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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna

Der Bund der Kommunist*innen gehört als Teil des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“ zu den Organisator*innen der Revolutionären 1. Mai Demo in Berlin. Ist das nicht mittlerweile eher überholte linke Folklore?

So leichtfertig sollte man die Bedeutung der Demonstration nicht abtun: Sie gehört immer noch zu den größten regelmäßig stattfindenden Demonstrationen in Deutschland. Sie ist zehnmal größer als die Demo des DGB, die vormittags stattfindet und hinter der ein ganzer Gewerkschaftsapparat steht. Und sonst wird man dem Tag, dessen Tradition eine wichtige, nicht nur symbolische Bedeutung für die Arbeiter:innenklasse hat, auch nicht gerecht. Es geht um die Rechte der Arbeiter:innen und Ausgebeuteten. Es geht darum, sich zu wehren, grade in Zeiten von Wirtschaftskrise und nationalistischem Kriegstaumel. Wie kann das überholt sein? Natürlich bleibt es wichtig, genau diese Demonstration weiter zu führen.

Aber ähnelt es mittlerweile nicht eher einem Schaulaufen für Touris und die Leute kommen eigentlich nur noch, weil sie alten Kreuzberger Glamour erwarten? Konkret frage ich mich: Ist es die Arbeiter:innenklasse, die am Arbeiter:innenkampftag um 18 Uhr mit der Revolutionären-1.-Mai-Demo durch Neukölln und Kreuzberg ziehen wird?

Auch, na klar. Vermutlich nehmen an der revolutionären Demo mehr Arbeiter:innen teil, als an den meisten anderen Demonstrationen. Klar sind die Leute durchschnittlich eher jünger als bei der DGB-Demo, viele gehen halt noch zur Schule oder studieren. Dennoch sind sie Teil der Klasse und werden spätestens nach ihrer Ausbildung ebenso in den kapitalistischen Verwertungsfleischwolf geworfen wie die von uns, die arbeiten. Und natürlich kommen sie auch, weil wir eben die Klassenwidersprüche aufzeigen und Lösungen dafür anbieten.

Und wie sind die Lösungen?

Brot, Frieden und Sozialismus: Die Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen dürfen nicht auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht diejenigen, die eh schon wenig haben, nun auch noch am meisten unter der Inflation leiden. Konkret muss es also um höhere Löhne gehen, vor allem um bessere Tarifabschlüsse. Wir haben jetzt einen Verlust unserer Kaufkraft und brauchen auch jetzt mehr Geld, nicht erst in einem Jahr höhere Löhne. Es geht um Frieden in der Ukraine – aber auch im Jemen, Libyen, Afghanistan und überall. Das massenhafte Abschlachten der Armen für die Profitinteressen der Reichen muss ein Ende finden. Sofort.
Wir müssen über Aufrüstung reden, wofür Geld im Überfluss vorhanden ist und das gegenüberstellen zu allem, wofür angeblich kein Geld da ist, wie Schulen, Kitas, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne, die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Aber bekommt man das nicht besser hin im Schulterschluss mit den anderen Teilen der Arbeiter*innenklasse, konkret also dem DGB?

Der DGB kann natürlich gerne bei uns mitlaufen, wenn er sich hinter die Forderungen eines Revolutionären 1. Mai stellt. Wir werden ja auch vormittags auf der DGB-Demo mitgehen. Ob da jetzt alle 20.000 kommen werden, die abends zu uns kommen? Wahrscheinlich eher nicht, aber der organisierte Teil ist da.

Wie ist denn die Perspektive über den 1. Mai, über den hohen Feiertag hinaus? Wie geht es am 2. Mai weiter?

Unser Fokus liegt auf der Arbeit in und um unsere Kiezläden, der Roten Lilly in Neukölln, der Kommune65 im Wedding und dem Café Wostok in Lichtenberg, also konkret in der Stadtteilarbeit unserer Stadtteilkomitees. Da haben wir einen Einfluss auf den Kiez und bauen eine Linke von unten auf. Nachdem traditionelle Gruppen wie FelS, Avanti und ALB in der Interventionistischen Linken aufgegangen sind, haben deren Vertreter*innen leider faktisch überhaupt keine Vernetzung mehr in der Klasse, die meisten anderen postautonomen Gruppen sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Uns geht es um revolutionäre Stadtteilarbeit. Wir organisieren unsere Nachbarschaft. Bei uns gibt es Sozialberatung, Hilfe bei Problemen mit dem Vermieter, Sprachschulen, Veranstaltungen, Lebensmittelausgaben, Kiezkantinen und machmal sogar Kino. Natürlich ist die Resonanz jeweils unterschiedlich, aber es stößt in jedem Fall auf Interesse. Auffällig dabei ist, dass eine klare kommunistische Perspektive im Kiez ankommt.

Woran machst du das fest?

Naja, man merkt ja schon, dass etliche Leute einerseits nachfragen, und andererseits auch klare Positionen einfordern und wir verstecken unsere Gesinnung ja auch nicht. Die Leute lassen sich nicht mit hohlen Phrasen abspeisen und der Behauptung, dass man nur einzelne Stellschrauben oder einzelne Gesetze ändern müsste, und dann ginge es ihnen besser. Die Menschen werden im Wortsinne radikaler, gehen an die Wurzel der Probleme und wollen grundlegende Veränderungen. Ja, das ist natürlich die Systemfrage und es ergibt keinen Sinn so zu tun, als würde man diese Systemfrage nicht stellen, nur um gefälliger zu sein.

Revolutionäre 1. Mai Demonstration in Berlin 17:00 U-Boddinstraße
„Brot, Frieden, Sozialismus – Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!“

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Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten Problembezirken und versprechen vollmundig Besserungen für die Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine soziale Verbesserungen in den Kiezen. Auf dem schleunigst einberufenen „Gipfel gegen Jugendgewalt“ wurden 29 Maßnahmen beschlossen, sowie ein Finanzierungsbedarf von knapp 90 Millionen Euro für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.


Wenn es aber nicht darum geht, Sicherheit und Ordnung im Sinne der reaktionären Presse zu garantieren, sondern Sicherheit und Zukunft für Kinder und Jugendliche herzustellen, ist der staatliche Wille, Geld bereitzustellen in Berlin nicht sonderlich ausgeprägt. An der Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe werden auch die 90 Million Sondervermögen wenig ändern. Bereits im Jahr 2022 wurde bekannt, dass die Berliner Schulen für das nächste Schuljahr mit drastischen Kürzungen würden rechnen müssen. Diese finanziellen Einsparungen hatten bereits Einschnitte in die Gestaltungsmöglichkeiten der Schulen zur Folge. Sie betreffen einen sog. Verfügungsfonds, aus dem Schulen bisher je nach Anzahl ihrer Schülerinnen und Schüler entsprechende Summen zwischen 15.000 und 30.000€ erhalten konnten. Vielen Schulen fehlen nun über 10.000€ für das nächste Schuljahr. Darüber hinaus gibt es in Berlin um die 900 unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren Thema, die Situation verschlechtert sich allerdings nur weiter. Vor der Berlin-Wahl versprachen zwar alle Parteien bessere Personalschlüssel an Schulen, die CDU gar eine 110-prozentige Personalausstattung. Vor der nächsten Wahl wird der Lehrkräftemangel dann wieder Thema sein, denn ändern wird sich faktisch wenig.

Denn nicht nur viele Lehrkräfte verlassen Berlin, auch Erzieher:innen verdienen in anderen Bundesländern besser (Berlin liegt hier auf dem sechstletzten Platz) und finden bessere Arbeitsbedingungen vor. Die CDU will nun sogar noch die Brennpunktzulage für die Arbeit in sog. problembehafteten Kiezen streichen. Pädagogische Arbeit ist an vielen Schulen in Berlin schon jetzt kaum möglich, da es immer mehr Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt und dafür das Personal und die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

In meiner Praxis als Integrationserzieher an einer Grundschule habe ich fast nie Kinder speziell und gezielt fördern können, da die Arbeit fast nur aus Vertretungen bestand. Eine Untersuchung der GEW Berlin zeigt, dass dies die Regel ist und nicht nur persönliches Empfinden. 42 Prozent der Befragten gaben an, nur selten Kinder gezielt fördern zu können, worauf diese jedoch einen rechtlichen Anspruch haben. Zudem wurde für viele Kinder kein Förderstatus beantragt, da es nicht entsprechend viele Integrationserzieher:innen gab, sodass dem Anspruch auf Förderung ohnehin nicht hätte gerecht werden können. Teilweise wurden ganze Klassen wochenlang früher nach Hause geschickt, weil ihre Betreuung nicht gewährleistet werden konnte oder kein Unterricht stattfand. Egal in welchem Bereich, die Kinder- und Jugendhilfe ist in großer Not.

„Man spielt nur noch Feuerwehr“, ist ein Satz, den man im sozialen Bereich häufig hört. Bundesweit sind von den rund 900 in den Jugendämtern zur Verfügung stehenden Stellen knapp 100 unbesetzt. Hinzu kommen viele kranke Mitarbeiter:innen, sowie unzählige, die aufgrund der starken Arbeitsbelastung im sogenannten „Sabbatical“ sind, auf Kur oder im „Hamburger Modell“, mit verkürzten Arbeitszeiten und weniger Arbeitsbelastung. In Berlin bearbeitet eine Fachkraft so viele Fälle, wie in Bayern 2,5 Fachkräfte. Die Zahl der Inobhutnahmen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. In einer Umfrage der AG Weiße Fahnen zur Arbeitsbelastung unter Fachkräften der Jugendämter heißt es, nur 13% der Befragten empfänden ihre Fallbelastung als angemessen, nur die Hälfte fühle sich „gesund und leistungsfähig“ und zwei Drittel gaben an, für gute Entscheidungen nicht genügend Zeit zu haben. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem »Orientierungsrahmen« von 65 Fällen pro Fachkraft, die Gewerkschaft Ver.di fordert eine Obergrenze von 28 Fällen. In der Realität liegen die Fallzahlen pro Fachkraft teilweise bei über 100.

