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Meist geht es bei Streiks um Lohnerhöhungen. Aber hier ist es anders: Seit Wochen streiken in Gräfenhausen bei Darmstadt 65 Lkw-Fahrer aus Georgien und Usbekistan, weil sie den vereinbarten Lohn nicht erhalten haben. Der Fall bekommt zwar relativ viel Aufmerksamkeit, aber seine ganze Bedeutung wird in der Regel nicht deutlich. Denn der Kampf der Kollegen ist nicht nur einer für sie selbst, sondern einer im Interesse der ganzen Klasse der lohnabhängig Beschäftigten. Als Linke können und sollten wir dazu beitragen, solche Kämpfe voranzubringen.

Was in Gräfenhausen los ist …

Die polnische Firmengruppe Mazur weigert sich seit über zwei Monate, Lkw-Fahrern den vereinbarten Lohn auszuzahlen. Mehr als 100 Fahrer haben sich deshalb in den letzten Wochen an Streikaktionen beteiligt – in Italien, in der Schweiz und in Deutschland. Gehalten hat sich nur die Streikversammlung auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen West bei Darmstadt. Die ersten Lkw-Fahrer sind dort Mitte März in den Streik getreten, worauf sich ihnen weitere Kollegen angeschlossen haben. Mittlerweile sind 65 Kollegen samt Lkw in Gräfenhausen zusammengekommen. Der Streik wird dabei nicht von Gewerkschaften angeführt, sondern ist in erster Linie selbstorganisiert. Unterstützung gibt es aber unter anderem vom DGB-Beratungsnetzwerk Faire Mobilität und vom Niederländischen Gewerkschaftsbund FNV. Laut den Fahrern hat Mazur aufgrund des Drucks mittlerweile 200.000 Euro gezahlt, wobei 97.000 Euro noch ausstehen.

Die meisten der Lkw-Fahrer sind aus Georgien, einige sind aus Usbekistan. In der Regel haben sie sich dafür entschieden, in Europa zu arbeiten, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Im Kaukasus und in Zentralasien ist die soziale Lage kritisch und die Aussicht auf gutbezahlte Jobs schlechtTextfeld:  65 Lkw stehen auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen West, teilweise mit Ladung.. Viele Menschen aus den beiden Regionen wandern deshalb nach Russland aus oder arbeiten dort zumindest für einige Monate im Jahr als unterbezahlte Arbeiter:innen. In der EU zu arbeiten erscheint vielen da als eine bessere Möglichkeit. Aber die Realität auf dem Arbeitsmarkt der EU entspricht nicht dem Bild, das die EU von sich selbst verkauft – vor allem nicht für migrantische Arbeiter:innen.

Die streikenden Lkw-Fahrer arbeiten für eine polnische Spedition, fahren aber auf deutschen Straßen. Dazu kommt, dass sie keine Angestellten des Unternehmens sind, sondern scheinselbstständig arbeiten. Auf diese Weise umgeht die polnische Spedition den Mindestlohn, denn für Selbstständige gibt es keinen Mindestlohn. Zwischen 70 und 89 Euro kriegen die Fahrer pro Arbeitstag, laut Faire Mobilität – und ein Arbeitstag dauert bei ihnen 13 bis 15 Stunden. Das kann also einen Stundenlohn von 4,67 Euro bedeuten, obwohl der deutsche Mindestlohn bei 12 Euro liegt. Unternehmen sparen so circa 5.000 Euro im Jahr im Vergleich zu einem Fahrer, dem sie Mindestlohn zahlen würden.

Den Fahrern wird von ihrem Lohn einiges abgezogen: beispielsweise eine Pauschale von 700 Euro pro Monat „für Beschädigungen und Verstöße“, eine Gebühr für die „Abwicklung von Aufträgen“, 450 Euro jährlich für eine scheinbar ungültige Krankenversicherung und das erste Monatsgehalt wird als Kaution einbehalten. Außerdem werden die Fahrer im Krankheitsfall teilweise einfach nicht bezahlt. Unter diesen Bedingungen ist es kaum möglich, die Familie zuhause finanziell zu unterstützen, wie die Fahrer es sich vor dem Arbeitsantritt vorgestellt oder gewünscht hatten.

Als wäre das nicht genug, hat Mazur einigen Fahrern seit Februar gar keinen Lohn mehr ausgezahlt. So kam es zum aktuellen Streik. Es kommt allerdings nicht oft vor, dass Lkw-Fahrer sich entscheiden, auf diese Weise kollektiv gegen die krasse Ausbeutung zu kämpfen. Auch im aktuellen Fall gibt es Fahrer, die weiterfahren, statt den Konflikt einzugehen – in der Hoffnung, das Unternehmen zahle den Lohn dann doch irgendwann. Das ist verständlich, da sie sich in einer sehr schwierigen Situation befinden. Umso mehr Respekt und Unterstützung verdienen die Kollegen in Gräfenhausen.

Dass der Fall Gräfenhausen nun deutschlandweit und international so viel Aufmerksamkeit bekommt, liegt zum guten Teil daran, dass Mazur am 7. April eine paramilitärische Einheit nach Gräfenhausen geschickt hat. Dazu gehörten ein Panzerwagen, ein Streifenwagen und Männer in kugelsicheren Westen – zumindest dem Aussehen nach. Die paramilitärische Einheit gehört zur polnischen Privatdetektei Rutkowski, die in Polen schon seit Jahren schlechten Ruf hatTextfeld:  Der Fall Gräfenhausen erfährt international Aufmerksamkeit, unter anderem in Polen, Frankreich, Italien, Griechenland, Korea und natürlich den Herkunftsländern der Fahrer.. Die Schlägerbande sollte die Fahrer einschüchtern und ihnen die Lkw abnehmen. Sie konnte allerdings nur einen entwenden – mit Gewalt. Die anderen Lkw konnten die Streikenden verteidigen, bis die Polizei kam.

Nach ihrem Streik wird es für die Fahrer schwierig, nach Polen zurückkehren – für Mazur weiterzuarbeiten kommt ohnehin kaum noch in Frage. Nach der Panzerwagen-Aktion ist klar, dass das Unternehmen auch physische Gewalt als unternehmerisches Mittel betrachtet, um sein Profit-Interesse durchzusetzen. Wenn die Fahrer wieder getrennt voneinander fahren würden, wäre es für Mazur und seine Schlägertrupps einfacher, sich an den Fahrern für den Streik zu rächen. Außerdem hat das Unternehmen Anzeige gegen die Fahrer erstattet, weil diese die Lkw unterschlagen hätten. Dazu kommen Schwierigkeiten mit dem Aufenthaltsstatus der Fahrer. Viele der Kollegen wollen deshalb zunächst in ihr Herkunftsland zurückkehren, wenn sie ihren Lohn bekommen haben.

… ist der Normalzustand (im Kapitalismus)

Die Empörung über Gräfenhausen ist groß und das ist gut so. Aber die Aufmerksamkeit sollte sich nicht nur auf Mazur und seine Wild-West-Methoden richten. Nicht jeder Unternehmer ist so verrückt, direkt mit paramilitärischen Einheiten anzurücken. Aber die Arbeitsbedingungen der streikenden Kollegen sind trotzdem eher die Regel als die Ausnahme – auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands das nicht mitbekommt.

Es kommt sehr oft vor, dass migrantische Arbeiter:innen am Ende nicht den Lohn gezahlt bekommen, der ihnen bei der Anwerbung versprochen wurde. Dazu kommt, dass die Unternehmen ihnen gerne für alles Mögliche übertriebene Summen abknöpfen: für die Vermittlung des Jobs, für die Wohnung, für den Transport nach Deutschland, für die Beschaffung der Dokumente und so weiter.

Das ist der Normalzustand für migrantische Arbeiter:innen in Deutschland in verschiedenen Branchen. Besonders viele von ihnen arbeiten in der Logistik, im Bau, in der Landwirtschaft, in der Fleischindustrie und in der Industrie. Ein kritischer Sonderfall migrantischer Arbeit ist außerdem die häusliche Pflege, in der vor allem Frauen arbeiten.

Die Ausbeutung aller lohnabhängig Beschäftigten ist die Grundlage des Kapitalismus. Dabei meint der Begriff der Ausbeutung kurz gesagt, dass die Beschäftigten mehr erarbeiten, als sie an Lohn bekommen. Anders würde der Kapitalismus nicht funktionieren, denn anders würden Unternehmen keinen Profit machen können. Der Profit der Unternehmen und die Ausbeutung der Beschäftigten sind zwei Seiten derselben Medaille. Während alle Beschäftigten im Kapitalismus also ausgebeutet werden, werden migrantische Beschäftigte in der Regel vergleichsweise besonders stark ausgebeutet, sie werden überausgebeutet. In Zahlen: Beschäftigte ohne deutsche Staatsangehörigkeit bekommen im Mittel 26 Prozent weniger als Beschäftigte mit deutscher Staatsangehörigkeit – bei Kolleg:innen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea sind es ganze 42 Prozent weniger.

Dass diese Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen möglich ist, gründet darauf, dass Migrant:innen gegenüber den Unternehmen in einer schwächeren Position sind als nicht-migrantische Arbeiter:innen. Gründe für diese verletzliche Position können beispielsweise die folgenden sein: Die Kolleg:innen sprechen die Sprache des Landes noch nicht so gut, sie kennen das Land kaum und sind desorientiert, ihr Aufenthaltsstatus ist an einen bestimmten Arbeitsplatz gekoppelt, die rechtliche Lage allgemein ist für sie als Ausländer:innen unsicherer, sie sind seltener in Gewerkschaften organisiert und integriert, sie haben keine starken sozialen Netzwerke, die sie im Fall von Problemen unterstützen können und so weiter. Solange es in der Wirtschaft um Profit geht, solange der Kapitalismus besteht, werden Unternehmen versuchen die verletzliche Position migrantischer Menschen auszunutzen und sie überauszubeuten. Alles andere würde dem Profit-Interesse der Unternehmen widersprechen und sie in der Konkurrenz mit den anderen Unternehmen schwächen. Der Kapitalismus kann realistisch gesehen nicht ohne diese rassistische Ausbeutung und ohne rassistische Ungleichheit existieren.

Ein wichtiger Aspekt, durch den Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen erleichtert wird, sind die rechtlichen Regelungen zu Arbeit und Arbeitsmarkt. Die jetzigen Arbeits- beziehungsweise Ausbeutungsbedingungen mussten überhaupt erst politisch geschaffen werden. In den letzten 25 Jahren haben SPD, Grüne, CDU und FDP genau das getan. Zentral war und ist dabei die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Prekäre Arbeit bedeutet dabei für die Beschäftigten in der Regel mehr Unsicherheit und schlechte Bezahlung. Für das Kapital bedeutet prekäre Arbeit mehr Profit, da es die Beschäftigten stärker ausbeuten kann und ihre Arbeitskraft flexibler nutzen kann. Beispiele prekärer Beschäftigungsverhältnisse sind Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Minijobs, unfreiwillige Teilzeit und Werkverträge. Durch Werkverträge haben Unternehmen die Möglichkeit den per Tarif vereinbarten Lohn zu unterlaufen, indem sie Arbeit an Arbeiter:innen abgeben, die auf dem Papier für ein anderes Unternehmen arbeiten.

Das Kapital und die politischen Vertreter:innen seiner Interessen haben es geschafft, in Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas aufzubauen. Fast 25 Prozent der Beschäftigten gehören diesem an, bekommen also einen Lohn, mit dem sie kaum über die Runden kommen können. Dieser Niedriglohnsektor in Deutschland ist ein wichtiger Pfeiler der Dominanz des deutschen Kapitals und des deutschen Staates in Europa. Migrant:innen bekommen dabei überdurchschnittlich oft Niedriglöhne. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass migrantische Arbeiter:innen für den deutschen Kapitalismus unerlässlich sind – früher die sogenannten Gastarbeiter:innen, heute vor allem Arbeitsmigrant:innen aus Osteuropa und Geflüchtete.

Gräfenhausen ist also kein Unfall. Es ist ein Beispiel für den schrecklichen Normalzustand, von dem das Kapital profitiert. Die Fahrer nennen als Auftraggeber Unternehmen wie Bosch, Volkswagen, Mercedes, Ikea und Amazon. Aktuell haben manche Fahrer unter anderem Waren von General Electric geladen.

Ein Kampf im Interesse der ganzen Klasse

Ein großer Niedriglohnsektor ermöglicht es dem Kapital, die Löhne für alle Beschäftigten zu drücken. Je weniger die am schlechtesten bezahlten Beschäftigten bekommen, desto leichter ist es für das Kapital, auch die Löhne der anderen Beschäftigten nach unten zu ziehen. Wir werden also als gesamte Klasse der lohnabhängig Beschäftigten dadurch geschwächt, wenn auch nur ein Teil unserer Klasse besonders stark ausgebeutet wird. Dementsprechend ist es im Interesse der ganzen Klasse, den Niedriglohnsektor einzuschränken und das Lohnniveau zu heben.

Bei prekärer Arbeit ist es ähnlich: Das Kapital hat ein Interesse daran, prekäre Arbeit noch stärker auszuweiten und zu intensivieren. Und in den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass prekäre Arbeit sich in verschiedenste Bereichen ausbreitet – auch wenn sie zunächst nur in kleinen Bereichen existiert hat. Hier ist es in Interesse unserer Klasse, prekäre Arbeit gesamtgesellschaftlich zurückzudrängen, selbst wenn sie zunächst nur manche von uns betrifft. Die Streikenden in Gräfenhausen tragen einen kleinen aber wichtigen Teil dazu bei.

Denn ihr Kampf ist nicht nur einer dafür, dass die Kollegen endlich den vereinbarten Lohn bekommen. Er ist auch ein Kampf gegen die Arbeitsbedingungen in der Logistik und die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen. Teilweise sagen die Streikenden es ganz bewusst: „Wir stehen ja nicht nur für uns und unsere Familien hier […] Wir machen das für alle Fahrer, denen es so geht wie uns.“Textfeld:  Die georgischen Fahrer waren gezwungen, Ostern auf der Autobahnraststätte zu feiern. Die muslimischen Kollegen aus Usbekistan haben den Großteil des Ramadan inklusive Eid auf der Raststätte verbracht. Aber auch unabhängig von der Motivation der streikenden Kollegen: Sie zeigen, dass Beschäftigte sich vereint widersetzen können. Streiks wie der in Gräfenhausen kommen in der Logistik nicht oft vor – genauso wie in anderen Branchen, in denen die Unternehmen stark auf die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen setzen. Der Kampf unserer Kollegen in Gräfenhausen kann deshalb ein inspirierendes Beispiel für andere Lkw-Fahrer:innen sein, aber auch allgemein für Kolleg:innen in Branchen mit ähnlichen Ausbeutungsbedingungen.

Unternehmen wie Mazur wissen, dass solche Beispiele des Widerstands gefährlich für sie sind. Denn sie können weitere Kolleg:innen dazu motivieren, gemeinsam gegen die miesen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Deshalb können wir davon ausgehen, dass die Panzerwagen-Aktion von Mazur auch dazu dienen sollte, anderen Fahrer:innen zu zeigen: „Wir schrecken vor nichts zurück. Also kommt erst gar nicht auf solche Ideen!“ Auch hier gilt übrigens, dass der aktuelle Fall keine vollkommene Ausnahme ist. Einschüchterung und Gewalt kommen gegenüber migrantischen Arbeiter:innen immer wieder vor.

Im Fall Gräfenhausen bekommen die Streikenden viel Unterstützung von ver.di, IG Metall, DGB und weiteren Organisationen und Einzelpersonen. Das heißt praktisch Verschiedenstes: von der Lebensmittel-Versorgung über rechtliche Beratung bis zum Organisieren von Grillfesten. Gräfenhausen ist ein gelungenes Beispiel, wie Streiksolidarität praktisch organisiert werden kann. Die streikenden Kollegen sind beeindruckt und dankbar.

Als Linke können wir dem Kampf in Gräfenhausen mehr Aufmerksamkeit verschaffen und seine Bedeutung für die gesamte Klasse herausstellen. Empörung über den Fall ist gut, aber noch besser ist es, wenn größere Teile unserer Klasse sich bewusst werden, dass die Kämpfe migrantischer Arbeiter:innen meist Kämpfe im Interesse der gesamten Klasse sind. Außerdem können wir den Streik der Kollegen finanziell unterstützen. Es gibt dazu einen offiziellen Spendenaufruf auf der Website von Faire Mobilität.

Wir können aus dem Streik und der Streiksolidarität in Gräfenhausen lernen und versuchen, in Zukunft ähnliche Kämpfe zu unterstützen. Wir können und sollten prekäre Arbeit, den Niedriglohnsektor und die Überausbeutung migrantischer Arbeiter:innen bekämpfen – in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Praxis wie auch auf politischer Ebene. Die rechtlichen Regelungen müssen sich ändern, um der Spaltung unserer Klasse entgegenzuwirken und die Kampfbedingungen zu verbessern. Zu fordern, dass der Staat die Einhaltung seiner Gesetze schärfer kontrollieren sollte, kann allerdings gefährlich sein, weil am Ende oft vor allem unsere betroffenen Kolleg:innen Probleme mit dem Staat bekommen.Textfeld:  Unterstützung bekommen die Streikenden vor allem vom DGB und DGB-Gewerkschaften, aber auch von anderen politischen Gruppen. Wir sollten die konkreten Umstände und Folgen also bedenken.

Als Linke in Deutschland diskutieren wir mittlerweile zumindest darüber, wie Kapitalismus und Rassismus zusammenhängen – einen wichtigen Beitrag leisten dabei Bafta Sarbo und Eleonora Roldán Mendívil. Es kommt aber auch darauf an, Theorie und Praxis zu verbinden. Das heißt einerseits, unsere theoretischen Erkenntnisse für unsere praktische politische Arbeit zu nutzen. Und andererseits heißt das, unsere Erfahrungen aus der Praxis zu nutzen, um unsere Theorie weiterzuentwickeln. Wir haben also einiges zu tun. Aber es notwendig, denn Antirassismus und Klassenkampf zusammenzubringen ist eine entscheidende Aufgabe, um in Deutschland, Europa und darüber hinaus grundlegende gesellschaftliche Veränderung zu erkämpfen.
#Bildmaterial: eigenes Archiv.

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Nach den erneuten wilden Streiks beim Lieferdienst Gorillas Anfang Oktober, folgte eine Welle der Entlassungen. Diese werden mittlerweile größtenteils als widerrechtlich angesehen. Über diese illegalen Kündigungen, die schlechte Einstellung der Unternehmensführung gegenüber ihren Arbeiter:innen, sowie die Notwendigkeit zur Organisierung und die Frage nach der Legalität wilder Streiks in Deutschland haben wir uns mit Felix unterhalten.

Hallo. Kannst du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Felix. Ich wurde unrechtmäßig von Gorillas entlassen und habe im Schöneberger Warehouse gearbeitet, das ist eines der Lager, in denen wir gestreikt haben. Und ich bin auch im Gorillas Workers Collective.

Seit wann bist du Teil davon? 

Ähm, seit April.

Seitdem ist eine Menge passiert, es gab neue Streiks, erst kürzlich.

Ja, wir scherzen, dass dies die dritte Welle ist.

Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen, was momentan bei Gorillas passiert?

Bei den letzten Streiks hat das Unternehmen seine eigene Darstellung der Ereignisse veröffentlicht und im Grunde genommen davon gesprochen, dass die streikenden Arbeitnehmer:innen „nicht glücklich“ seien. Dabei bedienen sie sich der immer gleichen Sprache, die in solchen Start ups verwendet wird. Und uns wurde versucht uns Angst zu machen. Einige der streikenden Arbeiter:innen wurden entlassen, andere nicht. Es ist verwirrend, wenn nicht alle Arbeiter:innen, die entlassen wurden, gestreikt haben. Einige von ihnen waren sogar krankgeschrieben. Und andere Kolleg:innen, die gestreikt haben, wurden wiederum nicht entlassen oder illegal gekündigt. Gorillas macht weiter wie bisher und versucht, bei den anstehenden Betriebsratswahlen in den Wahlvorstand einzugreifen. Einige Arbeiter:innen, die wieder eingestellt wurden, mussten dafür sozusagen vor dem Unternehmen in die Knie gehen.

Was ist die Strategie des Workers Collective oder, sagen wir, der organisierten Arbeiter:innen im Allgemeinen, um sich gegen die Maßnahmen des Unternehmens oder auch gegen diese Narrative zu wehren?

Das Kollektiv hat die Aktionen unterstützt und es gab Leute, die Teil des Kollektivs waren, die auch gestreikt haben, aber ich würde eher über die Strategie der Arbeiter:innen in diesen Warehouses reden. Ich kann über Schöneberg und ein bisschen auch das Warehouse im Bergmannkiez sprechen. Wir müssen die Verbindung zu diesen Arbeiter:innen aufrechterhalten, auch wenn einige von ihnen das Unternehmen verlassen haben. Ich meine, viele Leute haben jetzt Angst, (illegal) entlassen zu werden, deshalb ist es ein bisschen schwieriger, sich zu organisieren. Ich denke, es gibt einen Punkt, an dem die Angst in gewisser Weise auch die Wut darüber überwiegt, dass das Unternehmen eine Reihe von Kolleg:innen gefeuert hat. Es gab auch Forderungen innerhalb der Streiks. Bei Gesprächen mit der Geschäftsführung wurde gesagt, dass diese bald erfüllt werden würden. Aber wir haben immer gesagt, dass das falsche Versprechungen sind. Gorillas hat monatelang Dinge versprochen. Seit dem letzten Streik und seit den Streiks davor. Sie haben uns Dinge versprochen, die nicht eingetroffen sind, stattdessen ist es nur noch schlimmer geworden. 

Inwiefern schlimmer?

Es ging unter anderem um die Qualität der Fahrräder und der Rucksäcke. Die Arbeiter:innen bekommen durch das Gewicht der Taschen chronische Rückenschmerzen. Die Manager haben uns – neben anderen Versprechungen – auch gesagt, dass wir bald neue Fahrräder bekommen und dass diese angeblich nur für die Lagerhäuser bestimmt sind. Es ist schon zu diversen Unfällen gekommen: Die Fahrräder gehen kaputt oder funktionieren nicht, so dass die Arbeiter:innen gefährdet sind. Und ich spreche aus der Sicht eines Riders. Diese Dinger kommen in das Warehouse und funktionieren nicht, dadurch passieren immer wieder Unfälle und es wird trotzdem nichts für die Sicherheit der Arbeiter:innen getan. 
Auch verschiedene Dinge bei der Schichtplanung, die sich ändern sollten, sind immer noch nicht umgesetzt.

Im Grunde wurden also keine eurer Forderungen erfüllt.

Nein. 

Du hast eben bereits über illegale Kündigungen gesprochen. Kannst du uns erklären, warum diese aus deiner Sicht illegal sind?

Sie sind illegal, weil viele von uns, mich eingeschlossen, nur Anrufe bekommen haben. Und technisch gesehen ist man erst entlassen, wenn man eine schriftliche Kündigung erhält. So lange kann man weiter arbeiten. Aber viele von uns haben diesen Anruf bekommen und dann wurden im Grunde alle unsere Schichten aus der App gelöscht, die wir benutzen, um uns ein- und auszutragen oder um zu wissen, wann unsere nächsten Schichten sind. Außerdem gab es verschiedene Dinge in den Kündigungen selbst, die nicht korrekt waren – sei es, dass sie nicht richtig unterschrieben oder Namen falsch geschrieben waren. 
Ich denke aber, das ist nicht unbedingt die Antwort auf deine Frage. Es gibt auch eine Menge Diskussionen, ob wilde Streiks legal oder illegal sind. Aber es ist eigentlich eine Grauzone. Es ist nicht legal, denn es gibt kein Gesetz darüber. Aber es ist auch nicht illegal. In Deutschland hat man das Recht zu streiken, wenn eine Gewerkschaft zum Streik aufruft. Aber im EU-Recht heißt es, dass die Arbeitnehmer:innen auch ein Streikrecht haben, wenn das nicht der Fall ist. Es geht also auch um die Frage, ob man das deutsche Recht dem EU-Recht unter- oder überordnet. 
Deshalb bereiten einige Arbeiter:innen wie ich Gerichtsprozesse vor, um wilde Streiks in Deutschland zu legalisieren. Wir wollen das bis vor den Europäischen Gerichtshof bringen. 

