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Das Abortion Network Amsterdam (ANA) leistet Personen, die eine Abtreibung in dem Niederlanden vornehmen lassen möchten, praktische Hilfe. Wir haben uns mit ihnen über ihre Arbeit, das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts und die Auswirkungen solcher Entscheidungen unterhalten.

Kannst du dich zum Anfang einmal kurz vorstellen?

Mein Name ist Marina, ich war Mitbegründerin des Abortion Network Amsterdam im Jahr 2018 und bin seitdem dabei. Ich schätze, man könnte mich als Abtreibungsaktivistin oder so bezeichnen (lacht). 

Was war deine Motivation, das Netzwerk zu gründen?

Wir haben mit ein paar Freund:innen vier Jahre lang ein Festival in Amsterdam organisiert, das sich The Effort nennt. Und im vierten Jahr hatten wir einen Workshop, zu dem wir eine Reihe von Leuten eingeladen hatten, um über Abtreibungsrechte in Europa zu sprechen. Darunter waren auch Women on Web, aber auch Women help Women. Es gab ein Gespräch über die Tatsache, dass viele Menschen aus Polen, aber auch aus anderen europäischen Ländern, nach Großbritannien fahren, weil sie dort die Möglichkeit haben im zweiten Trimester (13. bis 26. Schwangerschaftswoche, Anm. d. Red.) abzutreiben. Und das zweite Land, in dem eine Abtreibung auf Verlangen im zweiten Trimester in Europa – damals noch in der EU, denn es war vor dem Brexit – möglich war, sind die Niederlande. Dort kann man bis zur 22. Woche abtreiben. Wir erfuhren, dass einige Male Leute in die Niederlande kamen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen, aber es war nichts organisiert. Sie wussten nur, dass eine der Kliniken Schwangerschaftsabbrüche im zweiten Trimester durchführte und dass es sehr teuer war, aber mehr Informationen hatten sie nicht. Es war also alles irgendwie vage. Wir haben auch von einigen anderen Organisationen gehört, die in ihren Ländern solche Solidaritätsnetzwerke aufgebaut haben. Es gibt also eines in Großbritannien, aber auch Ciorcia Basia in Berlin, das du sicher kennst.
Und dann dachten wir: “Dieses Festival ist großartig”, aber wir hatten nicht das Gefühl, dass es irgendwohin führt. Also beschlossen wir, auch eine solche Organisation zu gründen, um Menschen in den Niederlanden im Bereich Abtreibung praktisch zu unterstützen. Nach und nach sammelten wir eine Menge Informationen darüber, wie genau das in den Niederlanden funktioniert, wo man es machen kann, wer die netten Kliniken sind und so weiter. So wurde ANA ins Leben gerufen. Was mich motivierte, war die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper, die Körperautonomie und die reproduktive Gerechtigkeit. Ich finde es extrem bizarr, dass es immer noch Orte auf der Welt gibt, an denen man nicht einfach über seinen eigenen Körper entscheiden kann, wenn man eine Gebärmutter besitzt.

Wie sieht eure tägliche Arbeit im Netzwerk aus?