Führt man sich vor Augen, dass es hierbei oft um Fälle des Kinderschutzes geht, wird einem das Ausmaß dieser Katastrophe bewusst. Schon die verspätete Bearbeitung eines Falles kann hier über Leben oder Tod entscheiden. Der Kindernotdienst (KND) ist seit Jahren überlastet, im März schreiben Mitarbeiter:innen in einer Überlastungsanzeige: „Wir können die Kinder, die aufgrund von Misshandlungen oder Vernachlässigungen in ihrem Elternhaus im Kindernotdienst aufgenommen werden, trotz großer Anstrengung nicht vor der gewaltvollen Atmosphäre schützen“. Laut der Jugendverwaltung sind von 33,5 Stellen im Betreuungs- und Kriseninterventionsbereich des Kindernotdienstes eine Erzieher-, und zwei befristete Pflegestellen offen, außerdem eine Hauswirtschaftsstelle. Die Notdienste verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100%. In den letzten fünf Jahren wurden knapp 400 Plätze gestrichen. In einem behördeninternen Brief der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie an die Jugendämter wird darum gebeten, derzeit möglichst keine Jugendlichen in den Berliner Notdienst Kinderschutz zu schicken. Ein abstruser Vorschlag, wo doch der Notdienst die letzte Zuflucht für Kinder bspw. aus gewalttätigen Elternhäusern ist.

Dass die Notlage der Kinder- und Jugendhilfe nicht wieder in der Lumpenkiste versauert und nur bei medial hochgeputschten Skandalen oder bei der nächsten Wahl wieder hervorgeholt wird, dafür müssen die pädagogischen Fachkräfte selbst sorgen. Am 8.2. protestierten bereits die GEW Berlin sowie der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) vor dem Roten Rathaus. Viele weitere Proteste müssen folgen, für bessere Kitas, bessere Schulen, mehr Jugendzentren, besser ausgestattete Jugendämter und für eine Kinder- und Jugendhilfe, die ihrem eigenen Anspruch gerecht werden kann. Wie der Bau der Bullenwache am Kotti oder der wahnsinnigen A100 durch die Stadt zeigen, sind die Gelder da. Es sind bewusste Entscheidung, wofür sie ausgegeben werden und wofür oder für wen nicht.

# Frederik Kunert arbeitet als Sozialarbeiter in Berlin-Mitte und war zuvor einige Jahre an Berliner Grundschulen als Integrationserzieher tätig.

# Titelbild: DBSH, Proteste vor dem Roten Rathaus

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Im Mai hat die Kiezkommune Berlin-Wedding die Veranstaltungsreihe „Nein zum Krieg“ gestartet. Wir haben mit zwei der Organisator:innen, Noemi und Ernesto, gesprochen, wieso sie diese Reihe machen und was das mit ihrer Basisarbeit zu tun hat.

Wir freuen uns, dass ihr Zeit für dieses Interview hattet. Wollt ihr kurz euch und eure Arbeit vorstellen?

N: Ich bin seit etwa zwei Jahren dabei, ursprünglich wollte ich mich feministisch organisieren und bin so zur „Gruppe Ella Trebe“ gekommen, darüber bin ich quasi auch an die Basisarbeit gekommen und hab mich auch vermehrt in die Kiezkommune eingebracht. Wir arbeiten ja in mehreren Kommissionen, zu verschiedenen nachbarschaftlichen Themen bzw. Lebensbereichen der Arbeiterklasse: Bildung, Gesundheit, Geschichte, Gewalt gegen Frauen,Wohnen usw. Da ich selber auch im Kiez wohne, hatte ich natürlich viele Berührungspunkte mit den Alltagsproblemen, die es hier gibt und habe mich auf die kulturellen und sozialen Aspekte fokussiert.

E: Also bei mir gab es erst einmal eine theoretische Annäherung, ich hab irgendwann angefangen mich mit marxistischer Literatur auseinander zu setzen und kam zu einem kommunistischen Selbstverständnis. Es lag natürlich dann auf der Hand, dass ich mich dann auch praktisch einbringen wollte. Irgendwann kam ich auf den Laden und fand in den nachbarschaftlichen Projekten einen guten Ansatz. Es gibt ja einiges bei uns, so Nachhilfe-Angebote, offene Essensausgaben, Kiezspaziergänge, ein offenes feministisches Cafe & Mieter:innen Stammtische und eben auch verschiedene inhaltliche Veranstaltungen. Z.B hatten wir auch in den letzten Monaten eine Filmreihe gemacht in der wir die verschiedenen Themenbereiche zu denen wir arbeiteten vorstellten.

Ihr habt ja schon eine Filmreihe gemacht, in eurer aktuellen Veranstaltungsreihe zeigt ihr ja auch zwei Klassiker, Tarkovskys „Ivans Kindheit“ und „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ . Wie kamt ihr auf diese Reihe?

N: Also es sind ja nicht nur Filme, es gibt auch eine Diskussionsveranstaltung und eine Lesung. Das Kriegsthema ist zurzeit sehr präsent, nicht nur medial sondern auch im Alltag der Menschen im Kiez. Wir kommen ja z.B bei der Essensausgabe oder bei unseren Kiezspaziergängen sehr direkt mit den Nachbar:innen ins Gespräch. Da wird uns viel über die Auswirkungen, die sich in den Preissteigerungen niederschlagen, gesprochen. Teilweise haben Menschen schon Probleme ihre Nahrungsmittel zu kaufen und viele kleine Läden, die eigentlich auch im Kiez verwurzelt sind, heben ihre Preise, weil es sonst einfach nicht klappt. Aber die Frage bleibt ja bestehen: Wie sollen es sich die Menschen noch leisten wenn es immer prekärer wird? Oft ist dann die Haltung wie bei der Bäckerin bei mir um die Ecke, die dann sagt: „NATO und Putin sind doch alle Scheiße.“ Das können wir gut verstehen.

E: Ja vor allem auch seit den letzten Essensausgaben stellen wir uns auch auf Personen ein, die aus der Ukraine wegen dem Krieg fliehen mussten. Also es ist im Kiez schon präsent. Aber ich will auch auf einen anderen Aspekt eingehen. Wir haben die Reihe auch gemacht, weil wir eine Gegendarstellung wollen. Der gängige Diskurs in Deutschland und auch in einigen Teilen der Linken ist eine des Burgfriedens mit den eigenen Herrschenden. Nach dem Motto „Bist du nicht mit uns, dann bist du gegen uns“. Wir halten das für eine falsche Wahl und lassen uns da auch nicht reinzwängen. Trotzdem bestehen ja auch bei uns offene Fragen, wie eine antimilitaristische Praxis heute aussehen sollte. Klar haben wir einige Überlegungen dazu, aber wir denken, da muss aus einer linken und klassenbewussten Perspektive viel mehr gemacht werden. Die Reihe ist für uns ein Denkanstoß.

Ihr habt euch ja entschieden, auf vier verschiedene Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu schauen, wieso genau diese Auswahl?

N: Genau, wir zeigen ja den Film „Iwans Kindheit“, eine sowjetische Produktion zum Zweiten Weltkrieg, haben eine Diskussionsveranstaltung mit Genossen aus dem Iran, die zur Zeit des ersten Golfkriegs den Krieg boykottierten und Menschen zur Flucht verhalfen. Dann gibt es noch den Film „Dr.Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“, der sich mit dem Thema Atomkrieg auseinandersetzt. Als letzte Veranstaltung ist dann die Lesung aus „Im Westen nichts neues“, der ja der Antikriegsroman schlechthin ist.

E: Auf den ersten Blick scheint es etwas zusammenhangslos, aber wir haben uns bewusst für vier Aspekte entschieden, die uns in den letzten Wochen viel begegnet sind und wo wir denken, dass ein Blick in die Geschichte sehr fruchtbar sein kann. Natürlich ist das nicht ein umfassender Blick und es ist auch keine Analyse der aktuellen Lage. Aber wir denken, dass gerade der Blick in die Geschichte viele Anknüpfungspunkte für uns heute liefern kann.

Gerade die moralistische Argumentation, der wir in Deutschland begegnen, halten wir für gefährlich. Es wird dann Geschichtsrevisionismus betrieben und gesagt, dass es der erste Krieg seit 45 in Europa sei. Als ob es kein Jugoslawien gegeben hätte. Oder es werden gezielt Begriffe wie Vernichtungskrieg und Genozid kultiviert. Dass im Jemen seit 8 Jahren bombardiert wird oder aktuell wieder kurdische und ezidische Gebiete von der Türkei angegriffen werden, spielt dann aber keine Rolle. Vor allem wird sich gesellschaftlich zu selten gefragt, wieso es keine Rolle spielt.

N: Um wieder zu deiner Frage zurück zu kommen. Den ersten Film zeigen wir zum Anlass des Jahrestags der Befreiung. Es gab die letzten Wochen ja vermehrt Anschläge auf sowjetische Denkmäler. Wir denken es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn die Befreiung vom Faschismus mit russischem Nationalismus vermischt wird. Es sind genauso wenig „russische“ Denkmäler wie der Angriffskriegs Russlands „antifaschistisch“ ist. Das Gedenken an die 15 Völker der UdSSR und all jene Menschen, die ihr Leben für die Befreiung Europas vom Faschismus gaben, lässt sich für uns nicht nationalistisch vereinnahmen oder verklären.

Zu der Diskussionsveranstaltung in der zweiten Maiwoche: Es war uns wichtig, dass wir Fragen thematisieren können, die auch uns selbst beschäftigt haben. Sollte man sich auf die Seite einer Kriegspartei schlagen? Wie verhält es sich mit dem Recht auf Selbstverteidigung? Was heißt es, zu desertieren? Wir denken, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die in Situationen waren, die Analogien aufweisen, kann uns da voran bringen. Es ist nicht der erste Krieg in der Geschichte und es gibt eben auch Erfahrungen, auf die wir als Linke zurückgreifen sollten, anstatt aus dem Bauchgefühl zu agieren. Vor allem sich dabei auf Ereignisse in Europa zu beschränken und andere historische Erfahrungen zu ignorieren ist kurzsichtig.

E: „Dr.Seltsam“ ist ja recht bekannt. Es geht um den Kalten Krieg,um die Atombombe, es ist eine Satire auf die Absurdität und zugleich das unmessbare Grauen, welches damit einhergeht. Wir sind auf das Thema gekommen, als wir darauf aufmerksam wurden, wie der Vorsitzende der Heinrich Böll Stiftung in Kiew von nuklearen Angriffen auf Russland sprach. Der ganze Diskurs ist absurd aber es werden ja auch konkrete Schritte unternommen. Russland will seine Atomwaffen an die Westgrenzen verlegen, Polen bittet die USA dort Waffen in Stellung zu bringen. Es wird zugleich vor Panikmache gewarnt, aber auch normalisiert, über die Möglichkeit eines Atomkriegs zu fabulieren.

