultur

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Stadtteilarbeit in Berlin: Die »Kiezkommunen«

Vermummte Gartenzwerge lauern hinter den noch kaum einen halben Meter hohen Tomatensträuchern des frisch zurecht gemachten Vorplatzes. Achtlos dreht sich ein junger Mann, der gerade mit dem Gartenschlauch das Beet wässert, um und erwischt versehentlich den kaum zwei Meter entfernt geparkten Wagen, in dem zwei Zivilpolizisten lungern. Die Schlapphüte düsen ab, die rund zwanzig vor der Berliner Waldemarstraße 110 sitzenden Nachbar*innen lachen. Die Sonne scheint, man gönnt sich Kuchen und Kaffee, an einem Tisch wird über Besuche bei politischen Gefangenen diskutiert, an einem anderen spielt man Skat und zwei junge Frauen schrauben eine neue Info-Tafel an ein Holzgerüst.

Der kleine Vorplatz gehört zu einem – relativ – neuen Kiezladen in Kreuzberg, dem »Mahalle«. Seit etwas weniger als einem Jahr gibt es hier Essen, Filme, Info-Veranstaltungen – und den Versuch, der revolutionären Linken in Deutschland ein neues, tragfähiges Fundament zu bauen.

»Wir machen das jetzt schon eine Weile«, sagt Miles lächelnd. »Aber wir haben gedacht, dass es am Anfang keinen Sinn macht, irgendwelche Absichtserklärungen in die Welt hinauszuposaunen«, so der 27-Jährige. »Erstmal in der eigenen Nachbarschaft was erreichen, dann kann man immer noch im Internet drüber schreiben«, sei die Devise.

Das, was Miles und ein paar Dutzend seiner Genoss*innen schon eine Weile machen, ist politische Aufbauarbeit in Stadtteilen Berlins. Im Wedding, Kreuzberg-Neukölln und in Friedrichshain gibt es bislang Sektionen des Projekts, das sich »Kiezkommune« nennt.

Im Kiez – aus dem Kiez – für den Kiez

»Für Kreuzberg und Neukölln liegt einer unserer Schwerpunkte gerade hier im Laden«, erzählt Emma, eine der Info-Tafel-Schrauberinnen. Man habe einen Raum schaffen wollen, der offen ist für die Nachbarschaft, nicht subkulturell, aber dennoch nicht unpolitisch. »Wir nutzen den Laden als Anlaufpunkt. Es kommen oft Einzelpersonen oder Initiativen, weil sie wissen, wir sind da ansprechbar. Aber wir machen auch wöchentlich Veranstaltungen, bereiten Demonstrationen und Aktionen vor – solche Sachen eben«, sagt Emma.

Inhaltlich drehe sich viel um Verdrängung und Mieten, aber auch Touristifizierung sei ein Thema, das in der Nachbarschaft ziehe. »Wir haben uns vor ein paar Monaten an einer Initiative von Kreuzbergern gegen den Neubau eines großen Hotels hier im Eck beteiligt. Das Ding wird jetzt nicht gebaut, was ein toller Erfolg ist. Aber das Thema bleibt«, erklärt Emma. Deshalb sei derzeit auch jeder zweite Samstag dem Kampf gegen Touristifizierung, AirBnB und Hotels gewidmet. »Das betrifft viele Anwohnerinnen und Anwohner«, weiß die 25-Jährige auch aus eigener Erfahrung. »Schon dieses dauernd fotografiert werden, als wäre man im Zoo, nervt. Aber klar, noch schlimmer ist, dass alles auf die Bedürfnisse des Tourismus zugeschnitten wird, dass Ferienwohnungen entstehen, wo wir Wohnraum brauchen. Und Yuppie-Boutiquen, wo wir früher bezahlbare Lokale hatten.«

Dennoch, sagen Miles und Emma, sei man keine Stadtteilinitiative, die nur zur Wohnungs- und Mietproblematik arbeite. Ein Frauen*-Café und ein autonomes Frauen*treffen sind an die Kommune angebunden, Jugendliche organisieren sich unter dem Label »Kreuzberg United« und machen Kampfsport oder Brunch im Laden. Man wolle mittelfristig eine Art Rätestruktur aufbauen, die sich um alle Belange der Nachbarschaft kümmert, beschreibt Miles die Ziele. »Als hier mal ein Nazi bei einem Lebensmittelgeschäft am Kotti gearbeitet hat, haben wir das natürlich auch als unsere Aufgabe gesehen, den loszuwerden. Und in Zukunft wollen wir auch mehr zu Arbeitskämpfen machen, gerade auch, wenn die so entschlossen sind wie zum Beispiel der kürzlich beim Wombat‘s Hostel«, schwärmt der arbeitslose Informatiker.

Wie aber die jeweiligen Kommunen arbeiten, hängt von den jeweiligen örtlichen Bedingungen ab. Im Wedding entsteht zwar derzeit ebenfalls ein neuer Laden, aber bislang bedienten sich die dortigen Genoss*innen eher anderer Mittel: militanter Untersuchungen und der Kiezzeitung »Plumpe«.