Wir haben gerade über die rechtlichen Strategien gesprochen, um mit diesen Kündigungen umzugehen. Was sind die politischen Strategien?

Es gibt Wut und Frustration und es gibt auch diese Angst, die ich schon angesprochen hatte. Wir sprechen über prekäre Arbeitnehmer:innen. Nicht nur wegen des Jobs an sich, sondern auch, weil viele von ihnen Angst haben, ihn zu verlieren. Sie müssen für ihre eigene Unterkunft und Verpflegung aufkommen und manchmal auch noch Geld nach Hause schicken. Und vielleicht ist der Job bei Gorillas nicht ihr Einziger. Auch die Beziehungen der Menschen zu Leuten in Machtpositionen sind verschieden, weil wir aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Man kann die Leute nicht dazu zwingen, zu streiken oder weiter zu streiken, aber es gibt immer noch die Möglichkeit, sich zu organisieren. So läuft das immer. Es gibt Streiks und dann werden die Probleme nicht gelöst. Deshalb ist es so wichtig, dass die Beschäftigten zusammenhalten und sich weiter organisieren. Auch wenn es auf einer kleineren Ebene ist als das, was Anfang Oktober in meinem Warehouse passiert ist. 
Aber mit dem kommenden Winter und wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht ändern, wird sich das fortsetzen und wiederholen, und die Beschäftigten organisieren sich immer mehr, wie man sehen kann. Vor zwei Wochen wurden mindestens vier Warehouses zu verschiedenen Zeiten bestreikt. Es breitet sich aus. 

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast!

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Betriebsratswahlen 2022. Warum sie gerade jetzt wichtig sind. (Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 5)

„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten.“ Dieser Spruch war Ende der 1980er Jahre auf WG-Kühlschränken, Häuser- und Toilettenwänden zu lesen. Was heute als abgedroschene Phrase gelten darf und spätestens seit den erdrutschartigen Erfolgen der AfD selbst von eingefleischten Anarch@s überdacht werden musste, kommentierte vor allem den fabelhaften Aufstieg der Grünen seit 1980 bei gleichzeitigem Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit. Der Spruch bezog sich auch generell auf Parlamentswahlen in westlichen Industrienationen.

Betriebsräte hatte damals wie heute niemand als Faktor auf dem Schirm. Sie galten bestenfalls als langweilig, bürokratisch, verfilzt… Doch das sollten wir überdenken! Die nächsten Betriebsratswahlen stehen vom 1. März bis 31. Mai 2022 an. Betriebsratsgründungen können zwar jederzeit erfolgen, existierende Gremien wählen alle vier Jahre bundesweit in diesem Zeitfenster. Jetzt sollten Wahllisten vorbereitet werden.

Dysfunktionale Demokratien und Massenverblödung

Bleiben wir noch kurz bei Parlamentswahlen. Heute wissen wir dank der USA und Donald Trump, aber auch anhand jüngster Vorgänge in anderen dysfunktionalen „westlichen“ Demokratien wie Brasilien, Bolivien, dass Wahlen nicht gleich verboten werden müssen, wenn sie etwas zu ändern drohen. Die Methoden, sie unschädlich zu machen, sind wesentlich vielfältiger und raffinierter: Wahlen können untergraben, manipuliert, gezielt delegitimiert, nicht anerkannt werden. Wahlen können durch Inhaftierung oder gerichtliche Absetzung der gegnerischen Spitzenkandidaten (Lula, Evo Morales) gewonnen werden. Wahlen werden beeinflusst durch manipulativen Zuschnitt der Stimmbezirke (englisches Fachwort: Gerrymandering), durch gezieltes Abhalten bestimmter Wählergruppen (Schwarze in den Südstaaten) oder durch deren systematische Demoralisierung, Desinformation und Verblödung.

Vielleicht ändern Parlamentswahlen damals wie heute tatsächlich nichts am Kern des Übels, also den Eigentums- und Besitzverhältnissen – wo doch selbst ein bescheidener Berliner Mietendeckel vom Verfassungsgericht kassiert wird.

In Bezug auf Betriebsratswahlen gilt der Umkehrschluss: Sie sind gefürchtet,
a) weil hier tatsächliche Macht in einer überschaubaren Einheit entsteht,
b) weil diese Macht von gewählten Personen aus dem Kreis der Ausgebeuteten ausgeübt wird.

Betriebsratswahlen werden zwar nicht verboten, aber vom Staat auch nicht durchgesetzt und konsequent verteidigt, sondern durch einen professionelle Dienstleistungssektor aus Jurist:innen, Berater*innen und PR-Profis mit Methoden sabotiert, die auf der betrieblichen Ebene den oben aufgezählten parlamentarischen Wahlmanipulationen ähneln.

Betriebsratswahlen werden keineswegs flächendeckend, regulär und selbstverständlich abgehalten – entgegen geltender Gesetze. Laut einer repräsentativen Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB, einer Tochter der Bundesagentur für Arbeit) gibt es in nur 9 Prozent der wahlberechtigten Betriebe (mit mindestens fünf Beschäftigten) einen Betriebsrat. Das ist an sich ein Skandal. In jeder Schulklasse werden ab der Grundschule Klassensprecher:innen gewählt, in jeder Kommune und gibt es Stadträte. Bei genauer Betrachtung stellen wir fest: Es gibt noch nicht einmal Zahlen! Niemand weiß, wie viele Betriebsräte überhaupt existieren. Aber wir dürfen vermuten, dass selbst 1978, in der Zeit der größten Machtentfaltung der westlichen Arbeiterklasse (laut der Zeitschrift Wildcat) Betriebsräte nie flächendeckend und in sämtlichen Industrien verbreitet waren.

Warum sind Betriebsräte so gefürchtet?

Ein Betriebsrat schränkt die unternehmerische Willkür bei Einstellung und Entlassungen ebenso ein wie bei Überstunden, Dienstplänen, Urlaubsvergabe, tariflicher Eingruppierung und willkürlicher Ungleichbehandlung. Der Betriebsrat schafft Transparenz über Auftragslage, Geldflüsse, geplante Manöver des Managements; er ist die einzige wirklich effektive Kontrollinstanz für geltende Gesetze, Vorschriften und Verordnungen etwa zu Arbeitsschutz, Arbeitszeiten etc. Der Betriebsrat ist der zentrale Brückenkopf für Gewerkschaften und sozialistische Organisationen. Der Betriebsrat ist nicht kündbar – theoretisch, denn um Kündigungen zu fabrizieren und Betriebsratsmitglieder zu zermürben, werden Union Buster angeheuert. Und nur wo ein Betriebsrat existiert, können Gewerkschafter:innen offen und ohne Angst vor Kündigung im Betrieb auftreten.

Genau deshalb ist die Betriebsratswahl seit der Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes am 13. Januar 1920 ein Stiefkind der Demokratie und ein blinder Fleck des Rechtsstaats geblieben. Die SPD ließ zur Verabschiedung das größte deutsche Massaker an Demonstrant:innen der deutschen Geschichte zu. 42 Personen starben im Kugelhagel, als die mit Rechtsextremen durchsetze paramilitärische „Sicherheitspolizei“ (SIPO) angeblich zum Schutz des Reichstags mit Maschinengewehren in eine Menge von 100.000 Berliner Arbeiter:innen ballerte. Das Betriebsrätegesetz und das spätere Betriebsverfassungsgesetz sind Resultate eines unerklärten Bürgerkriegs. Wesentliche Teile des Unternehmerlagers haben Betriebsräte nie oder nur zähneknirschend und vorübergehend akzeptiert. Staatsanwaltschaften und Gesetzgeber behandeln die Straftat Betriebsratsbehinderung (§119 BetrVG) als Kavaliersdelikt. Tatsächlich ist sie mit dem selben Strafmaß bewehrt wie Beleidigung, Höchststrafe ist ein Jahr Gefängnis.

Kritik von links und rechts

Auf rechtsextremer Seite ist hingegen eine ideologische Mutation passiert: Galten Betriebsräte früher als Schande für die deutsche Industrie und als Verstoß gegen das Führerprinzip, die nach der Machtübernahme der Faschisten 1933 sofort liquidiert wurden, so bereiten sich diverse Schattierungen von AfD und Pegida längst intensiv darauf vor, sich über Betriebsratsmandate dauerhaft in Belegschaften zu verankern. Dass diese Strategie durchaus erfolgreich sein könnte, zeigen Wahlerfolge des „Zentrum-Automobil“ bei Daimler und BMW.

Die radikale Linke der 1970er Jahre hat Betriebsräte zu großen Teilen abgelehnt und oft aus guten Gründen und schlechten Erfahrungen regelrecht verabscheut. In einem Nachruf auf den jüngst verstorbenen Wortführer des Kölner Ford-Streiks 1973, Baha Targün,lesen wir, warum. Denn der Ford-Betriebsrat beteiligte sich federführend an der Niederschlagung des „Türken-Streiks“: „Mit Gebrüll stürmte die Polizei den Betrieb. Mit dabei: Werkschutz, angeheuerte rechtsradikale Schläger, Gewerkschaftsfunktionäre, Meister, Vorarbeiter. BahaTargün wurde schwer verletzt. Die Werksleitung bedankte sich nach dem Streik öffentlich für den ‚persönlichen Einsatz der Betriebsräte unter der Führung des Betriebsratsvorsitzenden‘.“

Die Betriebsratsfürsten der Großkonzerne waren Teil eines fest verwobenen Filzes aus SPD-Apparastschiks, Gewerkschaftsbonzen, Seitenwechslern aus den Gewerkschaften ins Management, Aufsichtsratspöstchen, fetten Abfindungen, Vergünstigungen wie Dienstwagen und Lustreisen, vermutlich auch inklusive knallharter Bestechung und Korruption. Rund um Betriebsräte hat sich eine regelrechte Industrie aus Anwält:innen und Schulungsunternehmen gebildet. Betriebsräte lassen sich regelmäßig in 4-Sterne-Sporthotels schulen, all-inclusive versteht sich. Das alles war richtig und ist es zum Teil immer noch.

Zuletzt hat etwa der Prozess um massive Betriebsratsbegünstigung, Korruption und Veruntreuung bei VW, der leider mit Freisprüchen für das Management endete, für schlechte Presse von Betriebsräten gesorgt. Und dieser Prozess zeigt nur die Spitze eines Eisbergs, der immer noch ziemlich massiv ist.

Allerdings haben sich sich die Vorzeichen geändert. Der Eisberg schmilzt. Und wird vom Management in den vergangenen 40 Jahren gezielt abgeschmolzen. Auch wenn die Börsennachrichten im Ersten und das Handelsblatt einen anderen Anschein erwecken: Die deutsche Wirtschaft besteht nicht mehr aus DAX-Konzernen und Industrie-Giganten. Auslagerungen, gezielte Aufspaltungen der integrierten Großunternehmen nach Vorbild von Ford haben eine immer kleinteilige Produktionslandschaft entstehen lassen. Ein Betriebsrat bei H&M oder einem Bremsscheibenhersteller der Autoindustrie ist nicht zu vergleichen mit den Betriebsratsfürstentümern bei VW. Zudem sind ehemalige Giganten wie ThyssenKrupp, AEG oder General Electric längst Geschichte.

Wenn wir von direkter Demokratie sprechen, dann sind die bunten, alternativen Listen, die ab den 1970er Jahren zu Betriebsratswahlen antraten – und in denen sich jene Radikalinskis sammelten, die damals routinemäßig wegen „Unvereinbarkeit“ aus DGB-Gewerkschaften ausgeschlossenen wurden – sogar Vorboten der Grün-Alternativen Listen auf kommunaler Ebene gewesen. Und sie enthalten Restbestände und deutliche Spurenelemente der gescheiterten sozialistischen deutschen Räterepublik von 1918.

Wenn diese Wahlen unwichtig wären, würden sie nicht so massiv behindert.

Für Betriebsräte gilt also der Umkehrschluss der alten Sponti-Weisheit. Daraus folgt der Appell sich jetzt ernsthaft Gedanken über eine Kandidatur und eine Wahlliste zu machen. Diese kann unabhängig, bunt und alternativ sein oder in enger Abstimmung mit einer Gewerkschaft und ihrem Vertrauensleute-Körper aufgestellt werden. Was besser ist, muss im konkreten Fall abgewogen und entschieden werden.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 2 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Beide beraten aktive Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen. Ihr erreicht sie unter kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Betriebsrat der Zeche Mansfeld 1951, wikimedia commons, CC BY-SA 3.0

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Seit mittlerweile zwei Wochen streiken die Pflegekräfte der Charité- und Vivantes-Kliniken, sowie Angestellte diverser Tochterunternehmen für bessere Arbeitsbedingungen. Diese sind sowohl für die Gesundheit der Angestellten, als auch der Patient:innen dringend notwendig: Überlastung, Unterbesetzung und damit eine Gesundheitsversorgung auf Minimalniveau brachten die Arbeitenden auch schon vor der Pandemie vielfach an ihre Belastungsgrenzen. Doch obwohl es im letzten Jahr viel Aufmerksamkeit für das Thema gab, hat sich nichts verändert. Das macht diesen Streik umso notwendiger. Um mehr über die Hintergründe, den aktuellen Stand und den Streikalltag zu erfahren, waren wir heute bei der Vivantes-Zentrale, wo momentan über die Forderungen verhandelt wird. Dort haben wir uns mit Laura unterhalten.

Hallo, magst du dich einmal kurz vorstellen?

Ich bin Laura, ich bin seit drei Jahren Krankenschwester in der Rettungsstelle in einem Krankenhaus von Vivantes. Ich mag meinen Job eigentlich sehr gerne, aber jetzt gerade bin ich im Streik.

Wann habt ihr angefangen zu streiken und wie kam es dazu?

Die ganze Geschichte fängt eigentlich schon im März an, als wir angefangen haben diese Aktionen vorzubereiten. Im Mai gab es dann eine Übergabe von Forderungen an den Berliner Senat und es wurde ein 100 Tage Ultimatum gestellt, innerhalb dessen wir unsere Forderungen erfüllt sehen wollten – nach mehr Personal, besseren Arbeitsbedingungen in der Pflege, besseren Ausbildungsbedingungen und einer fairen Bezahlung, also nach TVöD, für die Beschäftigten der Tochterunternehmen von Charité und Vivantes. Dieses Ultimatum ist ohne Reaktion geblieben und dementsprechend sind wir dann vor drei, vier Wochen in den Streik getreten.

Gab es Versuche euer Streikrecht einzuschränken?

Erstmal war es ein Warnstreik über drei Tage, dort haben wir auch eine einstweilige Verfügung von unserer Arbeitgeberin Vivantes kassiert, Charité hat das nicht gemacht. Die wurde dann nach dem Wochenende vom Berliner Arbeitsgericht wieder gekippt. In dieser Zeit wurde noch nicht mal eine Notdienstvereinbarung abgeschlossen. Wir haben natürlich eine eingereicht, die wird dann einseitig geschlossen – das ist geltendes Streikrecht und nach der verhalten wir uns auch nach wie vor – die wurde aber nie von der Arbeitgeberin angenommen. Die Arbeitgeberin hat Besetzungen gefordert, die weit über das hinausgehen, was wir in der Normalbesetzung haben.

Wir waren die ganze Zeit verhandlungsbereit, es wurden aber keine Verhandlungen aufgenommen. Deswegen sind wir jetzt seit zwei Wochen in einem unbefristeten Erzwingungsstreik um eben unsere Forderungen durchzusetzen. Unser Credo ist, dass nicht der Streik die Patient:innen gefährdet, sondern der Normalzustand.

Wie sieht eure Notdienstvereinbarung aktuell aus?

Das ist ein bisschen differenziert. Für die normalen Stationen gilt die Wochenendbesetzung, bei uns in der Rettungsstelle haben wir für jede Vivantes Rettungsstelle eine individuelle Vereinbarung getroffen. Die orientiert sich aber an der schlechtesten Besetzung der letzten Monate vor dem Streik.

Kannst du uns mehr über die Arbeitsbedingungen im „Normalzustand“ erzählen?

Ja. Wenn wir so besetzt sind, drei Pflegepersonen zur Patient:innenversorgung, versorgen wir teilweise bis zu 70 Patient:innen. Und das sind nicht einfach nur Leute die einen verstauchten Fuß haben. Das sind Leute mit Frakturen oder in psychischen Ausnahmezuständen aber auch Leute mit Akutsituationen, also Herzinfarkten, Schlaganfällen. Und das sind Menschen in akut lebensbedrohlichen Situationen, die reanimiert werden müssen, die beatmet werden müssen, die Herz-Kreislauf-Stillstände haben. Das sind auch Leute mit starken Schmerzen oder Patient:innen mit Demenz, die eine intensive Betreuung erfordern, genauso wie die Psych.-Patienten um die man sich eigentlich individuell kümmern müsste. Und davon haben wir dann quasi zu dritt bis zu 70. In einem Dienst, gleichzeitig. Da kann man sich vorstellen wie das abgeht. Dann müssen wir überlegen, wen wir von der Trage schicken, damit wenn die Feuerwehr wiederkommt sich jemand hinlegen kann und wo wir überhaupt jemanden hinsetzen können. Da bleiben die Grundbedürfnisse der Patient:innen – also Essen, Trinken, mal auf die Seite gedreht oder gewindelt werden – komplett auf der Strecke.

Und nach so einem Dienst fühlt man sich eigentlich immer wie eine richtige Versagerin. Du kommst nicht hinterher, du schaffst nicht alles. Menschen müssen auf vieles warten, es kommt zu vielen Aggressionsereignissen. Alles Dinge, die man mit einer guten Personalbesetzung verhindern könnte. Jetzt hat man eigentlich nur noch das Gefühl, dass man aufpasst, dass niemand stirbt. Und das ist nicht das Ideal, warum ich Krankenschwester geworden bin. Ich möchte Menschen gut versorgen und in schlimmen Situationen für sie da sein. Das geht alles nicht.

Welche Forderungen habt ihr aufgestellt, damit ihr in Zukunft mit einer besseren Besetzung arbeiten könnt?

Es gibt quasi zwei große Säulen für die Pflege in allen Bereichen. Von unserer Seite läuft alles auf einen Tarifvertrag Entlastung hinaus, also einen zusätzlichen Tarifvertrag zum TVöD nach dem wir aktuell arbeiten. Der soll eine schichtgenaue Mindestbesetzung für jeden Bereich vorsehen. Wir wollen ganz genau verhandeln, an welcher Stelle wir wie viel Personal brauchen. Bei uns würde das zum Beispiel bedeuten, dass in jedem Dienst mindestens acht Pflegepersonen da sind. Das ist an unseren Patientenzahlen orientiert. Es gibt Richtlinien von der DGINA (Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin, Anm. d. Red..)welche als Personalunterbesetzung einen Schlüssel von 1:5 oder 1:6 vorsehen, aktuell arbeiten wir mit einem Personalschlüssel von 1:15 bis 1:30. Man kann sich vorstellen, was das für einen Unterschied macht. In unserer Rettungsstelle haben wir aktuell 31 Vollkräfte und wir würden dann eher so auf 50 kommen. Also ein riesigen Unterschied in jedem Dienst. Das würde dazu führen, dass wir nicht mehr so überbelastet sind und so schnell aus dem Beruf ausscheiden müssen, wie das gerade häufig passiert. Das kann man auch auf andere Bereiche übertragen. In der Intensivmedizin ist es eigentlich notwendig und auch von der Gesetzgeberin gefordert, dass es eine 1:2 Betreuung gibt. Momentan ist es häufig 1:4 oder schlimmer. Dem wird man nicht gerecht, das ist unmöglich.

Es gibt ja auch die Forderung nach einem Punkte-Modell. Kannst du das noch einmal erläutern?

Genau, das ist die zweite Säule. Wenn diese Personalunterbesetzungen unterschritten werden, fordern wir Belastungspunkte. Wenn ich also zum Beispiel in einem Dienst arbeite in dem wir nicht zu acht sind, sondern nur zu viert, dann bekomme ich einen Belastungspunkt. Und unsere Forderung wäre, dass wenn wir eine bestimmte Anzahl davon gesammelt haben, wir einen Freizeitausgleich bekommen. Langfristig soll das die Arbeitgeber dazu zwingen, Personal aufzubauen, weil diese Belastungspunkte für sie natürlich teuer sind. Punkte soll es auch geben, wenn wir mehrere starke Belastungen wie beispielsweise Reanimationen in einer Schicht haben. Oder auch für Auszubildende, wenn sie in Situationen geraten, wo sie als Vollkraft missbraucht werden.

Wie wirkt sich der Streik aktuell auf euren Arbeitsalltag aus?

Ich muss ganz ehrlich sagen, in meiner Rettungsstelle und in vielen anderen Bereich auch ist es so, dass oft niemand streiken gehen kann, weil wir schon von Haus aus nicht besser besetzt sind, als es die Notdienstbesetzung vorsieht. Wenn jemand von uns streiken kann, ist es für die Kolleg:innen, die den Notdienst dann tragen müssen natürlich hart. Weil man weiß, dass gerade eigentlich noch mehr Personal da sein könnte. Deswegen fühlen wir uns da häufig sehr in der Zwickmühle, aber es ist gerade eben wichtig weiter zu streiken und das durchzuziehen. In meinem Team ist es zum Glück auch so, dass von 42 Kolleg:innen nur eine Person nicht streikbereit ist. Deswegen läuft das ganz gut, aber mittlerweile gehen wir auf dem Zahnfleisch. Es ist hart, man trifft auch auf viel Unverständnis bei anderen Kolleg:innen. Aber eigentlich muss man sagen, dass wir sonst auch mit ähnlich wenig Personal arbeiten. Und wenn die Arbeitgeberin argumentiert, dass das jetzt Patient:innengefährdung sei, dann ist das ein Riesenskandal und quasi Rufmord an der Pflege und an den Streikenden. 

Kommen wir noch einmal zu den Verhandlungen zurück, die gerade hier laufen. Was gibt es von dort zu berichten?

Für Vivantes hatten wir gestern Sondierungsgespräche, die liefen für einige Bereiche wirklich vielversprechend. Es wurde viel abgenickt von unseren sehr detailliert ausgearbeiteten Forderungen. Für andere Bereiche wie die Stationen mit Betten, die Azubis und Hebammen lief es eher schlecht. Für Auszubildende gab es gar kein Angebot, die Hebammen wurden ignoriert. Die können eigentlich nicht bei drei Geburten gleichzeitig sein und dass das gerade so passiert ist nicht menschenwürdig. Und für die bettenführenden Stationen scheint Vivantes ein Flexibilisierungmodell zu fordern. Also, dass nicht mehr nach Fachrichtung geteilt wird, sondern ganz viele Patient:innen interdisziplinär zusammenliegen. Das bringt mehrere Probleme mit sich. Zum einen müssen die Ärzt:innen die ganze Zeit hin und her laufen, was für viel Zeitverlust sorgt. Die haben eh schon genug Stress, auch nicht weniger als wir. Außerdem führt das zu einer Entprofessionalisierung in der Pflege. Das wertet das Selbstverständnis der Pflege total ab. Und es ist natürlich das Ziel bei Arbeitsausfällen einfach viele Patient:innen auf eine Station zu schieben. Man möchte ganz viel Geld sparen, wodurch die Qualität der Gesundheitsversorgung krass leidet. Dementsprechend wollen die bei uns nicht nach Fachbereich verhandeln. Deswegen sind wir gestern mit gemischten Gefühlen aus den Verhandlungen gegangen. 

Und wie ging es heute weiter?

Heute ist es katastrophal. Uns wird signalisiert, dass es denen relativ egal ist, wie lange die Verhandlungen dauern. Wir haben den Eindruck, dass die jetzt eine Verschleppungstaktik fahren um ein Ergebnis bis nach der Wahl am Sonntag zu vertagen, weil die genau wissen, dass wir jetzt gerade Momentum haben und dass gerade alle Augen aus der Politik auf uns gerichtet sind. Wahrscheinlich ändert sich das nach der Wahl. Dementsprechend wurde heute total viel zurückgenommen, was uns gestern zugesagt wurde. Es gibt aktuell eigentlich null befriedigende Ergebnisse. Sie sagen, dass sie nur noch bis heute früher Nachmittag mit uns verhandeln und dann wollen sie ins Wochenende gehen.