Unsere letzte Veranstaltung soll uns nochmal an das Grauen des ersten Weltkriegs erinnern, daran, dass jeden Tag junge Menschen aus Zwang oder Nationalismus sterben und dass ein kapitalistischer „Krieg bis zum Sieg“ für die einfachen Menschen immer eine Niederlage bedeutet. Dass das „Heilige Vaterland“ gerade hierzulande mit einer heiligen „westlichen Demokratie“ oder „Freien Welt“ ersetzt wird, die Kriegstreiberei der Herrschenden aber die gleiche bleibt.

Ihr habt ja angerissen, dass euch persönlich auch viele Fragen aufgekommen sind, welche waren denn diese?

N: Einiges haben wir ja aufgegriffen, aber klar, es stellen sich auch noch unzählige Fragen z.B auch aus feministischer Perspektive: Es gab es ja auch Fortschritte für queere Menschen in der Ukraine und jetzt sind sie auch nochmal auf anderen Ebenen von den Konsequenzen des Kriegs betroffen, also dass z.B trans Personen das Land nicht verlassen können oder wie geflüchtete Familien von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Der Krieg ist komplex und dass suggeriert wird, es wäre ja ganz einfach, stimmt nicht. Die verschiedenen Faktoren von Wirtschaftsinteressen und Machtpolitik, der historischen Rolle vom Nationalismus bis zu z.b Rassismus an den Grenzen usw., spielen eben eine Rolle. Wir hoffen, mit unserer Reihe die Diskussion darum, wie antimilitaristische Politik in diesem Zusammenhang aussehen kann und vor allem wie sich eine solche Praxis im Kiez und mit der Nachbarschaft umsetzen lässt, anregen zu können.

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Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen USA mehrtägige Streiks begannen, kämpften die Arbeiter:innen um eine Reduzierung der Arbeitszeit von zwölf Stunden. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren miserabel. Für die zwölf Stunden Schufterei gab es im Schnitt lumpige drei Dollar, Gegenwert eines mageren Essens im Restaurant. In Chicago/Illinois kam es im Zuge der Streiks zum sogenannten Haymarket Massacre, als die Polizei das Feuer auf die dort versammelten, unbewaffneten Arbeiter:innen eröffnete und Dutzende tötete. Die Ereignisse begründeten die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiter:innenklasse.

Dass die Polizei am 1. Mai 2022 auf Demonstrant:innen scharf schießt, ist eher unwahrscheinlich. Auch ist der Acht-Stunden-Tag bereits Realität und sonst manches besser geworden in der Arbeitswelt seit 1886, zumindest hierzulande. Insofern geht es am diesjährigen Kampftag der Arbeiter:innenklasse um weniger als damals – aber eben zugleich um so viel mehr. Zwei Jahre Pandemie haben die Gesellschaft weichgekocht und neue Möglichkeiten der Observanz, Kontrolle und Repression eröffnet. Das schuf eine gute Grundlage für das, was wir seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine erleben. Es werden Weichen für eine Aufrüstung und Militarisierung ohnegleichen gestellt.

Die Kehrseite: Die Herrschenden sind dabei, die hinteren Wagen abzukoppeln. Die „Überzähligen“, „Unnützen“ liegen ihnen nur noch auf der Tasche. Es droht ein umfassender Sozialabbau, eine Forcierung der Umverteilung von unten nach oben. Um all das abzusichern wird die Repression weiter angezogen. Vor diesem Hintergrund kann es für diesen 1. Mai nur ein Motto geben:

Raus auf die Straße! Widerstand leisten gegen die offensichtlichen Faschisierungstendenzen!

Noch ist die Ausgangslage gut, noch ist die Öffentlichkeit da. Darum ist es so wichtig, Versuche beim Namen zu nennen und energisch zu bekämpfen, wie momentan etwa in Berlin, wo versucht wird, das Demonstrationsrecht durch die Hintertür zu kassieren. In der Hauptstadt will gerade ein ebenso reaktionärer wie größenwahnsinniger Bezirksfürst namens Martin Hikel die Revolutionäre- 1. Mai- Demo von Neukölln nach Kreuzberg torpedieren.

Hikel ist der Bezirksbürgermeister von Neukölln, auf diesem Posten Nachfolger des Protofaschisten Heinz Buschkowsky und dessen Ziehtochter Franziska Giffey, die es auf den Stuhl des Stadtoberhauptes geschafft hat. Aus seiner rassistischen Gesinnung hat der 2,08 Meter große SPD-Mann gleich zu Anfang kein Hehl gemacht. Er zog die Razzien in Neukölln auf, die sich angeblich gegen „Clan-Kriminalität“ richten, aber hauptsächlich große Teile der Bevölkerung im Kiez stigmatisieren. Dafür ließ er sich bundesweit von den bürgerlichen Medien feiern, tauchte mit TV-Teams persönlich in Shisha-Bars auf – natürlich erst nachdem bewaffnete Polizeibeamte die Lokalitäten „gesichert“ hatten.

Dieser Mann und seine Spießgesellen also versuchen momentan die Revolutionäre-1. Mai-Demo, die vom Hertzbergplatz über die Sonnenallee, den Kottbusser Damm und die Adalbertstraße bis zum Oranienplatz in Kreuzberg führen soll, mit einem Trick zu verhindern, der derart dummdreist ist, dass man sich als Beobachter:in nur an den Kopf fassen kann. Er hat auf wichtige Punkte der Demo-Route, von der seine Leute zum Zeitpunkt ihrer Planungen nichts geahnt haben wollen, unter dem Motto „Neukölln feiert den 1. Mai“ fünf Veranstaltungen, sogenannte „Straßenfeste“, gelegt. Die Anlässe dieser „Feste“ sind dermaßen an den Haaren herbeigezogen, dass niemand ernsthaft leugnen kann: Hier geht es offensichtlich nur darum, den Demo-Organisator:innen Steine in den Weg zu legen. Es ist Hikels Hindernisparcour, der da aufgebaut wird.

„Mit Kinder- und Familienfesten, Flohmarkt, Live-Musik und einem öffentlichen Fastenbrechen steht der 1. Mai in diesem Jahr für die Vielfalt und das friedliche Miteinander in Berlins buntestem Bezirk“, heißt es in einer Mitteilung auf der Homepage des Bezirksamtes. Verlogener geht es kaum!

Besonders das geplante Fastenbrechen ist an Verlogenheit und Perfidie nicht mehr zu übertreffen. Der Sprecher des Demo-Bündnisses Martin Suchanek hat es in einer Erklärung auf den Punkt gebracht: „Dass ausgerechnet der SPD-Bürgermeister Hikel, der dafür bekannt ist sich medienwirksam bei Razzien bei migrantischen Gewerbetreibenden abblitzen zu lassen – genau derselbe Martin Hikel, dessen ehemaliges Projekt „konfrontative Religionsbekundung“ auf einem Generalverdacht auf muslimische Jugendliche beruhte – nun sein Herzen für den Islam gefunden hat, scheint mehr als unglaubwürdig.“ Suchanek macht auch noch auf einen fachlichen Fauxpas aufmerksam, der ebenfalls die wahren Absichten entlarvt. Das viel bedeutsamere Zuckerfest finde erst am nächsten Tag statt, zudem wurde die Uhrzeit mit 19 Uhr glatt mindestens eine Stunde zu früh angesetzt, da das Fastenbrechen erst bei Sonnenuntergang beginnt.

Bündnissprecherin Aicha Jamal spricht von einer „Instrumentalisierung des letzten Iftar im Fastenmonat Ramadan seitens des Bezirksamt Neukölln“. Dies sei „nicht nur grotesk, sondern auch undemokratisch“. Mit Blick auf die Razzien gegen „Clankriminalität“ sagte Jamal: „Unter dem Vorwand organisierte Kriminalität zu bekämpfen führt Martin Hikel seit Jahren eine rassistische Hetzkampagne zu Lasten des gesamten migrantischen Kleingewerbes in Neukölln, welches tagtäglich unverhältnismäßigen Razzien ausgesetzt wird. Er unterstützt Projekte, die dazu führen, dass wir uns die Mieten nicht mehr leisten können und aus Neukölln verdrängt werden. Migrantisches Leben interessiert ihn nur, wenn es dazu dienen kann, das Image des Bezirkes aufzupolieren, um ihn interessanter für Investoren und Besserverdienende zu machen.“

Diese Agenda Hikels lässt sich auch beim Flohmarkt auf dem Hermannplatz erkennen. Veranstalter ist hier nämlich Spotlight, ein Verein, so schreibt das Bündnis in seiner Erklärung, „der seine Spenden offenbar von Signa erhält“. Signa ist der Konzern des dubiosen und rechtslastigen österreichischen Milliardärs Rene Benko, der in vielen deutschen Metropolen und auch im Ausland mit hochwertigen Immobilien jongliert. Jenem Konzern, wie Suchanek es formuliert, „der auf Biegen und Brechen mit SPD-Bausenator Geisel gegen den Willen der Anwohner den Karstadt am Hermannplatz abreißen und einen Luxuspalast aufbauen“ wolle.

In der Erklärung des Demo-Bündnis heißt es dazu: „Signas Gründer René Benko ist nicht nur einer der reichsten Menschen der Welt, er ist zudem mutmaßlicher Großspender der rechtsextremen FPÖ. Das wurde 2019 durch das Skandalvideo von H. C. Strache bekannt. Benko plant ein gigantisches
Neubauprojekt am Hermannplatz, welches erheblichen Einfluss auf die Mietpreisentwicklung der Umgebung haben wird und deshalb bei vielen Bewohner:innen Neuköllns unbeliebt ist. Dies beweisen die 6.000 Unterschriften, die von einer Anwohner:inneninitiative gegen Benkos Pläne gesammelt wurden. Die Initiative Hermannplatz habe des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass Benko mit kulturellen Projekten versucht, die Akzeptanz für seine Bauvorhaben in der Bevölkerung zu steigern.“

Die ganze Aktion ist ganz offensichtlich ein Alleingang Hikels und seiner Leute. Die Bezirksversammlung (BVV) war nicht in die Planung der fünf Veranstaltungen eingebunden. Das bestätigte Ahmed Abed, BVV-Abgeordneter für Die Linke in Neukölln, am Mittwoch auf Twitter. Nach Informationen vom Lower Class Magazine liefen die Planungen auch komplett an Sarah Nagel von der Linkspartei, der Stadträtin für das Ordnungsamt und Jochen Biedermann, stellvertretender Bezirksbürgermeister, Bezirksstadtrat und Leiter des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Umwelt vorbei.

