Über die Frauenbewegung in Afghanistan, die Rolle der Besatzungsmächte und die Abhängigkeit der internationalistischen Linken von Mainstreammedien. Ein Gespräch mit Mehmooda von der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA) .
Kannst du unseren
Leser*innen einen kurzen Überblick über die Geschichte und
Gegenwart deiner Organisation RAWA geben?
RAWA steht für
„Revolutionary Association of Women in Afghanistan“. Die
Organisation wurde 1977 von Meena
Keshwar Kamal und einer Gruppe intellektueller Frauen in
Afghanistan gegründet. Es handelt sich um eine unabhängige
Organisation von Frauen. Wir kämpfen für Frauenrechte, Demokratie
und soziale Gerechtigkeit. Das war von Anfang an unser Ziel.
Ein Jahr nach der
Gründung, 1978, wurde Afghanistan von sowjetischen Soldaten besetzt.
Das war eine große Veränderung, denn wir denken, dass, wenn ein
ganzes Land nicht frei ist, wir nicht nur über die Befreiung der
Frau sprechen können. Also sind wir Teil des Widerstands geworden.
Denn wie leider nicht alle wissen, begann der Widerstand gegen die
russische Besatzung von demokratischer Seite, nicht von
fundamentalistischer. Der Widerstand hat friedlich begonnen, und die
Regierung hat viele Studierende und Lehrende der Universitäten
festgenommen, viele Intellektuelle und Linke. Sie haben sie in ihre
Gefängnisse gesteckt, sie haben sie gefoltert und sie haben sie
getötet.
So wurden in dieser
Zeit auch einige RAWA-Mitglieder von der Regierung verhaftet, da
Meena, die Vorsitzende von RAWA, und andere Frauen Demonstrationen in
Kabul und verschiedenen anderen Städten organisiert haben. Da die
Situation für die Menschen, die gegen das Regime waren, zu dieser
Zeit sehr schlecht war, flohen viele Menschen nach Pakistan und
Indien. Auch RAWA hat sich dafür entschieden, nach Pakistan zu
gehen. Also haben wir begonnen, mit den geflüchteten Menschen in
Pakistan zu arbeiten, vor allem in Quetta und Peschawar [in
Ostpakistan nahe der Grenze zu Afghanistan, d. Red.]. Das Problem
war, dass unmittelbar nach der russischen Besatzung die USA und
andere westliche Länder damit begonnen haben, Fundamentalisten zu
unterstützen.
Und diese
Fundamentalisten waren noch gefährlicher als das russische Regime.
Somit waren wir in Pakistan mit großen Problemen konfrontiert, weil
die pakistanische Regierung und der ISI [pakistanischer Geheimdienst]
fundamentalistische Gruppen wie Abu Sajaf unterstützt hat. Wir
kämpften also nicht nur gegen das russische Regime, sondern auch
gegen die Fundamentalisten. Unsere Vorsitzende Meena hat erkannt,
dass, wenn die Fundamentalisten die Kontrolle in Afghanistan
übernehmen, die Situation noch schlechter sein würde als unter
russischer Besatzung. Und weil RAWA die einzige Stimme gegen diese
Fundamentalisten war, und Meena die Stimme von RAWA, haben sie
beschlossen, diese Stimme verstummen zu lassen, und haben unsere
Vorsitzende Meena 1987 in Pakistan ermordet.
Als wir nach Pakistan gegangen sind, haben wir in zwei Bereichen gearbeitet: im Politischen und im Sozialen. Von Anfang an war RAWA eine politische Organisation von Frauen. Denn die anderen Frauenverbände und Organisationen, die es 1977 in Afghanistan gab, drehten sich lediglich um solche Dinge, wie wie werde ich eine gute Frau, eine gute Ehefrau und Mutter, und es wurde vor allem darüber gesprochen, wie man das Haus zu putzen und zu kochen hat und wie man Kinder am besten erzieht. RAWA war die erste Organisation, die damit angefangen hat, über mehr als das zu sprechen; zu sagen, dass Frauen Teil von politischen Prozessen und Entscheidungen in Afghanistan sein können. Also sind wir eine politische Organisation, denn wir denken, dass, um die Situation der Frauen in Afghanistan zu ändern, die politische Struktur geändert werden muss.
Doch als wir in
Pakistan waren, haben wir angefangen, in beiden Bereichen zu
arbeiten. Denn geflüchtete Frauen brauchten vor allem soziale
Aktivitäten, Schulen, Waisenhäuser, Krankenhäuser. Durch diese
Projekte konnten wir in Kontakt mit Frauen treten.
