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Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil war in Südamerika unterwegs. Ihre Erfahrungen hat sie in einem politischen Reisetagebuch für euch aufgeschrieben. Aus der peruanischen Küstenstadt Trujillo, den Anden von La Libertad, der Regenwaldregion Perus, über die Kämpfen von arbeitenden Frauen in Lima, sowie von der Ausstellung Yuyanapaq im Museum der Nation in Lima und von der Grenzstadt Tacna hat sie bereits berichtet. Weiter geht es mit den kämpferischen Arbeiter*innen von Antofagasta im Norden von Chile.

Wir kommen in einer heißen Phase in Antofagasta an, zehn Stunden von der nördlichen Landesgrenze gelegen. Die Lehrer*innen, Erzieher*innen, das Mensapersonal in den Schulen, die Arbeiter*innen eines Herstellers für Förderbänder für den Bergbau und die Bergarbeiter*innen eines der größten Kupfertagebaue der Welt in Chuquicamata, wenige Stunden ins Ladesinnere von Antofa, wie die Stadt lokal genannt wird, sind im Ausstand. Selten haben wir so viele Sektoren gleichzeitig im Arbeitskampf erlebt. Aus dem „ruhigem“ Deutschland kommend ist es besonders überwältigend, in wenigen Tagen mehrere Großdemonstrationen und Streikversammlungen zu erleben.

Mit 352.600 Einwohner*innen ist Antofa eine mittelgroße Stadt. Direkt am Pazifik gelegen grenzt sie im Osten an die Atacama-Wüste. „Antofagasta ist Chiles wichtigste Bergbauregion“, erzählt Galia Aguilera. „Sie verfügt über Investitionen von großen multinationalen Unternehmen wie BHP Billinton, Barrick Gold, AngloAmerican, Glencore, Friport McMoRan, unter anderem. Diese großen imperialistischen Unternehmen plündern nicht nur die Kupferressourcen, sondern auch das Lithium. In Chile befinden sich mehr als 50% der Weltreserven. In dieser Region werden 70% der Bergbau-Ressourcen exportiert. Es kann als eine der reichsten Regionen Chiles angesehen werden, aber gleichzeitig ist es eine der am stärksten kontaminierten Regionen, insbesondere durch Schwermetalle, Arsen, Blei usw.“

Die 35-Jährige Aguilera ist Geschichtslehrerin an der Grundschule, wo sie Kinder von vier bis 13 Jahren unterrichtet. Außerdem ist sie Teil der Gruppierung von Bildungsarbeiter*innen namens Nuestra Clase, Unsere Klasse, welche klassenkämpferische und anti-bürokratische Bildungsarbeiter*innen – von Erzieher*innen und Aushilfen bis zu Lehrer*innen – zusammenbringt.

„Die Stadt Antofagasta hat einen der höchsten Prozentsätze an Arbeitslosigkeit im Land, der bei 10% liegt. Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger als 400.000 chilenische Pesos, während 63% des BIP [Bruttoinlandproduktes, lcm] der Region aus dem Bergbau stammen, gibt es allein in der Stadt Antofagasta ein Defizit von mehr als 20.000 Sozialwohnungen. Dazu gibt es 3.000 Familien, die in Barracken leben, viele von ihnen haben nicht einmal Zugang zu grundlegender Infrastruktur wie Wasser und Strom“ so Galia. Die brutale ungleiche Entwicklung, welche so grundlegend für den Kapitalismus ist, wird in solchen Zahlen immer wieder sichtbar.

Wir kommen bei Genoss*innen des Partido de Trabajadores Revolucionarios (PTR) unter, der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen. Die PTR ist Teil der Trotzkistischen Fraktion für den Wiederaufbau der Vierten Internationale (auf Spanisch abgekürzt FT-CI). Die FT-CI ist eine internationale Strömung, die sich auf das Erbe der unter der Vorherrschaft Stalins gegründeten linken Opposition in der Sowjetunion und später dann der Vierten Internationale beruft. Alle sind in den Streik der Lehrer*innen involviert. Geschlafen wird wenig in diesen Tagen, denn als wir Mitte Juni vor Ort sind sind auch die Bergarbeiter*innen in Chuquicamata im Ausstand. Nach Chuquicamata sind es knapp drei Autostunden.