Wie es aussieht, hat der Bezirkschef für die Planung und Umsetzung der Veranstaltungen am 1. Mai eine von ihm selbst, vor allem für seine Razzien geschaffene Stabsstelle genutzt: die Koordinierungsstelle für öffentliche Sicherheit und Ordnung, in deren Aufgabenbeschreibung auf der Bezirkshomepage steht: „einschließlich Problemimmobilien sowie die Planung und Koordinierung von Verbundeinsätzen u. a. zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“.

Die Linksfraktion in der Bezirksversammlung hat sich in einer Erklärung auf die Seite der Demo-Organisatoren gestellt. Darin heißt es: „Wenn SPD-Bürgermeister Hickel wirklich Straßenfeste organisiert, um damit eine Demo zu behindern, würde dies die Einschränkung des Versammlungsrechts bedeuten. Wir fordern klar: Die 1. Mai-Demo muss wie geplant stattfinden!“ Ferat Koçak, Neuköllner und Mitglied im Abgeordnetenhaus für Die Linke, erklärte ausserdem, Hikel behindere mit seinem Vorgehen „das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und blockiert die Demo“. Offenbar wende er dieselbe Strategie an, mit der in Kreuzberg mit dem „Myfest“ operiert wurde – also eine Entpolitisierung des 1. Mai mittels Eventisierung.

Tatsächlich beweist SPD-Mann Hikel mit seinem Vorgehen überdeutlich, welche Prioritäten er setzt. Er tritt das Versammlungsrecht mit Füßen, den „Investoren“, die sich die halbe Stadt unter den Nagel reißen, rollt er dagegen mit Vergnügen den roten Teppich aus. Jeglicher Widerstand und jegliches positives Signal für eine Organisierung gegen diese Pläne sollen verhindert und gestört werden. Deshalb kann es in diesem Jahr nur umso mehr heißen:

Heraus zum 1. Mai!

Jetzt erst Recht!

Yallah Klassenkampf!

Dokumentation zum Revolutionären 1. Mai in Berlin:

# Titelbild: 1. Mai 2021, Copyright: 2021 PM Cheung

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Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den raschen Aufstieg seines Unicorns zu einer Milliardenbewertung freuen kann. Für die tausenden im Unternehmen angestellten Arbeiter:innen dagegen werden mies bezahlt, stehen unter einem enormen Druck und sehen sich sexualisierten oder rassistischen Übergriffen von Vorgesetzten ausgesetzt. Nach der Kündigung eines Kollegen entwickelte sich deshalb in dem Unternehmen ein breiter Arbeitskampf auf vielen Ebenen, der bis dato andauert. Wir haben mit Yasha, Rider bei Gorillas in Berlin und Mit-Initiator des Betriebsrats, über den Arbeitsalltag und das Unternehmen gesprochen.

Kannst du uns am Anfang ein wenig über dich erzählen? Wie lange arbeitest du schon bei Gorillas?

Ich arbeite seit Januar als Rider bei Gorillas. Ich bin 28 Jahre alt und mache nebenbei meinen Master. Ich habe auch als Übersetzer gearbeitet, aber ich brauchte einen Job mit Sozialversicherung. In der Pandemie habe ich mich dann überall beworben, hier wurde ich genommen.

Ist das generell ein Ding bei Gorillas, dass viele studieren und den Job nebenbei machen wie du?

Eigentlich nicht. Ich denke, es ist abhängig von den Herkunftsländern. Die meisten, die aus Südostasien kommen, die studieren. Aber es gibt viele mit europäischen Pässen, die aber aus Südamerika kommen. Und die sind oft nur zum arbeiten hier. Vielleicht wollen sie in der Zukunft studieren, aber aktuell geht es ihnen darum, Geld zu verdienen, ein bisschen was an die Familien zu schicken.

Mein Eindruck wäre, die Belegschaft ist vorwiegend migrantisch. Ist das so?

Ja, natürlich. Deutsche haben wir, würde ich sagen, so vier auf hundert Fahrer.

Gibt es Herkunftsländer, die besonders stark vertreten sind?

Argentinien und Chile sind ganz vorne mit dabei. Einige sind aus Nordamerika, wie ich. Türkei ist repräsentiert, Südostasien ist auch gut mit dabei.

Die aktuelle Welle des Arbeitskampfes begann mit der Kündigung eines Kollegen. Aber die Kritik und Forderungen der Fahrer:innen gehen ja über den konkreten Fall hinaus. Worum geht es euch bei dem Protest?

Wahrscheinlich besteht da kein Zusammenhang, aber die Kündigung passierte direkt in der Woche, nachdem wir eine große Betriebsversammlung von 200 Arbeiter:innen durchgeführt haben. Dort haben wir den Wahlvorstand für einen Betriebsrat gewählt. Und da wollte auch das Management teilnehmen. Sie haben sehr viel Druck gemacht und wollten sich durch die Hintertür da reinschmuggeln. Im Nachhinein haben sie auch eine Mail geschickt und drohten gerichtlich gegen den Betriebsrat vorzugehen – was sie allerdings nicht gemacht haben.

Fünf Tage später kam die Kündigung dieses Kollegen. Er war am Ende der Probezeit und hatte in seinem Warenhaus die beste Leistung. Nicht dass das für uns ausschlaggebend wäre, aber es macht die Kündigung noch fragwürdiger. Es gab keinen richtigen Grund, niemand konnte das nachvollziehen und das hat die Leute empört.

Und natürlich, das knüpfte dann schon an die ganzen anderen Probleme an. Es gab schon im Januar einen offenen Brief, im Februar gab es auch schon mal Streiks. Und seitdem haben sich auch nochmal viele Sachen verschlechtert. Zum Beispiel haben sie die Körbe von den Fahrrädern abgenommen, sodass die Leute die Ware tatsächlich auf dem Rücken tragen müssen. Sie planten, die Pausen unbezahlt zu machen – ob sie das wirklich gemacht haben, wissen wir nicht, wir sehen das erst mit dem kommenden Gehalt.

Dazu gibt es ungleiche Entlohnung. Leute, die vergangenen Oktober angefangen haben, hatten die Möglichkeit nach einer bestimmten Stundenzahl eine Lohnerhöhung auf 12 Euro zu bekommen. Die, die später angefangen haben, haben diese Möglichkeit nicht und sind bei 10,50 Euro.

10,50 ist extrem niedrig …

Ja alles hier ist niedrig, 12 Euro sind ja auch niedrig. Aber dass es zusätzlich noch ungleichen Lohn für dieselbe Arbeit ist, ist natürlich noch schlimmer. Gegen die Niedrigkeit des Lohns müssen wir langfristig kämpfen, aber diese Ungleichheit kann vielleicht der Betriebsrat sogar kurzfristig lösen.

Dazu kommen viele Geschichten von sexueller Belästigung und rassistischem Verhalten durch Vorgesetzte. Das Unternehmen ignoriert das. Beförderungen in eine höhere Stelle sind extrem abhängig von Nepotismus. Einen transparenten Prozess gibt es nicht. Du musst mit deinem Vorgesetzten befreundet sein, auf dieselben Partys gehen, dann kriegst du eine Beförderung.

Wie ist der Betrieb aufgebaut? Ganz unten sind Rider, ganz oben wahrscheinlich der CEO. Wie siehts dazwischen aus?

Ganz unten sind die Rider. Ganz oben – keine Ahnung. Da gibts viele, es ist sehr hierarchisch aufgebaut. Wie das genau aussieht, ist für uns nicht transparent. Wir haben irgendwelche „rider Ops“, „rider supervisors“ oder „rider captains“, die haben da jetzt auch die Namen geändert, es gibt wohl auch irgendwas wie einen „rider champion“, keine Ahnung, was das sein soll.

Fahren diese Vorarbeiter auch selber Touren?

Wenn es Engpässe gibt, dann schon, aber nicht im Normalfall. Sie sind zur Kontrolle der Arbeiter:innen da und sie sind für die Fahrräder verantwortlich, die Ausrüstung, die Pausenzeiten. Seit einiger Zeit haben sie auch den Auftrag, uns offizielle Mahnungen zu geben – nach zwei Mahnungen ist man raus. Ähnlich wie bei Amazon sind sie auch dafür verantwortlich, den eigenen Vorgesetzten die Namen der Personen weiterzuleiten, die politisch aktiv sind. Wie ihr Verhältnis zu den Arbeiter:innen ist, ist von Warenhaus zu Warenhaus unterschiedlich. Hier ist ein ganz gutes Verhältnis, in anderen Standorten waren die Beziehungen zu den Vorgesetzten wirklich schlecht.

Neben den Riders und ihren Vorgesetzten gibt es auch noch Pickers und Inventory, Arbeiter:innen, die für die Zusammenstellung der Bestellungen zuständig sind. Auch die haben noch einen Supervisor, der für sie verantwortlich ist. Und dann jeweils einen Warehouse-Manager, der sitzt zwei Stunden pro Tag hier rum. Keine Ahnung, was er macht. Und über dem gibts keine Ahnung wie viele Positionen, aber die sieht man normalerweise nicht.

Das heisst, den CEO Kağan Sümer sieht man im Arbeitsalltag eher nicht.

Ne, nie gesehen. Also vor zwei Wochen haben wir ihn mal bei einem Protest gesehen, aber ansonsten nie.

Wie viel Arbeiter:innen hat Gorillas in Berlin insgesamt?

Wenn wir nur die Arbeiter:innen zählen, würde ich sagen, um die 2000. Es ist eine Schätzung, ganz so klar ist das nicht. Es gibt auch viele von Leiharbeitsfirmen wie Zenjob, die mal einen Tag hier arbeiten.

Wie viele erreicht ihr mit euren Forderungen?

Interessante Frage. Wir haben ein Netzwerk aufgezogen mit Kolleg:innen aus anderen Städten Deutschlands, den Niederlanden und London. Wir haben also auch Leute erreicht weit über Berlin hinaus, Leipzig, Köln, Hamburg, Groningen, Amsterdam. In Berlin haben wir die größte Basis.