Nach der Ermordung
unserer Vorsitzenden haben wir nicht aufgehört, ihrem Weg zu folgen.
Denn RAWA war nicht Meena, RAWA war und ist eine Organisation. Sie
hat sie angeführt, doch andere Mitglieder hatten auch etwas zu sagen
und wollten weitermachen. Und trotz all der Schwierigkeiten haben wir
auch weitergemacht, auch in Afghanistan waren wir aktiv. Hier jedoch
waren wir von der ersten Minute an nur im Untergrund tätig. Selbst
während der Zeit der Taliban, als die Fundamentalisten nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 die Kontrolle in Afghanistan
übernahmen, war RAWA die einzige Organisation, die Berichte und
Bilder aus den Städten schickte. Denn während dieser Zeit haben
sämtlichen Medien und internationale Organisationen das Land
verlassen. Afghanistan war vergessen. Aber wir haben dort
weitergearbeitet, wir haben die Verbrechen der Taliban dokumentiert
und weiterhin Frauen organisiert. Alle Schulen für Frauen waren
geschlossen; also hat RAWA im Untergrund Bildung organisiert, überall
im Land. Das war unsere Form des Kampfes, so haben wir uns am Leben
erhalten.
Wir waren erneut mit
vielen Schwierigkeiten konfrontiert, denn die Taliban und auch die
Jihaddisten, die anderen Fundamentalisten, wussten, dass RAWA als
einzige Organisation sehr klar und sehr stark gegen sie agiert.
Außerdem war es für sie kaum zu verstehen, dass ausgerechnet Frauen
Widerstand leisten. Also haben sie immer wieder versucht, uns zu
stoppen, indem sie uns verfolgten und unsere Mitglieder verhaften
ließen.
Desweiteren war RAWA
nach dem Kollaps des Taliban-Regimes mit vielleicht ein paar anderen
demokratischen Parteien die einzige Organisation, die klar gesagt
hat, dass mit US-amerikanischer Besatzung nichts verändert werden
wird. Denn die USA sind Imperialisten, und Imperialisten werden einer
Nation nicht zur Freiheit verhelfen. Natürlich sind die Taliban ein
diktatorisches Regime gewesen und sie mussten entmachtet werden. Aber
das muss in der Hand der afghanischen Bevölkerung liegen, nicht in
der der USA oder der anderer westlicher Staaten. Es ist nicht ihre
Aufgabe, uns Demokratie und Frauenrechte zu geben.
Seitdem und bis heute arbeiten wir in Afghanistan, wegen der Situation, leider immer noch im Untergrund. Als wir noch in Pakistan waren, konnten wir offener arbeiten und zum Beispiel Demonstrationen veranstalten.
Unsere politische
Arbeit besteht vor allem aus der Bildung von Mädchen und jungen
Frauen – aber immer im Untergrund. Auch machen wir Veranstaltungen,
feiern zum Beispiel Frauen- und Menschenrechte. Diese Veranstaltungen
müssen wir mit anderen demokratischen Organisationen zusammen
machen, die offen arbeiten können. Wir arbeiten mit ihnen, wenn sie
beispielsweise Demonstrationen organisieren, aber nicht unter dem
Namen RAWA. Dasselbe gilt aus Sicherheitsgründen für unsere Arbeit
im Sozialen Bereich.
Ihr arbeitet
nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land. Wie gestaltet sich
diese Arbeit und wie weit ist die Bevölkerung dort vom
Fundamentalismus geprägt?
In den Städten
arbeiten wir eher mit intellektuellen Frauen wie zum Beispiel
Studentinnen und Lehrerinnen, Frauen, die lesen und schreiben können.