Wir fahren zu einer Streikversammlung der Bergleute aus Chiquicamata in der nächstgelegenen Stadt Calama. Es ist Winter, jedoch brennt die Sonne mittags immer noch ungemein durch die Autoschreiben. Links und Rechts erstreckt sich eine Wüstenlandschaft. Immer wieder tauchen verlassene Dörfer am Straßenrand auf. „Das sind alles Geisterstädte“, erklärt uns Lester Calderón, der Fahrer. Lester ist Vorsitzender der Gewerkschaft ORICA Chile und nationaler Leiter des Verbandes der Arbeiter in Industrie und Metallindustrie. „Dies hier waren alles Wohnquartiere von den Arbeitern der Salpeterminen.“ Der Salpeterabbau war besonders wichtig zu jener Zeit, als man Mineraldünger noch nicht synthetisch mit dem Stickstoff in der Luft herstellen konnte. „In den 1930er- und 40er-Jahren wurden die Salpeterminen dann geschlossen. Und so sind tausende Arbeiter und ihre Familien zurück, meist nach Südchile gegangen.“ Lester ist der erste Trotzkist mit einem Trotzki-Tattoo, den ich kennenlerne. Er schmuntzelt: „Der Trotzkismus ist nicht besonders verbreitet in Chile und dies kommt vor allem durch unsere grundlegende Kritik an Allende. Eine derartige Kritik von links wird hier nicht gern gesehen.“

Salvador Allende und die Unidad Popular

Als Kandidat der Unidad Popular, einer Wahlfront bestehend aus verschiedenen linken Parteien, gewann 1970 Salvador Allende die demokratischen Wahlen zum Präsidenten. Seine Wahlversprechen schienen für viele im Andenstaat sozialistisch: Verstaatlichung aller Schlüsselindustrien des Landes, inkl. der wichtigen Kupferbergwerke, Beschleunigung der Agrarreform, Einfrieren der Warenpreise, Erhöhung der Löhne aller Arbeiter*innen, Änderung der Verfassung und Schaffung einer einzigen Kammer. Und tatsächlich machte sich die Wahlfront samt Präsidenten an die Umsetzung einiger dieser Versprechen. Die progressiven Reformen kamen dabei vor allem der lohnabhängigen Bevölkerung zu Gute. Die Popularität von Allende wuchs rasant. Kritik von links – bezogen auf die Bürokratisierung der Gewerkschaften zum Beispiel, oder auch an der nicht Bewaffnung der Arbeiter*innen – wurde als „Linksradikalismus“ oder gar als „konterrevolutionär“ abgetan.

Am 11. September 1973 bombardierte dann die chilenische Luftwaffe auf Befehl des Generals Augusto Pinochets, und mit Rückhalt der USA und einer Gruppe von in den USA ausgebildeten radikalen Neoliberalen – den Chicago-Boys –, das chilenische Parlament. Allende wurde umgebracht. In den kommenden fast 20 Jahren Militärdiktatur wurden tausende Kommunist*innen, Sozialist*innen, Sozialdemokrat*innen, Gewerkschafter*innen sowie nicht organisierte Arbeiter*innen und Bäuer*innen systematisch gefoltert und massakriert. Dabei konnte die Militärjunta um Pinochet so frei walten, da die USA und viele weitere lateinamerikanische und europäische Länder wie Argentinien oder Großbritannien die brutale Niederschlagung eines demokratischen Versuches mit sozialistischen Zügen begrüßten. Der chilenische Geheimdienst schloss sich mit jenen der anderen ultrarechten, diktatorischen Regimes Lateinamerikas in der Operation Condor zusammen, um die mörderische Repression gegen die aufkommende „kommunistische Gefahr“ gezielter umzusetzen.