Kannst du ein bisschen über deinen Arbeitsalltag erzählen. Das ganze Konzept klingt für mich nach der Garantie für einen Scheissjob. Irgendwer ruft an, bestellt ein Brötchen und dieses Unternehmen garantiert, dass die knapp über Mindestlohn bezahlten Fahrer:innen das innerhalb von zehn Minuten vorbei bringen. Ist das nicht schon auf Stress angelegt?

Ja. Allerdings hängen diese zehn Minuten immer vom Vorgesetzten ab, ob das durchgesetzt wird oder nicht. Ich habe in den ersten Wochen richtig viel Druck auf mich selbst gemacht, das rechtzeitig zu liefern. Dann habe ich kapiert, dass das nicht so wichtig ist. Ich fahre, wie ich will und halte an jeder roten Ampel. Und niemand mault mich deshalb an. Das geht. Aber es gibt Leute, für die ist dieser Job viel wichtiger als für mich. Und die sind immer unter Druck. Und da gibt es Kündigungen und keiner kriegt es mit, weil sie sich nicht mit den Kolleg:innen vernetzt haben. Alle, die hier länger arbeiten, sagen, dass sich der Arbeitsalltag nochmal verschlechtert hat und viele Kolleg:innen verschwunden sind, gekündigt wurden oder gekündigt haben.

Und klar gibt‘s Leute, die wollen aufsteigen. Die machen dann richtig viel Druck auf sich selbst. Und es gibt eine Statistiken, die erfassen, wie viele Bestellungen man an einem Tag gemacht hat, wer der Schnellste war. In manchen Warenhäusern haben sie Tabellen, da wird der beste Picker, der schnellste Rider ausgeschrieben und die anderen, die weiter unten in der Liste sind, müssen dann den Grund hinschreiben, warum sie nicht so viel geschafft haben. Das ist aber abhängig von den lokalen Leitungen.

Also wenn man einen „guten“ Vorarbeiter hat, dann ist die Lage erträglicher …

Was ist ein guter Vorarbeiter? Das sind die, die auf unserer Seite sind. Das gibt‘s tatsächlich, aber es sind nicht viele. Die stecken uns Informationen aus Managementkanälen. Es gibt auch Leute da oben, die uns unterstützen, die das aber nicht öffentlich machen, weil sie den Job nicht verlieren wollen. Und die sind schon gefährlich für die Firma, weil es kommt dadurch viel Scheisse raus.

Wie würdest du die Unternehmenkultur beschreiben? Weil von aussen sieht das wirklich aus wie der Prototyp so einer irren Start-up-Kultur.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass das für unseren CEO so eine Lockerroom-Kultur hier ist. Es gibt auch viel so Macho-Gehabe. Es gibt Warehouses, da haben erleben Frauen Situationen, dass Vorgesetzte sie in die Wangen kneifen zur Begrüßung. Es gibt ein Warenhaus, wenn die nicht genügend Rider haben, rufen sie in anderen Standorten an und fordern ausschließlich weibliche Fahrerinnen an. Die Vorgesetzten da belästigen diese Frauen, rufen sie an und fragen so: Hey, wo bist du, willst du heute Abend was mit mir machen? Diese Erfahrungen kann man sich auf der Instagram-Seite GorillasRiderLife ansehen.

Hat das Management bislang irgendwelche Zugeständnisse gemacht?

Kleinigkeiten, wie das zum Beispiel die Regenausrüstung gewaschen wurde oder wir neue Regen-Ponchos bekommen haben. Aber von den 19 Forderungen, die wir haben, ist bislang keine erfüllt worden. Nicht alle sind kurzfristig zu erfüllen. Aber manche sind sehr dringend. Zum Beispiel Fahrräder, die nicht alle drei Tage kaputt gehen. Alleine in diesem Warehouse gab es in letzter Zeit vier Arbeitsunfälle, einige davon mit Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Einige der Forderungen könnte das Management leicht erfüllen: Ein oder zweimal die Woche eine halbe Stunde Treffen der Arbeiter:innen. Aber auch auf sowas wird überhaupt nicht reagiert. Oder in Sachen Arbeitsschutz: Wir haben in einer Sicherheitsschulung gelernt, dass das Maximalgewicht unserer Rucksäcke zehn Kilo nicht übersteigen soll. Das wird immer noch überschritten. Oder Schuhe, Sommerjacken und so weiter – diese Ausrüstung müssten sie eigentlich stellen. Arbeitshandys zum Beispiel – wir benutzen immer noch unsere privaten Handys. Die Kunden können uns auch nach der Schicht erreichen und belästigen, das ist schon mehrmals passiert. Da gibt es keinen Datenschutz.

Vor einigen Wochen hatten wir erkämpft, dass sie uns zusicherten, ausstehende Löhne zu bezahlen, aber auch das haben sie nicht bei allen gemacht. Wir haben das dann recherchiert und an die Medien geschickt.

Zum Abschluss: Welche Form von externer Unterstützung wünscht ihr euch?

Das ist eine schwere Frage, wir haben darüber keine einheitliche Meinung. Wir haben diese Solidaritätskampagne, in deren Rahmen man Geld spenden kann. Gut wäre auch unabhängige Solidaritätsaktionen durchzuführen, die den Kampf sichtbar machen. Und dass die Arbeiter:innen sehen, es gibt Unterstützung aus der Öffentlichkeit. Damit man sieht, es handelt sich nicht nur um eine kleine radikale Gruppe – das ist ja die Lüge des Managements.

Außerdem rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen auf, die wir ankündigen. Aber da ist es wichtig, dass sich Externe eher im Hintergrund halten und sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Arbeiter:innen eine Versammlung haben, sollte man sich, wenn man von außen kommt, lieber ein bisschen zurückhalten, statt sich als Arbeiter:in auszugeben. Ansonsten: Alle Aktionen, die nicht falsch sind, sind gut. Vielleicht gibt‘s da ja auch noch mehr als mit jetzt einfallen.

Ruft ihr eigentlich zu einem Boykott auf oder ist das kontraproduktiv?

Wir wollen selbst keinen machen. Aber wir sind hier ja angestellt, wir kriegen Stundenlohn, keine Pauschale pro Bestellung. Deswegen ist es mir persönlich scheissegal. Aber wenn man schon da bestellt, dann kommt den Fahrer:innen wenigstens entgegen, weil in den 5. Stock Hinterhaus in zehn Minuten Lieferzeit ist schwierig. Und Trinkgeld in bar, nicht über die Online-App.

# Titelbild: Gorillas Workers Collective

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Ein Jahr weltweiter Corona-Pandemie liegt hinter uns. Ein Jahr, bestimmt durch „Lockdown“ und Unsicherheit. Ein Jahr, dass immense Gewinne für wenige und Verzweiflung für Milliarden, rasante Umweltzerstörung, weitere Kriege und Unterdrückung brachte. Ein Jahr, dass die Gewalt und Morde an Frauen weltweit weiter steigen ließ. Als Gastbeitrag veröffentlichen wir die erste Ausgabe der neuen Printzeitung „Die Kommune“.

An diesem Punkt setzen wir an und wollen in unserer Zeitung die Frage aufwerfen, wie eine politische Strategie von links und unten in dieser Zeit aussehen kann. Wir wollen die wichtige Basisarbeit in Stadtteilen und in Betrieben vorstellen, internationalistische Gruppen zu Wort kommen lassen, die praktisch gegen den globalen Kapitalismus viele Brücken quer durch die Welt schlagen. Wir stellen den Kampf von Frauen gegen Gewalt und Feminizide vor. Und wir berichten über den Aufbau von Gegenmacht, also der Macht der Vielen gegenüber der Macht der Wenigen. 

Das Frühjahr 2021 gibt uns auch die Möglichkeit an große Kämpfe gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu erinnern und Kraft und Ideen aus ihren Erfahrungen zu schöpfen. Dieses Jahr jährt sich nicht nur die große Pariser Commune zum 150. mal, sondern auch der mitteldeutsche Aufstand von 1921. Wir wollen als Sozialist*innen daran erinnern, dass wir alle auch heute noch in der Tradition der vielfältigen Erfahrungen der weltweiten Arbeiter*innenbewegung, der anti-kolonialen Kämpfe und der Kämpfe von Frauen gegen das patriarchalische System stehen. Diese Tradition ist zugleich Verantwortung und Rückhalt für die Klassenkämpfe die notwendigerweise folgen werden.

Die Auswirkungen der Corona- und Wirtschaftskrise zahlen wir alle in unterschiedlichem Ausmaß bereits. Das bis zum Kollaps überlastete seit Jahren kaputt gesparte Gesundheits- und Pflegesystem. Nicht nur in den Städten gerade auch in der Provinz. Der deutliche Anstieg von häuslicher Gewalt, die wiederkehrende Mehrfachbelastung von Kindererziehung, Haushalt und Lohnarbeit, die im letzten Jahr vor allem auf dem Rücken von Frauen abgeladen wurde. Das tägliche Gesundheitsrisiko dem sich all diejenige aussetzen müssen, die sich trotz Pandemie seit mehr als einem Jahr jeden Tag in die vollen Bahnen zur Arbeit quetschen müssen, aber ihre Verwandten und engen Freunde nicht sehen dürfen. Jobverlust, Kurzarbeit, weiter steigende Mieten in den Großstädten damit die Renditen der Immobilienkonzerne steigen können. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Diesem Klassenkampf von oben sagen wir den Kampf an. 

Diese Zeitung soll auch zur Veränderung anstiften. Der einzig fruchtbare Kampf gegen das patriachalische System, die weltweite Umweltkatastrophe und den zerstörerischen Neoliberalismus ist der Kampf in und mit der Basis, unserer Klasse, der Ausgebeuteten und Unterdrückten. An diesem Kampf müssen sich alle beteiligen, denn er ist alternativlos. Möglichkeiten wie sich alle einbringen können gibt es unzählige. 

Diese Zeitung soll auch aufrufen in der Tradition des revolutionären 1. Mai aktiv zu werden, nicht auf die holen Versprechungen der Regierungen und ihrer selbsternannten „Opposition“ zu vertrauen. Sozialistische globale Veränderungen entscheiden sich nicht an der Wahlurne sondern auf den Straßen, Gassen, Pfaden und Routen der Kämpfenden für eine menschliche Welt.