Wir versuchen, sie für Aktionen und Demonstrationen gegen die
Besatzung der USA und gegen die Fundamentalisten zu mobilisieren. In
den Dörfern haben wir mehr soziale Projekte. Unsere Projekte sind
anders als die von anderen Organisationen, die vor allem Geld damit
machen wollen. Wir dagegen arbeiten mit sehr wenig Geld, und worum es
uns geht ist, mit den Menschen gemeinsam zu arbeiten. In den Dörfern
ist es sehr wichtig, unter den Leuten zu sein. Denn wir haben die
Erfahrung gemacht, dass es zu Zeiten der russischen Besatzung eine
große linke Bewegung gab. Da diese stark verfolgt wurde, sind viele
dieser Menschen nach Europa geflohen. Dort sind sie einfach
verschwunden. Aber der Grund, dass RAWA weiterhin existiert, ist,
dass wir nicht versuchen, aus dem Land zu fliehen. Wir wollen mit und
unter den Menschen sein. Wenn du kämpfen willst, musst du in der
Bevölkerung sein, und der beste Ort für eine revolutionäre
Organisierung sind die Dörfer; in den Dörfern vertrauen dir die
Leute, und du kannst den Leuten ebenfalls vertrauen. Wenn du das
Vertrauen der dörflichen Bevölkerung erst einmal gewonnen hast,
werden diese Menschen dich um jeden Preis verteidigen. Außerdem
wollen wir genau diese Menschen mobilisieren, denn die soziale
Ungleichheit betrifft vor allem die Leute in den Dörfern. Heute sind
die meisten Dörfer unter der Kontrolle der Taliban, ISIS oder
anderer Jihaddisten – wir wollen genau dort sein, mit diesen Frauen
arbeiten und sie gegen diese Kontrolle mobilisieren. Die Menschen
haben weniger Möglichkeiten und weniger Zugang, also brauchen sie
auch mehr Unterstützung. Das ist gut für sie, und das ist gut für
uns. Mit diesen Menschen können wir die Revolution machen. Wir
dürfen uns nicht nur auf die Städte konzentrieren. Auch ist es so,
dass es in den Städten viele Spione gibt, die dich innerhalb
kürzester Zeit fertig machen können. In den Dörfern jedoch ist es
einfacher, zu überleben – auch deswegen sind wir dort.
Du hast gesagt,
dass ihr auch politischen Unterricht organisiert und dass RAWA eine
explizit politische Organisation ist. Was unterrichtet
ihr?
RAWA ist eine demokratische, säkulare Organisation. Offiziell sind wir keine Marxistinnen, dennoch arbeiten wir mit Marxistinnen zusammen, die sehr willkommen sind. Wir sind nicht anti-marxistisch, wir haben keine Angst vor dem Marxismus und denken auch nicht, er könne in Afghanistan nicht funktionieren. Aber die Situation in Afghanistan bedingt, dass wir erst einmal eine demokratische Veränderung brauchen. Das ist für uns im Moment das Wichtigste. In unseren Klassen sprechen wir über verschiedene Dinge, vor allem über die aktuelle Situation. Denn leider ist die afghanische Bevölkerung, mit diesen Medien und der imperialistischen Besatzung, beinahe apolitisch geworden. Die Menschen versuchen erst mal, nach sich selbst zu schauen, oder sie sind stark beeinflusst von den Medien. Unser Versuch ist es, den Menschen vor allem zwei Dinge nahezubringen; erstens, dass diese „Friedensgespräche“ nicht wirklich solche sind. Wir sprechen über die imperialistischen Pläne für unser Land und versuchen, die Menschen für den Widerstand zu organisieren, sie für Demonstrationen zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, ihre Stimmen zu erheben. Aber natürlich lesen wir auch manchmal marxistische Bücher, denn es handelt sich um eine Ideologie, die in manchen Ländern funktionieren kann und manche Menschen, auch manche unserer Mitglieder, denken, der Marxismus sei der einzige Weg, uns zu befreien. Auch lesen wir Bücher über den Iran, zum Beispiel Bücher von Frauen in den dortigen Gefängnissen, schauen Filme oder sprechen über die Politik in Kobanê und Afrin. Denn in einem Land wie Afghanistan müssen wir uns auch Beispiele aus anderen Ländern anschauen. Wenn du mit einer Kultur aufwächst, die dir beibringt, dass Frauen die Hausarbeit machen müssen, dass sie Mutter, Schwester oder gute Ehefrau sein müssen, dann ist es wichtig, Frauen zu ermutigen und ihnen andere Perspektiven beizubringen. Vielleicht macht das für europäische Länder nicht so viel Sinn, aber in unserer Situation funktioniert das sehr gut. Andere Bildung zu erhalten, in einer Gesellschaft, die dir erzählt, Frauen können nur diese kleinen Dinge tun, und sie könnten nur Lehrerinnen, Mutter oder Gynäkologin werden. Wir müssen ihnen eine andere Bildung verschaffen. Das Hauptthema unserer Bildung ist also genau das.
Wie ist eure
Selbstverteidigungsstruktur, wie verteidigt ihr euch gegen all die
Schwierigkeiten, mit denen ihr konfrontiert seid?