Du hast die Wahl am Sonntag angesprochen. Wie ist denn aktuell die Rückmeldung aus der Politik?

Bis jetzt habe ich da heute noch nichts gehört. Wahrscheinlich wird gerade in der Tarifkommission darüber diskutiert, wie wir jetzt darauf reagieren sollen. Wir haben in den letzten Wochen insgesamt 600 Erfahrungsberichte über die schlimmsten Situationen, die wir auf Stationen erlebt haben, gesammelt. Am Montag haben wir Politiker:innen von SPD, Grünen und Linken in der Zionskirche 16 davon vorgestellt. Wir haben uns bis jetzt darauf geeinigt davon nichts zu veröffentlichen, aber ich kann sagen, dass bei den Politiker:innen Tränen geflossen sind. Und ich denke mal unser nächstes Druckmittel wird sein, diese Berichte zu veröffentlichen wenn uns nichts anderes übrig bleibt.

Insgesamt ist es so, dass wir nicht mitbekommen, was im Hintergrund läuft. Aber nach diesem Montag hatten wir schon das Gefühl, dass da massiv Druck ausgeübt wurde. Danach gab es viele Zugeständnisse von Herr Danckert (Dr. Johannes Danckert, kommissarischer Vorsitzender der Vivantes-Leitung, Anm. d. Red.). Eigentlich hieß es, dass sie bis Ende der Woche ein abschlussfähiges Verhandlungsergebnis haben wollen. Und heute hatten wir dann den Eindruck, dass Dorothea Schmidt (Geschäftsführerin d. Personalmanagement bei Vivantes, Anm. d. Red.) dass alles ad absurdum führt. Es ist auch wichtig zu wissen, dass Schmidt uns sehr klein hält und uns immer wieder signalisiert, dass Pflege nichts wert ist, obwohl sie selbst gelernte Krankenschwester ist. Sie sagt, dass wir keine Belastungssituation hätten und dass das eine emotionale Wahrnehmung von Individuen sei. Das istaus einem Awareness-Standpunkt schon grob übergriffiges Verhalten uns gegenüber. Hier streiken jeden Tag 2.000 Beschäftigte. Und die Streikbereitschaft wäre eigentlich noch viel höher, aber wir fühlen uns unseren Patient:innen verpflichtet und wollen niemanden im Stich lassen. Genau diese Garantie der Versorgung unsererseits bedeutet ja auch die Notdienstvereinbarung. Wenn uns so etwas gesagt wird, ist das fast so, wie als Herr Spahn sagte, dass wir alle kündigen sollen, wenn wir es nicht aushalten.

Wann war das?

Das ist schon eine ganze Weile her und wurde nie öffentlich gemacht. Aber das war bei einer Veranstaltung, bei der Kolleg:innen von mir aus dem Klinikum am Urban anwesend waren.

Und wie sieht es aus mit der Solidarität aus der Bevölkerung, besonders nachdem diese während der letzten eineinhalb Jahre Covid-19-Pandemie immer wieder beteuert wurde. Zeigt sich das auch jetzt?

Ja, auf jeden Fall! Es gibt eine Petition zur Berliner Krankenhausbewegung, die wurde oft unterschrieben. Auch an den Streikposten vor den Krankenhäusern werden wir wahnsinnig häufig von der Zivilbevölkerung angequatscht. Es kommen ganz oft Leute vorbei und sagen uns, dass es toll ist, was wir machen und wollen die Petition unterschreiben. Teilweise gibt es auch andere Stimmen, aber wenn man mit den Menschen spricht, kommt dann meistens auch die Erkenntnis, dass es wichtig ist, was wir machen. Ich habe schon überwiegend den Eindruck, dass die Unterstützung in der Bevölkerung da ist. Ich bin nur ein bisschen enttäuscht über das mediale Echo. Die Berliner Gesundheitsversorgung steht an einem Scheideweg und den können wir gerade mit bestimmen. Absolut jede Person kommt irgendwann mal in ein Krankenhaus und Vivantes und Charité stellen zusammen nunmal elf der größten Krankenhausbetriebe in der Stadt. Das heißt es geht wirklich jeden etwas an und dafür finde ich das Interesse noch zu gering.

Kannst du uns zum Schluss noch einen Ausblick geben, wie ihr weiter verfahren wollt, auch über das Wahl-Wochenende hinaus?

Wenn sich das weiterhin so unbefriedigend gestaltet, wie es das bisher tut dann werden wir – auch wenn wir alle auf dem Zahnfleisch gehen und nicht mehr wollen – weiter streiken müssen. Und wahrscheinlich auch noch Mal Druck ausüben müssen. Vielleicht mit einer Veröffentlichung der Erfahrungsberichte.

Vielen Dank und viel Erfolg noch beim Streik!

Danke.

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(Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Element im Betrieb. LCM-Serie Teil 4)

Nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler.

Alte Kalenderweisheit

Das Ausscheiden gehört zu einem normalen Entwicklungsprozess, wir können Titel nicht herbeireden.

Jogi Löw nach Halbfinal-Niederlage bei der EM 2012

Für eine gewisse Zeit im April 2021 blickte die Weltöffentlichkeit auf den US-Bundesstaat Alabama und wartete gespannt auf den Ausgang der Wahlen zur Anerkennung der Einzelhandels, Großhandels- und Kaufhausgewerkschaft RWDSU im Amazon-Lager BHM1 in Bessemer, einem Vorort von Birmingham. Dass sie weltweite Aufmerksamkeit für einen demokratischen Wahlkampf am Arbeitsplatz erzeugen konnte, war womöglich der größte Verdienst der RWDSU in dieser Schlacht, die mit einer vernichtenden Niederlage endete. Manche meinen, dass die Niederlage bereits zu Beginn feststand und anhand der Ausgangslage unvermeidlich war. Dieser Artikel fasst Union-Busting-Maßnahmen und mögliche Lehren zusammen.

Denn Amazon hasst Gewerkschaften und bekämpft sie systematisch. Der Online-Gigant ist mit rund 500.000 Beschäftigten inzwischen hinter Walmart der zweitgrößte Arbeitgeber der USA. Ein Erfolg der Gewerkschaften wäre dort die erste erfolgreiche Organisierung bei Amazon gewesen. Die Wahl in Alabama sollte für die Gewerkschaftsbewegung der Startschuss für die Organisierung bei Amazon werden. Viele sahen gar eine Art Zeitenwende herannahen, nachdem vorangegangenen Sieg der Demokraten in der US-Präsidentschaftswahl, der ebenfalls über eine siegreiche Moblisierung der schwarzen Wählerschaft im Swing-State Alabama lief. Da auch bei Amazon in Alabama überwiegend Afro-Amerikaner_innen arbeiteten, glaubte man an einen positiven Trend.

Extrem erfolgreiches Union Busting

Amazon setzte alle Hebel in Bewegung und engagierte neben hausinternen Stabstellen, die mit Militärs, Psychologen, PR-Spezialisten und Geheimdienstler_innen gespickt sind, mit Morgan Lewis die wohl berüchtigste Union Busting-Kanzlei der USA ein, um den Aufmüpfigen im Betrieb eine Lektion zu erteilen. Es wurde eine verheerende Klatsche, ein Knock-down. Von 5.800 Wahlberechtigten gaben nur 3.041 ihre Stimme ab: 1.798 gegen die Gewerkschaft, nur 738 dafür, 505 Stimmen wurden angefochten, 400 davon von Amazon — mit meist lächerlichen Gründen, wie Gewerkschaftsboss Stuart Appelbaum lamentiert. Doch selbst wenn wir wir die angefochtenen Stimmen komplett für die RWDSU gewertet werden würden, was unrealistisch wäre, so hätten nur 21 Prozent der Wahlberechtigten für die Gewerkschaft gestimmt. An zweifelsfrei gezählten, unangefochtenen Stimmen waren es nur 13 Prozent. Ein Desaster.

Management nimmt Rache: Arbeitshetze und Zen-Kabinen

Wie vernichtend die Niederlage war, zeigt sich auch an den Folgen. Der Arbeitsdruck stieg weiter. Die fast lückenlose Überwachung, Kontrolle und Bestrafung waren ein wesentlicher Grund, warum sich ein Kern von Amazon-Malocher_innen bei der RWDSU gemeldet hatte und um Hilfe bat. Das berüchtigte „time off task“-Kontroll-System (TOT) misst angeblich „verschwendete Arbeitszeit“, schlägt laut Berichten aber auch an, wenn es Lieferengpässe und daher nichts zu tun gab. Wer zu viel TOT anhäuft, „erhält Warnungen und wird gekündigt“, referiert netzpolitik.org eine Studie des Open Markets Institute. Beschäftigte beschreiben den psychologischen Effekt dieser Maßnahme als schwelende Dauerpanik bei der Arbeit. Ein Armband soll außerdem sicherstellen, dass bei Beschäftigten jeder einzelne Handgriff in die richtige Richtung geht. Wenn nicht, vibriert das Kontrollbändchen.

Die Arbeiter_innen versprachen sich von ihrer Gewerkschaft eine reale Verbesserung. Nach deren Niederlage wurde der Druck offenbar zusätzlich erhöht.

Was nutzt ein Sieg, der keine Früchte trägt?

Die Aufmüpfigen sollen die Knute spüren. Am 6. Mai starb ein Amazon-Arbeiter im Lager nach einem Kreislaufkollaps.1 Sein Name – und das zeigt die Dimension der Niederlage vielleicht am Deutlichsten – ist bis heute öffentlich unbekannt. Die Deutungshoheit liegt wieder ganz beim Management und der Amazon-PR. Der Gipfel des Zynismus: Um auf beständige Kritik am Arbeitsdruck und signifikant hohen Unfall- und Krankheitszahlen zu reagieren, stellte Amazon „Achtsamkeitskabinen“ in der Größe von Dixie-Klos in den Lagern auf, die –– kein Scherz! – AmaZen heißen. Dort könenn die Arbeiter_innen verschiedene Arten von beruhigender Musik wählen, um sich zu entspannen. Gleichzeitig leakte die investigative Plattform The Intercept, interne Anweisungen, dass Beutel mit „menschlichen Fäkalien“ im Lager nicht geduldet würden. Im Klartext: Der Arbeitsdruck durch die TOT-Erfassung war so hoch, dass keine Zeit blieb aufs Klo zu gehen. Womöglich wurde auch in der AmaZen-Bude zu beruhigender Musik „einer abgeseilt“.

Der Sieg hat viele Mütter und Väter, so heißt es. Wenn Du gewinnst kommen sie alle und wollen Dir auf die Schultern klopfen. Die Niederlage ruft hingegen Schlauberger, Nörgler, Gegner_innen im eigenen Lager und solche auf den Plan, die es ja immer schon gesagt und besser gewusst haben. Hätten die Verantwortlichen nur früher auf sie gehört! Hätten sie nur mehr Geld für die richtige Beratung und das richtige Coaching ausgegeben!

Das Geschäft dieser Dienstleister ist eigentlich ganz simpel: Ratschläge müssen nur vielschichtig, anspruchsvoll und kompliziert genug zu erfüllen sein, dann behalten die Ratgeber_innen am Ende immer Recht.

Andererseits lohnen sich Niederlagen womöglich besser, um zu lernen, als Siege. Denn der Sieg verleitet dazu, dass die zu Grunde liegende Methode verabsolutiert und stetig wiederholt wird. Ferner lernen auch unsere Gegner_innen aus ihren Niederlagen und setzen alles daran, eine Wiederholung in Zukunft zu verhindern.

Eingesetzte Union Busting-Methoden:

  • Verpflichtende Belgeschaftsversammlungen (Mandatory Meetings) während der Arbeitszeit sind das wirksamste Mittel, um betriebliche Organisierung zu sabotieren. Interessant ist, dass Amazon einerseits die „verschwendete Arbeitszeit“ sekundengenau misst und sanktioniert, für propagandistische Belegschaftsversammlungen aber viel Zeit und Energie übrigt hatte. Die US-Gewerkschaftsbewegung kämpft seit den 1960er-Jahren für gleichberechtigten Zugang zu Belegschaftsversammlungen oder für ein Verbot dieser Methode.
  • Das Management nutzt alle zur Verfügung stehenden Mittel bis hin zu Details: Die Verkehrsampeln vor dem Lager wurden so geschaltet, dass Organizer auf der Straße weniger Möglichkeit hatten, Pendler anzusprechen.
  • Höherer Lohn als in anderen Amazon-Lagern
  • Zuckerbrot und Peitsche. Hier: Versprechungen und Drohungen.

Geschichte wird von Siegern geschrieben…

.. und wer siegen will muss Geschichten schreiben. Und sie glaubhaft vertreten. Es siegt, wer in der Lage ist Narrative durchsetzen. Amazon bediente folgende Erzählmuster aus dem Drehbuch des Union Busting:

  • Wir haben verstanden. Wir haben Fehler gemacht, aber wir bessern uns. Wir sehen jetzt eure Anliegen und werden uns darum kümmern.
  • Unsere Tür steht immer offen. Wir haben ein offenes Ohr. Wozu braucht ihr eine Gewerkschaft?
  • Wir bezahlen 15$ pro Stunde. Das ist mehr als ihr anderswo kriegt. (Und mehr als in anderen Amazon-Lagern).
  • Wenn die Gewerkschaft kommt, habt ihr weniger Geld. Weil ihr hohe Gewerkschaftsbeiträge zahlen müsst. (Und weil wir vielleicht den Lohn absenken.)
  • Wir schikanieren, mobben, versetzen, feuern Kolleg_innen, einfach weil sie es nicht besser verdient haben (und weil wir es können). Wollt ihr dasselbe Schicksal erleiden?
  • Angedeutete Konsequenzen (unterschwellig): Wir machen den Laden dicht, wenn ihr nicht spurt. Koste es, was es wolle.

Gelernte Lektionen: Erkenntnisse aus der Niederlage

  • Der ökonomische, betriebliche Kampf folgt anderen Gesetzen als der politische. Beide sind kaum vergleichbar.
  • Es gibt keine historische Mission, keine Zeitenwende, keinen „Genossen Trend“ und kein Momentum, das Dir den Sieg bringt. (Zumindest darfst Du nicht damit rechnen.) Das ist im Betrieb fast alles Bullshit. Vergiss linke, sozialistische, historische Mythen und Versprechungen. Dass Martin Luther King einst in Birmingham heroische Schlachten ausfocht, dass Joe Bidens Wahlkampfteam in Alabama ein wichtiger Sieg gelang, interessiert am Arbeitsplatz im Ernstfall nicht.
  • Vergiss die ganze angebliche Vorherbestimmung des Bewusstseins, der Stimmung durch Hautfarbe, Ethnie, Arbeiterklasse. Am Ende zählen Brot und Butter. Oder Autos, Wohnzimmergarnituren, Jahresurlaub und Krankenversicherungen. Was gibt es real zu gewinnen, was zu verlieren? Wen kenne ich, wem kann ich vertrauen?
  • Halte Dich an die Fakten: Zahlen, Erfahrungen, gesicherte Erkenntnisse.
  • Du musst mit 75% Unterstützung in der Belegschaft in den offenen Konflikt einstiegen. Durch Union Busting (Propaganda, Zermürbung, Feuern, Neueinstellungen) kann das Management 20-25% Deiner Basis wegrasieren. Wenn Du nur mit 30-40% einsteigst, wie es die RSWDU machte, hast Du verloren, bevor die Schlacht beginnt.
  • Die Basis und Stabilität der Unterstützung muss vorab in Test-Verfahren gemessen werden: Wie beteiligt sich die Belegschaft an niederschwelligen Aktionen und solchen, die Mut erfordern?
  • „Die erste Schlacht muss gewonnen werden.“ (Mao Tse Tung) Gute Vorbereitung ist alles. Solange der Sieg nicht einigermaßen sicher ist, musst Du im Verborgenen organisieren und Netzwerke bilden. Das kann lange dauern. Geduld ist gefragt.
  • Deine glaubhafte Erzählung muss sein: Die Organisierung sind die Beschäftigten, sie kommt aus dem Betrieb. Nicht: Die Gewerkschaft kommt von außen und macht etwas für die Beschäftigten. Ein Organisierungskomitee aus echten Arbeiter_innen ist Dreh- und Angelpunkt des Sieges.
  • Der Sieg muss am Boden errungen werden nicht in der Luft. Auf den Betrieb übertragen: Das Organisierungskomitee muss im Betrieb in jeder Abteilung und in jeder Gruppierung vertreten sein. Bombardierung von oben bzw. von außen durch Medien, Öffentlichkeit, Aktionen vor den Werkstoren kann allenfalls ein Support sein.
  • Es gibt einen Kipppunkt: Irgendwann haben die Kollgen vom gesamten Konflikt und seinen ständigen News, Aufrgeungen etc. einfach die Schnauze voll. Die Union Buster wissen das und dröhnen die Belegschaft gezielt zu.
  • Auch solidarischer Support und kritische Medienpräsenz (Bombardierung) können überhand nehmen und die gesamte Belegschaft gewaltig nerven. Es gilt zu dosieren und den richtigen Rhythmus zu finden.
  • Die Organisierung muss in der Gegend verankert sein, in der der Betrieb liegt. In Birmingham gab es nur Black Lives Matter und sozialistische Gruppen, wobei letztere in den konservativen Südstaaten eine Randgruppe darstellten. Die Gewerkschaft selbst kam aus den Nordstaaten. Der wichtigste Rückhalt in dieser religiösen Gegend sind Kirchen und Gemeinden. Es gilt, diese Communities in relevanter Zahl hinter sich zu bekommen, ebenso über Vereine, Bürgerinitiativen etc.
  • Wenn die Beschäftigten sich nicht trauen, offen und offensiv aufzutreten –– etwa mit Buttons, Stickern, Kundgebungen – sondern sich aus Angst vor Kündigung, Mobbing etc. ängstlich im Schützengraben wegducken, ist der Kampf bereits verloren.
  • Eine hohe Fluktuation (viele Neueinstellungenen und Abgänge) im Betrieb kann Fluch und Segen sein – in Bessemer sind es 100% pro Jahr, d.h. niemand hält die Arbeit hier auf Dauer aus. Du musst als Organisierungskommittee also immer wieder von vorn anfangen. Du kannst es aber auch immer wieder versuchen.
  • In Betriebe mit hoher Fluktuation kannst Du leicht einsickern. Du kannst dort selbst eine Weile arbeiten und Leute animieren, dort anzufangen. Warum machen das so wenige Gewerkschaften? Warum sickert die RWSDU nicht selbst mit Organizern dort ein, anstatt ehemalige Malocher_innen einer Hühnerfabrik anzuheuern, die vor dem Amazon-Werkstor Flugblätter verteilen?

Grenzen des Organizing?

Die verheerende Niederlage bei Amazon in Alabama wirft die Frage auf, was das professionelle Organizing insgesamt Wert ist, das sich in den USA seit 40 Jahren zu einer gewerkschaftsnahen Sub-Unternehmer und Dienstleistungsindustrie heraus gebildet hat. Insbesondere weil diese Sozialtechniken, die nah am Direktmarketing, Fundraising und Kundenakquise gebaut sind seit 20 Jahren von IG Metall und Ver.di adaptiert werden und insbesondere trotzkistischen und anderen Uni-Linken temporäre Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Die US-Profi-Organiziern Jane McAlevey, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem VSA-Verlag seit drei Jahren zu einer Art Guru aufgebaut wurde, meint, die entwickelten Methoden seien von der RWSDU lediglich falsch und inkonsequent angewandt worden. Dafür spricht in der Tat einiges, anderes spricht dafür, das professionelle Organizing der DGB-Gewerkschaftsapparate und ihrer US-Vorbilder wesentlich kritischer zu betrachten als bisher.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form in der Roten Hilfe Zeitung Nr. 3 / 2021 erschienen.

Ruth Wiess ist freie Autorin und Organizerin. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Die beiden beraten Betriebsgruppen, Betriebsräte und Betriebsratsgründer_innen.

Wir freuen uns über Resonanz: Anregungen, Hinweise, Nachfragen und Diskussionen! Mailt an: kontakt@arbeitsunrecht.de

# Titelbild: Workers at Amazon’s Shakopee, Minnesota, fulfillment center walked out in a December 2018 protest. Credit: Fibonacci Blue, CC BY 2.0.


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Schon als sich vor einiger Zeit abzeichnete, dass die Lokführergewerkschaft GDL demnächst zu einem Streik aufrufen würde, hätte man drauf wetten können, was geschehen würde – dass die Konzernmedien im Verein mit den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern einen Propagandakrieg gegen die GDL und vor allem ihren Vorsitzenden Claus Weselsky anzetteln. Schon beim Bahnstreik im Herbst 2014 war Weselky von der Bild-Zeitung und anderen Medien in einer Art verteufelt worden, die an den Stil des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“ erinnerte. Das Boulevardblatt hält sich beim aktuellen Streik, den die GDL am 11. August begann, anscheinend eher zurück, zumindest was den Gewerkschaftsführer angeht. Dafür hauen andere Medien umso mehr drauf.

Eine kleine Auswahl von Schlagzeilen: „Claus Weselky – der selbsternannte Robin Hood der Eisenbahner“ (Badische Zeitung), „Wie ein Popstar lässt sich der GDL-Chef von seinen Lokführern feiern“ (Redaktionsnetzwerk Deutschland), „Bühne frei für den Gruppen-Egoisten Weselsky“ (Handelsblatt), „GDL-Chef Weselsky hat jedes Maß verloren“ (Tagesspiegel). Auch das reichweitenstarke Portal ntv.de reihte sich in den Chor ein, mit einem Kommentar unter der Überschrift „Claus Weselky – der Überlebenskampf eines Egomanen“. Hier und bei den anderen Leitmedien wird ein Streik, der bei einer Urabstimmung mit 95 Prozent der Stimmen beschlossen worden ist, auf eine perfide Weise personalisiert. Und ebenso perfide ist, wie mit Verdrehungen und Halbwahrheiten gearbeitet wird, um die Motive und Ursachen dieses Arbeitskampfes in den Schmutz zu ziehen.

Es lässt sich wieder gut erkennen, wie auch in diesem Fall fast alle bürgerlichen Leitmedien einem Argumentationsmuster folgen, als wäre dieses von den Herrschenden als Parole ausgegeben worden – ob es der NDR-Reporter ist, der zwei Minuten aus dem Hamburger Hauptbahnhof vom Streik berichtet, oder der politische Kommentator in der FAZ. Diese Argumentation lautet, etwas zugespitzt zusammengefasst, folgendermaßen: Denen geht es gar nicht in erster Linie ums Geld, sondern das ist ein Machtkampf mit der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, denn die GDL und vor allem Weselky wollten nur ihren Einfluss vergrößern. Bei ntv.de klingt das so: „Denn im Konflikt geht es ihnen vorrangig gar nicht um Tarifergebnisse. Es geht ihnen in erster Linie darum, den eigenen Einfluss im Konzern zu vergrößern und der viel größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG möglichst viele Mitglieder abzujagen. Und deshalb eskaliert Weselsky schnell maximal.“

Das schreibt ein gewisser Jan Gänger, Leiter des Wirtschaftsressorts bei ntv.de, der sich als folgsamer Laufbursche des Kapitals erweist. Er erwähnt immerhin noch, dass ein Hintergrund des Streiks auch das Tarifeinheitsgesetz (TEG) ist, das im Frühjahr 2015 im Bundestag von der großen Koalition aus Union und Sozialdemokraten durchgeboxt wurde, nicht zufällig unmittelbar nach dem Bahnstreik vom Herbst 2014. Es schreibt vor, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag mit der Gewerkschaft gilt, die unter den Beschäftigten die meisten Mitglieder hat. Gänger findet dieses Gesetz ganz großartig, da es „einen Überbietungswettbewerb von Gewerkschaften und die Spaltung einer Belegschaft verhindern“ solle. Eine kühne Behauptung.