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Bei Gewerkschaften denkt man vor allem an jene Arbeiter*innenverbände, welche die wirtschaftlichen und sozialen Interessen von Lohnabhängigen gegenüber den Arbeitgeber*innen vertreten und dabei auch mal zu kämpferischen Mitteln greifen. Da die meisten Gewerkschaften hierzulande schon seit längerem zu zahnlosen Bittstellern verkommen sind, ist es mehr als erfrischend, in einem neuen Zusammenhang von der Gründung eines unabhängigen, kämpferischen Interessenverbundes zu berichten, nämlich von einer Mieter*innengewerkschaft.

Die Initiative Mieter*innengewerkschaft Berlin arbeitet seit diesem Jahr am Aufbau einer Organisation, die für die kollektiven Interessen von Mieter*innen eintreten und Kämpfe für Wohn- und Freiraum vereinen will. Ähnliche Ansätze werden beispielsweise in England seit 2015 (ACORN) und seit 2017 auch in Barcelona (Sindicat de llogateres) verfolgt, am bekanntesten ist jedoch sicherlich die Gewerkschaft Hyresgästföreningen in Schweden. Diese existiert schon seit 1915 und agierte mit Mietstreiks, Besetzungen und Massendemos so radikal und erfolgreich, dass sie heute über 500.000 Haushalte bei Miettarifverhandlungen vertritt. Die Gewerkschaftsmitglieder, ergo: Mietparteien, sind dadurch nicht dem „freien“ Markt ausgeliefert und können durch ihre knapp 10.000 gewählten Vertreter*innen auf lokaler und nationaler Ebene maßgeblich mitreden.

In Berlin befinden sich die Aktivist*innen noch in der Gründungsphase. Nach dem Organisierungs- und Aufbauprozess ihrer Gewerkschaft stehen hier noch Kämpfe an, die in Schweden schon gefochten wurden: um ein gesetzlich verankertes Streikrecht für Mieter*innen etwa oder um das Aktivieren eines kollektiven Bewusstseins, dass durch gemeinschaftliche Organisation so etwas wie Mitbestimmung auch in der Frage des Wohnens überhaupt möglich ist. Da ist die mit ihren zahlreichen Initiativen von unten gewachsene Mieter*innenbewegung in Berlin doch eine gute Basis für gewerkschaftliche Organisation oder? Das lower class magazine sprach dazu mit Mio von der Initiative Mieter*innengewerkschaft Berlin.

In Berlin gibt es ja diverse Initiativen und Gruppen, die schon länger versuchen, Druck auf die Akteur*innen des entfesselten Immobilienmarktes auszuüben. Zwischen Volksbegehren zu Enteignung, interkiezionalem Abwehrkampf und nachbarschaftlichen Kleinst-Zusammenschlüssen: Wo positioniert ihr die Arbeit euer Gewerkschaft unter diesen verschiedenen Ansätzen?

„Wir wollen das Rad nicht neu erfinden. Wie du sagst gibt es viele starke Initiativen aber es ist eine Art Flickenteppich. Einerseits gibt es große Mieter*innenvereine, welche aber meist auf individuelle Rechtsberatung konzentriert sind, andererseits eine Vielzahl von Initiativen für kollektive Kämpfe, die aber immer wieder bei Null anfangen müssen und nicht langfristig arbeiten können. Wir wollen diese Lücke füllen, eine langfristig arbeitende Struktur schaffen, die neue kollektive Rechte erkämpfen und durchsetzen kann. Wenn sich Gruppen dem anschließen wollen, freut uns das natürlich sehr. Wir streben eine föderative Struktur an, ähnlich der FAU, in der die Autonomie der einzelnen Sektionen oder Syndikate sehr wichtig ist.“

Wenn der Begriff „Gewerkschaft“ fällt, kann der „Streik“ nicht weit sein. Siehst du den Mietstreik perspektivisch als realistisches und probates Kampfmittel um die fest im Sattel sitzende Immobilienwirtschaft in Verlegenheit zu bringen?

„Die Miete zu verweigern ist der stärkste Hebel, den wir als Mieter*innen haben. Uns ist aber auch klar, dass für einen größeren Mietstreik Bedingungen erfüllt werden müssen, von denen wir noch weit weg sind. Wir sind juristisch gesehen an dem gleichen Punkt wie die Arbeiter*innengewerkschaften, bevor es ein gesetzliches Streikrecht gab – nur, dass es für viele schwieriger ist, die eigene Wohnung aufs Spiel zu setzen als den Arbeitsplatz. Aber wir haben auch andere Mittel: Zum Beispiel können wir parallel zum Bummelstreik oder zum „Arbeiten nach Vorschrift“ alle Mängel in mehreren Häusern erfassen – und dann gleichzeitig die Mieten senken. Oder den Immobilienunternehmen mit Imageschaden drohen. Bei Heimstaden hat das zum Beispiel schon gewirkt.“

Das schwedische Wohnungsunternehmen Heimstaden Bostad AB ist ein alter Hase in Europa, wenn es um verwalteten Leerstand, Luxussanierungen und Umwandlungen in Eigentumswohnungen im großen Stile geht. Im Spätsommer letzten Jahres wurde bekannt, dass das Unternehmen knapp 150 Häuser mit über 4.000 Wohnungen in Berlin-Mitte und im Wedding kaufen will. Das Ganze gerne ohne große mediale Öffentlichkeit und mit einer möglichst intransparenten Informationspolitik gegenüber den Mieter*innen. Diese wurden jedoch auf den anstehenden Deal aufmerksam und machten sich Sorgen über ihre zukünftige Wohnsituation. Sie riefen mit Unterstützung der Mieter*innengewerkschaft die Stop-Heimstaden!-Kampagne ins Leben. Das Ziel unter anderem: Den Senat zum Ausüben des sogenannten Vorkaufsrechts bewegen und damit dem fortschreitenden Ausverkauf ihres Wohnraums aktiv entgegentreten.

Die Kampagne kann als eure erste kämpferische Aktion gesehen werden oder? Wie ist denn dort der Stand und was habt ihr noch vor?

„Tatsächlich kam der Kampf gegen Heimstaden für uns sehr überraschend. Wir haben uns entschieden, die ca. 13 Häuser von Heimstaden im Wedding zu unterstützen, als erstes Kampffeld. Doch plötzlich wurden daraus über 150 Häuser, die der schwedische Konzern aufkaufen wollte. Das hieß für uns: Flyern in halb Berlin, Hausgemeinschaften unterstützen, berlinweite Vernetzungstreffen organisieren und vieles mehr. Die ersten Wochen unterstützten wir die Mieter*innen für den Vorkauf der Häuser. Nachdem Heimstaden unter dem Druck unser Vernetzung eine Abwendungsvereinbarung unterschrieb, beginnt eigentlich jetzt erst unsere richtige Aufgabe: Wir wollen ein Heimstaden-Syndikat aufbauen, in dem sich die neu entstandenen Hausgemeinschaften organisieren, um zusammen kollektive Rechte zu erkämpfen. Unser Ziel für 2021 ist es, Heimstaden eine rechtliche Vereinbarung für alle Mieter*innen abzuringen, die unter anderem ein Umwandlungs- und ein Modernisierungsverbot umfasst.“

Die Vernetzung und (Selbst-)Organisierung der Mieter*innen also als notwendiges Fundament für darauf aufbauende und höhere Ziele.

„Genau, aber nicht nur Vernetzung als Selbstzweck. Bisher läuft das bei der Heimstaden-Vernetzung gut an! Es ist toll zu sehen, wie sich Hausgemeinschaften bilden, allein das ist schon ein Erfolg. Wenn Nachbar*innen sich kennenlernen und sich bei Problemen zusammentun, ist das in einer neoliberalen und anonymisierten Gesellschaft ein Schritt in die richtige Richtung. Langfristig wollen wir auf dieser Grundlage wie gesagt das Heimstaden-Syndikat bilden – und danach Syndikate für die Mieter*innen bei jede*r Eigentümer*in, wo es notwendig ist. Insofern ist die Gewerkschaft ein Werkzeug für uns Mieter*innen, um kollektiv unsere Interessen gegen Eigentümer*innen durchzusetzen und das Machtverhältnis zu verändern. Denn das ist eigentlich unser Ziel: Kollektive Rechte wie Tarifrecht oder ein Mitbestimmungsrecht, bis wir als Mieter*innen die Häuser selbst verwalten. Denn wie bei jeder echten Gewerkschaft ist unser großes Ziel, uns selbst überflüssig zu machen.“

Auch in anderen Städten, wie zum Beispiel in Dresden oder Frankfurt, entstehen gerade Initiativen für Mieter*innengewerkschaften, es könnte fast von einer Welle die Rede sein. Die Berliner Initiative steht mit ihnen wie auch mit Gewerkschaften in ganz Europa in losem Kontakt und beobachtet aufmerksam ähnliche Konzepte aus Paris, Barcelona und Göteborg. Speziell aus der eingangs erwähnten schwedischen Historie kann einiges gelernt werden, denn wie Mio abschließend bemerkt: „So weit wie die, sind wir noch lange nicht. Aktuell sind wir im Initiativenstatus, aus der die echte Gewerkschaft entstehen wird. Dafür bauen wir zunächst eine stabile Struktur auf, sammeln Gründungsmitglieder und üben uns weiter in ersten Kämpfen!“

# Titelbild: Mieter*innengewerkschaft, Demo am 08.11.2020

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Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man in Politik und Wirtschaft die „Held:innen des Alltags“ schätze, gingen einher mit realer Missachtung von Löhnen, Arbeitsdruck und Gesundheitsschutz. Unser Autor Frederik Kunert ist Integrations-Erzieher an einer Berliner Grundschule und schreibt über Mehrbelastung, fehlende Gegenwehr und die zynische „Corona-Prämie“.

Analog zu den als „Helden und Heldinnen der Corona-Krise“ gefeierten Beschäftigten im Gesundheitsbereich, wird auch den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas und Schulen ins Gesicht gespuckt: Mit der „Dankesprämie“, für die Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) sich feiern lässt.