Da gibt es verschiedene Dinge, die passieren. Wir haben eine E-Mail-Adresse, an die Klient:innen uns schreiben, dass sie Hilfe brauchen. Normalerweise haben wir zwei Leute in einer E-Mail-Schicht, die eine Woche lang dauert. Man arbeitet also mit anderen Freiwilligen zusammen, um E-Mails zu überprüfen und im Grunde genommen Fälle zu lösen, also den Leuten zu helfen. Sie entscheiden, in welche Klinik sie gehen, je nachdem, wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten ist und helfen bei logistischen Fragen – zum Beispiel beim Transport oder bei der Unterbringung. Früher hatten wir ein Netzwerk von Freiwilligenhäusern, aber das gibt es seit Covid nicht mehr. Jetzt helfen wir den Menschen bei der Buchung eines Hotels. Und dann versuchen wir, auch bei allen anderen Dingen zu helfen, die im Zusammenhang mit der Ankunft einer Person zu regeln sind. Das ist der Teil von ANA, der die alltägliche Arbeit darstellt. Es ist eine Menge Arbeit, weil wir viele E-Mails bekommen und dementsprechend viel arrangiert werden muss. Ich denke, meine Beschreibung wird dem nicht wirklich gerecht. Und dann gibt es noch alle möglichen anderen Dinge, die passieren. Wir versuchen auch, die sozialen Medien zu nutzen, zum Beispiel um über das mit Abtreibungen verbundene Stigma zu sprechen oder um zu kommunizieren, dass es hier möglich ist, eine Abtreibung zu bekommen. Dass es sicher ist und die Krankenhäuser mit denen wir zusammenarbeiten sehr nett, hilfreich und freundlich sind. Außerdem organisieren wir Veranstaltungen oder nehmen an Veranstaltungen anderer teil. Es gibt also eine Menge verschiedener Aufgaben, die ANA hat.

ANA ist auch Teil des Netzwerks Abortion without Borders, zu dem ähnliche Organisationen in ganz Europa gehören. Wie funktioniert das?

Wir teilen uns die Finanzen. Eine Abtreibung kostet hier mehr als 1000 Euro, wenn sie im zweiten Trimester ist, also brauchen die Klient:innen oft finanzielle Hilfe. Wir entscheiden dann, wer genau das bezahlt. Wir tauschen uns auch über komplizierte Fälle aus, zum Beispiel darüber, wo genau eine Person am besten behandelt werden sollte – also in welchem Land – und welche Organisation sie dabei unterstützen wird. Wir kommunizieren auch über neue Gesetze, die verabschiedet werden und politische Entscheidungen, die unsere Arbeit beeinflussen. Auch in den Niederlanden passiert viel, was wir versuchen zu verfolgen: Wir sprechen mit der Presse, manchmal geben wir Interviews für Recherchen – denn wir haben viele Informationen, da wir im Grunde die einzige Organisation sind, die in den Niederlanden diese Art von Arbeit macht.

Du hast bereits erzählt, dass sich viele Klient:innen bei euch melden. Auf eurer Website gebt ihr an, dass die Zahl der Menschen, die sich an euch wenden enorm gestiegen ist, nachdem der Zugang zu sicheren Abtreibungen in Polen noch stärker eingeschränkt wurde. Wie habt ihr es geschafft, in so kurzer Zeit so viel mehr Solidarität zu organisieren?

Nun, das war definitiv nicht einfach. Das neue Gesetz betrifft alle Fälle von fetalen Anomalien. Wenn also jemand schwanger ist und feststellt, dass der Fötus Anomalien aufweist, kann diese Person in Polen nicht mehr abtreiben. Wenn der Fötus nicht lebensfähig ist, muss sie ihn trotzdem zur Welt bringen. Die Entscheidung des Gerichts fiel im Oktober 2020 und ich glaube, sie trat erst im Januar in Kraft. Aber schon ab Oktober begannen uns viel mehr Leute zu schreiben. Eine Sache ist, dass wir mehr Klient:innen bekamen. Aber eine andere Sache ist, dass die Fälle tatsächlich ziemlich kompliziert sein können. Denn Fälle von fetalen Anomalien bedeuten oft, dass sie das Leben der schwangeren Person bedrohen könnten und es bedeutet auch, dass sie oft sehr viel emotionaler sind. Denn viele Personen wollen eigentlich ein Kind haben. Oft mussten wir zum Beispiel Dinge wie die Einäscherung des Fötus organisieren, weil sie sich von ihrem Kind verabschieden wollten. Das hat vieles komplizierter gemacht. Wir arbeiten ohnehin schon viel unter Druck, aber dann kam noch hinzu, dass Fälle von fetalen Anomalien oft erst gegen Ende des zweiten Trimesters, also dessen, was in den Niederlanden für einen Schwangerschaftsabbruch legal ist, erkannt werden. Also mussten wir die Dinge noch schneller regeln. Wir haben wirklich versucht, unsere Arbeit bei Abortion without Borders effizienter zu organisieren und die Fälle innerhalb des Netzwerks zu verteilen. Das war mit dem Brexit eine kleine Herausforderung, aber es hat funktioniert. Wir haben auch einen Aufruf an die Leute gemacht, ehrenamtlich bei uns mitzuarbeiten. Gleichzeitig gab es viel Solidarität – wie Demonstrationen in Deutschland und den Niederlanden – rund um die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Polen. So kamen viele Leute auf den Demonstrationen auf uns zu und fragten, ob sie bei uns mitmachen könnten, weil sie wirklich helfen wollten, aber nicht wussten, wie. So wurde unsere Organisation zu einer Möglichkeit für die Menschen, die Situation zu verbessern. Viele Leute, besonders in den Niederlanden lebende Pol:innen, kamen zu uns um zu fragen, ob sie sich freiwillig engagieren können. Wir haben mindestens 10 oder 15 Freiwillige mehr als vor zwei Jahren. Wir haben wirklich versucht, viele neue Leute an Bord zu holen, aber es gab eben auch viele, die aufgrund der Situation mitmachen wollten. 