Wozu das Gesetz tatsächlich dient, hat der Verkehrsexperte Winfried Wolf auf der von ihm verantworteten Plattform Streikzeitung in einem Kommentar am 10. August auf den Punkt gebracht. Das TEG laufe darauf hinaus, schreibt er, „dass den sogenannten kleinen – und oft kämpferischen – Spartengewerkschaften (wie GDL, Marburger Bund, Cockpit) der Spielraum massiv verkleinert, wenn nicht ihre Existenz bedroht wird“. Es sei völlig offen, was der Begriff „Betrieb“, in dem laut TEG nur noch ein Tarifvertrag gültig sein soll und dann eben derjenige der relativ größten Gewerkschaft, konkret bedeute. Auch welches die relativ größte Gewerkschaft ist, sei nicht eindeutig definiert. Dies alles öffne „für Manipulationen Tür und Tor“, so Wolf.

Es liegt also auf der Hand, dass das TEG den Herrschenden vor allem dabei hilft, unbequeme Gewerkschaften platt zu machen. Wolf ist daher zuzustimmen, wenn er schreibt, dass der GDL-Streik „für alle gewerkschaftlich Aktiven und für die Linke von enormer Bedeutung“ sei. Im übrigen bezeichnet er ihn auch als „sozial gerechtfertigt“. Entgegen den Aussagen der Bahnvorstände Richard Lutz, Martin Seiler und Ronald Pofalla fordere die GDL „exakt das, was im Frühjahr 2021 im Verdi-Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst beschlossen wurde“. Und das sei „gerade mal Lohnausgleich und eine gewisse Anerkennung für das Den-Kopf-Hinhalten in der Pandemie“.

Während aktuell gegen Claus Weselky und die GDL auf allen Kanälen Stimmung gemacht wird, löste die Meldung des Spiegel vom April, dass rund 70 Vorstände und Geschäftsführer von Bahn-Tochterunternehmen auf der Auszahlung großer Teile ihrer Prämien beharren, obwohl zugleich Gleisarbeiter vor dem Hintergrund der Pandemie zurückstecken müssen, kaum Empörung aus. Da war bei ntv.de & Co. nichts zu lesen von Profitgier der Egomanen in den Vorstandsetagen und dergleichen. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing – diese Devise ist den Lohnschreibern der bürgerlichen Medien in Fleisch und Blut übergegangen.

# Titelbild: Maryellen McFadden Poster The first Soviet freight train engine 1921 Andrei Shelutto designer. Theme of poster is Soviet Industrial design between 1920 and 1930. CC by-nc-nd/2.0/

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Der Berliner Lieferdienst Gorillas ist eine Goldgrube – jedenfalls für den Gründer und CEO Kağan Sümer, der sich über den raschen Aufstieg seines Unicorns zu einer Milliardenbewertung freuen kann. Für die tausenden im Unternehmen angestellten Arbeiter:innen dagegen werden mies bezahlt, stehen unter einem enormen Druck und sehen sich sexualisierten oder rassistischen Übergriffen von Vorgesetzten ausgesetzt. Nach der Kündigung eines Kollegen entwickelte sich deshalb in dem Unternehmen ein breiter Arbeitskampf auf vielen Ebenen, der bis dato andauert. Wir haben mit Yasha, Rider bei Gorillas in Berlin und Mit-Initiator des Betriebsrats, über den Arbeitsalltag und das Unternehmen gesprochen.

Kannst du uns am Anfang ein wenig über dich erzählen? Wie lange arbeitest du schon bei Gorillas?

Ich arbeite seit Januar als Rider bei Gorillas. Ich bin 28 Jahre alt und mache nebenbei meinen Master. Ich habe auch als Übersetzer gearbeitet, aber ich brauchte einen Job mit Sozialversicherung. In der Pandemie habe ich mich dann überall beworben, hier wurde ich genommen.

Ist das generell ein Ding bei Gorillas, dass viele studieren und den Job nebenbei machen wie du?

Eigentlich nicht. Ich denke, es ist abhängig von den Herkunftsländern. Die meisten, die aus Südostasien kommen, die studieren. Aber es gibt viele mit europäischen Pässen, die aber aus Südamerika kommen. Und die sind oft nur zum arbeiten hier. Vielleicht wollen sie in der Zukunft studieren, aber aktuell geht es ihnen darum, Geld zu verdienen, ein bisschen was an die Familien zu schicken.

Mein Eindruck wäre, die Belegschaft ist vorwiegend migrantisch. Ist das so?

Ja, natürlich. Deutsche haben wir, würde ich sagen, so vier auf hundert Fahrer.

Gibt es Herkunftsländer, die besonders stark vertreten sind?

Argentinien und Chile sind ganz vorne mit dabei. Einige sind aus Nordamerika, wie ich. Türkei ist repräsentiert, Südostasien ist auch gut mit dabei.

Die aktuelle Welle des Arbeitskampfes begann mit der Kündigung eines Kollegen. Aber die Kritik und Forderungen der Fahrer:innen gehen ja über den konkreten Fall hinaus. Worum geht es euch bei dem Protest?

Wahrscheinlich besteht da kein Zusammenhang, aber die Kündigung passierte direkt in der Woche, nachdem wir eine große Betriebsversammlung von 200 Arbeiter:innen durchgeführt haben. Dort haben wir den Wahlvorstand für einen Betriebsrat gewählt. Und da wollte auch das Management teilnehmen. Sie haben sehr viel Druck gemacht und wollten sich durch die Hintertür da reinschmuggeln. Im Nachhinein haben sie auch eine Mail geschickt und drohten gerichtlich gegen den Betriebsrat vorzugehen – was sie allerdings nicht gemacht haben.

Fünf Tage später kam die Kündigung dieses Kollegen. Er war am Ende der Probezeit und hatte in seinem Warenhaus die beste Leistung. Nicht dass das für uns ausschlaggebend wäre, aber es macht die Kündigung noch fragwürdiger. Es gab keinen richtigen Grund, niemand konnte das nachvollziehen und das hat die Leute empört.

Und natürlich, das knüpfte dann schon an die ganzen anderen Probleme an. Es gab schon im Januar einen offenen Brief, im Februar gab es auch schon mal Streiks. Und seitdem haben sich auch nochmal viele Sachen verschlechtert. Zum Beispiel haben sie die Körbe von den Fahrrädern abgenommen, sodass die Leute die Ware tatsächlich auf dem Rücken tragen müssen. Sie planten, die Pausen unbezahlt zu machen – ob sie das wirklich gemacht haben, wissen wir nicht, wir sehen das erst mit dem kommenden Gehalt.

Dazu gibt es ungleiche Entlohnung. Leute, die vergangenen Oktober angefangen haben, hatten die Möglichkeit nach einer bestimmten Stundenzahl eine Lohnerhöhung auf 12 Euro zu bekommen. Die, die später angefangen haben, haben diese Möglichkeit nicht und sind bei 10,50 Euro.

10,50 ist extrem niedrig …

Ja alles hier ist niedrig, 12 Euro sind ja auch niedrig. Aber dass es zusätzlich noch ungleichen Lohn für dieselbe Arbeit ist, ist natürlich noch schlimmer. Gegen die Niedrigkeit des Lohns müssen wir langfristig kämpfen, aber diese Ungleichheit kann vielleicht der Betriebsrat sogar kurzfristig lösen.

Dazu kommen viele Geschichten von sexueller Belästigung und rassistischem Verhalten durch Vorgesetzte. Das Unternehmen ignoriert das. Beförderungen in eine höhere Stelle sind extrem abhängig von Nepotismus. Einen transparenten Prozess gibt es nicht. Du musst mit deinem Vorgesetzten befreundet sein, auf dieselben Partys gehen, dann kriegst du eine Beförderung.

Wie ist der Betrieb aufgebaut? Ganz unten sind Rider, ganz oben wahrscheinlich der CEO. Wie siehts dazwischen aus?

Ganz unten sind die Rider. Ganz oben – keine Ahnung. Da gibts viele, es ist sehr hierarchisch aufgebaut. Wie das genau aussieht, ist für uns nicht transparent. Wir haben irgendwelche „rider Ops“, „rider supervisors“ oder „rider captains“, die haben da jetzt auch die Namen geändert, es gibt wohl auch irgendwas wie einen „rider champion“, keine Ahnung, was das sein soll.

Fahren diese Vorarbeiter auch selber Touren?

Wenn es Engpässe gibt, dann schon, aber nicht im Normalfall. Sie sind zur Kontrolle der Arbeiter:innen da und sie sind für die Fahrräder verantwortlich, die Ausrüstung, die Pausenzeiten. Seit einiger Zeit haben sie auch den Auftrag, uns offizielle Mahnungen zu geben – nach zwei Mahnungen ist man raus. Ähnlich wie bei Amazon sind sie auch dafür verantwortlich, den eigenen Vorgesetzten die Namen der Personen weiterzuleiten, die politisch aktiv sind. Wie ihr Verhältnis zu den Arbeiter:innen ist, ist von Warenhaus zu Warenhaus unterschiedlich. Hier ist ein ganz gutes Verhältnis, in anderen Standorten waren die Beziehungen zu den Vorgesetzten wirklich schlecht.

Neben den Riders und ihren Vorgesetzten gibt es auch noch Pickers und Inventory, Arbeiter:innen, die für die Zusammenstellung der Bestellungen zuständig sind. Auch die haben noch einen Supervisor, der für sie verantwortlich ist. Und dann jeweils einen Warehouse-Manager, der sitzt zwei Stunden pro Tag hier rum. Keine Ahnung, was er macht. Und über dem gibts keine Ahnung wie viele Positionen, aber die sieht man normalerweise nicht.

Das heisst, den CEO Kağan Sümer sieht man im Arbeitsalltag eher nicht.

Ne, nie gesehen. Also vor zwei Wochen haben wir ihn mal bei einem Protest gesehen, aber ansonsten nie.

Wie viel Arbeiter:innen hat Gorillas in Berlin insgesamt?

Wenn wir nur die Arbeiter:innen zählen, würde ich sagen, um die 2000. Es ist eine Schätzung, ganz so klar ist das nicht. Es gibt auch viele von Leiharbeitsfirmen wie Zenjob, die mal einen Tag hier arbeiten.

Wie viele erreicht ihr mit euren Forderungen?

Interessante Frage. Wir haben ein Netzwerk aufgezogen mit Kolleg:innen aus anderen Städten Deutschlands, den Niederlanden und London. Wir haben also auch Leute erreicht weit über Berlin hinaus, Leipzig, Köln, Hamburg, Groningen, Amsterdam. In Berlin haben wir die größte Basis.

Kannst du ein bisschen über deinen Arbeitsalltag erzählen. Das ganze Konzept klingt für mich nach der Garantie für einen Scheissjob. Irgendwer ruft an, bestellt ein Brötchen und dieses Unternehmen garantiert, dass die knapp über Mindestlohn bezahlten Fahrer:innen das innerhalb von zehn Minuten vorbei bringen. Ist das nicht schon auf Stress angelegt?

Ja. Allerdings hängen diese zehn Minuten immer vom Vorgesetzten ab, ob das durchgesetzt wird oder nicht. Ich habe in den ersten Wochen richtig viel Druck auf mich selbst gemacht, das rechtzeitig zu liefern. Dann habe ich kapiert, dass das nicht so wichtig ist. Ich fahre, wie ich will und halte an jeder roten Ampel. Und niemand mault mich deshalb an. Das geht. Aber es gibt Leute, für die ist dieser Job viel wichtiger als für mich. Und die sind immer unter Druck. Und da gibt es Kündigungen und keiner kriegt es mit, weil sie sich nicht mit den Kolleg:innen vernetzt haben. Alle, die hier länger arbeiten, sagen, dass sich der Arbeitsalltag nochmal verschlechtert hat und viele Kolleg:innen verschwunden sind, gekündigt wurden oder gekündigt haben.

Und klar gibt‘s Leute, die wollen aufsteigen. Die machen dann richtig viel Druck auf sich selbst. Und es gibt eine Statistiken, die erfassen, wie viele Bestellungen man an einem Tag gemacht hat, wer der Schnellste war. In manchen Warenhäusern haben sie Tabellen, da wird der beste Picker, der schnellste Rider ausgeschrieben und die anderen, die weiter unten in der Liste sind, müssen dann den Grund hinschreiben, warum sie nicht so viel geschafft haben. Das ist aber abhängig von den lokalen Leitungen.

Also wenn man einen „guten“ Vorarbeiter hat, dann ist die Lage erträglicher …

Was ist ein guter Vorarbeiter? Das sind die, die auf unserer Seite sind. Das gibt‘s tatsächlich, aber es sind nicht viele. Die stecken uns Informationen aus Managementkanälen. Es gibt auch Leute da oben, die uns unterstützen, die das aber nicht öffentlich machen, weil sie den Job nicht verlieren wollen. Und die sind schon gefährlich für die Firma, weil es kommt dadurch viel Scheisse raus.

Wie würdest du die Unternehmenkultur beschreiben? Weil von aussen sieht das wirklich aus wie der Prototyp so einer irren Start-up-Kultur.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass das für unseren CEO so eine Lockerroom-Kultur hier ist. Es gibt auch viel so Macho-Gehabe. Es gibt Warehouses, da haben erleben Frauen Situationen, dass Vorgesetzte sie in die Wangen kneifen zur Begrüßung. Es gibt ein Warenhaus, wenn die nicht genügend Rider haben, rufen sie in anderen Standorten an und fordern ausschließlich weibliche Fahrerinnen an. Die Vorgesetzten da belästigen diese Frauen, rufen sie an und fragen so: Hey, wo bist du, willst du heute Abend was mit mir machen? Diese Erfahrungen kann man sich auf der Instagram-Seite GorillasRiderLife ansehen.

Hat das Management bislang irgendwelche Zugeständnisse gemacht?

Kleinigkeiten, wie das zum Beispiel die Regenausrüstung gewaschen wurde oder wir neue Regen-Ponchos bekommen haben. Aber von den 19 Forderungen, die wir haben, ist bislang keine erfüllt worden. Nicht alle sind kurzfristig zu erfüllen. Aber manche sind sehr dringend. Zum Beispiel Fahrräder, die nicht alle drei Tage kaputt gehen. Alleine in diesem Warehouse gab es in letzter Zeit vier Arbeitsunfälle, einige davon mit Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Einige der Forderungen könnte das Management leicht erfüllen: Ein oder zweimal die Woche eine halbe Stunde Treffen der Arbeiter:innen. Aber auch auf sowas wird überhaupt nicht reagiert. Oder in Sachen Arbeitsschutz: Wir haben in einer Sicherheitsschulung gelernt, dass das Maximalgewicht unserer Rucksäcke zehn Kilo nicht übersteigen soll. Das wird immer noch überschritten. Oder Schuhe, Sommerjacken und so weiter – diese Ausrüstung müssten sie eigentlich stellen. Arbeitshandys zum Beispiel – wir benutzen immer noch unsere privaten Handys. Die Kunden können uns auch nach der Schicht erreichen und belästigen, das ist schon mehrmals passiert. Da gibt es keinen Datenschutz.

Vor einigen Wochen hatten wir erkämpft, dass sie uns zusicherten, ausstehende Löhne zu bezahlen, aber auch das haben sie nicht bei allen gemacht. Wir haben das dann recherchiert und an die Medien geschickt.

Zum Abschluss: Welche Form von externer Unterstützung wünscht ihr euch?

Das ist eine schwere Frage, wir haben darüber keine einheitliche Meinung. Wir haben diese Solidaritätskampagne, in deren Rahmen man Geld spenden kann. Gut wäre auch unabhängige Solidaritätsaktionen durchzuführen, die den Kampf sichtbar machen. Und dass die Arbeiter:innen sehen, es gibt Unterstützung aus der Öffentlichkeit. Damit man sieht, es handelt sich nicht nur um eine kleine radikale Gruppe – das ist ja die Lüge des Managements.

Außerdem rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen auf, die wir ankündigen. Aber da ist es wichtig, dass sich Externe eher im Hintergrund halten und sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Wenn die Arbeiter:innen eine Versammlung haben, sollte man sich, wenn man von außen kommt, lieber ein bisschen zurückhalten, statt sich als Arbeiter:in auszugeben. Ansonsten: Alle Aktionen, die nicht falsch sind, sind gut. Vielleicht gibt‘s da ja auch noch mehr als mit jetzt einfallen.

Ruft ihr eigentlich zu einem Boykott auf oder ist das kontraproduktiv?

Wir wollen selbst keinen machen. Aber wir sind hier ja angestellt, wir kriegen Stundenlohn, keine Pauschale pro Bestellung. Deswegen ist es mir persönlich scheissegal. Aber wenn man schon da bestellt, dann kommt den Fahrer:innen wenigstens entgegen, weil in den 5. Stock Hinterhaus in zehn Minuten Lieferzeit ist schwierig. Und Trinkgeld in bar, nicht über die Online-App.

# Titelbild: Gorillas Workers Collective

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Während Lockdown auf Lockdown folgt, Ausgangssperren verhängt werden und Leute die sich im Park treffen von der Polizei gegängelt werden, gibt es einen Bereich, der von staatlichen Corona-Maßnahmen gänzlich unberührt bleibt: Der Arbeitsplatz. Marcus Schwarzbach hat sich angeschaut, wie genau dort nicht eingegriffen wird.

Der Dax schließt das Jahr 2020 mit einem Plus von 3,5 Prozent ab. „Als wäre nichts gewesen“, meldet die FAZ vom 02.01.2021 und macht damit deutlich: die Bundesregierung hat beim Umgang mit der Pandemie einen guten Job gemacht. Dabei gibt es auch „Kollateralschäden“, wie das neudeutsch heißt:

97 Arbeiter:innen sind im Corona-Jahr 2020 während der Arbeit tödlich verunglückt. Das zeigt eine Statistik der Gewerkschaft IG BAU unter Berufung auf die Berufsgenossenschaft. Im Vorjahr hat es mit 70 tödlichen Unfällen weniger Todesfälle gegeben.

Der Grund: fehlende Kontrollen. Die Kontrolleure der Berufsgenossenschaften sitzen zuhause im Homeoffice. Es sei „geradezu absurd, wenn diejenigen, die sich professionell um Infektionsschutz am Arbeitsplatz kümmern, dies nicht mehr machen dürfen und zu Hause bleiben müssen“, kritisierte der IG BAU-Vorsitzende Robert Feiger frühzeitig. „Das Schützen ist schließlich ihr Job.“. Stattdessen ging die Arbeit auf den Baustellen unvermindert weiter, Überstunden sind in vielen Betrieben an der Tagesordnung. Bereits seit Jahren wird das Personal in den Arbeitsschutzbehörden reduziert. Nach Aussage der Bundesregierung hat in den letzten ca. 15 Jahren ein Personalabbau im Bereich der Arbeitsschutzaufsicht stattgefunden. Die Überwachung im Arbeitsschutz befinde sich in einer „kritischen Gesamtsituation“, berichtet die Linkspartei.

Erfolgreich erfüllen Bundesregierung und Ministerpräsidenten ihren Auftrag. Lediglich um 5,0 % ist das Bruttoinlandsprodukt 2020 gesunken – trotz des knapp fünf Monate dauernden „Lockdowns“. Das Ziel, die Maschinen weiter laufen zu lassen, die Verwertung der Arbeit und Steigerung der Profite sicher zu stellen, wurde erreicht.

„Man muss Gesetze kompliziert machen, dann fällt es nicht so auf. Wir machen nix Illegales, wir machen Notwendiges.“ So erklärte Horst Seehofer bereits 2019. Diese Aussage scheint auch bei den bisher getroffenen Corona-Maßnahmen Leitlinien zu sein,ergänzt um den Ansatz, gar keine gesetzliche Regelung zum Schutz der Beschäftigten vor Corona zu treffen. Denn im Infektionsschutzgesetz, dem „3. Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ gibt es gar keine Vorgaben an Unternehmen zum Arbeitsschutz, die Belegschaften bleiben unerwähnt.

Vielmehr gibt es eine Reihe von Erlassen des Bundesarbeitsministeriums, bei denen es für Beschäftigte schwer wird, durchzusteigen. Es gibt den „SARS-CoV-2 Arbeitsschutzstandard“, gültig seit April 2020, und eine „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel“, gültig seit August 2020.

Eine Verordnung dazu, die „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung“, besteht seit Januar 2021 – immerhin ein Jahr, nachdem die WHO Covid 19 als Gefahr erkannt hat. Die Regelungen sind schwer zu lesen, viele „Kann“- und „Soll“-Bestimmungen finden sich darin. Die Kernaussage findet sich unter 4.1 Abs. 3 der „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel“: „Soweit arbeitsbedingt die Abstandsregel nicht eingehalten werden kann und technische Maßnahmen wie Abtrennungen zwischen den Arbeitsplätzen nicht umsetzbar sind, müssen die Beschäftigten mindestens MNB zum gegenseitigen Schutz tragen.“. Die Verantwortung ist klar verteilt: Nicht die Arbeitsorganisation muss geändert, nicht Betriebe geschlossen werden, die Beschäftigten in Halle oder Großraumbüro müssen sich schützen, indem sie eine Mund-Nasen-Bedeckung („MNB“) tragen.

Macht die Bundesregierung einen Fehler, greift die Industrie unterstützend ein. Die Verkündung einer „Osterruhe“ hielt die Kanzlerin einen Tag durch. Ein (!) freier Tag für die Belegschaften, bezahlt durch die Kapitaleigner:innen – das geht zu weit. Nach dem „Auto-Gipfel“, einer Kungelrunde von Politik- und Industrie-Vertreter:innen, ruderte das Kanzleramt zurück. „Einen Fehler einzuräumen, zeugt von Größe“, lobte die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, die Einsicht Merkels. „Plötzliche Betriebsstilllegungen sind für eine international vernetzte Wirtschaft nicht darstellbar“, sagte sie laut einem Bericht des Branchenmagazins Automobilwoche. Hier zeigt sich die Humanität des hiesigen Kapitalismus. VDA-Chefin Müller gibt sich jedoch verständnisvoll: „Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten sind in einer ausgesprochen schwierigen Lage“.

Aus Sicht der Unternehmen bietet die Digitalisierung auch in Pandemie-Zeiten Vorteile. „Es piept, wenn sich ein Kollege nähert“ wird die Technik „Secure Distance Vest“ von Linde Material Handling beworben. Die „Wearables“ sollen dazu beitragen, dass Arbeiter:innen „sich auf ihre Tätigkeit konzentrieren können, ohne ständig abschätzen zu müssen, ob sie den vorgeschriebenen Abstand einhalten“. Wird der Abstand von 1,50 Meter nicht eingehalten, macht das Gerät Lärm: „akustisch, visuell und sensorisch“ wird die Arbeiter:in gerügt, Verstöße können dokumentiert werden. Ideal für die Unternehmen, um Verantwortung bei den Belegschaften abzuladen. Die Verwertung der Arbeitskraft geht auch in Corona-Zeiten ohne Rücksicht weiter und die Regierung tut alles dafür, dass das auch so bleibt.

# Marcus Schwarzbach ist Autor von „Work around the clock? Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit und die Gewerkschaften“, Papyrossa-Verlag

# Titelbild: Toennies, Zerlegung nach Coronastillstand

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Leipzig: Oetker-Gruppe will Standort von Durstexpress dichtmachen. Beschäftigte und Gewerkschafter*innen organisieren Protestkundgebung. Betriebsratswahl bei Getränkelieferant angekündigt. Ein Vor-Ort-Report, auch über schwierige kollegiale Solidarität

Die ersten sind bereits eingetroffen. Einige tragen obenrum ihr Arbeitsdress, dünne Überziehjacken mit Kapuze, auffallend himmelblau. Auf dem Rücken steht »Durstexpress«. Getränke werden sie an diesem Donnerstagvormittag, es ist kurz nach 9:30 Uhr, nicht ausliefern. Sie protestieren. Für den Erhalt ihrer Jobs, für den Standort in Leipzig. Der soll dichtgemacht werden – Stichtag: 28. Februar.

Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) rief deshalb zur Kundgebung in den Norden Leipzigs, vor das Werkstor des Getränkelieferdienstes Flaschenpost, unweit des Messegeländes. Aus gutem Grund. Etwa 450 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Nicht bei Flaschenpost, sondern bei Durstexpress. Die Oetker-Gruppe, zu der Durstexpress gehört, hatte Ende 2020 den Aufkauf des früheren Startups Flaschenpost bekanntgegeben – und dabei tief in die Haushaltskasse gegriffen. Brancheninformationen zufolge soll der Familienrat der Puddingfabrikanten rund eine Milliarde Euro für den Ex-Konkurrenten hingeblättert haben. Die Folge: Der Krisengewinner Oetker fusioniert beide Lieferdienste unter der Marke »Flaschenpost«. Auf der Strecke bleiben soll der Durstexpress-Standort in der Messestadt. Doppel- beziehungsweise Mehrfachpräsenzen wird es künftig nicht mehr geben, heißt es aus der Firmenzentrale – trotz coronabedingter Rekordumsätze für Sofortlieferservices.

Oft widrig: Freiluftprotest

Ungemütlich ist es vor Ort, knapp über null Grad, ab und an rieselt Schneegraupel auf die Versammlungsteilnehmer*innen. Dennoch haben sich rund 200 Beschäftigte und Unterstützer*innen eingefunden, widerstehen Wind und Wetter. Noch geht es nicht los. Einer steht sichtlich unter Starkstrom. Jörg Most ist Anmelder und Hauptorganisator der Kundgebung. Der regionale NGG-Geschäftsführer – Mittfünziger, leicht untersetzt, graumeliertes Haar – ist heute dauergefragt. »Entschuldige, lass´ uns nach der Veranstaltung sprechen, gerne ausführlich«, sagt er dem Autor und checkt dabei die Redner:innenliste. Die ist lang, auch weil sich die lokale Politprominenz angekündigt hat, parteiübergreifend von Linke- bis CDU-Abgeordneten.

Ein paar Minuten bis zum Auftakt um zehn Uhr verbleiben noch, vor allem für die letzten Handgriffe. Eine Art Infopoint der NGG steht bereits. Ein Minipavillon, drei mal drei Meter. Dünne Metallstangen stecken senkrecht im morastigen Untergrund, bilden ein Quadrat, an den oberen Stangenenden verbindet ein verwinkeltes Kunststoffgeflecht die textile Plane zu einem Spitzdach. Das aufgedruckte NGG-Logo mit der Ortsmarke »Region Leipzig-Halle-Dessau« samt Email-Kontakt ist gut lesbar. Weißer Schriftzug auf tiefroten Leinen. Zwei Klapptische in L-Form stehen darunter, obendrauf liegt, etwas unsortiert, Merchandise-Nippes: ein halbes Dutzend Rasseln aus Plaste, eine Tüte mit Kulis, rote und blaue – und ganz wichtig: bunte Aufnahmeanträge frisch aus dem Drucker. »Klar, Aufwand ist das hier schon, aber wir sind dank unsere Aktionen der vergangenen Monate geübt«, erzählt Thomas Lißner, der das Stativ mit dem iPhone für die Direktübertragung über den NGG-Facebookaccount positioniert. Auch das gehört mittlerweile zum Proteststandard, sagt der Gewerkschaftssekretär, der aktuell für eine Nachfolgelösung für das Haribo-Werk in Wilkau-Haßlau bei Zwickau kämpft.

Das ist längst nicht alles, was herangekarrt werden muss. Halb rechts, 15 Meter Luftlinie vom Infopavillon entfernt, steht der angemietete Pritschenwagen. Die Ladeklappen an der Beifahrerseite und am Heck sind unten, die grünlichen, schweren Planen liegen aufgerollt auf dem Dach. Die Ladefläche wird zur Bühne. Hinter dem Mikro für die Redner*innen prangt auf einem Transparent in großen Lettern: »Stoppt die Schließung!« Davor in Hüfthöhe auf einem zweiten: »Wir sind die Gewerkschaft, NGG«. Most wirkt immer angespannter, ständig zupft jemand an seinem Ärmel, Beschäftigte, Gewerkschafter*innen, Presseleute. Er weiß: Die NGG legt sich mit einem Branchenprimus an. Die Oetker-Gruppe ist ein Konglomerat von rund 400 Firmen – vom Lebensmittelgeschäft über Spirituosen bis hin zu Luxushotels und der Privatbank Lampe. Radeberger gehört gleichfalls dazu, die größte Brauereigruppe hierzulande vertreibt die Marken Jever, Schöfferhofer oder Clausthaler. Und die Familienspitze verfügt über genug »Spielgeld«, konnte die Übernahme von Flaschenpost locker stemmen. Ein Grund: Oetker hatte 2017 die Reederei Hamburg Süd für 3,7 Milliarden Euro an den dänischen Maersk-Konzern verkauft.

Kennen viele: miese Jobs

Einen Etappensieg konnte Most aber schon erzielen. Erst vor wenigen Tagen hatten die Leipziger Durstexpress-Kolleg*innen mit NGG-Unterstützung den Wahlvorstand für eine Betriebsratsinitiative bestimmt. Unter der Aufsicht einer seitens von Oetker engagierten Security namens »Militärisch ausgebildeter Sicherheitsservice« (MASS) – übrigens mit einem Fadenkreuz im Logo. Plumpe Einschüchterungsversuche, die wirkungslos blieben.

Alle sind startklar: Es ist zwei Minuten nach zehn Uhr. »Test, Test, Test«, das Mikro funktioniert ohne Störgeräusche, der Livestream läuft. »Unsere Kundgebung ist keine gegen die Kollegen von Flaschenpost«, betont Most gleich zu Beginn der Versammlung. »Wir arbeiten ja schließlich bald zusammen.« Deshalb die Ortswahl des NGG-Protestes – zumal: »Die Gesamtlogistik wird künftig auf den Business- und Operationsprozessen von Flaschenpost basieren«, wie das Unternehmen jüngst in einem Statement mitgeteilt hatte. Für Beschäftigte bedeutet das nichts Gutes: »Wenn wir übernommen werden sollten, hätten wir schlechtere Jobbedingungen«, sagt Friedemann Fröhlich von der Betriebsgruppe der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen Union (FAU). Das heißt konkret: »Mehr Arbeitsverdichtung, mehr Überwachung, weniger auf dem Lohnzettel«, schildert Fröhlich. Aber selbst ein Job zu mieseren Konditionen ist ungewiss. Denn Leipziger Ex-Durstexpress-Kolleg*innen müssten sich zunächst neu bei Flaschenpost bewerben. Nach ihrer Kündigung durch Oetker, versteht sich.

Solcherlei Pläne machen zahlreiche Beschäftigte wütend, Celina Heimbuch etwa. »Ich habe 2018 die ersten Regale bei Durstexpress in dieser Stadt mit aufgebaut«, erzählt sie. Am Dienstag habe sie die Kündigung erhalten, per Einschreiben, ohne Danksagung. »Statt dessen mit dem Hinweis, mich bei der Arbeitsagentur zu melden.« Ein Affront, finden sie und ihre Kolleg*innen. »Vom Auf- bis zum Abschließen werde ich also dabei gewesen sein«, sarkastisch klingt das nicht, eher voller Wehmut. Nein, für Gewerkschaftsarbeit habe sie sich sonst nie interessiert. »Das hat sich jetzt geändert«, sagt Heimbuch entschlossen.

Nicht einfach: Solidarität zeigen

Apropos kollegiales Zusammenarbeiten. Etwas fällt auf: In dem Flaschenpost-Zentrallager gegenüber geht der Normalbetrieb scheinbar reibungslos weiter. In kurzen Zeitspannen fahren Lieferfahrzeuge vom Betriebshof oder steuern diesen an. Von Beschäftigten, die einen Blick auf die Kundgebung wagen, ist nichts zu sehen. Nur einmal gibt es eine Szene hörbarer Zustimmung. Ein Flaschenpost-Fahrer passiert die improvisierte Bühne auf dem Pritschenwagen, hupt zweimal. Die Menge reagiert sofort, johlt, winkt.

Wie schwierig praktische Solidarität ist, zeigt auch folgende Episode: Einige Protestler*innen werden zunehmend unruhig. Eine dreiviertel Stunde haben sie Redner*innen zugehört, selbst Vertreter*innen diverser Parteien. Sie haben geklatscht, wenn es etwas zu klatschen gab. Ans Mikro auf der Ladefläche durften sie indes nicht. Obwohl sie ihr Redeskript dabeihaben. Bis tief in die Nacht haben sie Absätze hin und her geschoben, an Halbsätzen gefeilt. Es sind Fröhlichs Kolleg*innen von der FAU-Betriebsgruppe. Zwei, drei Kundgebungsteilnehmer*innen sprechen NGG-Mann Most daraufhin an, der kommt in Erklärungsnot. »Das ist eine NGG-Veranstaltung«, betont er recht barsch. Nur: Alle anderen, die etwas mitzuteilen hatten, wurden der Reihe nach namentlich auf die Bühne gebeten, teils vorher extra eingeladen.

Auch Most weiß: Die FAU, so irrelevant sie bei sonstigen Arbeitskämpfen sein mag, war lange vor der NGG bei Durstexpress in Leipzig aktiv. Nicht umsonst sind etwa 20 Anhänger*innen der »kämpferischen Basisgewerkschaft« zur Kundgebung erschienen. Beobachter*innen merken, Most ringt mit sich, ist gewissermaßen in der Zwickmühle. Er befürchtet offenbar Hasstiraden gegen die Oetker-Dynastie, einen anarcho-syndikalistischen Kurzlehrgang über direkte Aktionen, vielleicht sogar einen Aufruf zum sozialen Generalstreik – über sein Mikro, durch seine Lautsprecherboxen. Es kommt anders, »Verbalattacken« bleiben aus.

Der Basisgewerkschafter beklagt hingegen die Kommunikationspolitik des Unternehmens vor und nach den Kündigungen: »Eine bodenlose Frechheit ist es, wie mit uns Mitarbeiter*innen umgegangen wird.« Er verweist auf migrantische Kolleg*innen, die nach ihrem Jobverlust von Abschiebung bedroht sein würden. Und er appelliert an Oetker, soziale Verantwortung zu übernehmen. Um die eigene Kraft als Arbeiter*innen zu stärken, seien indes zuvorderst solidarische Bündnisse gegen die Konzernpolitik nötig. Man ahnt es: Unter der FFP2-Maske wird Most tief durchgeatmet haben. Kein Eklat, kein Rabatz. Aber auch das dürfte ihm nicht entgangen sein: Der Applaus nach der FAU-Rede war am größten, hielt am längsten an. Ein Indiz, die Stimmung ist durchaus kämpferisch.

Das sieht Most ähnlich. Die Vernetzung unter den einzelnen Durstexpress-Standorten sei bereits in vollem Gange, sagt er. »Deshalb sind auch kleine Delegationen aus Berlin und Dresden heute in Leipzig.« Wie der Durstexpresser Jan aus der sächsischen Landeshauptstadt. »Die Kundgebung hat Mut gemacht«, spürt er. Nicht nur das: »Auch wir stoßen bei uns gerade eine Betriebsratswahl an, organisieren uns.«

Hilft immer: langer Atem

Für Most sind das alles positive Signale: »Es tut sich was.« Und auch die Gegenseite scheint aufgrund des öffentlichen Drucks, auf Beschäftigte und NGG zugehen zu müssen. »Ein erstes Gespräch mit Oetker fand vor unserer Kundgebung statt«, so Most. Konstruktiv sei die Unterredung verlaufen; ja, eine Begegnung auf Augenhöhe, meint er. Ob er sich da nicht täusche? Nein, das sei sein Eindruck gewesen. Über Inhalte wolle er sich noch nicht äußern. Zeitnah, so der Verhandlungsführer, werde die Runde fortgesetzt. »Wir werden uns aber bestimmt nicht einlullen lassen«, betont Most. Die Kernforderungen blieben, so oder so: »Keine Standortschließung, ein regulärer Betriebsübergang für alle.« Und natürlich gehe es um die schnellstmögliche Betriebsratsgründung bei Durstexpress in Leipzig. »Dann haben wir mehr Verhandlungsmacht«, so Most.

Endlich, der Stress fällt von ihm ab, die Gesichtszüge entspannen sich. Kurzum: Es ist vollbracht. Der Anmelder der Kundgebung schiebt den linken Unterärmel seiner NGG-Allwetterjacke sechs, sieben Zentimeter hoch, blickt flüchtig auf die Uhr, 20 Minuten nach elf. Die letzten Teilnehmer*innen der Versammlung verlassen das Areal, der Abbau des Infopoints und der Lautsprecheranlage auf und neben dem Pritschenwagen geht rasch. Schicht, fürs Erste – denn: Der Protestzug zieht weiter, macht am Donnerstag vor dem Berliner Durstexpress-Lager Station. »Wir haben einen langen Atem«, versichert Most.

# Titelbild: Marco Bras dos Santos

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Seit der offensichtlich gefälschten Wiederwahl des belarussischen Präsidenten Lukashenko im August kommt es in dem Land zu der größten Protestwelle seiner Geschichte. Wie bereits zuvor im Lower Class Magazine berichtet, beteiligen sich hunderttausende Menschen an den Demonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen. Doch was fordern die Menschen auf der Straße? In welchem Zusammenhang stehen die Proteste zu der tiefen ökonomischen Krise, in der Belarus seit Jahren steckt? Und welche Rolle spielen die politischen Interessen Russlands und des europäischen Auslands? Teil 1 einer Analyse.

Um diese Fragen zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngere Geschichte des osteuropäischen Staates. Der Kollaps der Sowjetunion im Jahr 1991 bewirkte, dass ein Großteil der Ex-Sowjetstaaten in eine tiefe politische und ökonomische Krise rutschte. Infolgedessen wurde ein Großteil der ehemals staatlichen Unternehmen an mafiöse oligarchische Strukturen verscherbelt, was weite Teile der Proletarisierten ihrer Lebensgrundlagen beraubte und sie in bittere Armut stürzte.

Das Besondere am belarussischen Staat ist, dass er einen solchen tiefgreifenden ökonomischen und sozialen Wandel verhindern konnte. Besonders im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten hat sich Belarus auf wirtschaftlicher und administrativer Ebene seit 1991 erstaunlich wenig verändert. Der seit 1994 amtierende Präsident des Landes Lukashenko regiert ohne nennenswerte Opposition, gestützt auf einen riesigen Bürokratieapparat und ein Netz der Privilegien. Dazu gehören die Polizeibehörden und der Geheimdienst (KGB), welche zahlreich, loyal und gut finanziert sind. Jeder Versuch einer organisierten Opposition – ob selbstorganisiert oder durch Wahlen – wird mit aller Härte unterdrückt.

Auch die belarussische Wirtschaft orientiert sich immer noch relativ stark am Muster der zentral geplanten sowjetischen Industrienationen. Anders als andere ehemalige Ostblockstaaten blieben im Laufe der 1990er Jahre weite Teile der Schlüsselindustrien von Privatisierungen verschont. So arbeiteten 2015 39,2% der Bevölkerung in staatlichen Betrieben, welche einen großen Teil der belarussischen Exportgüter erzeugen. Zwar entstand in den letzten Jahren besonders im Raum Minsk ein florierender IT-Sektor, dieser stellt aber noch einen relativ kleinen Teil des belarussischen BIP dar. Ein Großteil der belarussischen Arbeiter*innenklasse ist Mitglied eines staatlichen Gewerkschaftsbündnis, welches als Relikt der Sowjetzeit relativ loyal zum Regime ist. Dies beginnt sich allerdings in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zu ändern.

Ein weiteres Erbe der sowjetischen Verhältnisse sind die (zumindest bis vor kurzem) guten Lebensbedingungen der belarussischen Bevölkerung: annähernde Vollbeschäftigung, ein relativ gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem, staatlich fixierte Lebensmittel- und Wohnpreise, eine relativ geringe Armutsquote. Es wäre jedoch falsch, den relativen Erfolg der belarussischen Nationalökonomie im Vergleich zu anderen Ex-Sowjetstaaten den besonderen Fähigkeiten des Lukashenko-Regimes zuzuschreiben. Einer der Hauptgründe, weshalb Belarus dieses Modell aufrechterhalten konnte, ist die direkte und indirekte Unterstützung durch den russischen Staat, in Form von Krediten und billigen Öl- und Erdgasexporten. Bis vor wenigen Jahren bezahlten belarussische Unternehmen nur 50% der Weltmarktpreise für Rohölexporte. Diese werden in zum großen Teil staatseigenen Raffinerien weiterverarbeitet und stellen einen Hauptteil der belarussischen Exportbilanz dar.

Dieser Grundpfeiler der belarussischen Wirtschaft gerät jedoch zunehmend ins Wanken: In den letzten Jahren wurden die preislichen Privilegien für den Energiesektor zunehmend revidiert, bereits jetzt verlangen russische Energieunternehmen 80% der Weltmarktpreise, bis 2025 sollen es 100% sein. Einerseits versucht der russische Staat dadurch, Druck auf Belarus aufzubauen um diesen näher an die eigene wirtschaftliche Einflusszone anzubinden. Andererseits spiegelt die Preiserhöhungen die Krise des russischen Energiesektors infolge des globalen Verfalls der Ölpreise wider.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass das ökonomische Paradigma des belarussischen Staates – staatlich gelenkte, personalintensive Industrieproduktion einerseits, Verarbeitung und Export von Öl und Gas andererseits – an seine Grenzen stößt. Im Zuge der globalen Verwertungskrise des Kapitals ist also auch das Minsker Regime gezwungen, eine zunehmend marktliberale Politik zu führen. So verabschiedete die Regierung 2017 ein Gesetz, welches Arbeitslosigkeit als „sozialen Parasitismus“ unter Strafe stellt. In den folgenden Jahren kam es infolge von Verhandlungen mit internationalen Kreditinstituten zur Rücknahme der staatlich fixierten Wohnpreise, wodurch seitdem vor allem in den Großstädten die Mieten stark gestiegen sind.

In dieser Situation trifft die Corona-Krise den belarussischen Staat besonders hart, da er es sich schlicht nicht leisten kann, seine schwächelnde Wirtschaft nennenswert durch Schutzmaßnahmen einzuschränken. Dazu kommen mangelnde Gelder für genügend Schnelltests und Schutzausrüstung. In dieser Situation entschied sich das belarussische Regime, den Umfang der Pandemie herunterzuspielen. Lukashenko sprach öffentlich davon, dass das Virus sich durch genügend Saunagänge und Vodka von selbst erledige, während Corona-Tote in den Staatsmedien als einfache Lungenentzündungen registriert wurden. Diese gezielten Desinformationen werden von der breiten Bevölkerung zunehmend als solche erkannt: „In diesem Staat basiert alles auf Lügen. Sie lügen über COVID, sie lügen über die Wahlen, sie lügen in der Schule und sie lügen über die Wirtschaft.“ erzählt uns Wera, 67, bei einer Nachbarschaftsversammlung. Gleichzeitig entwickeln sich verstärkt Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, welche versuchen, eine flächendeckende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Diese Netzwerke bilden eine Grundlage für die Nachbarschaftsversammlungen, welche bis heute das Rückgrat der Protestbewegung darstellen.

Dass es am Wahlabend zu ersten Demonstrationen kam, war also absehbar, neu war aber das Ausmaß. Die Proteste werden von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen. „Für eine lange Zeit lebten wir unter diesem Staat nach dem Prinzip: je weniger du sagst, desto sicherer bist du. Aber das ist jetzt aufgebrochen, das hat unsere Realität verändert. Wir wissen jetzt, dass wir zwar alle unterschiedlich sind, aber trotzdem in eine ähnliche Richtung wollen. Wir hören einander zu“, erzählt Wera. Ob das so bleibt, wird sich zeigen. Im Moment sind verschiedene Klasseninteressen vereint, die sich aber bei der Frage einer neuen Gesellschaftsordnung zwangsläufig gegenüberstehen werden.

Die boomende IT-Branche, die vergangenes Jahr für die Hälfte des Wirtschaftswachstums verantwortlich war, würde, genau wie andere Unternehmer*innen von weiteren marktliberalen Reformen profitieren. Sich selbst als progressiv, westlich und anti-sowjetisch verstehend, drohen 300 führende IT-Unternehmen das Land zu verlassen, sollte es nicht zu Neuwahlen und einem Ende der Polizeigewalt kommen. Auch die althergebrachte bürgerlich-intellektuelle Opposition hat wohl ein Interesse an einer Liberalisierung der Märkte, sowie „freien“ Kulturbetrieben ohne ideologische Abteilungen und Zensur. Bei den vielen Jugendlichen und Studierenden ist naheliegend, dass sie im Anbetracht schlechter Zukunftsaussichten in einem Land mit 400 Euro Durchschnittseinkommen für bessere Perspektiven auf die Straße gehen. Dabei wäre es zu kurz gegriffen, diese Perspektiven rein ökonomisch zu betrachten: mit einer Liberalisierung des Landes verbinden viele auch politische und kulturelle Freiheiten, Nachtleben, Befreiung des Alltagslebens und alternative Lebensentwürfe – Dinge, die in der postsowjetisch geprägten belarussischen Gesellschaft oft als westlicher Lifestyle idolisiert werden.

Eine sehr wichtige Rolle spielen aber auch Fabrikarbeiter*innen und Angestellte des Dienstleistungssektors mit ihren Streiks. Die Proteste verbinden viele mit der Hoffnung auf ein Ende der belarussischen Wirtschaftskrise. Dieses breite Bündnis spiegelt sich auch in den Forderungen der Präsidentschaftskandidat*innen wieder. Sie sprechen kaum über ihr politisches Programm, sondern nur über faire Wahlen und ein Ende der Polizeigewalt.

Viktor Babariko, ehemaliger Chef der russischen Belgazprombank, wird wohl russische Kapitalinteressen vertreten und sich eher wenig für die Rechte von Arbeiter*innen interessieren. Nachdem ihm und anderen bedeutenden Präsidentschaftskandidat*innen die Zulassung entzogen wurde oder sie verhaftet wurden, blieb noch Svetlana Tikhanovskaya. Lukashenkos Chauvinismus verhinderte, dass er in ihr als Frau eine Bedrohung sah. Unterstützt von zwei Frauen anderer Wahlkampfstäbe vereinte sie verschiedene oppositionelle Fraktionen. Im Rahmen ihrer Wahlkampftour bot sie in verschiedenen Teilen des Landes Bühnen mit offenem Mikrofon, die Arbeiter*innen und kleinen Unternehmen eine Plattform boten, um sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Kundgebungen entwickelten sich zu den bis dahin größten des Landes in den letzten Jahrzehnten und schufen somit eine weitere Basis für die Aufstände.

Ihr gegenüber stehen einige ebenfalls sehr einflussreiche Blogger*innen, wie der aus dem polnischen Exil arbeitende Telegramkanal Nexta. Auch die anarchistische Bewegung des Landes hat es in den Protesten geschafft, an Einfluss und Popularität zu gewinnen (LCM berichtete). Die Diversität der Protestbewegung trägt mit sich, dass sie kaum durch eine gemeinsame langfristige politische Perspektive geeint wird: sie verbindet vor allem die Wut auf die bestehenden Verhältnisse und die harte Reaktion der Repressionsbehörden. So kommt es, dass das positive verbindende Element der Proteste vor allem Nationalismus ist. Aber die Idee einer unabhängigen belarussischen Nation, die selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheidet, entbehrt jeder materiellen Grundlage. Die Wirtschaft des Landes ist strukturell abhängig von Krediten und Subventionen ausländischer Mächte und diese werden ihren Einfluss auf die Neugestaltung des Landes geltend machen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die das Land im Falle einer Anpassung an den kapitalistischen Weltmarkt erwarten, werden notwendigerweise Gewinnerinnen und Verlierer erzeugen.

Es ist also klar, dass Nationalismus als Basis einer Protestbewegung, die ein gutes Leben für alle will, ungeeignet ist. Welche klassenkämpferischen und emanzipatorischen Perspektiven es davon abgesehen trotzdem gibt, beschreiben wir im zweiten Teil unserer Analyse.

# Titelbild: Ara Holmes, Kim Garcia, Viertel in Minsk

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Starbucks pflegt ein Wohfühl und FairTrade-Image, an dem am Ende wenig real ist. Direkt in Deutschland betreibt Starbucks, wie in der Systemgastronomie üblich, rabiates UnionBusting.“ Am Freitag, den 13. November 2020 finden deswegen in mehreren deutschen Städten Aktionen gegen Starbucks statt. Interview mit Elmar Wigand von arbeitsunrecht über die Hintergründe.

Was hab ihr gegen Starbucks?