Die Kritik der PTR richtet sich gegen die Strategie des „Sozialismus durch Wahlen.“ „Natürlich weisen wir den vom Imperialismus fabrizierten Coup zurück. Aber wir denken, dass Allende nun mal im Vorhinein auch viele Fehler gemacht hat, aufgrund derer es erst so gekommen ist, wie es kam“ so Lester. Der Unidad Popular ging es, laut linker Kritik, nicht um Arbeitermacht. Ein zentraler Irrtum war die Vorstellung, die Macht in einer bürgerlichen Demokratie durch Wahlen zu erlangen, dieses System trotz seiner inneren Widersprüche und Zwänge verwalten zu können und auf mehr oder weniger friedlichem Wege durch Reformen in den Sozialismus „hineinzuwachsen,“ statt eine Revolution unter Führung der Arbeiter*innenklasse voranzubringen. Vieles an eigenständiger viel radikalerer Organisierung und Forderungen der Arbeiter*innen in Chile wurde gehemmt und umgekehrt wurden viele der radikaleren Reformen erst durch Druck an der Basis umgesetzt. Die Fabriken und Betreibe wurden zum Beispiel nicht den Arbeiter*innen zur Verwaltung übergeben. Die Bosse, wenn auch von verstaatlichten Unternehmen, blieben also. Als dann immer deutlicher wurde, dass der Coup kommen würde, forderten die Arbeiter*innen, dass sie bewaffnet werden. Dies hat die Allende-Regierung jedoch hinausgezögert. Und als dann der Coup kam, wurden tausende Menschen einfach niedergemetzelt.

Streik in der Schule, Streik im Bergbau

Als wir in Calama ankommen ist die Sonne bereits weg und es ist eiskalt. Calama ist eine der trockensten Städte der Welt – hier regnet es nie. Es ist ziemlich trostlos und recht grau. In einem vollen Saal im Erdgeschoss eines Hotels kommen tausende Arbeiter*innen der Mine in Chiquicamata zur Streikversammlung zusammen. Nur mit starker Verzögerung kann mit den ersten Grußworten begonnen werden.

Nicolás Bustamente ist entlassener Eisenbahner und ebenfalls Mitglied der PTR. In seiner orangenen Eisenbahner-Jacke spricht er zu den Kumpeln. „Euer Streik ist machtvoll. Jedoch kann er noch machtvoller werden, wenn wir die verschiedenen Sektoren, die von dieser neoliberalen Politik betroffen sind, erreichen. Denn nur gemeinsam sind wir stark!“ Unter tosendem Beifall nimmt Carla Ramírez Gálvez das Mikrofon. Die 33-Jährige ist Erzieherin und Delegierte der Patricio-Cariola-Schule aus Antofagasta. „Genossinnen und Genossen. Wir sind heute hier, um uns mit eurem gerechtem Kampf zu solidarisieren. Denn ihr seid diejenigen, die den Reichtum Chiles schaffen!“ Die gesamte Halle steht auf. „Streik! Streik! Streik!“ hallt es. „Jetzt ist es Zeit, uns nicht spalten zu lassen, und gemeinsam gegen diese Politik zu kämpfen, die uns alles raubt.“ „Lang leben die Lehrer!“ rufen Einzelne. In den Tagen nach der Streikversammlung finden gemeinsame Aktionen, von Bergarbeiter*innen, Lehrer*innen und Arbeitern der Fließbandfirma Conveyor statt.

Nach einigen eindrucksvollen Tagen im nördlichen Antofa geht es für uns weiter Richtung Hauptstadt Santiago de Chile.

# Eleonora Roldán Mendívil

# Titelbild: Streik der Bildungsarbeiter*innen – Plakat auf einer Demo in Antofagasta im Juni 2019 „Wenn wir in den Straßen gewinnen, gewinnen wir alles. Wir marschieren gemeinsam gegen die Regierung von Piñera“, Eleonora Roldán Mendívil

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