Das Einzige ist,
dass wir im Untergrund arbeiten. Natürlich hat diese
Untergrundarbeit ihre eigenen Regeln; wir können nicht offen darüber
sprechen, was wir tun. Wir ändern unsere Namen, unseren Wohnort
regelmäßig. RAWA-Mitglieder ziehen oft in andere Städte, Provinzen
oder gehen eine Weile komplett in den Untergrund. Auch können wir
elektronische Kommunikationsmittel wie Handys und das Internet nicht
für unseren Austausch nutzen. Und vielleicht ist die Burka für
Frauen nicht wirklich gut, aber in unserem Fall können wir sie
nutzen, um uns selbst zu schützen, vor allem wenn wir in die Dörfer
gehen. Wenn du dort eine Burka anziehst, werden dich die Menschen
nicht erkennen. Wichtig sind vor allem unsere Verbündeten, Menschen,
denen wir vertrauen können und umgekehrt. Diese Beziehungen helfen
enorm, dich zu schützen.
Wie schafft ihr
es Demonstrationen nur von Frauen zu organisieren, während zur
selben Zeit Bombardierungen stattfinden.
Diese
Demonstrationen finden nicht unter dem Name RAWA statt und werden
nicht von RAWA, sondern von anderen demokratischen Gruppen
organisiert. Sie werden dann bei der Regierung registriert, die diese
dann auch schützen muss, aber natürlich vertraut niemand der
Polizei. Es gibt zwar auch einzelne Verbindungen zu ihnen, die helfen
können, aber natürlich haben RAWA und andere demokratische
Organisationen in Afghanistan ihre eigenen Verteidigungsstrukturen.
Vielleicht siehst du
sie nicht sofort, aber wenn etwas passiert, sind sie da. Wenn wir zum
Beispiel zu Demonstrationen gehen, wird das Gelände ein paar Tage
vorher angeguckt, mit den Leuten in den Läden gesprochen, zu denen
es gute Verbindungen gibt, und durch sie können dann Informationen
gesammelt werden. So arbeiten wir also in etwa, aus
Sicherheitsgründen kann ich da leider nicht weiter ins Detail gehen.
Könntest du
vielleicht noch ein bisschen mehr über die Situation der
US-Besatzung und der Verbindung zu den Fundamentalisten
erzählen?
Wie ich bereits
gesagt habe, sind all diese fundamentalistischen Gruppen nichts als
die Söhne der USA. Denn wir wissen, dass die Vereinigten Staaten sie
in den 80er-Jahren unterstützt und bewaffnet haben, um gegen die
Sowjetunion zu kämpfen. Aber jetzt gibt es andere Pläne für die
Region. Afghanistan ist für alle diese Kräfte aus Gründen der
strategischen Lage sehr wichtig. Aber auch aus anderen Gründen, wie
Opium oder Waffenhandel und den natürlichen Ressourcen. All die
Großmächte, die USA, Russland und jetzt auch China, kämpfen um
ihre Vormachtstellung. Die Fundamentalisten sind die Söhne der USA.
Sie wurden von ihnen etabliert und sie wurden und werden von ihnen
unterstützt. Nach dem Kollaps der Taliban, waren die Jihaddisten
nicht gerade mächtig. Aber die USA haben 2001, als sie eine
sogenannte demokratische Regierung in Afghanistan errichten wollten,
die Jihaddisten an die Macht gebracht.
Und wir sagen immer,
dass diese Regierung sogar noch terroristischer ist als die Taliban.
Ihre Mentalität, ihre Gedanken sind genau dieselben. Aber die USA
hat sie zu Demokraten erklärt. Sie wollen eine demokratische
Regierung mit diesen undemokratischen Menschen errichten, mit
Frauenfeinden. Diese Jihaddisten sind also nun an der Macht in
Afghanistan. Alle von ihnen haben Kriegsverbrechen begangen, aber
ohne jegliches Verfahren, ohne Fragen gestellt zu bekommen, kamen sie
durch die USA an die Macht. Das, was 2001 mit den Jihaddisten
passiert ist, passiert nun mit den Taliban. Sie sprechen mit den
Taliban und sie nennen es Friedensverhandlungen, aber das sind keine
Friedensverhandlungen, das sind politische Deals. Über die Opfer
wird nicht gesprochen. Die Taliban attackiert Menschen, sie haben
Tausende Unschuldige getötet. Gerade einmal vor ein paar Tagen gab
es einen Anschlag, zwei Tage später wieder, kurz darauf ein neuer.