Starbucks bekämpft Betriebsräte. Starbucks beutet die Beschäftigten aus und hält sie mit Ketten-Befristungen gefügig. Starbucks betreibt systematische Steuerhinterziehung, die aufgrund viel zu lascher staatlicher Regulierung und Strafverfolgung in Deutschland leider bislang legal ist.

Ganz konkret unterstützen wir mit unserem Aktionstag den Betriebsratsvorsitzenden Michael G. aus Berlin. Er hat inzwischen über ein Dutzend böswillig konstruierter Kündigungsversuche angesammelt. Wir fordern seine Wiedereinstellung und ein Ende der Repressalien gegen aktive Betriebsräte.

Sticht Starbucks durch Union Busting gegenüber anderen Ketten besonder hervor?

Starbucks folgt im Wesentlichen der Strategie von McDonalds, dem Vorreiter der US-amerikanischen Systemgastronomie in Deutschland. Starbucks arbeitet wie McDonalds nach dem Franchise-Prinzip. Das Management von Starbucks sitzt, ebenso wie das von McDonalds, in München.

Bis in die 1990er war die Maxime: keine Betriebsräte, keine Tarifverträge. Durch öffentlichen Druck haben Starbucks und McDonalds diese Linie aufgeweicht und gehen nun raffinierter vor. Starbucks ist dem Bundesverband der Systemgastronomie beigetreten, den McDonalds 1988 gegründet hat, um den Tarifvertrag der Dehoga (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) zu unterlaufen. Dabei ist der Dehoga-Tarif schon ziemlich bescheiden. So gibt es inzwischen zwar einige wenige Betriebsräte bei Starbucks — schätzungsweise weniger als 15 bei 165 Filialen in Deutschland — aber davon sind die meisten eingeschüchtert oder trojanische Pferde des Managements.

Wer bei Starbucks tatsächliche eine unabhängige Interessenvertretung für die Beschäftigten im Sinn hat und bereit ist, Forderungen aufzustellen, die unweigerlich Konflikte mit dem Management bedeuten, der bekommt die volle Breitseite der Zermürbungsstrategien ab: Abmahnungen, Schikanen, Kündigungsversuche, Mobbing. Ziel des Starbucks-Managements ist es, unliebsame Elemente aus dem Betrieb zu entfernen und aktive Betriebsräte zu zerschlagen. Nach außen hin leugnen und verschleiern Firmen-PR und Anwälte das aber.

Was hat es mit dem Franchise-System auf sich?

Manche Fillialen betreibt die Münchener Zentrale selbst, die meisten werden an Franchise-Nehmer verkauft. In Deutschland gingen sie an den globalen Franchise-Großunternehmer AmRest, der auch sämtliche deutschen Filialen von Pizza-Hut betreibt. AmRest wurde vom ehemaligen Pepsi-Cola-CEO Donald M. Kendall gegründet, dem Mann, der Pepsi nach Russland brachte, nach dem Zerfall der UdSSR. AmRest ist besonders in Osteuropa stark und betreibt dort Filialen verschiedener US-Franchiseketten wie auch Burger King und KFC.

Zurück zum Franchise-Prinzip. Wie geht das?

Die Filialen und ihr Management haben strikte Vorgaben zu erfüllen und müssen sämtliche Produkte und Werbematerialen von der Zentrale abnehmen. Über das Franchise-Prinzip erfolgt auch die legale Steuerhinterziehung. Die Gewinne der Starbucks-Filialen werden klein gerechnet durch horrende Lizenzgebühren, die nach Amsterdam überwiesen werden müssen. So zahlt Starbucks in Deutschland fast keine Unternehmenssteuern, denn Niederlande ist eine Steueroase. Das hat die ZDF-Sendung, die Anstalt in einer Sendung vom 28.10.2014 schön heraus gearbeitet.

Welche Rolle spielt Starbucks in Deutschland und welche Rolle spielt der deutsche Markt für Starbucks?

Starbucks ist im Vergleich zu McDonalds in Deutschland mit ca. 165 Filialen ein ganz kleiner Fisch. Auch die geschätzten 160 Millionen Euro Umsatz in Deutschland gelten in der Branche als Peanuts. McDonalds hat im Vergleich fast 1.500 Filialen in Deutschland und erzielt 3,8 Milliarden. Der Marktführer der Kaffee-Bars ist derzeit Segafredo. Die haben seit 2018 ein massives Wachstum hingelegt und laut Statista im Jahr 2019 derzeit 354 Filialen. Weltweit sieht die Sache anders aus. Da ist Starbucks der Marktführer mit einer intergrierten Wertschöpfungskette vom Kaffee-Anbau im Trikont bis hin zu Starbucks-Lizenzprodukten in Supermärkten, die von Nestlé vertrieben werden. Der weltweite Umsatz belief sich im Jahr 2019 auf rund 26,5 Milliarden US-Dollar. Starbucks belegt mit über 46,8 Millionen US-Dollar Markenwert den zweiten Platz im Ranking der wertvollsten Fast-Food-Marken weltweit. Das einzige was in Deutschland diesem Ruf als Big Player gerecht wird ist die Bekanntheit der Marke. Zwei Drittel der Deutschen kennen laut Umfragen das Starbucks-Logo. Deutschland ist ansonsten ein Starbucks-Entwicklungsland. Dennoch ist es für einen globalen Konzern wichtig, auch hier an Orten sichtbar zu sein, die ein internationales Publikum besucht: Bahnhöfe, zentrale Shopping-Meilen, Tourismus-Hot-spots.

Wem gehört das Unternehmen eigentlich?

Den üblichen Verdächtigen. Die größten Anteilseigner sind aggressiven Finanzinvestoren wie Vanguard mit 7,7 % der Aktien, Blackrock (7,2%), State Street (2,7%), Magellan Asset Management (2,7%) und der Starbucks-Gründer Howard Schultz mit 2,9 %, was im Juni 2020 ein unglaubliches Vermögen von 2,3 Milliarden ausmachte.

Was können wir tun, um gegen diese imperialen Mächte anzukämpfen?

Der Aktionstag #Freitag13 dürfte dazu beitragen, die Ausbreitung von Starbucks in Deutschland klein zu halten. Zudem wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Systemgastronomie eine von Grund auf üble Sache ist. Wir sollten neben klassischem Organizing, das in der Systemgastro stark ausbaufähig ist, auch unsere Macht als Konsument*innen stärken. Sprich: Boykott und Image-Korrekturen.

Kann ein Aktionstag wie #Freitag13 überhaupt etwas bewirken?

Wir gehen davon aus, dass es für jedes Unternehmen ärgerlich ist, wenn dessen Marke mit Ausbeutung und schmutzigen Methoden assoziiert wird. Starbucks ist hier besonders angreifbar, weil die Produkte überteuert sind. Der Preis wird durch „Fair trade“ und Wohlfühlatmosphäre gerechtfertigt. Das Starbucks-Image ist inwendig hohl.

Das Format #Freitag13 hat bereits richtig weh getan: Der Essenskurier Deliveroo flüchtete regelrecht aus Deutschland, der H&M-Aktienkurs rutschte 2017 ab. Am 13.9.2019 sind wir gegen Werkverträge bei Tönnies vorgegangen; jetzt steht das gesetzliche Verbot in der gesamten Fleischindustrie an.

Was können die Leser*innen des Lower Class Magazines konkret tun?

Die Starbucks Beschäftigten brauchen flankierende Maßnahmen kritischer, solidarischer Konsument*innen!

Wir rufen zum unbefristeten Konsum-Streik gegen Starbucks auf bis unsere zentralen Forderungen erfüllt sind: Betriebsratswahlen, Schutz aktiver Betriebsräte, Schluss mit Ketten-Befristungen. Hier könnt ihr euch online anschließen: https://arbeitsunrecht.de/starbucks.

Außerdem stellen wir Flublätter zum download bereit, die ihr in Supermärkten und Starbucks-Filialen hinterlassen könnt: https://arbeitsunrecht.de/freitag13_starbucks/#mitmachen.

Elmar Wigand ist Pressesprecher der Aktion gegen Arbeitsunrecht. Mehr zum Aktionstag #Freitag13: https://arbeitsunrecht.de/fr13

#Titelbild: arbeitsunrecht, Elmar Wigand vor Starbucks am Neumarkt in Köln

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In Folge der Coronapandemie werden allseits Rufe nach staatlicher Hilfe laut. Die Libertären Kommunist*innen Osnabrück sprachen mit Alexander Neupert-Doppler darüber, ob das schon staatsfetischistisch ist, über Strategien und Taktik von Forderungen an den Staat und welche Rolle Utopien bei der Durchsetzung politischer Ziele spielen. Das hier veröffentlichte Interview ist eine gekürzte Version, die vollständige kann hier gelesen werden.

LIKOS: Viele rufen nun nach dem starken Staat, manche können gar nicht genug Polizei auf der Straße sehen, aber auch Linke und radikale Linke stellen nun Forderungen, wie beispielsweise nach einem „Corona-Grundeinkommen“. Wie würdest Du diese Entwicklung erstmal allgemein bewerten?

Alexander NeupertDoppler: Ganz allgemein oder auch um beim genannten Beispiel zu bleiben: Ich find’s nicht falsch, vom Staat Geld zu nehmen, der nimmt das von uns ja auch – irgendwo muss er es ja herhaben. Die Frage ist, wann kippt das in Richtung Staatsfetischismus? Dazu habe ich etwas Schönes gefunden – ganz auf Zitate kann ich dann doch nicht verzichten. Das Zitat ist aus einem Text von Georg Lukács aus 1920 – also hundert Jahre alt – und doch erschreckend aktuell: „Noch inmitten der tödlichen Krise des Kapitalismus erleben breite Massen des Proletariats Staat, Recht und Wirtschaft der Bourgeoisie als einzige mögliche Umwelt ihres Daseins, […]. Dies ist die Weltanschauungsgrundlage der Legalität. […] Sie ist die natürliche und instinktive Orientierung nach dem Staate, dem Gebilde, das dem Handelnden als der einzig fixe Punkt im Chaos der Erscheinungen vorkommt.“

Ich denke, das ist das, was wir auch in der Coronakrise wieder beobachten: Dass nämlich der Staat, weil er eine Form der kapitalistischen Gesellschaft ist, und die einzige, die so etwas wie eine Ordnung aufrechterhalten kann, dann eben auch zum Adressat von Forderungen wird. Der eigentliche Fehler – wenn man beim Staatsfetischismus von so etwas sprechen will – wäre dann, diese Funktion des Staates als Ordnungsmacht des Kapitals damit zu verwechseln, dass der Staat eine neutrale Kraft wäre, die für alle Forderungen gleichermaßen ansprechbar ist.

Daran, dass der Staat die einzige Instanz ist, die eine Ordnung garantieren kann, ist ja aktuell auch etwas dran. Daher wäre es eigentlich nötig, das Formulieren von Staatskritik auch durch Vorstellungen zu einer Art Gegenordnung zu ergänzen. Fällt dir eine Strategie oder ein historisches Beispiel ein, wo man das halbwegs erfolgreich gemacht hat?

Alexander Neupert-Doppler: Ich würde da unterscheiden zwischen Strategie und Taktik. Eine Strategie wäre etwas Langfristigeres, Taktik wäre für tagesaktuelle Fragen. Und gerade beim tagesaktuellen Geschehen ist diese Unterscheidung wichtig, wenn ich zum Beispiel das konkrete Problem habe, dass ich meine Miete nicht zahlen kann. Ich habe das mal nachgeschlagen, zurzeit zahlen 5 Prozent der Haushalte in der BRD keine Miete, weil sie es schlicht nicht mehr können. Die Frage ist, welche Optionen haben diese Leute?

Da kann man einerseits sagen: Weil der Staat – im Kapitalismus, das muss man immer dazu sagen – die Ordnungsmacht ist, kann er eben solche Regelungen erlassen, wie die zur Mietstundung, die bis September gilt. Dieser Regelung zufolge müssen die Mieten erst mal nicht gezahlt werden, sondern werden zu später abzuzahlenden Schulden. Später wäre also noch zu fordern, diese Mietschulden auch zu erlassen.

Um solche Forderungen durchzusetzen, braucht man natürlich Selbstorganisierung, die nicht in den staatlichen Institutionen aufgeht. Also wäre zur Unterstützung von so einer Forderung ein tatsächlich schlagkräftiger Mietstreik notwendig, der in einigen europäischen Ländern auch geplant und organisiert wird. Dafür braucht es dann auch Plattformen. Insofern halte ich es weniger für eine Frage des Wollens, was Leute machen. Vielmehr geht es darum, welche Optionen sie haben: Wo müssen sie Spielräume staatlicher Politik nutzen und wo haben sie bestimmte Formen der Selbstorganisierung?

Im Endeffekt würdest du also schon sagen, es ist ein falsches Entweder-Oder in dem Sinne, dass man nicht sagen kann: Entweder werden Forderungen an den Staat gestellt oder es wird durch Selbstorganisierung erreicht? Sondern wenn Formen der Selbstorganisierung vorhanden sind, kann man auch erfolgreich Forderungen an den Staat stellen?

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt – ja. Dazu würde ich ein weiteres Beispiel anführen. Wenn jetzt die rumänischen Spargelstecher*innen in ihrem Streik auch bürgerliche Gerichte anrufen, um bestimmte Rechte als Arbeiter*innen einzufordern, dann wäre ich der Letzte, der denen Staatsfetischismus vorwirft. Da ist es eher ein gutes Zeichen, dass denen klar ist, dass sie sich selbst organisieren müssen, um überhaupt was durchzusetzen.

Aktuell und auch perspektivisch werden die Corona-Krise und die Wirtschaftskrise für viele Menschen schwerwiegende Veränderungen verursachen. Dabei kommt es zwar auf den Widerstand der Menschen an, aber erstmal zum Schlechteren. Utopien und die Verbreitung einer Utopie können dabei bei manchen gegebenenfalls als Träumerei abgetan werden oder im schlimmsten Fall zynisch wirken. Andererseits gibt es grade viele Probleme, die zum utopischen Denken anregen. Ist gerade Zeit für Utopie oder sollten wir uns auf die Politisierung konkreter Probleme konzentrieren?

Ich glaube, es gibt keine Politisierung konkreter Probleme ohne utopischen Überschuss, weil genau da, speziell in Krisenzeiten, Utopien ja auch zünden.
Immer ein gutes Beispiel liefert der Gesundheitssektor. Jetzt festzustellen und als Kritik auszuformulieren, dass die Privatisierung vom Gesundheitssektor ein Fehler war, liegt auf der Hand. Sobald ich diese Kritik aber formuliere, stehe ich ja auch vor der Frage, wie dann ansonsten z.B. Krankenhäuser verwaltet werden könnten, wenn nicht über gewinnorientierte Konzerne. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man könnte die Verstaatlichung vom Gesundheitssektor fordern oder sich eine Kommunalisierung wünschen, weil man vielleicht davon ausgeht, dass Städte dann doch noch mehr auf andere Interessen achten als Staaten das können. Damit ist man von vornherein im Grunde schon in diesem Bereich des Utopischen, allerdings mit einer unterschiedlichen Reichweite. Die Kommunalisierung des Krankenhauses wäre sicherlich die kleinere Utopie, als die Umgestaltung vom Gesundheitssektor im Ganzen. Insofern glaube ich auch, es bringt nichts, sich Utopie immer als etwas vorzustellen, das zeitlich besonders weit weg ist, sowas lässt sich in einer Gegenwart ohnehin kaum bestimmen.
Ich würde – passend zum Thema – auf eine Definition von Gabriele Winkler vom feministischen Netzwerk Care Revolution zurückgreifen. Sie hat auf die Frage, was konkrete Utopie ist, mal gesagt: „Konkrete Utopie ist eine, die sich auch auf jetzt schon vorhandene Möglichkeiten und reale Akteure bezieht“. Das heißt, wenn es zum Beispiel im Gesundheitssektor Proteste und Bewegungen gibt, kann man da auch erstmal gucken, was die Forderungen sind und das utopische Moment wäre dann, diese Forderungen zuzuspitzen.

Ich glaube, dass das auch häufig einen sehr realpolitischen Effekt haben kann. Historisch zeigt sich das am Beispiel des Sozialstaats im 19. Jahrhundert. Den hat die Arbeiter*innenbewegung ja nicht geschenkt bekommen, sondern weil sie Sozialismus gefordert haben, haben sie den Sozialstaat bekommen.

Mit Utopien ist man natürlich immer einen Schritt weiter als das, was gerade durchsetzbar ist, aber eben darum haben Utopien häufig so eine motivierende Funktion und sind daher auch nicht zu trennen von konkretem Widerstand oder konkreten Kämpfen.

Eine Genossin, die in der Pflege arbeitet, war bei ein paar Aktionen dabei und das hat enorm geholfen – allein wenn die Leute merken, da ist eine dabei, die beherrscht das Fachvokabular und kann unsere Situation nachvollziehen, weil sie selbst in dieser Situation drinsteckt. Das ist auch nicht ganz unwichtig, um Utopie zu vermitteln. Erwähnte Genossin und jemand anderes könnten das Gleiche sagen vom utopischen Inhalt her, aber als Person ohne das Fachwissen könnte man das nicht so gut vermitteln wie sie das kann.

Die Leute vom jeweiligen Fach wissen auch viel mehr dazu. Ich habe letztens in der Kneipe mit einem Logistiker gesprochen. Der hat sich beschwert, wie sinnlos die Organisationsweise bestimmter Verschiebungen von Waren ist. Als ich ihn gefragt habe, wie er es gerne machen würde, kam er auf andere Kriterien, wie man so etwas beispielsweise umweltfreundlicher und mit weniger Aufwand gestalten kann. Das Wissen hat er einfach, weil er in der Logistik arbeitet.
Die Tradition, Leuten auch mal Fragen zu stellen, statt Parolen auf Bettlaken an ihnen vorbeizutragen, ist innerhalb der Linken ein bisschen verloren gegangen. Im italienischen Operaismus wurden Leute über ihre Lebenssituation befragt. Wir können auch noch weiter zurückgehen, es gibt schon von Marx Entwürfe für Fragebögen für ArbeiterInnen, um sich überhaupt auch mal jenseits der Bücher zu informieren, was da los ist in der Welt. Ich halte es für sinnvoll, so eine Befragung um ein utopisches Moment zu erweitern und zu erheben, was die Leute in ihren Arbeitsfeldern anders machen würden und wie. Das wäre das, was zu sammeln wäre. Ich bin der Meinung, dass wir nicht mehr in der Lage von vor 500 Jahren sind, wo sich eine einzelne Person hinsetzt und sich Utopia ausdenkt, sondern es wäre ein viel pluralistischerer Begriff von Utopie, der an der Zeit wäre, was vor allem auch mit dem Sammeln von Ideen zu tun hat.

Dr. Alexander Neupert-Doppler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politische Theorie am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam (IASS). Nach Büchern zu Staatsfetischismus (2013) und Utopie (2015) schließt der Kairós (2019) diese Trilogie ab.

Die Libertären Kommunist*innen Osnabrück (LIKOS) gibt es seit 2015. Allgemein organisiert die Gruppe Demonstrationen, Vorträge und Theoriearbeit. In der Corona-Pandemie versuchen sie die gesellschaftlichen Folgen zu politisieren, mehr Infos gibt‘s hier.

# Titelbild: pixabay

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Von der Kampagne Shut Down Schweinesystem

Die Corona-Krise ist vorbei. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man sich anschaut in welchem Tempo eine Maßnahme nach der anderen gelockert wird. Insbesondere Nordrhein-Westfalen nimmt hierbei unter Ministerpräsident Armin Laschet eine Vorreiterrolle ein. Dass breite Teile der Bevölkerung wieder die Einkaufsstraßen fluten, ihre sozialen Kontakte reaktivieren, dicht an dicht gedrängt in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, ist kaum verwunderlich.

Denn der staatlicherseits angestrebte Spagat zwischen fortlaufendem Zwang zur Arbeit und den sogenannten Social Distancing Maßnahmen im Privaten war schwer nachvollziehbar. Die großen Corona-Partys fanden schließlich staatlich angeordnet in Großbetrieben, wie Amazon-Fulfillment-Centern, dem Bausektor oder Schlachtbetrieben statt und auch überall sonst, wo man auf Saisonarbeiter*innen aus dem (EU-)Ausland angewiesen ist. Diejenigen die nicht weiter arbeiten durften, sahen sich aus dem Nichts mit existenziellen Fragen konfrontiert, auf die der Staat mit Tropfen auf den heissen Stein, wie etwa einem viel zu gering ausfallenden Kurzarbeiter*innengeld, keine angemessene Antwort gab.

Die haarsträubenden Arbeits- und Wohnbedingungen tausender Saisonarbeiter*innen, die, einzig zum Wohl des deutschen Wirtschaftsstandorts und gegen jede Corona-Schutzverordnung, tausendfach eingeflogen wurden, sprechen Bände über die Prioritäten, die während der Pandemie gesetzt werden. Es geht hierbei nicht um den Schutz von Menschenleben, sondern um die Sicherung von Kapitalinteressen und die Fortführung des kapitalistischen Normalvollzugs.

Was die Kampagne #LeaveNoOneBehind schon zu Beginn der Pandemie voraussagte, wird spätestens jetzt Realität: Die Marginalisierten und Prekarisierten trifft die Krise – die auch ohne Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre und jetzt noch verschärft zu Tage tritt – am stärksten. Die Beispiele aus Ernte- und Schlachtbetrieben wie in Bornheim oder Gütersloh, zahlreichen Geflüchtetenlagern (bspw. in Bremen, Suhl und Ellwangen), aus den Wohnkomplexen Maschmühlenweg und Groner Landstraße in Göttingen und zuletzt aus den Landkreisen Coesfeld und Oldenburg weisen trotz lokaler Besonderheiten viele Gemeinsamkeiten auf.

All diese Orte wurden während der noch immer grassierenden Pandemie zu Corona-Hotspots. Betroffen sind zum Großteil migrantische und prekarisierte Arbeiter*innen. Schon vor der Corona-Krise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert und nun von den implementierten Corona-Schutzmaßnahmen fast schon mehr betroffen als geschützt: Wo man dazu gezwungen ist, auf engstem Raum nebeneinander zu wohnen und zu arbeiten, sich mit hunderten oder gar tausenden Anderen eine prekäre Lebensrealität teilt und es gleichzeitig am Nötigsten für einen effektiven Infektionsschutz fehlt, ist Armut der Grund für Krankheit oder sogar Tod.

Der Fall des am Virus verstorbenen Feldarbeiters in Bad Krozingen, wie auch die unzähligen Ausbrüche in Göttingen oder im Schlachtbetrieb Tönnies strafen die vielzitierte Phrase „Vor dem Virus sind wir alle gleich“ mit frappierender Evidenz Lügen. Die Corona-Krise zeigt überdeutlich auf, dass soziale Lage und Gesundheit unmittelbar miteinander verbunden sind und, dass man für Kohle bereit ist, über Leichen zu gehen.

Als wäre das für sich noch nicht genug, befeuern Politik und Medien eine rassistische Mobilisierung gegen die am schlimmsten von der Pandemie Getroffenen. So sprach etwa der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet vor dem Hintergrund der jüngsten Ausbrüche in den Schlachtbetrieben davon, dass das Virus aus Rumänien oder Bulgarien eingeschleppt worden sei, während die von ihm forcierte Lockerung der Maßnahmen in keinem Zusammenhang damit stünde. Gleichermaßen bediente etwa die bundesweite Presse rassistische Motive, wonach migrantische Großfamilien für die steigenden Infektionszahlen in Göttingen verantwortlich seien und fütterten somit jenes rassistische Narrativ, welches dem Terroranschlag von Hanau am 19. Februar 2020 den Nährboden bereitete.