Und wie finanziert ihr die Organisation? Wahrscheinlich musstet ihr auch viel mehr Geld organisieren.

Wir sind nur ein Kollektiv, keine offizielle Organisation in irgendeiner Form. Es gibt eine Organisation innerhalb des AwB-Netzwerks, die eine offizielle Organisation ist, das Abortion Support Network aus Großbritannien, das früher eine sehr ähnliche Arbeit für Ir:innen geleistet hat. Als Abtreibung dort noch illegal war, haben sie Leute unterstützt, die nach Großbritannien kamen. Als sich die Situation in Irland änderte, gingen sie dazu über, auch polnischen Menschen zu helfen. Sie verfügten also bereits über einige finanzielle Reserven in ihrer Organisation und konnten sich über lange Zeit einen Grundstock an Spender:innen aufbauen, da sie schon viel länger existieren. Sie bezahlen eine Menge Abtreibungen, die von polnischen Menschen vorgenommen werden. Wir als ANA machen nur Crowdfunding wie Online-Spenden oder verkaufen T-Shirts und einige Leute organisieren Konzerte zu unseren Gunsten. Es ist also sehr punkig. Die Sache ist, dass wir sozusagen den Schlamassel der polnischen Regierung beseitigen, indem wir Einzelpersonen helfen. Und niemand will diese Art von Arbeit wirklich finanzieren. Kein Fonds wird uns Geld geben, es sei denn, es handelt sich um einen privaten Fonds oder eine Privatperson, aber offizielle Fonds geben uns kein Geld für diese praktische Arbeit für einzelne Menschen. Niemand will sie wirklich finanzieren. 

Habt ihr als ANA neben der praktischen Hilfe für sichere Schwangerschaftsabbrüche einen Ansatz, um die Rahmenbedingungen rund um Gesetze zur reproduktiven Gerechtigkeit oder die öffentliche Meinung zu diesem Thema zu verändern? 

Am Anfang war uns klar, dass wir uns nur auf die praktische Hilfe konzentrieren und ansonsten nicht unbedingt in die Politik einmischen wollen. Einfach, weil wir nicht wirklich die Kapazitäten dazu hatten. Aber vor allem nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes wurden wir sehr oft von den Medien gebeten, über unsere Erfahrungen zu sprechen und unsere Meinung zu den Geschehnissen in Polen zu äußern. Als Leute, die an vorderster Front stehen und den Menschen auf der Reise helfen. Ich denke, dass wir seither in diese Art von Dingen involviert sind. Außerdem gab es in letzter Zeit eine Reihe von Diskussionen über das Abtreibungsgesetz in den Niederlanden. Wir haben also versucht, so gut es ging, unsere Meinung zu äußern und auch ganz praktische Informationen darüber zu geben, was das für unsere Arbeit bedeutet. Ich denke, wir waren recht erfolgreich, denn unsere Organisation wird in den Niederlanden immer mehr anerkannt. Es ist unmöglich, in einer Organisation wie ANA zu sein und sich nicht an der öffentlichen Meinung zu beteiligen. Denn schließlich hängt unsere Arbeit direkt von den Gesetzen des Landes ab, in dem wir uns befinden, aber auch von denen anderer, umliegender Länder. Also haben wir irgendwann beschlossen, dass wir die Kapazitäten schaffen müssen um darüber zu sprechen und unsere Meinung zu äußern. Denn wir haben sehr spezifische Informationen, die andere Organisationen nicht haben und die wir nutzen können, um sehr klare Aussagen darüber zu machen, warum reproduktive Gerechtigkeit wichtig ist und warum es überall sichere Abtreibungsgesetze geben sollte.