Bei jeder Attacke ermorden sie über hundert Menschen. Und zu dieser
Zeit werden dann solche Friedensverhandlungen geführt, und dort wird
über alles gesprochen, nur nicht über Kriegsverbrechen. Und befragt
man sie dazu, antworten sie, naja, in Afghanistan sind eben alle
Menschen Kriminelle. Die Taliban sind ebenfalls Kriminelle, also
können sie eben auch regieren. Aber die Wahrheit ist, dass die USA
eine Marionettenregierung konstituieren will – mit all diesen
Verbrechern. Das Einzige, was ihnen wichtig ist, ist die Wirtschaft
und ihre strategischen Interessen. Die Menschen in Afghanistan
spielen keine Rolle.
Wir sehen, dass es
eine große Verbindung gibt zwischen den USA und den
Fundamentalisten. Also sagen wir, dass der einzige Weg, diese Krise
zu beenden, der ist, beide Akteure zu bekämpfen; sowohl die
Besatzung Afghanistans durch die USA und die NATO als auch die
Taliban, die Jihaddisten, ISIS und all die anderen.
Am Anfang der
Besatzung Afghanistans, als Deutschland Teil der Besatzung war, gab
es eine Rede im Deutschen Parlament, und einer der Abgeordneten
sagte, dass die deutsche Freiheit auch in Afghanistan verteidigt
werden würde. Haben die deutschen Truppen eine
besondere Rolle im Krieg eingenommen?
Wie du bereits
gesagt hast, war Deutschland zu Beginn des Krieges in Afghanistan
involviert. Deutsche Truppen waren vor allem im Norden des Landes
aktiv. Es ist offensichtlich, dass auch sie Verbrechen begangen haben
– es gab beispielsweise Bombardierungen, bei denen Unschuldige
getötet wurden. Aber seit etwa einem Jahr ist Deutschland nicht mehr
so sehr involviert, sowie andere europäische Staaten auch. Nun sind
es vor allem die USA; sie sagen zwar, es handele sich um die NATO,
aber eigentlich sind es vor allem US-Amerikanische Truppen. Das liegt
aber nicht daran, dass Deutschland so besonders friedlich ist. Es
geht um imperialistische Interessenkonflikte.
Jeder der
Beteiligten will mehr – und die USA lässt das nicht zu. Also sind
sie heute nicht mehr so aktiv in Afghanistan, denn es passt ihnen
nicht, dass sie nicht mehr Macht abbekommen. Trotzdem unterstützt
die deutsche Regierung weiterhin die korrupte afghanische Regierung.
Wir können uns die Situation der geflüchteten Menschen hier anschauen. Viele fliehen vor dem Krieg, und sie landen hier in Deutschland, vor allem junge Menschen. Aber sie werden zurück nach Afghanistan abgeschoben und es wird als „sicheres Herkunftsland“ benannt. Es ist absurd, Afghanistan als einen sicheren Ort zu bezeichnen. Nur muss Deutschland das tun, da sie die afghanische Regierung unterstützen. Sie unterstützen damit aber eine der korruptesten Regierungen der Welt, geben ihnen Geld und lassen die Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, im Stich.
Kannst du uns
noch mehr über die Situation der Frauen in Afghanistan erzählen und
darüber, wie die Organisierung von Frauen eine Basis für eine
Veränderung darstellt?
Leider wird die
Situation der Frauen jeden Tag schlechter. Einer der Gründe des
Krieges, den die USA begonnen hat, war, dass sie gesagt haben, sie
müssten die Frauen befreien. Für uns, als eine Organisation von
Frauen, war von Anfang an klar, dass das nur eine Ausrede war, um den
Krieg zu beginnen. Sie haben die Situation der Frauen missbraucht.
Aber wie ich vorher
sagte, haben sie selbst die Frauenfeinde an die Macht gebracht, sie
selbst haben diese Regierung kreiert. Du kannst nicht Frauenfeinde in
eine Regierung setzen und dann erwarten, dass sie Frauenrechte
respektieren und etablieren, das ist nicht möglich. Manchmal
propagieren sie auch, dass sich die Dinge in Afghanistan ändern, und
listen ein paar Beispiele auf. Diese Beispiele sind aber wenige, und
sie zeigen sie nur zu Legitimationszwecken.