Im Rahmen des jüngsten Skandals trifft es also wieder eine Produktionsstätte, in der mehrheitlich osteuropäische Saisonarbeiter*innen unter prekären Bedingungen beschäftigt und untergebracht sind: Wochenlang werden die Arbeiter*innen in die Schlachthöfe gekarrt, arbeiten und leben auf engstem Raum und sind so einem unverantwortlichen Infektionsrisiko ausgesetzt. Die öffentlich gewordenen Bilder zeigen überfüllte Kantinen, mangelhafte Schutzausrüstung und bereitgestellte Unterkünfte, die eher den Ställen der geschlachteten Tiere ähneln, als einer menschenwürdigen Wohnsituation. Den Arbeiter*innen werden mitunter 7-Bett-Zimmer zu horrenden Preisen bereitgestellt, deren Kosten bereits vom ohnehin unwürdig geringen Lohn abgezogen werden. Die Lebensmittelversorgung während des Lockdowns, die von Tönnies übernommen werden sollte, ist unzureichend und hat bereits zu massiven Versorgungsengpässen gesorgt.

Die rigorose Durchsetzung des Lockdowns in den betroffenen Landkreisen durch massive Polizeipräsenz an den Unterkünften der Belegschaft macht auch hier wieder den rassistischen Charakter der staatlichen Institutionen deutlich. Nirgendwo sonst wurde in solch einer repressiven Weise das Leben der Menschen während der Pandemie kontrolliert und durchleuchtet wie bei den betroffenen, meist osteuropäischen Saisonarbeiter*innen.

Ausgestattet mit Werk- und Leiharbeitsverträgen von Sub-Subunternehmen, ist es den Arbeiter*innen kaum möglich ihre Arbeitsrechte wahrzunehmen und gegen die miserablen Arbeitsbedingungen vorzugehen. Drohender Lohnausfall stellt die Betroffenen von einem Tag auf den anderen vor existenzielle Bedrohungen. Die Angst in Armut und Obdachlosigkeit abzurutschen und die neuerlich verabschiedeten Maßnahmen verschärfen die Abhängigkeit von diesem Schweinesystem und verhindern eine solidarische Praxis der Belegschaft untereinander.

Die Beschäftigung über Subunternehmen in Werksverträgen, menschenunwürdige Unterbringung, schlechte Verpflegung und der ausbleibende Seuchenschutz in Zeiten der Pandemie sind keine Einzelfälle, sondern haben System. Der deutsche Wirtschaftsstandort im Allgemeinen, das einzelne Unternehmen im Besonderen, profitieren hier von der ökonomischen Abgeschlagenheit osteuropäischer Nachbarstaaten. In Zeiten eines globalisierten Arbeitsmarktes wird hier ein internationaler Klassenwiderspruch deutlich: Es wurde eine Armee billiger Arbeitskräfte geschaffen, deren prekäre Situation sie dazu nötigt, unter widrigsten Bedingungen als Arbeitsmigrant*innen in der Reproduktion, auf Spargelfeldern oder in Schlachtbetrieben diejenigen Tätigkeiten zu verrichten, für die sich Deutsche noch zu schade sind und müssen dann auch noch froh darüber sein, damit ihre Familien ernähren zu können.

Dennoch zeigt der Arbeitskampf der Feldarbeiter*innen in Bornheim, dass sich, zumindest im Ansatz, gegen solche Zustände gewehrt werden kann. Sie legten die Arbeit nieder und organisierten sich, nachdem ihnen ihre Lohnzahlungen vorenthalten wurden. Die Folge waren acht Tage wilde Streiks, die es den Arbeiter*innen am Ende ermöglichten zumindest einen Teil ihrer rechtmäßig zustehenden Kohle zu erkämpfen. Es wurde deutlich, dass durch Organisierung und Solidarisierung gegen die Arbeitsbedingungen die Arbeiter*innen eine Selbstermächtigung herbeigeführt haben, das welche die strukturelle Benachteiligung der ausländischen Arbeiter*innen aufbrechen konnte.

Wir rufen dazu auf, die negative mediale Öffentlichkeit, die Tönnies gerade hat, nicht abbrechen zu lassen und sich mit den Arbeiter*innen sichtbar und praktisch zu solidarisieren. Das ist auf vielfältige Art und Weise möglich! Als anlassbezogenes Bündnis „Shut Down Schweinesystem“ werden wir in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin Imageschaden gegen Tönnies und dem Schweinesystem als solchem betreiben und dabei Solidarität mit den Beschäftigten ausdrücken. Dementsprechend wollen wir auch alles tun, den Arbeiter*innen das zur Verfügung zu stellen, was praktisch gebraucht wird; seien es materielle Hilfsgüter oder Kanäle, um ihre Stimmen Widerhall zu verleihen. Als radikale Linke können wir die Geschehnisse mit skandalisieren, aber was benötigt wird, das wissen die Arbeiter*innen am Ende noch immer am besten.

#Titelbild: shut down schweinesystem, twitter, Aktion von Shut Down Schweinesystem, bei Besselmann, einem Subunternehmen von Tönnies

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Die AfD hat bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg enorm an Stimmen gewonnen. Unser Autor Simon Zamora Martin hat analysiert, was die Wahlergebnisse mit dem von allen Regierungsparteien seit der Wende vorangetriebenen neoliberalen Strukturwandel zu tun haben und wo Anknüpfungspunkte für eine antifaschistische Politik sind, die über liberale Überheblichkeit hinausgehen.

Am Sonntag den 1. September rummste es kräftig in Sachsen. Ein großes Gewitter fegte über die ostdeutsche Provinz. Der Regen fiel zeitgleich mit dem politischen Gewitter auf die Hochburgen der AfD in Sachsen. Angefangen im Erzgebirge, an dessen Fuß sich der NSU lange verkroch, hin zur ehemaligen NPD-Hochburg sächsische Schweiz, über Bautzen bis Görlitz, wo die AfD Ende Mai fast den ersten Oberbürgermeister gestellt hätte. Hat sich der Osten mit den Wahlen, bei denen die protofaschistische AfD in Sachsen 27,5 Prozent, in Brandenburg 23,5 Prozent der Wähler*innenstimmen bekam, nun einfach dazu bekannt, was er von Natur aus ist? Braun?

Ein genauerer Blick auf die Wetterkarte der Wahlen lässt durchaus mehr erkennen als ein Stadt-Land Gefälle. Es sind nicht nur die klassisch ländlichen Räume, in denen die AfD punktet. Von der ehemaligen Montanregion Erzgebirge bis zur Maschinenbaustadt Görlitz erstrecken sich viele industrielle Zentren. Auch entlang der Grenze zu Polen reiht sich von Görlitz nach Norden eine Kette von Industriestädten: von der brandenburgische Kohlestadt Cottbus bis zu den Hochöfen von Eisenhüttenstadt. Städte, die mit der Wende unter großen Entlassungswellen, Bevölkerungsschwund und den damit einhergehenden Zerbrechen des Sozialgefüges gelitten haben. Und die sich heute den Herausforderungen eines erneuten Strukturwandels gegenüber sehen.

Die meisten Hochöfen der einstigen Stahlstadt Eisenhüttenstadt sind schon lange erloschen. Seit 1990 hat Eisenhüttenstadt mehr als die Hälfte ihrer Einwohner*innen verloren. Die Auswirkungen des internationalen Handelskrieges und der Krise der deutschen Automobilindustrie als größter Stahlabnehmer sind hier deutlich zu spüren: Der Weltmarktführer ArcelorMittal drosselte unlängst die Produktion und droht damit, den Standort Eisenhüttenstadt mit Bremen zusammenzulegen. In der Belegschaft werden massive Kündigungen erwartet, ja sogar eine Abwicklung des Standortes. Im April wurde der größte noch betriebene Hochofen stillgelegt und es läuft nur noch einer von einst sechs Öfen. Die Produktion wurde auf 25% gedrosselt, befristete Verträge nicht verlängert und fast alle verbleibenden Arbeiter*innen in Kurzarbeit geschickt. Die Belegschaft bangt um ihre Arbeitsplätze. Seit dreißig Jahren geht das Tauziehen um den Erhalt des Standortes jetzt schon, bei dem derzeit über 10% der Stadtbevölkerung direkt beschäftigt sind. Seit Jahren hören die Arbeiter*innen große Versprechen der Politik, und müssen dann doch eine Entlassungswelle nach der anderen erdulden. Das Vertrauen in die seit der Wende regierende SPD, aber auch das in die Linkspartei ist dahin. Sie rutschten mit der aktuellen Wahl auf 27,8 bzw. 11,6 Prozent ab, während die AfD mit über 30% stärkste Kraft wurde.

Nicht viel besser sehen die Ergebnisse der AfD in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs 50 km weiter südlich aus. Auch in Cottbus, der Hauptstadt des Lausitzer Kohlereviers, aus dem die Brennstoffe für die Hochöfen in Eisenhüttenstadt kommen, wurde die AfD stärkste Kraft. Der überfällige Kohleausstieg verunsichert die Menschen zutiefst. Nach den „blühenden Landschaften“ der 90er Jahre fürchten mit dem Kohleausstieg viele erneut um ihre Existenzgrundlage. Zwar beschloss die schwarz-rote Bundesregierung fünf Tage vor den Landtagswahlen ein 40 Milliarden Euro schweres Investitionspaket, doch neue Straßen, Eisenbahnlinien, Forschungsinstitute und Behörden bringen den Kohlekumpels auch keine neuen Jobs. Selbst die Linkspartei, die in den 90ern noch Seite an Seite mit den Kumpels stand, machte in Brandenburg Wahlkampf dafür, die Zechen noch früher als geplant zu schließen. Auch das dürfte ein wichtiger Punkt sein, warum die AfD mit ihrer Leugnung des Klimawandels in den Kohlerevieren zur stärksten Kraft wird.

Südlich des Lausitzer Kohlerevierst liegt die Geburtsstadt des alten und wohl neuen Ministerpräsidenten von Sachsen, Michael Kretschmer (CDU). Er konnte am Wochenende dort sein Direktmandat verteidigen, bei den Zweitstimmen lag die AfD fast vier Prozent vor der CDU. Die letzten Monate war die Stadt nicht nur in den Schlagzeilen, weil die AfD hier fast ihre erste Oberbürgermeisterwahl gewann, sondern auch wegen geplantenEntlassungen, bei Siemens und Bombardier. Bei Siemens wird trotz lauter Proteste und Streiks der Großteil der Beschäftigten gehen müssen, worüber keiner mehr redet. Auch nicht der Görlitzer MdB Tino Chrupalla (AfD), der die „Klimalüge“ für die Schließung des Gasturbinenwerkes verantwortlich machte.

Eines der wichtigen Wahlkampfthemen in Sachsen war auch gerade jene angebliche „Klimalüge.“ Die von der AfD lancierte Kampagne „Ein Herz für Diesel“ ist nicht nur eine komische Freakshow von Landwirt*innen, die mit ihren Traktoren durch die Innenstätte fahren wollen. Sie zielt auch auf die Beschäftigten des sächsischen Automobilsektors ab. Von Görlitz bis zu den Automobilzentren am Fuße des Erzgebirges findet nach dem abrupten Aus der Dieselmotoren ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen in den Zulieferbetrieben statt. Mit ihrer Politik der Klimaleugnung schafft es die AfD auch einen Teile der Arbeiter*innenklasse, die ihre Lebensgrundlage von dem Strukturwandel bedroht sehen, zu gewinnen und sie vor ihren neoliberalen und rassistischen Karren zu spannen.

Der Rechtsruck im Osten hat viel mit der aktuellen Klimapolitik zu tun. Die Grünen aber auch CDU und SPD wollen die aktuelle Klimadebatte nutzen, um die deutsche Wirtschaft aus ihrer Überproduktionskrise zu führen, sich international im Handelskrieg behaupten zu können und die Arbeiter*innen durch eine CO2-Steuer und massive Entlassungen für diese „Erneuerung“ des Kapitalismus zahlen zu lassen. Selbst die Linkspartei wendet sich zunehmend von den Arbeiter*innen ab und einem kleinbürgerlichen, urbanen Publikum zu.

Die Folge ist, dass zunehmend die soziale Frage gegen die Klimafrage diskutiert wird. Die AfD profitiert davon und kann sich heuchlerisch als Verteidigerin der sprichwörtlichen kleinen Leute, die unter dem kapitalistischen Strukturwandel leiden, inszenieren. Dabei sind die wirtschaftlichen Vorschläge der AfD katastrophal für Arbeiter*innen: sie schlagen beispielsweise vor, in der Lausitz eine Sonderwirtschaftszone zu errichten, in welcher Unternehmen nicht nur von Steuern befreit sein sollen, sondern wohl auch Arbeits- und Tarifrecht legal unterlaufen könnten.

Die IG-Metall Kampagne für eine Senkung der Arbeitszeit im Osten auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich, welche auch auf der FairWandel Demo in Berlin sehr betont wurde, ist nicht nur ein Kampf um gleichen Lohn für gleiche Arbeit, damit die Ossis nicht weiter die Lohndumper in Deutschland sind. Er zeigt auch einen Weg, wie schadstoffreiche Industriebetriebe sozialverträglich runter gefahren und die Überproduktionskrise gelöst werden kann: mit Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Doch um einen ökologischen und sozialen Strukturwandel der Industrie vollziehen zu können, wird es nicht reichen nur zu probieren, gegen die sozialen Auswirkungen des kapitalistischen Strukturwandels zu kämpfen. Die Arbeiter*innen müssen diesen mitgestalten. Zum Beispiel durch eine entschädigungslose Enteignung der Energiekonzerne, um unter Kontrolle der Arbeiter*innen die Konzerne so umbauen zu können, dass der Kohleausstieg zügig realisiert wird, in den betroffenen Gebieten aber auch neue Produktionsketten hochgezogen werden. Trotz dem Debatten um Verstaatlichungen, die mit der Kampagne #DWEnteignen dieses Jahr angestoßen wurden, ist deren Umsetzung ziemlich unwahrscheinlich. Doch gerade in Ostdeutschland kocht die Forderung nach Enteignung nicht erst seit Kevin Kühnerts Debatte um eine Vergesellschaftung von Verlusten der Automobilindustrie immer wieder hoch. Die Streiks zwischen 1989 und 1994 gegen die Treuhand– die Größten seit dem Faschismus – endeten zwar fast alle in Niederlagen. Doch die ältere Generation hat in jener Zeit durchaus gelernt, wie eine Betriebsbesetzung funktioniert. Dass Bosse einfach abgesetzt werden können und die Produktion von den Arbeiter*innen selbst organisiert werden kann. Und dass auf die eigenen Kräfte mehr Verlass ist, als auf die leeren Versprechen der Sozialdemokratie oder Gewerkschaftsbürokratie. Auch heute noch kommt die Forderung nach Verstaatlichung immer wieder in ostdeutschen Arbeitskämpfen auf. Wie beim Halberg-Guss-Streik in Leipzig letztes Jahr. Oder aktuell der Kampf von Union Werkzeugmaschinen Chemnitz. In den 90er Jahren rettete die Union-Belegschaft ihren Betrieb vor der Schließung durch die Treuhand, und jetzt möchte der neue Eigentümer das Werk schließen. Auch hier fordern die Beschäftigten jetzt sowohl eine Verstaatlichung gegenüber dem Land Sachsen, als auch eine Rückkehr zur Kooperative: ein nicht mehr all zu großer Sprung zu einem verstaatlichten Betrieb unter Selbstverwaltung der Arbeiter*innen.

Das Gewitter, welches sich am jenem Sonntag über dem Osten entladen hat, rüttelt hoffentlich auch die linken Kräfte in diesem Land auf. Es ist nicht genug, die AfD nur wegen ihrem Rassismus anzugreifen. Die Arbeiter*innen mit ihren Kämpfen müssen wieder stärker in den Fokus genommen werden, statt bestenfalls ignoriert zu werden, weil sie nicht radikal genug sind. Dass kämpfende Arbeiter*innen sehr wohl auch für Kämpfe gegen rassistische und sexistische Unterdrückung, zeigt vielleicht auch das Beispiel der Belegschaft der nordsächsischen Nudelfirma „Riesa.“ Sie führten einen langen Kampf für einen Tarifvertrag und gegen Outsourcing, den sie nicht zuletzt mit einer breiten Solidaritätskampagne gewann. So sprachen sie zum Beispiel auch auf der Unteilbar Demo in Dresden über ihren Kampf und setzten ein Zeichen gegen Rassismus und gegen die AfD.

Gemeinsame Kämpfe für soziale Rechte sind eine bessere Schule der Solidarität als Symbolaktionen. Sie zeigen, dass wir was verändern können, wenn wir uns nicht spalten lassen in Deutsche und Migrant*innen, Frauen und Männer, Ossis und Wessis. Aber auch, dass Solidarität heißt, für die Rechte der anderen einzutreten. Gelebte Solidarität im Kampf um soziale Rechte ist wohl das beste Mittel, um die Richtung des tosenden Gewitters zu ändern und nicht uns Unterdrückte und Ausgebeutete, sondern die Kapitalist*innen im Regen stehen zu lassen.

#Simon Zamora Martin

# pixabay, Rico Loeb

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Die Nachricht, dass 950 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden, scheint nicht mehr wert zu sein, als einen Tag Berichterstattung in der Presse und kurzzeitige Empörung vom Bezirksbürgermeister. Am 28. Mai wurde bekannt, dass die Neuköllner Zigarettenfabrik des Tabakmultis Philip Morris zum Jahresende ihren Betrieb einstellt und von 1.050 Angestellten nur 75 ihren Arbeitsplatz behalten können. 25 weitere werden in die Verwaltung nach Dresden und München ausgegliedert. Grund sei die Veränderung des Konsumentenverhaltens, welche eine deutliche Reduzierung der Produktionskapazitäten erfordere. Nach Unternehmensangaben solle es „faire und sozial verträgliche Lösungen“ für alle geben. Aus diesem Grund hätten sie sich auch gleich mit Bezirksbürgermeister Martin Hikel und der Arbeitsagentur zusammengesetzt. Hikel, der eher für unternehmerfreundliche Politik und den Wunsch, Neukölln „aufzuwerten“, bekannt ist, äußerte unglaubwürdiges Bedauern über die Schließung, sehe jedoch keine Hoffnung für den Erhalt der Arbeitsplätze. Die Entscheidung des Tabakkonzerns müsse „gesamteuropäisch“ gesehen werden – was auch immer das heißen mag.

Und seitdem? Nichts.

Der Einzige, der sich noch öffentlich zu äußern scheint, ist der stellvertretende NGG-Gewerkschaftsvorsitzende (Nahrung-Genuss-Gaststätten) Freddy Adjan. Da die Fabrik immer noch schwarze Zahlen schreibt, sei es „unverantwortlich und heuchlerisch, wenn Philip Morris seit Jahren die Leistungen und den Einsatz der Mitarbeiter – der ‚Berliner Originale‘ – betont und ein ‚verantwortungsvolles, langfristiges und stabiles Wachstum‘ proklamiert und mit einem Schlag diese Leute, die dem Unternehmen seit Jahrzehnten Milliardengewinne erwirtschaftet haben, auf die Straße setzt und ohne Not damit auch ihren Familien die Lebensgrundlage entzieht.“ Damit spricht er einen wichtigen Punkt an. Der Konzern erwirtschaftete 2018 einen Umsatz von 79 Milliarden Dollar und einen Gewinn von knapp acht Milliarden Dollar. Dieser Gewinn wurde von Arbeiter*innen erwirtschaftet und sie sind die Ersten, die die Konsequenzen zu spüren bekommen, wenn der Vorstand umstrukturiert. Dies ist natürlich kein seltenes Ereignis im Kapitalismus, sondern systemimmanent. Entscheidungen werden aus Profitinteresse über den Kopf von Arbeiter*innen hinweg getroffen.
Ein Grund für die Schließung ist sicherlich auch der Konkurrenzdruck auf dem Tabakmarkt. Innerhalb weniger Jahre sind durch Unternehmensfusionen weltweit nur noch vier private Tabakkonzerne übriggeblieben, der zweitgrößte ist Philip Morris International. Da der Tabakkonsum schrittweise zurückgeht, setzen die Hersteller seit einiger Zeit vermehrt auf die Produktion von Tabakerhitzern, welche weniger schädlich für die Gesundheit sein sollen. Da kann Philip Morris natürlich nicht hinterherhinken und nach mehreren Skandalen über katastrophale Arbeitsbedingungen bei Zulieferbetrieben und Tabakbauern beispielsweise in Italien und Kasachstan kann ein Wandel im Dienste der Gesundheit nicht schaden.

Nur eine gesichtslose Masse?

Fest steht, dass das, was dort passiert nur ein Beispiel unter Vielen ist. Auch bei Siemens, Paypal und Karstadt stehen Firmeninteressen über denen der Menschen – auch diese Unternehmen bereiten in Berlin massiven Stellenabbau voran. Aber hat eigentlich mal jemand die Arbeiter*innen gefragt, wie es jetzt für sie weitergeht? Es ist auch Bestandteil solcher signifikanten Änderungen, dass sie entpersonalisiert ablaufen, als wären die 950 Menschen eine gesichtslose Masse, für die das Leben dann halt anders weitergeht. Interessant wäre auch zu wissen, was in Zukunft auf dem Gelände passiert. Für 75 Arbeiter*innen braucht man keine so riesige Fabrik. Wird dort dann etwas anderes produziert oder wird neu gebaut? Eine Zigarettenfabrik will sowieso nicht so recht in das Konzept der Aufwertung von Neukölln passen. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn dort, wie schon an vielen anderen Orten wie dem Hermannplatz oder in der Karl-Marx-Straße, teure Wohnungen und Bürogebäude entstünden. Das würde in das Muster der schleichenden Veränderung in Neukölln passen, welche in letzter Zeit rasant an Fahrt aufgenommen hat. Sei es die durchschnittliche Mieterhöhung von 146% innerhalb der letzten zehn Jahre, die Verdrängung von Kleingewerbe und Mieter*innen, die Entlassung von Arbeiter*innen oder die Abwertung von Sozialhilfebezieher*innen – es findet ein Angriff auf uns alle statt und es ist Zeit, sich dagegen zu organisieren.

Widerstand ist notwendig

Ein Beispiel aus Argentinien im März diesen Jahres zeigt, dass auch Arbeiter*innen die Möglichkeit haben, sich zu wehren. In der Metallfabrik Canale in Llavallol, Provinz Buenos Aires, begannen die Arbeiter*innen sich zu organisieren, um sich aus der Ohnmacht angesichts der Unternehmenskrise in der eigenen Fabrik zu befreien. Die Krise spitzte sich immer weiter zu und äußerte sich in Form von Zahlungsverzögerungen, nicht eingehaltenen Tarifvereinbarungen, sowie einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Als die Fabrik dann endgültig geschlossen werden sollte, bauten die Arbeiter*innen auf dem Gelände ein Lager auf, um die Produktionsmittel zu schützen und organisierten Grillaktionen, um die Einkünfte aus der Arbeitslosenversicherung aufzubessern. Nach 130 Tagen der Besetzung gründeten die Arbeiter*innen die Kooperative COTRAMEL und übernahmen die Fabrik.

Solidarität mit den Beschäftigten

Dies ist nur eines von vielen Beispielen weltweit, wo Organisation und Widerstand Früchte tragen. Auch wenn in der jüngeren Vergangenheit andere Kämpfe präsenter waren, haben Arbeitskämpfe hier eine lange Tradition, die durch die gelebte Solidarität unter den Arbeiter*innen geführt werden konnten. Beispielsweise der siebentägige wilde Streik bei Opel 2004, der über Tage hinweg die Produktion von Opel europaweit lahmlegte. Diese Solidarität der Arbeiter*innenklasse wird durch die Politik der letzten Jahre untergraben. So kommt es, dass in den Kommentarspalten über die Schließung der Fabrik salopp geurteilt wird, dass es doch gut sei, wenn die Leute weniger rauchen – es sei gar eine “schmutzige Arbeit” und die Arbeiter*innen hätten ja jetzt die Möglichkeit, sich einen “sauberen Verdienst” zu suchen.Klar, könnte man machen, wenn der Arbeitsmarkt ein einziges Wünschdirwas wäre…Ist er aber nicht und daher gilt als Erstes die Solidarität mit denen, die ab Januar 2020 ohne Job dastehen. Die Schließung der Fabrik können wir nicht mehr verhindern. Wir können allerdings dazu beitragen, dass die Momente, in denen der Kapitalismus sein zerstörerisches Gesicht zeigt, nicht einfach widerstandslos über die Bühne gehen können. Es ist an der Zeit, sich entgegen der Spaltungen in der Gesellschaft, solidarisch mit den Betroffenen zu zeigen und uns zusammenzutun.