Wie sähe deiner (oder eurer) Meinung nach eine Situation tatsächlicher reproduktiver Gerechtigkeit und Selbstbestimmung aus?

Ich kann nur über mich selbst sprechen. Wenn wir über Abtreibung sprechen, dann würde das für mich bedeuten, dass es überall sichere, legale und zugängliche Abtreibungen gibt. Und zugänglich bedeutet, dass man nicht weit weg fahren muss, um sie zu bekommen. Sie sollte überall dort verfügbar sein, wo man lebt. Dazu gehört auf jeden Fall auch eine umfassende Aufklärung über sexuelle und reproduktive Gesundheit. Für mich ist das ein sehr intersektionaler Begriff – reproduktive Gerechtigkeit. Denn es bedeutet auch, dass man nicht diskriminiert wird – sei es aufgrund der Race, der Klasse, des Geschlechts oder der sexuellen Vorlieben – wenn man reproduktive Gesundheitsdienste in Anspruch nimmt. Das bedeutet, dass einem als arme Person keine Abtreibung verweigert wird, dass einer Person of Color keine Dienstleistungen verweigert werden, dass aber auch trans Personen, die schwanger werden wollen oder eine Abtreibung vornehmen lassen, nicht stigmatisiert werden sollten. Ich denke also, dass wir einen sehr ganzheitlichen Ansatz für alle Arten von Dienstleistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit verfolgen sollten.

Danke dir! 

#Foto: wikimedia commons

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Im Netzwerk gegen Feminizide Berlin haben sich verschiedene feministische Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um auch in Deutschland verstärkt auf das Thema aufmerksam zu machen und gemeinsam kämpferische und emanzipatorische Antworten auf patriarchale Gewalt zu finden.

Hallo, stellt euch doch bitte kurz vor und erzählt auch, wie lange ihr schon Teil des Netzwerks gegen Feminizide seid.

Ursula: Ich lebe in Berlin und ich habe ungefähr vor zwei Jahren davon gehört, dass sich Frauen zusammenschließen wollen, die zum Thema Feminizide arbeiten. Mir war der Begriff vorher auch nicht wirklich geläufig, obwohl ich schon seit 50 Jahren in der Frauenarbeit gegen Gewalt an Frauen bin. Also für mich war das damals ein relativ neuer Begriff, der aber auch sofort ziemlich einleuchtend war. „Aha na klar, Feminizide sind das, was im schlimmsten Falle passiert, wenn Frauen Gewalt erfahren – sie werden ermordet. Sie werden einfach getötet.“ Deswegen habe ich versucht, mich mit diesem Netzwerk zu verbinden und bin dann da sozusagen reingeraten und habe mitgemacht.

Lila: Ich bin in einer Gruppe, die viel im Austausch über Morde an Frauen und queeren Menschen stand. Wir haben immer wieder über diese Thematik geredet und uns ein bisschen hilflos gefühlt damit. Gleichzeitig haben wir in den Vernetzungen, die schon bestanden, nicht gesehen, dass es einen Fokus auf die Sichtbarmachung dessen gibt oder Konzepte ausgearbeitet werden, wie auf lange Sicht damit umgegangen und das Thema mehr in die Gesellschaft getragen werden kann. Schon vor der Pandemie ist das alles hinter verschlossenen Türen passiert, die Berichterstattung wurde zweckentfremdet und war meistens eher Täter schützend. Daraufhin haben wir uns mit verschiedenen Gruppen vernetzt. Das erste Mal getroffen haben wir uns im September 2020 und am 25. November wurde das Netzwerk gegen Feminizide ausgerufen. .