In seiner Pressemitteilung als regierender Bürgermeister vom 5.5.2020 spricht er von einer „einmaligen Dankesprämie“ von bis zu 1.000 Euro für alle Beschäftigten, „die in der Corona-Krise außergewöhnliche Leistungen erbracht haben und in Serviceeinrichtungen einer erhöhten gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt waren.“ Zu diesen Beschäftigten zählt er explizit die Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, sowie in den Schulhorten.

Ohne die Arbeit dieser Beschäftigten hätten auch einige andere systemrelevante Berufe nicht in dem Maße weiter ausgeführt werden können, wie es der Fall war. Sie übernahmen die Notbetreuung und setzten sich so einem erhöhten Infektionsrisiko aus. Auch jetzt, in der zweiten Welle, sind sie diesem Risiko weitestgehend ausgesetzt. Hygienekonzepte sind in Einrichtungen mit mehreren Hundert Kindern in der Praxis oft nicht umsetzbar. Der Schutz der pädagogischen Fachkräfte scheint oft nicht von Belang. Wichtig ist dagegen offenbar eher, alles um jeden Preis am Laufen zu halten und ein abermaliges Schließen der Schulen und Kitas zu verhindern.

Politiker:innen überschlugen sich im Verlauf der ersten Welle mit Komplimenten und Dankesreden an die „Heldinnen und Helden des Alltags“ und manch einer träumte gar davon, soziale Berufe würden endlich ihrem gesellschaftlichen Stellenwert angemessen bezahlt. Schließlich zeigte die Corona-Krise wie schon lange kein Ereignis vor ihr, welche Berufe „systemrelevant“ – eigentlich eher: relevant für die Gesellschaft – sind und welche eigentlich kein Mensch braucht. Hedgefonds-Manager:innen und Vermieter:innen gehören jedenfalls nicht zu denen, die die gesellschaftlichen Abläufe am Leben halten.

Den offenen Widerspruch zwischen der Bezahlung vieler Berufe und ihrer gesellschaftlichen Relevanz beschrieb schon der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bullshit-Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit“: „Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt. Auch hier ist es schwierig, ein objektives Maß zu finden, aber einen Eindruck kann man sich mit einer einfachen Frage verschaffen: Was würde geschehen, wenn diese ganze Berufsgruppe einfach verschwinden würde? Man kann über Krankenschwestern, die Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr oder Automechaniker*innen sagen, was man will, aber eines liegt auf der Hand: Würden sie plötzlich verschwinden, die Folgen wären sofort spürbar und katastrophal. Auch eine Welt ohne Lehrer*innen oder Hafenarbeiter*innen würde schnell in Schwierigkeiten geraten und selbst ohne Science-Fiction-Autor*innen oder Ska-Musiker*innen wäre sie sicher weniger schön. Dagegen ist nicht ganz klar, wie die Welt leiden würde, wenn alle Private-Equity-Manager*innen, Lobbyist*innen, Public-Relations-Berater*innen, Versicherungsfachleute und Rechtsberater*innen für Konzerne auf ähnliche Weise verschwinden würden.“ Schnell wurde aber doch klar, dass man außer etwas Beifall und eventuell einer Prämie nicht viel zu erwarten hat. Wie wenig war trotz aller vorhanden Skepsis dann doch ein Schlag ins Gesicht.

Viele soziale Einrichtungen werden von freien Trägern getragen, auch viele Ganztagsbetreuungen an den Schulen gehören zu den freien Trägern. Daraus entsteht eine oftmals gespaltene Belegschaft: einige haben noch alte Verträge und sind beispielsweise beim Senat angestellt und somit im öffentlichen Dienst, andere sind bei den freien Trägern angestellt. Oftmals werden die Tarifverträge angepasst, jedoch nicht immer. Den Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes wurden ihre Dankesprämien ausgezahlt. Ähnlich differenzierend und spaltend lief es bzgl. der Prämie auch im Pflege-Bereich.

Die freien Träger mussten nun die Gelder für die Dankesprämie beantragen, um sie ihren Beschäftigten ebenfalls zahlen zu können. Relativ schnell und problemlos erhielten sie die Gelder. Allerdings reichten diese Gelder für eine Prämie von bis zu 1.000 Euro, wie Michael Müller es großspurig angekündigt hat, von vorne bis hinten nicht. Auf alle Mitarbeiter*innen verteilt, wäre eine Prämie von etwa 50 Euro pro Person dabei herausgekommen. Viele freie Träger verzichteten auf die Zahlung dieser „Prämie“, die sich doch eher wie Hohn und Spott anfühlen würde. Ein Erzieher beschriebt das Gefühl vieler Mitarbeiter*innen gegenüber dem RBB so: „Nach dem Motto: Diejenigen, die für das Land Berlin arbeiten, haben es gut und die anderen müssen sehen, wo sie bleiben. So hört sich das für mich an.“

Auf einen offenen Brief zu dieser Thematik reagierte der Bürgermeister bisher nicht. Nicht nur dieser schlechte Witz einer „Prämie“, auch die aktuell ablaufenden Vorgänge in den Einrichtungen sind ein Schlag ins Gesicht der pädagogischen Fachkräfte. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW sieht die Rückkehr zum Regelbetrieb in den Schulen und Kitas kritisch: „Konkrete und verbindliche Maßnahmen – Fehlanzeige! Die Sommerferien hätte die Senatorin besser nutzen können. Insbesondere, um sich mit den Beschäftigtenvertretungen dazu auszutauschen, wie Bildung in Zeiten von Corona aussehen kann“, kritisierte die Vorsitzende der GEW-Berlin, Doreen Siebernik. Weiter sagt sie: „Die Kolleg*innen fühlen sich in den Schulen allein gelassen. Es herrscht riesige Unsicherheit, wie der Schulalltag mit den einzuhaltenden und mitunter widersprüchlichen Hygiene- und Schutzmaßnahmen und vor dem Hintergrund tausender fehlender Lehrkräfte aussehen soll. Wir verstehen das Bedürfnis nach einem geregelten Schulstart. Aber wir halten es für unverantwortlich, die Gruppen- und Klassengrößen wieder auf das Vor-Corona-Niveau anzuheben und auf Abstandsregeln zu verzichten. Auch die Erfahrungen mit dem Lernen in kleinen Gruppen sind unbeachtet geblieben.“

Leider bleibt die GEW auch hier wie so oft zahnlos. Politische Streiks sind verboten und demnach ausgeschlossen. Für bessere Arbeitsbedingungen, ein anderes Schulsystem oder ähnliche „Utopien“ darf nicht gestreikt werden. Lediglich für Tarifforderungen ist dies zulässig und auch hier hat die GEW in den letzten Jahren einige Mitglieder mit ihrer weichen Verhandlungsstrategie verschreckt. Viele Erzieher*innen sind bereit, lange zu streiken, um wenigstens endlich angemessen bezahlt zu werden, die GEW gibt sich jedoch oft mit Warnstreiks und anschließenden faulen Kompromissen und minimalen Lohnerhöhungen zufrieden.

Michael Müller hingegen scheint für seine Kandidatur für den Bundestag bestens vorbereitet zu sein: Das eine sagen und das andere tun, das klingt nach SPD-Politik in Reinform.

# Titelbild: flickr Uwe Hiksch

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Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, waren in der Nacht vom 16. auf den 17. August von Berliner Beamten festgenommen worden. Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei, von Schlägen, Beschimpfungen und Misshandlungen ist die Rede.

Eine Pressemeldung der Berliner Polizei zu dem Vorgang gibt es nicht, eine schriftliche Anfrage von lower class magazine blieb bislang unbeantwortet. Wir haben uns mit den beiden jungen Männern getroffen und mit ihnen über den Vorfall gesprochen.

Ihr habt auf Instagram eure Begegnung mit der Berliner Polizei vom vorvergangenen Wochenende öffentlich gemacht. Was ist an diesem Abend geschehen?

Jecki: Wir waren zu zweit mit zwei Freundinnen im Mauerpark, haben Musik gehört und gechillt. Es war schon etwas später, ein bisschen dunkel und schon menschenleerer. Da kam so ein Typ vorbei, der Glasflaschen gesammelt hat. Der wollte eine halbvolle Flasche von uns nehmen, wir haben gesagt, er soll die nicht mitnehmen. Dann gab es eine verbale Auseinandersetzung, der Typ hat angefangen, uns zu beleidigen und so. Aber dann ist er zunächst wieder gegangen.

Nach zwanzig Minuten kam er wieder, aber nicht allein. Ein Kumpel von ihn, eine Frau waren dabei und sie hatten jetzt zwei Kampfhunde. Dann haben sie meine Bruder angegriffen und es kam zu einer Auseiandersetzung.

Gab es während des Angriffs rassistische Bemerkungen?

Jecki: Ja, die haben ihn auch N**** genannt und so.

King_S: Er hat seinen Hund auf mich gehetzt. Ich habe davon auch Bissverletzungen.

Was ist dann passiert?

Jecki: Wir sind dann weggegangen, zur Tram an der Bernauer. Wir sind losgefahren, ein paar Stationen später kam dann aber die Polizei rein. Einer der Beamten hat gesagt, wir sollen mitkommen. Ich habe gefragt, warum. Er hat nichts dazu gesagt, sondern mich nur aufgefordert, aufzustehen und mich umzudrehen. Ich habe wieder gefragt, warum. Auch da hat er nicht geantwortet, sondern direkt versucht, mich mit Gewalt festzunehmen. Dann hat er meinen Bruder am Nacken gepackt. Sie waren sehr grob zu ihm, sodass auch drei, vier Passantinnen sich beschwert haben und gefragt haben, warum die so mit ihm umgehen. Er hat nur gesagt, das gehe sie nichts an.

King_S: Dann hat er mich aus der Bahn rausgeholt. Und als ich draußen war, hat er mir ins Ohr gesagt: „Du Wichser, du wirst sehen, was ich mit Dir mache.“ Meine Handschellen waren sehr fest, man sieht ja immer noch die Narben. Ich sagte: Können Sie bitte meine Handschellen lockern? Aber ich wurde nur beschimpft, als Arschloch, als Affe. Und ich wurde bedroht. Er hat mich dann hinter das Auto mitgenommen, sein Bein war vor meinem und er hat zwischen den Handschellen nach oben gerissen. Er hat mich so auf den Boden geworfen und auf dem Boden war eine Bordsteinkante, da bin ich dann mit dem Kopf dagegen. Ich habe nur noch Blut gesehen und gesagt: Mein Kopf blutet. Und er antwortete nur: Halt deine Fresse, Halt dein Maul.