# Sabot44

#Titelbild: Sabot 44

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Um unbequeme Beschäftigte loszuwerden, will die Geschäftsführung der Wombat‘s Hostels ihre Berliner Niederlassung zumindest temporär schließen. Darin aber liegt auch eine Chance: Der Betrieb könnte unter Arbeiter*innenkontrolle weitergeführt werden.

Am 31. August soll es, geht es nach den Geschäftsführern der Wombat‘s Hostelkette, so weit sein: Die Berliner Niederlassung des Unternehmens in der Alten Schönhauser Straße soll schließen. Nun könnte man als tourismusgeplagte*r Berliner*in sagen: Sehr gut, 350 Betten weniger, ciao. Doch die Betriebsschließung hat ihre Geschichte – und die hat viel mit dem entschlossenen Widerstand einer aufmüpfigen Belegschaft zu tun.

Angefangen hat die Story im April 2015. „Da haben wir einen Betriebsrat gegründet“, erklärt Ruth, die als Rezeptionistin im Wombat‘s arbeitet, gegenüber dem lower class magazine. „Davor hatten wir drei Jahre auf eine Gehaltserhöhung gewartet, als die dann endlich kam, lag sie bei 29 Cent oder so. Wir waren angepisst und dachten, jetzt müssen wir was tun.“ Am Anfang hatte außer ihrem Kollegen Milenko niemand so richtig Ahnung, wie das funktioniert. Und Ruth war das einzige Gewerkschaftsmitglied.

Heute liegen vier Jahre Kampf hinter ihnen, rund 80 Prozent der Belegschaft sind in die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, eingetreten. Sieben Hausleiter*innen wurden in der Zwischenzeit verschlissen, bilanzieren Milenko und Ruth nicht ohne Lächeln auf den Lippen. „Die bekommen Druck von oben und Druck von unten“, sagt Milenko. „Und wenn man den Druck von unten hochschraubt, dann werden die da zerrieben.“

Weil es den wechselnden Manager*innen nicht gelang, die Belegschaft unter die Knute des Konzerns zu zwingen, will die Wombat‘s GmbH nun offenbar mit dem Holzhammer ran: Das Hostel soll, obwohl es Gewinn abwirft, dicht gemacht werden.

Penis-Mobber außer Kontrolle

Dieser atomaren Lösung gingen unzählige Schikanen, Einschüchterungen und juristische Versuche des Union-Bustings voran. Dabei agierte das ungeschulte, aber machtgeile Management teilweise unfassbar skurril. Im Normalfall kommt ein Gespräch über einen Streik ohne das Wort „Penis“ aus. Wer sich aber mit Ruth und Milenko trifft, zwei der Betriebsrät*innen des Berliner Wombat‘s Hostels, wird erstaunlich oft vom männlichen Glied erzählt bekommen. Nicht, weil die beiden eine besondere Obsession mit dem Lörres verbände, sondern weil das Management ihres Betriebes in den vergangenen Monaten durch einen Arbeitskampf offenkundig an die Grenze der Zurechnungsfähigkeit getrieben wurde.

Eine der größeren Penis-bezogenen Mobbing-Aktionen durch die Hostel-Chefs schaffte es in die Bild-Zeitung: Am 1. März malte (mutmaßlich, aber beobachtet durch eine Kollegin im Nachtdienst) die Hausleitung Schwänze und Beleidigungen gegen den Betriebsrat vor den Arbeitsplatz. „Aber das war ja bei weitem nicht der erste solche Vorfall. Das Büro der Chefs war voll von gemalten Penissen, ein Dildo stand auf dem Schreibtisch. Und auf meiner Arbeitszeitmappe tauchte auch einer auf“, sagt Ruth.

Die Versuche der Verhinderung jedweder Interessensvertretung der Beschäftigten durch die wechselnden Führungen der Berliner Wombat‘s Niederlassung waren dabei in den vergangenen Jahren nicht auf obszönes Geschmiere beschränkt. „Bis zum Konflikt bist du per du mit deinen Chefs, die tun so, als wäre man befreundet. Du hast dieses Familiaritätsprinzip, dein Chef ist dein bester Freund und wir mögen uns doch alle“, erinnert sich Milenko. „Aber wenn es hart auf hart kommt, dann kehrt sich das um.“ Für die beiden Betriebsrät*innen bedeutete das auch eine immense psychische Belastung. „Alle Manager versuchen es unterschiedlich: Die eine meinte, tu es mir zu liebe, zieh doch dein Gewerkschafts-T-Shirt aus. Andere bedrohen, beschimpfen, beleidigen einen offen, bis hin zu Aufforderungen zum Oralverkehr.“ Kündigungen nach Streiks, offene Briefe zur Einschüchterung der Belegschaft, Gerichtsverfahren gegen Betriebsrät*innen – das Repertoire war groß. Während sich die Hausleitung in mehr oder weniger unprofessionellem Psychoterror übte, übernahmen die für ihre Union-Busting-Strategien bekannten Kanzleien Squire Patton Boggs und Buse Heberer From die professionelleren Angriffe auf die Beschäftigten.

Doch alles half nichts. „Auch die beißen sich die Zähne aus“, sagt Milenko. „Wir haben ein widerstandsfähiges Team, das sich davon eher noch angespornt fühlt.“ Anstatt sich auf Kompromisse einzulassen, blieben die Geschäftsführer der Kette, Marcus Praschinger und Alexander Dimitriewicz (der gelegentlich als Sascha Dimitriewicz, Alexander Böck, Sascha Böck auftrtitt) stur. Jetzt soll also geschlossen werden.

Und nun? Enteignen!

Ob die Betriebsschließung eine „echte“ ist oder einfach ein Konstrukt, um die Belegschaft auszutauschen, ist bislang nicht abzusehen. Milenko und Ruth vermuten letzteres. Denn schon bei der kürzlich vollzogenen Ausgliederung unliebsamer Reinigungskräfte habe Dimitriewicz ganz offen gesagt, dass ihm da ein Freund einen Gefallen getan habe. „Würde mich nicht wundern, wenn sich auch nach der Betriebsschließung Freunde finden, die ihm einen Gefallen tun“, deutet Milenko an. Das könnte dann bedeuten, dass nach neun Monaten anstatt eines Hostels ein Appartmenthotel oder ähnliches neu aufmacht – und die Arbeiter*innenvertretung weg ist.

„Sollte das eintreten, sind wir der Meinung, das so eine unternehmerische Willkür gestoppt werden muss. Und das bedeutet: enteignen“, sagt Ruth. „Wir prüfen gerade, was juristisch möglich ist.“ Vorbild für die Betriebsrät*innen ist die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“, die seit Monaten Furore macht. Wichtig sei dafür der öffentliche Druck, meint die Betriebsrätin.

Pläne für die dann entstehende Herberge unter Arbeiter*innenkontrolle jedenfalls haben Milenko und Ruth schon. „Die Stadt Berlin soll das enteignen. Und dann an die Beschäftigten übergeben. Dann machen wir da was rein, was nicht dieses klassische Hostel-Ding ist. Also nicht diese Absteige für Sauftouris, die niemand in Berlin möchte, sondern ein politisches Hostel“, wünscht sich Ruth. Mit Seminarräumen für gewerkschaftliche Schulungen. Und der schönste Raum würde zum Pausenraum für die Belegschaft umgestaltet.

#Bildquelle: Aktion/Arbeitsunrecht

#Für den 17. Mai und den 12. Juni, jeweils 16 Uhr vor dem Hostel ruft die Belegschaft des Wombat‘s Hostel Berlin zu Protesten auf.

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Beschäftigte des Wombat‘s City Hostel in Berlin gründeten 2015 gegen den erbitterten Widerstand des Managements einen Betriebsrat. 2018 erstreikte die gut organisierte Belegschaft dann sogar einen Tarifvertrag. Jetzt kämpft die Hotel-Belegschaft gegen die geplante Auslagerung des Reinigungsteams und gegen ein aggressives Management. Und dabei erfährt sie überraschend viel Solidarität. Denn Beschäftigte von Tochterfirmen und Subunternehmen der Berliner Verkehrsbetriebe, der Freien Universität und Charité fordern ebenfalls gleiches Geld für gleich Arbeit.

Zur Eröffnung der Internationalen Tourismusbörse (ITB) Anfang März 2019 prangten am Berliner Wombat´s City Hostel, mitten in der durchgetrifizierten Innenstadt, Sprühkreide-Schriftzüge auf dem Asphalt. „Fuck U Betriebsrat“, „Cunt“ und „Start Outsourcing“ war dort zu lesen. Das ganze verziert mit einem übergroßen männlichen Geschlechtsteil mit dem Anhängsel-“tation“. Das Wortspiel aus „Schwanz“ (engl. Dick) und „Diktator“ gibt einen offenherzigen Einblick in die Allmachtsfantasien der Hausmanager. Sie feierten just in der Nacht, als die Sprühereien entstanden, im Hostel den Abschied einer Management-Kollegin, die in ein neues Hostel der Kette nach Venedig wechseln soll.

Union Busting: geballte Unternehmer*innen-Agression

Die Behinderung von Betriebsratsarbeit und Bekämpfung von gewerkschaftlicher Organisierung (kurz: Union Busting) wird von Unternehmer*innen und ihren beratenden Jurist*innen oft mit hoher krimineller Energie geführt.

Der öffentliche Aussetzer am Wombat‘s springt allerdings aus dem Schema. Denn Union-Buster*innen versuchen eigentlich unter dem Radar der Öffentlichkeit zu arbeiten, indem sie einzelne Betriebsratsmitglieder in der Belegschaft diskreditieren und mittels Zermürbung, Kündigung oder Abfindung aus dem Gremium brechen.

Um das zu erreichen, lassen sich Unternehmen von spezialisierten Dienstleistern beraten. Zu den bekanntesten gehören Rechtsanwalt Helmut Naujoks und die Kanzlei Schreiner + Partner. Ihre Methode: Beschäftigte werden mit konstruierten Abmahnungen, Kündigungen, oft auch strafrechtlich relevanten Anzeigen überzogen. Dazu kommen willkürliche Lohnkürzungen, Schikanen, Verleumdungen und Mobbing. Im Wombat‘s lassen Hausmanager zum Schichtdienst von Betriebsratsmitgliedern gerne Sidos „Der Chef“ oder den gut abgehangenen Hit „Ich find Dich Scheiße“ von Tic Tac Toe laufen.

Auslagerung als Vergeltung für Streiks

Das Management des Berliner Wombat‘s City Hostels setzt auf Rechtsanwalt Tobias Grambow, Kanzlei Buse Heberer Fromm. Allerdings greifen die üblichen Methoden nicht wie erwartet. Statt dessen formiert sich Gegenwehr.

Die Betriebsratsmitglieder des Wombat´s haben längst verstanden, dass die konstruierten Vorwürfe vor Gericht regelmäßig in sich zusammen fallen und nur dazu dienen sollen, ihnen Stress zu verursachen. Doch statt sich wie Opfer zu verhalten, nahmen sie das Zepter selbst in die Hand.

Die geplante Auslagerung des Reinigungsteams werten sie als Vergeltungsmaßnahme für die Durchsetzung eines Tarifvertrags. Sie soll die Belegschaft spalten und den Betriebsrat schwächen. Die Ausgelagerten würden sofort wieder aus dem gerade erst erkämpften Tarifvertrag herausfallen

Startups und Klassenkonflikte

Vor 11 Jahren, im Februar 2008 öffnete das Berliner Wombat‘s Hostel. Die Ostberlinerin Margit G. war von Anfang an als Reinigungskraft dabei.

8 Euro Stundenlohn waren damals vereinbart. Einen schriftlichen Vertrag hat Margit erst Monate später bekommen. „Damals“, sagt sie, „wurde im Wombats vieles noch ganz locker gehandhabt. Es gab viele Parties, man konnte auch mal umsonst im Wombats schlafen. Aber was soll das bringen? Meine Miete kann ich nicht davon bezahlen, dass es Parties gibt.“

Lockerheit, das Kernversprechen von Start-Ups an ihr Personal, ist schon längst in Verruf gekommen. Legionen von Praktikant*innen, Volunteers und Freien haben begriffen, dass es bei Gehaltsverhandlungen eher unangenehm ist, den Chef zu duzen. Die ungeschönten Klassen-, Besitz- und Machtverhältnisse manifestieren sich eben immer genau dann, wenn es nicht um lockere Themen, sondern um handfeste Interessen geht.

Gestandene Frauen wie Margit, die in der DDR eine Ausbildung zur orthopädischen Schumacherin machte, kann man mit dem Anschein eines hippen Betriebsklima jedenfalls nicht aufs Kreuz legen. Sie hat sich von Anfang an über unbezahlte Arbeit beim Wombat´s geärgert. Während der Vorarbeiter gerne schon um 13.00 Uhr den Besen in die Ecke stellte und eher beim Kaffee auf der Terrasse zu finden war, haben die anderen fünf Reinigungskräfte sechs Etagen fertig gemacht. Und das ist bei rund 350 Betten verdammt viel Arbeit: auf jeder Etage gibt es 14 Zimmer, teils mit 2 oder 3 Stockbetten, die ab 14 Uhr entweder wieder sauber oder bezugsfertig für neue Gäste sein sollen. Dafür angesetzt ist die Zeit zwischen 10.00 Uhr 14.00 Uhr – pro Zimmer bleiben da gerade einmal 17 Minuten. Und das in einem Hotel-Segment, in dem junge Gäste gelegentlich über die Stränge schlagen.

Die Reinigungskräfte sind deshalb oft früher zur Arbeit gekommen, um schon einmal die Etagenwagen zu packen und sind regelmäßig unbezahlt länger geblieben.

Aber ohne Betriebsrat und auf sich alleine gestellt, hätte sie lieber nichts sagen wollen. Schließlich habe sie auch in der DDR schon die Erfahrung gemacht, wie schnell man alleine da steht, wenn Gegenwind aufkommt.

Für die Wombat´s-Gründer Alexander Dimitriewicz und Marcus Praschinger indes hat sich die Masche schon jetzt gelohnt: Sie sind Dank Beschäftigten wie Margit längst Millionäre und im Ruhestand. Lediglich der Kampf gegen den Berliner Betriebsrat ist als ihr „Special Project“ übrig geblieben.

Umkämpfte Betriebsratswahlen

Einer der Initiator*innen zur Betriebsratsgründung ist Raphael. Auch er ist im Wombat‘s vom ersten Tag an dabei. 2015 hatten er und weitere Kolleg*innen allerdings die Nase voll von unternehmerischen Willkürentscheidungen. Sie beschlossen die Gründung eines Betriebsrat, um verbindliche Regeln festzulegen. Das Management wurde sofort aktiv.

Die Reinigungskraft Margit erzählt von Einzelgesprächen. Die Hausmanager hätten Angst unter den Beschäftigten geschürt. Ein Betriebsrat sei teuer und würde ihre Arbeitsplätze gefährden. Mittlerweile ist Margit selbst Ersatzmitglied im Betriebsrat.

Betriebsvereinbarungen, zum Beispiel zu den Arbeitszeiten brachten den Reinigungskräfte handfeste Vorteile: Rüstzeiten, in denen sich umgezogen und der Wagen gepackt wird, gehören jetzt genauso zu den Arbeitszeiten wie die Duschzeiten nach dem anstrengenden Putz-Marathon auf den Etagen.

Gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter bekommen im Wombat‘s mehr Stundenlohn als die nicht-organisierten Kolleg*innen. Margit arbeitet 10 Jahre nach ihrem Einstieg jetzt wenigstens für mit 12,18 Euro Stundenlohn.

Manche Kollegin begreift allerdings gar nicht recht, dass die Lohnerhöhungen und bessere Arbeitszeiten dem Betriebsrat zu verdanken sind. So dankte eine der Reinigungskräfte mit Migrationshintergrund einem der Wombats-Gründer euphorisch für alle die Wohltaten und Verbesserungen, als dieser anlässlich der ITB im Berliner Haus eincheckte.

Fatale Auswirkungen

Mit der Auslagerung würden die Reinigungskräfte jedoch aus dem Tarifvertrag fallen, Betriebsvereinbarungen zu Arbeitszeiten wären ungültig. Die Reinigungskräfte würden auch den vollen Kündigungsschutz verlieren. Die EAK GmbH, ein Ableger der Münchener Gebäuderreinigungsfirma Thalhammer, die bisher keine Beschäftigten hat, wäre mit unter 10 Beschäftigten ein Kleinbetrieb. Thalhammer ist laut Auskunft der IG BAU am Stammsitz München nicht tarifgebunden.

Das Reinigungsteam würde auch aus der Zuständigkeit des Wombat‘s-Betriebsrats herausfallen. Niemand kann Margit und ihren Kolleg*innen garantieren, dass sie nicht auch an anderen Orten eingesetzt würden. Sie würden nach dem Tarifvertrag für Reinigungskräfte bezahlt, der oftmals unterlaufen wird, indem Zeitvorgaben für Flure, Etagen und Zimmer gemacht werden, die nicht einzuhalten sind.

Einsatz von Leiharbeiter*innen im Wombat’s

Eine weitere Zersplitterung der Belegschaft und ihrer Kampfkraft erfolgt durch den Einsatz von Leiharbeiter*innen der Firma Euroclean. Sie springen ein, wenn Engpässe entstehen, weil Verträge systematisch befristet sind und auslaufen. Den Leiharbeiter*innen verspricht das Management zum Teil Festanstellungen beim Sub-Unternehmen .

Auch aufgrund erheblicher Sprachbarrieren, in denen selbst Englisch als gemeinsamer Nenner fehlt, ist es schwer zu vermitteln, dass der Betriebsrats feste Einstellung für alle im Hostel Beschäftigen direkt beim Hostel-Betreiber selbst fordert.

Krebsgeschwür Auslagerung

Auslagerungen fallen in den Bereich unternehmerischer Willkürentscheidungen. Die „unternehmerische Freiheit“ darf neben dem Privateigentum als heilige Kuh der Bundesrepublik gelten. Kostensparend oder betriebswirtschaftlich sinnvoll ist das System des Sub- und Sub-Sub-Unternehmertums allerdings nicht.

Denn jedes Sub-Unternehmen leistet sich eine eigene Verwaltung und vor allem eine eigene Geschäftsführung, die von der Belegschaft durchgefüttert werden muss. Eigene Versicherungen müssen abgeschlossen, eigene Logos entworfen, Autos beschriftet, Räume gemietet werden. Für Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und Berater*innen entsteht ein lukratives Feld hochbezahlter Dienstleistungen und Bullshit-Jobs .

Dafür entledigen sich Unternehmender Verantwortung für Beschäftigte und auch der Verantwortung für das Gelingen des Projekts. Es ist eine Grundprinzip der neoliberalen Wirtschaftsform nach McKinsey („Optimierung der Wertschöpfungskette“): Je mehr Sub-Unternehmen mitmischen, desto weniger ist letztlich feststellbar, wer für Fehler, Missmanagement und Katastrophen eigentlich verantwortlich ist. Zumal eine dringend erforderliche Kontrolle und straffes Projektmanagement mangels staatlicher Kapazitäten zumeist wegfallen. (1)

Kurzum: Auslagerungen werden nur dadurch profitabel, dass das Management den Arbeitsdruck erhöht und die Arbeitsbedingungen ständig verschlechtert.

Der nach Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) „beste Niedriglohnsektor Europas“ hat eine hochgradig sozialschädliche Wirkung. Nicht nur Belegschaften, auch die Gesellschaft wird durch Entsolidarisierung und Vereinzelung gespalten.

Berliner Solidarität gegen Auslagerung

Die widerständige Wombat´s-Belegschaft ist inzwischen gut vernetzt. Zu einer Protest-Aktion gegen Auslagerung am 19.03.19 riefen neben der Berliner Gruppe der aktion ./. arbeitsunrecht die DGB-Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG), der Gewerkschaftliche Aktionsausschuss (GA), die Basisgewerkschaftsgruppe ver.di aktiv berlin, die sozialistische Frauengruppe Brot und Rosen, die Hochschulgruppe organize:strike, die Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht (BAGA), Klasse gegen Klasse, Critical workers und die Landesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft der Partei Die Linke auf.

Andere Lohnabhängige solidarisierten sich vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kämpfe: Der Botanischen Garten der Freien Universität Berlin (FU) lagerte das Reinigungsteam aus, als die Beschäftigten 2016 für einen Tarifvertrag kämpften. Hier, wie in anderen Einrichtung der Freien Universität Berlin putzt nun die Firma Gegenbauer.

Die Freie Universität Berlin hatte zuvor auch andere Beschäftigte des Botanischen Gartens in die eigene Betreibergesellschaft ZE BGBM ausgegliedert. Die Belegschaft konnte in einem jahrelangen Kampf zum 01.01.2018 die Wiedereingliederung durchsetzen. Aber immer noch arbeitet das Managment der Freien Universität mit Schikanen gegen den früheren Betriebsratsvorsitzenden der ZE BGBM Lukas S.

Die Berliner Verkehrsbetriebe BVG lagerten bereits im Jahr 2000 Fahrer in die Tochter Berlin Transport GmbH BT aus. Die Reinigungsteams arbeiten dagegen für die Gebäude- und Verkehrsmittelreinigung GVR GmbH & Co KG. Die Zeit berichtete 2018 über systematisches Lohndumping. Einen Betriebsrat gibt es in der GVR GmbH & Co KG nicht.

Viel Aufmerksamkeit erregte der Kampf von Beschäftigten, die das Charité-Management in das Konstrukt „Charité Facility Managment“ (CFM) auslagerte. Aktuell kämpfen Therapeuten des Charité Physiotherapie- und Präventionszentrum GmbH (CPPZ) um gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Sie verdienen monatlich zwischen 500,- und 800,- Euro weniger als die Kolleg*innen, die bei der Charité direkt angestellt sind.

Beschäftigte dieser und anderer Betriebe haben sich unter anderem über die Basisgruppe verdi aktiv und die Critical Workers vernetzt. Dazu sind die studentischen Beschäftigten der Berliner Hochschulen gestoßen, die im Januar 2019 endlich einen neuen Tarifvertrag unterschreiben konnten. Vorausgegangen waren 14 Jahre Stillstand ohne Lohnsteigerungen.

Die Wombat´s-Reinigungskraft Margit ist ihrerseits auch schon zu einer Solidaritäts-Veranstaltung für die Beschäftigten des Anne-Frank-Zentrums in Berlin gegangen. Die Beschäftigten dort fordern unbefristete Beschäftigungsverhältnisse und Bezahlung nach Tarifvertrag. „Das hat mir gut gefallen da“, sagt Margit. „Nicht nur wegen der Band und dem Kuchen. Das sind feine Menschen da. Irgendwie kultiviert. Auch die Unterstützer von den anderen Gruppen, die jetzt zu uns kommen. Die haben ein höheres Niveau als manche Führungskräfte beim Wombats.“

Es tut sich etwas in Berlin.

#Jessica Reisner ist Campaignerin bei aktion./.arbeitsunrecht.
#Die aktion ./. arbeitsunrecht bittet Unterstützer*innen der Wombats-Belegschaft eine Protest-Email an den Geschäftsführer
Mustafa Yalcinkaya der Münchner Firma Thalhammer/EKA GmbH zu senden. Die Petition gibt es auf deutsch und türkisch https://arbeitsunrecht.de/die-wombats-fordern_mustafa-bleib-in-bayern/
#Alle Fotos aktion./.arbeitsunrecht

Anmerkung

(1) Eines der bekanntesten Beispiele für die kaskadierende Verantwortungslosigkeit der „optimierten Wertschöpfungskette“ ist der Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. 3. 2009 aufgrund von Tunnelgrabungen für eine Nord-Süd-U-Bahn. Alle 90 Personen [https://www.derwesten.de/panorama/90-verdaechtige-nach-einsturz-von-stadtarchiv-in-koeln-id8888863.html), gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelte, konnten die Verantwortung nach unten durchreichen, bis im Dickicht der Sub-Unternehmen nicht mehr feststellbar war, wer den Bau hätte überwachen müssen. Am Ende des Unglücks mit zwei Toten, einem späteren Selbstmord und Massen an vernichtetem historischem Material des wertvollsten historischen Archivs nördlich der Alpen steht eine einzige Verteilung zu acht Monaten auf Bewährung.

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