Ursula: Gleich beim ersten Treffen haben wir beschlossen, dass wir eine Kampagne machen: „Wir wollen uns lebend!“ in Anlehnung an „Ni una menos!“.

Wir war denn eure Verbindung zu den feministischen Bewegungen aus Lateinamerika, wart ihr im Austausch mit den Ni una menos Bewegungen aus anderen Ländern?

Lila: Also in den ganz frühen Phasen haben wir uns erstmal viel informiert und das war auf jeden Fall eine große Inspiration. Die Bewegung, die Stärke und was sie alles erreicht haben – trotz viel mehr Repression, als hier vor Ort. Durch Freundinnen aus dem Umfeld von Ni una Menos und dem Bloque Latinoamericano sind wir dann auch noch mehr in den Austausch über die Bewegung gekommen und konnten besser von ihnen lernen. Bei uns in der Gruppe kam das auch einfach durch die Auseinandersetzung mit Feminiziden und der Frage danach, was das überhaupt mit einschließt. Wir wollten von Anfang an nicht in dieser super eurozentrischen Sichtweise bleiben. Natürlich geht vielen Feminiziden häusliche Gewalt voraus. Aber wenn man sich global unterschiedliche Kontexte anschaut, werden Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter zwar genauso wie hier ermordet, weil sie Frauen und weitere unterdrückte Geschlechter sind – aber auch weil sie aktiv geworden sind, aufstehen und ihre Meinung sagen. Da haben uns viele Bewegungen inspiriert und wir haben versucht von ihnen zu lernen.

Ursula: Dadurch, dass hier in Berlin viele Communities präsent sind, war eigentlich vom ersten Treffen an offensichtlich, dass mindestens die Hälfte der Frauen die da waren, einen migrantischen Hintergrund haben. Das war ein Bündnis von Gruppierungen, die bereit sind, sich in irgendeiner Form mit Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Gesellschaft, der Gewalt des Patriarchats auseinanderzusetzen. Dadurch sind natürlich auch diese ganzen globalen Aspekte immer in die Arbeit eingeflossen.

Ihr habt schon angedeutet, dass eure Definition von Feminiziden mehr einschließt, als Beziehungstaten. Was versteht ihr als Netzwerk noch darunter?

Lila: Das ist eine sehr schwierige Frage ehrlich gesagt..

Ursula: Naja im Großen und Ganzen haben wir schon eine ziemlich klare Position, glaube ich. Es geht um patriarchale Gewalt(-strukturen), die einfach global präsent sind und sich dann natürlich lokal völlig unterschiedlich ausdrücken. Hier in Deutschland zum Beispiel ist es im Wesentlichen die Definition, dass Frauen ermordet werden, die individuell in abhängigen Verhältnissen zu bestimmten Männern stehen und, dass Männer sich bemüßigt fühlen, ein Recht auszuüben, was sie nicht haben: Gewalt auszuüben, zu herrschen und Frauen mit Gewalt zu Sachen zu zwingen, beziehungsweise von Dingen abzuhalten.

Lila: Schwierig zu beantworten ist es wegen der mangelhaften Nachhaltigkeit und fehlender Informationen in der Berichterstattung. Das macht es für uns manchmal schwierig einzuordnen, was passiert ist.