Du warst zu diesem Zeitpunkt auch schon festgenommen, Jecki?

Jecki: Ich war da noch in der Tram. Sie haben ihn zuerst rausgezogen. Und als sie mich rausgezogen haben, habe ich nur gesehen, wie er bewusstlos auf dem Boden lag.

King_S: Als ich da lag knieten sich ein Polizist auf meine Beine, einer auf meinen Nacken. Und ich habe dann irgendwann keine Luft mehr gekriegt. Auch als ich schon am Boden lag und blutete, haben sie nicht aufgehört, mich zu schlagen. Ich hatte ja viel Blut verloren und wurde einfach bewusstlos. Dann kam irgendwann ein Krankenwagen, ich kann mich noch erinnern, dass ich kurz aufgewacht wird und eine Krankenschwester meinen Kopf gestützt hat. Ich wurde dann ins Krankenhaus gebracht. Ich habe immer gefragt, wo sie meinen Bruder hinbringen, aber es hat niemand geantwortet.

Bei Dir ging es dann in die Gefangenensammelstelle?

Jecki: Mich haben sie in einen nahegelegnen Polizeiabschnitt gefahren. Von dort dann zu einem anderen Abschnitt. Dann wurde ich wieder entlassen. Ich habe die auch gefragt, was sie mit meinem Bruder gemacht haben. Einer hat mich angeguckt und meinte, er wäre gestolpert und dumm hingefallen. Er hatte ein Lächeln im Gesicht, als er das sagte. Ich habe die ganze Zeit Fragen gestellt, warum, wieso, dies und das, weil die uns keinen Grund genannt haben, warum sie uns festnehmen. Aber auch das Fragen hat denen anscheinend nicht gepasst, der eine hat mich dann als Arschloch bezeichnet. Und es gab immer wieder Übergriffe. Etwa bei der Fahrt von der Tramstation zum Abschnitt habe ich mit den Handschellen das Fenster ein wenig runtergemacht, weil mir warm war. Dann hat einer von denen die Handschellen verdreht, dass sie noch enger werden. Als wir auf dem Abschnitt waren, habe ich schon beim ersten Schritt aus dem Auto ein Knie abbekommen. Da waren fünf, sechs Beamte um mich rum. Ich hab ein paar Tritte bekommen und sie meinten, ich solle mein Maul halten, wenn ich auf dem Abschnitt bin und dass ich mich benehmen soll.

Hat man euch irgendeine Anzeige vorgelegt? Irgendeinen Grund, warum sie euch mitgenommen haben?

Jecki: Sie haben uns angezeigt wegen Widerstand und weil wir sie angeblich beleidigt hätten.

Das bezieht sich aber ja, wenn überhaupt, auf die Zeit nach der Verhaftung. Das Delikt, wegen dem man euch überhaupt erst mitgenommen hat, hat man euch nicht mitgeteilt?

Jecki: Nein. Wir haben vermutet, dass sie wegen dieser Auseinandersetzung davor gekommen sind. Aber gesagt haben sie uns nichts, also wissen wir es eigentlich auch nicht.

Du hast ja ein Attest vom Arzt bekommen, was für Verletzungen hast du davongetragen?

King_S: Vor allem die Wunden am Kopf. Zwei der Platzwunden mussten genäht werden. Aber ich hatte auch noch eine verletzte Schulter von der Festnahme. Und Bisswunden von dem Hund, aber das war ja vor der Festnahme.

Hattet ihr ähnlich schlechte Erfahrungen mit der Polizei schon zuvor?

King_S: Für mich ist es das erste Mal, dass ich so von Polizisten geschlagen wurde. Aber jetzt, da das passiert ist, will ich es auch öffentlich machen. Das kann ja jedem jederzeit passieren.

Jecki: Bei mir genauso. Derartige Gewalt von Beamten habe ich bisher noch nie erlebt, das war das erste Mal.

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Die an vermeintlichen „Ermittlungspannen“ reiche Geschichte der Serie von rechten Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Drohungen in Neukölln bewegt sich einem weiteren Höhepunkt entgegen: Wie die Berliner Generalstaatsanwaltschaft verlautbaren ließ, gebe es Anhaltspunkte für die Befangenheit eines Staatsanwalts, der nun zusammen mit einem weiteren Kollegen versetzt worden sei.

Der Sachverhalt ist brisant: Durch die Auswertung von Chatnachrichten eines der Verdächtigen in der rechtsterroristischen Anschlagsserie, des AfD-Mitglieds Thilo P., wussten die Behörden seit längerem, dass P. den Oberstaatsanwalt Matthias F. nach einem Vernehmungstermin bei F. für einen Verbündeten hielt. Matthias F. habe durchblicken lassen, auf der Seite der Rechten zu stehen, prahlte P. einem weiteren damaligen AfD-Mitglied gegenüber. Die Information wurde von einem zweiten Staatsanwalt weder weitergegeben, noch verwendet, verschwand also einfach im Verfahrensverlauf.

Dass jetzt überhaupt etwas geschieht, dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eher daran liegen, dass die Verantwortlichen einem öffentlichen Desaster zuvor kommen wollte, als dass irgendwelche ohnehin kaum existenten Kontrollmechanismen gegriffen haben. Informationen dieses Magazins zufolge liegt der Sachverhalt nämlich seit einiger Zeit Journalist*innen zweier Tageszeitungen vor, die an dem Fall recherchierten. Man kann vermuten, dass die Generalstaatsanwaltschaft davon Wind bekommen haben muss, woraufhin sie die Flucht nach vorne antrat, um „jedem Anschein einer nicht sachgerechten Bearbeitung“, wie es in der Pressemitteilung der Behörde heißt, entgegenzuwirken.

Nun ist Matthias F. nicht irgendein Staatanwalt – was skandalös genug wäre. Der Oberstaatsanwalt leitete die Abteilung Staatsschutzdelikte und war in dieser Funktion mit zahlreichen Strafverfahren gegen Linke betraut. In der Szene hat man ihn in guter Erinnerung. Er gilt als Scharfmacher, Hardliner, einer, der aus Gesinnung handelt. Auch unter Anwält*innen, so erfuhr lower class magazine, galt F. als stramm rechts.

Im Lichte der jetzigen Erkenntnisse stellen sich zahlreiche Fragen im Fall der Anschlagsserie neu: Warum wurde, nachdem die Ausspähung eines der späteren Opfer vom Verfassungsschutz an die Polizei und von selbiger an die Staatsanwaltschaft weitergegeben wurde, keine Anklage eröffnet? Warum gab es für Thilo P. und Sebastian T. nie Untersuchungshaft – obwohl beide Wiederholungstäter sind und klar eine Gefahr für weitere Opfer ausging? Und warum wurde das Verfahren gegen einen LKA-Beamten, der sich mit Thilo P. in einer einschlägig bekannten Kneipe privat getroffen haben soll, so schnell eingestellt?

Das Problem, dass sich im Fall des Matthias F. zeigt, ist dabei keineswegs eines, das mit zwei Versetzungen behoben werden kann. Die jetzt bekannt gewordenen Informationen legen zwar Nahe, dass sich der Staatschutzchef und der Faschist zumindest vor ihrem Plausch nicht kannten, aber das macht die Sache nicht weniger beängstigend. Denn es zeigt sich, dass in Justiz- und Polizeiapparat neben denen, die sowieso schon organisierte Neonazis sind, auch an sehr hohen Stellen Leute sitzen, die im Fall des Falles durchaus Sympathien für diejenigen hegen, die dem Tag X entgegenfiebern. Gerade in Berlin hätte man das auch vorher wissen können: Hier wirkte bis zu seiner Wahl in den Bundestag für die AfD der damals schon offene Rassist Oberstaatsanwalt Roman Reusch.

Die Reaktionen aus der sich als „mitte-links“ vermarktenden Koalition sind angesichts dieser Problematik verstörend. Anstelle wirklicher Maßnahmen tritt das Bedürfnis alles rasch für erledigt zu erklären, bevor es öffentliche Empörung verursachen kann. So kommentierte als einer der ersten der Grüne Justizsenator Dirk Behrend auf Twitter: „Ich danke der Generalstaatsanwältin für diesen konsequenten Schritt. Es darf keinen Zweifel daran geben, dass die Strafverfolgungsbehörden rechtsextreme Straftaten verfolgen.“ Der Sound der Nachricht trifft den generellen Umgang mit der „Pannenserie“ in Neukölln. Man soll nicht zweifeln und rasch weitergehen. Es gibt hier nichts zu sehen.

#Titelbild: Rasande Tyskar/CC BY-NC 2.0

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Interview mit Peter Egger, Mitglied des Bund der Kommunist:innen, über Folklore am Arbeiter*innenkampftag, den DGB auf der Revolutionären-1.-Mai-Demo und die Notwendigkeit, die Systemfrage zu stellen. Das Gespräch führte Casia Strachna

Nach den Krawallen in der Silvesternacht ist das Thema Jugendarbeit wieder in aller Munde. Politiker:innen drehen Runden in den sogenannten […]

Im Mai hat die Kiezkommune Berlin-Wedding die Veranstaltungsreihe „Nein zum Krieg“ gestartet. Wir haben mit zwei der Organisator:innen, Noemi und […]

Es geht um viel weniger als damals und zugleich um viel mehr. Als am 1. Mai 1886 in den ganzen […]

Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den […]

Ein Jahr weltweiter Corona-Pandemie liegt hinter uns. Ein Jahr, bestimmt durch „Lockdown“ und Unsicherheit. Ein Jahr, dass immense Gewinne für […]

Bei Gewerkschaften denkt man vor allem an jene Arbeiter*innenverbände, welche die wirtschaftlichen und sozialen Interessen von Lohnabhängigen gegenüber den Arbeitgeber*innen […]

Wie jede kapitalistische Krise wurde auch die im Gefolge der Corona-Pandemie auf die Arbeiter*innen abgewälzt. Verbale Beteuerungen, wie sehr man […]

Anfang vergangener Woche machten auf Instagram Bilder eines jungen Mannes mit mehreren Kopfverletzungen die Runde. Zwei Brüder, Jecki und King_S, […]

Die an vermeintlichen „Ermittlungspannen“ reiche Geschichte der Serie von rechten Brandanschlägen, Sachbeschädigungen und Drohungen in Neukölln bewegt sich einem weiteren […]