Aber die reale
Situation ist eine andere, insbesondere in den Dörfern. Die Lage der
Frauen dort ist sehr hart, da die fundamentalistischen Gruppen vor
allem in den Dörfern viel Macht haben. Sie sind involviert in viele
Verbrechen und Gewalt gegen Frauen; es gibt viele Fälle von
Vergewaltigung, sexualisierter Gewalt, Zwangsheirat. Aber niemand
redet darüber, denn die, die diese Verbrechen begehen, sind die, die
Geld, Waffen und Macht von der US-Regierung erhalten, um gegen die
Taliban zu kämpfen. Wir sagen, dass es unmöglich ist, die Frauen
eines Landes mit fremder Besatzung zu befreien, mit Bombardierungen.
Es liegt in der Verantwortung afghanischer Frauen, für ihre
Befreiung selber zu kämpfen. Heute sagen sie, sie hätten Angst,
dass die Errungenschaften für Frauen in Afghanistan wieder
verschwinden könnten. Und ja, warum werden sie wieder verschwinden?
Weil sie einfach so aus dem Nichts gebracht wurden. Afghanische
Frauen werden nicht für diese Errungenschaften kämpfen. Wenn die
Menschen für etwas gekämpft haben, ist es schwierig, das Erkämpfte
wieder zu verlieren. Doch wenn etwas nur etabliert wurde, obwohl
niemand dafür gekämpft hat, ist es ganz schnell auch wieder
verloren. Also werden sie Deals mit der Taliban machen, und sie
werden die Rechte der Frauen opfern, denn für sie sind Dinge wie
ihre Interessen, strategisch sowie ökonomisch, wichtiger als die
Rechte der Frauen und Menschenrechte allgemein.
Gibt es eine
internationalistische Bewegung in Afghanistan oder bekommt ihr
Unterstützung von Internationalist*innen, sowohl heute als auch in
der Geschichte?
Leider ist Afghanistan so etwas wie ein vergessener Fleck auf der Landkarte. Die USA unterstützen die Fundamentalist*innen, ebenso wie Saudi-Arabien, Pakistan, Iran. Die demokratischen Gruppen bekommen solche Unterstützung nicht.
RAWA als Organisation steht zur Zeit vielen Problemen gegenüber, zum Beispiel was die Sicherheit, aber auch das Finanzielle angeht, ebenfalls wegen der geringen Unterstützung von Internationalist*innen. Wir haben ein paar Soli-Gruppen in den USA, Italien, Japan und Deutschland, aber die Menschen in Europa und den USA, allgemein in westlichen Staaten, sind stark beeinflusst von den Medien. Wenn die Medien nicht über eine Sache sprechen, dann gibt es auch keinerlei Interesse dafür. Selbst Linke sind stark beeinflusst von diesen Medien.
Heutzutage werden die Medien dieser Länder nicht über Afghanistan berichten, denn es heißt, mit Afghanistan ist jetzt alles in Ordnung, die Frauen sind frei oder wenn sie es noch nicht sind, dann wollen sie es wohl auch nicht anders. Deswegen versuchen selbst die Linken nicht, mehr über die Situation dieses Landes zu erfahren. Aber gerade Unterstützung aus anderen Ländern ist sehr wichtig für eine Bewegung. Ich rede gar nicht über die finanzielle Unterstützung, ich rede von der politischen Unterstützung. Insbesondere in europäischen Ländern könnte der Bewegung eine Stimme gegeben werden; aber wir haben in den letzten Jahren keine Demonstrationen zu Afghanistan gesehen. Die USA haben Afghanistan 2001 bombardiert. In diesem Jahr gab es ein paar Demonstrationen; aber nicht im Ansatz so viele wie während des Irakkriegs. Sie legitimieren ihre Kriege und teilen ein in Gut und Böse, selbst die Linken tun das. Sie sagen, das ist ein guter Krieg, denn wir kämpfen schließlich gegen das Böse, die Taliban. Aber es gibt keinen guten und schlechten Krieg. Alle Kriege sind imperialistische Kriege, die wegen finanzieller und ökonomischer Interessen geführt werden.
Wir sagen also
unseren Genoss*innen hier in Deutschland und anderen Ländern: Denkt
nach, versucht die Realität in anderen Ländern zu sehen und nutzt
andere als die Mainstream-Medien. Denn die vertreten nur die
Interessen der Imperialisten und Großmächte.
# Interview: Hubert Maulhofer
# Übersetzt aus dem Englischen
# Titelbild: Eine RAWA-Frauendemonstration in Afghanistan