Ursula: Wir haben maximal eine kurze Zeitungsmeldung, wenn eine Frau umgebracht wurde. Da steht vielleicht noch wo es war, wer es gewesen sein könnte, wer verhaftet wurde – Ehemann, Ex-Freund, Bruder, Vater – und dann müssen wir quasi für uns entscheiden, ob das ein Feminizid war oder nicht. Es sind inzwischen ja sehr viele Gruppen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weltweit, die sich damit beschäftigen. In diesem Kontext tauschen wir uns sehr intensiv darüber aus, wie wir eigentlich dazu kommen, einen Mord als Feminizid einzuordnen. Dafür müssen wir auf eine sehr dünne Faktenlage zurückgreifen und dann daraus extrahieren, wie das mit dem Patriarchat und der gesamtgesellschaftlichen Situation zusammenhängt. Wir sehen auch, dass es zum Beispiel Feminizide gegen politische Aktivistinnen gibt. Da kommen immer wieder Fragen und Lücken auf und wir beschäftigen uns im Wesentlichen damit, sinnvolle Antworten zu finden.

Lila: Wir sind aber letztes Jahr zu dem Punkt gekommen, dass man auch Suizide als Feminizide einordnen kann, wenn sie das Ende einer langen patriarchalen Gewaltkette sind und die Person keine andere Lösung mehr gesehen hat in diesem System. Dann definieren wir das als femizidalen Suizid.

Wenn ihr zu dem Schluss kommt, dass ihr einen Mord als Feminizid einordnet. Wie reagiert ihr als Netzwerk darauf?

Lila: Aktuell – das entwickelt sich ja auch immer weiter – ist der Stand so, dass wir einen Widerstandsplatz eingenommen haben. Die Arbeit mit den Angehörigen ist immer super schwierig und unterschiedlich, manchmal haben wir auch gar keinen Kontakt. Deswegen haben wir die Entscheidung getroffen, dass wir lieber an einem neutraleren Ort – also dem Widerstandsplatz – zusammenkommen wollen. Um zu gedenken, darauf aufmerksam zu machen, Transparenz zu schaffen und den Mord ganz klar als Feminizid zu benennen. Wir sagen „nehmt ihr uns eine, antworten wir alle!“.

Ursula: Es erschien uns einfach wichtig, einen Ort zu finden, den wir gemeinsam nutzen können für alle möglichen Formen von widerständigen Bewegungen. Wir haben ihn im Wedding gefunden mit einem Platz wo man sich gut Treffen kann, wo getanzt, gesungen, getrauert und geredet werden kann. Er liegt innerhalb einer Community und in einem sehr spannenden Kiez, der miteinbezogen werden kann und wo sowieso schon viel passiert. Außerdem haben wir uns auch einen Platz ausgesucht, der den Namen eines Kolonialverbrechers – Nettelbeck – trägt und uns auch damit beschäftigt. Zusammen mit anderen Gruppen, vor allem Decolonize Berlin, haben wir die offizielle Umbenennung des Platzes bei der Bezirksversammlung durchgesetzt. Jetzt wird nur noch entschieden, welchen Namen dieser Platz bekommen soll.

Lila: Bei diesem Platz des Widerstands geht es auch darum, Kämpfe zu verbinden. Im besten Fall entsteht dort ein Treffpunkt und ein Ort für Austausch. Gerade für Einzelpersonen die potenziell betroffen oder nicht so gut vernetzt sind, ist es schwer einen Zugang – vor allem zu Informationen – zu finden. Bis jetzt war es, wenn wir auf dem Platz zusammengekommen sind, eigentlich immer so, dass Menschen auch mal nachgefragt haben. Oder auch überrascht waren, dass Nettelbeck ein Kolonialverbrecher war. Manche haben auch so süße Sachen gesagt, wie „egal, ob andere euer Gegenwind sind, wir sind euer Rückenwind hier aus dem Kiez“. Das gibt uns Hoffnung, dass wir es schaffen die Menschen besser mit einzubeziehen, und zu erfahren, was beispielsweise Wünsche im Bezug auf den neuen Namen sind.