Gegenmacht und Revolution

Wenn auch der Schwerpunkt auf der lokalen Arbeit liegt, soll die »Kiezkommune« doch kein auf einen Stadtteil beschränktes Projekt sein. In einem kürzlich von den Kiezkommunen Wedding, Friedrichshain und Kreuzberg-Neukölln sowie der Gruppe radikale linke berlin (rlb) gemeinsam veröffentlichten Strategiepapier heißt es: »Von Beginn an soll daher der Aufbau der lokalen Organe der Gegenmacht mit ihrer Koordinierung und Verknüpfung auf überregionalem Niveau einher gehen«. Gegenmacht bedeute dabei zum einen, »die Fähigkeit, Dinge, die uns nicht passen, verhindern zu können. Wenn ein Nazi-Aufmarsch nicht durch den Kiez läuft, ist das Gegenmacht. Wenn ein Hotelbau nicht umgesetzt werden kann, ist das Gegenmacht. Wenn ein Betrieb eine Kündigung zurücknehmen muss, ist das Gegenmacht.« Aber: Zum anderen besteht Gegenmacht aber nicht nur im Verhindern, sondern auch im Aufbauen und Entwickeln. Wenn wir unser eigenes Zusammenleben organisieren können, ist das Gegenmacht; wenn im Kiez nicht die Bullen, sondern die Kommune gerufen wird, um Konflikte zu regeln, ist das Gegenmacht; wenn wir unsere Reproduktionsarbeit kollektiv gewährleisten können, ist das Gegenmacht.«

Letztlich gehe es, so formuliert der Text, um nicht weniger als die Revolution: »Dass die Herrschenden dieses Schaffen anderer Beziehungen, sobald es ihnen gefährlich wird, blutig unterdrücken, zeigt auch die Geschichte der Räterepublik, von der Landauer schrieb. Letztlich also wird auch an einem bestimmten Punkt des Aufbaus von Gegenmacht der Angriff der Herrschenden kommen. Bevor sie nicht ganz und vollständig entmachtet sind, bleibt auch der Aufbau von Gegenmacht vorläufig. Ein dynamisches Sozialismus-Konzept schließt insofern immerdie Notwendigkeit umfassender Selbstverteidigung mit ein.«

Betonen wollen Emma und Miles vor allem die veränderte Einstellung zur Gesellschaft, die ihrer heutigen Arbeit zugrunde liegt. »Ich komme aus eher klassischer Antifa-Arbeit, die viel über Abgrenzung gegen andere funktioniert hat«, sagt Emma. »Aber in den vergangenen Jahren bin ich wie viele andere zu dem Schluss gekommen, dass wir gar nichts erreichen können, wenn wir uns nicht als Teil der Gesellschaft verstehen und sie als ihr Teil von innen verändern.« Das müsse man aber auch neu lernen. »Deshalb legen wir nach innen viel Wert auf Bildung und auf das neue Erlernen einer Arbeitsweise, die offen und ansprechend ist. Aber auch auf die Ausgestaltung der genossenschaftlichen Beziehungen unter uns«, ergänzt Miles.

Große Ziele

Das zeige auch Erfolge. Und die wiederum machen die Arbeit für die Aktivist*innen bei aller Anstrengung schön. »Allein als letzte Woche drei ältere Frauen am Laden vorbeikamen und sagten: Ihr seid doch Sozialisten, ich find‘s gut, dass es endlich wieder nen sozialistischen Laden hier gibt«, das gibt richtig Kraft«, lacht Miles. In der Tat scheint der Laden und mit ihm die Kommune gut in die Nachbarschaft integriert.

Das aber reicht den Aktivist*innen lange nicht. »Wir arbeiten auf mehrere hundert Kiezkommunen in der Stadt hin, dann vernetzen wir das deutschlandweit und werden zum Kern des kommenden revolutionären Aufstands in Europa«, sagt Miles lächelnd. Bis dahin sei aber noch ein weiter Weg zu gehen, nach innen wie in der Vermassung des Konzepts.

»Wir haben viele Neubeitritte und da legen wir Wert darauf, uns gemeinsam weiter zu entwickeln. Außerdem müssen wir unsere Arbeitsfelder ausdehnen, da sind wir oft noch zu sehr auf einzelne Themen beschränkt«, stellt der Informatiker fest. Aber am Ende sei klar: »Für weniger als das Ende von Kapitalismus, Staat und Patriarchat lohnt sich die ganze Nummer ja nicht.«

Infos: www.kiezkommune.org

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen […]

Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den […]

Ein Jahr weltweiter Corona-Pandemie liegt hinter uns. Ein Jahr, bestimmt durch „Lockdown“ und Unsicherheit. Ein Jahr, dass immense Gewinne für […]

Bei Gewerkschaften denkt man vor allem an jene Arbeiter*innenverbände, welche die wirtschaftlichen und sozialen Interessen von Lohnabhängigen gegenüber den Arbeitgeber*innen […]

Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man […]

Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, […]

Die an vermeintlichen „Ermittlungspannen“ reiche Geschichte der Serie von rechten Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Drohungen in Neukölln bewegt sich einem weiteren […]

Übersteht die erodierende Eurozone die zunehmenden Auseinandersetzungen um die gegenwärtige Krisenpolitik, die in Brüssel wie in Berlin toben? In der […]

Gastbeitrag von Migrantifa Berlin zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den deutschen Faschismus In Deutschland wird am 8. […]