Ein genaues Protokoll, wie wir auf einen Feminizid reagieren, ist eher noch in der Entwicklung. Klar ist aber, dass wir zusammenkommen. Bei dem femizidalen Suizid von Ella letztes Jahr am Alexanderplatz besteht aber zum Beispiel auch das Bedürfnis das immer wieder zu machen. Hier zeigt sich die Problematik, dass zwar in Deutschland mittlerweile Statistiken über „Morde an Frauen“ – wie es genannt wird – geführt werden, aber eben nicht über Menschen, die sich anders definieren und trotzdem einen Uterus haben oder unter patriarchaler Gewalt leiden. Es gibt super wenig Hilfe für diese Personen. Und oft erfahren diese Menschen auch noch andere Formen von systematischer Gewalt und Unterdrückung.

Ursula: Natürlich hat sich im Laufe der Zeit auch ohne festes Protokoll etwas entwickelt. Und ein Teil davon ist auch, dass wir – wenn möglich – versuchen, das Umfeld zu erkunden in dem dieser Feminizid passiert ist und möglicherweise auch mit den Angehörigen Kontakt aufzunehmen und Unterstützung anzubieten. Das ist immer ein sehr schmaler Grat, weil wir die Personen nicht instrumentalisieren möchten. In mehreren Städten in Deutschland hat das auch schon dazu geführt, dass Gruppen die Gerichtsprozesse von Tätern mit begleitet und die betroffenen Familien unterstützt haben. Dabei wurden ganz vielfältige Erfahrungen gesammelt. Manche Angehörige möchten einfach in Ruhe gelassen werden und individuell trauern. Andere wiederum sehen den Mord ebenfalls im Kontext patriarchaler Gewalt und möchten sich wehren, zum Beispiel indem sie in die Nebenklage gehen. Das ist ziemlich schwierig und man braucht eine gute Anwältin dafür. Da haben sich exemplarisch Prozesse entwickelt, die auch veröffentlicht werden müssten. Wir wollen zeitnah eine Broschüre zum Thema „Was mache ich, wenn ein Feminizid passiert?“ veröffentlichen. Dafür sammeln wir Bewegungswissen – alles was in den vergangenen zwei, drei Jahren entstanden ist.

Lila: Wenn wir einen Kontakt aufbauen können zu den Menschen um das Opfer herum – Freund:innen, Familie, etc. – haben wir auch manchmal die Schwierigkeit, dass der Täter noch im Umfeld der Angehörigen aktiv ist. Dann sind die Gewaltkette und die Machtstrukturen oft nach wie vor vorhanden. In solchen Fällen müssen wir natürlich auch sehr aufpassen in unserer Arbeit, dass wir keine weiteren Familienmitglieder, Freund:innen, etc. in Gefahr bringen.

Ihr habt gerade schon angesprochen, dass ihr Handlungsanleitungen und Broschüren entwickelt. Das passiert im Kontext eurer Vernetzung mit anderen Gruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie hat sich das entwickelt?

Lila: Angefangen hat das ja mit einer Sammlung und einem Austausch über den Ist-Zustand. Und das Ziel war, bzw. ist dieses „How-to“. Aber dadurch, dass diese Thematik noch nicht als das, was sie ist – nämlich Feminizide und nicht Beziehungsdramen – in der Gesellschaft angekommen ist und ja auch verhältnismäßig wenige Leute dazu arbeiten, gehen immer wieder Kapazitäten für die gleichen Dinge drauf, weil man auf so wenig zurückgreifen kann. Deswegen ist unser Ansatz, diesen Kampf gemeinsam zu führen und uns gegenseitig zu unterstützen. Beispielweise durch skill sharing, durch eine Zugänglichkeit zu Dingen wie Materialien…

Ursula: …Texte. Da macht Vernetzung tatsächlich einen Sinn, weil wir in die praktische Ebene gehen und uns dadurch gegenseitig unterstützen können. Auch der direkte Austausch – und sei es über Zoom – ist unglaublich hilfreich. Daraus können sich dann wieder neue Ideen entwickeln.

Lila: Ich persönlich merke auch, als Person die in einer Stadt wohnt, dass bei so einem Protokoll immer Spielraum sein muss. In kleinen Städten und Dörfern ist es für uns manchmal schwierig, überhaupt mit den Menschen in Kontakt zu kommen.

Ursula: Andererseits sind ja die großen Städte im Grunde auch in kleine Kieze unterteilt, wo klare Strukturen herrschen. In so einem Dorf ist das natürlich übersichtlicher und besser für uns erkennbar, aber wenn wir uns unsere Kieze angucken, ist das ja auch nicht anders. Und trotzdem ist da irgendwie ein gegenseitiges Verständnis und ein Lernprozess möglich.

Rund um das Thema kreisen ja sehr viele Begriffe, über die wir teilweise schon gesprochen haben. „Eifersuchtsdrama“ in den Medien, „Partnerschaftsgewalt“ in der BKA Statistik, „Femizid“, „Feminizid“. Warum habt ihr euch für letzteres entschieden?

Lila: Wir sind darauf gestoßen, dass diese Wörter in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Dinge bedeuten. Wir haben uns dann für den Begriff Feminizid entschieden, weil Femizid im Deutschen lediglich den Mord an einer FLINTA*-Person beschreibt und Feminizid den Mord an zum Beispiel einer Frau, weil sie eine Frau ist. Uns im Netzwerk war es wichtig, auf die Gewaltkette die dem Mord vorangeht hinzuweisen und diese sichtbar zu machen. Außerdem trägt der Begriff auch zur Nachhaltigkeit in der Arbeit bei. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, feminicide map, die auf einer Karte chronologisch Feminizide aufzeigen, auch rückblickend. Das ist zwar bei uns aktuell nicht der Fokus, aber auf lange Sicht auch ein wichtiger Aspekt: dass Statistiken über Feminizide erstellt werden. Denn die, die bisher gibt, arbeiten ja gar nicht mit dieser Definition.

Habt ihr Forderungen, von denen ihr euch eine Veränderung der Strukturen und auch des Darübersprechens erhofft?

Ursula: Die meisten Forderungen sind erst einmal reformatorisch und richten sich an den Staat, bzw. die Medien. Bei Letzteren geht es uns vor allem darum, dass eine Sprachänderung vorgenommen wird, um Sachen klarer zu benennen. Das läuft eigentlich ganz gut. Das Wort Feminizid ist nicht mehr ganz so unbekannt, es ist nur immer die Frage, inwieweit Menschen das dann auch tatsächlich verstehen, bzw. bereit sind, sich dagegen einzusetzen. Es ist schwierig, vom Staat, der ja ganz eindeutig eine Vertretung der Gewaltkette ist, die Bekämpfung von Feminiziden zu fordern. Das ist also der Spagat, den wir machen. Einerseits wollen wir bestimmte Dinge in dieser Gesellschaft reformieren, zum Beispiel Gesetze, die nun einmal einfach existieren: wir möchten, dass Feminizide als besonders schwere Straftat eingestuft werden. Andererseits vertrauen wir dem Staat nicht, dass er dazu beiträgt, dass es besser wird. In 50 Jahren Arbeit gegen Gewalt an Frauen hat sich viel verändert auf der Diskurs-Ebene aber sehr wenig auf der tatsächlichen Lebensebene. Es werden immer noch genauso viele Frauen und Kinder vergewaltigt und Menschen unterdrückt und ausgebeutet. An der Statistik hat sich also sehr wenig geändert, sondern vielmehr wie wir darüber denken und auch mit Aktionen tatsächlich dagegen ankämpfen. Andererseits gibt es aber auch die Forderung nach nachhaltiger Gerechtigkeit: also einem anderen Gerechtigkeitsbegriff, anderen Möglichkeiten diesen auszufüllen und umzusetzen, um in dieser Hinsicht nicht mehr auf den Staat und seine Erzwingungs-Maßnahmen zurückgreifen zu müssen. Wir haben so viele verschiedene Kämpfe, die in eine Richtung gehen – das Patriarchat auflösen.

Lila: Genau. Eine weitere klare Forderung ist „Keine mehr!“. Außerdem geht aus unserer Arbeit hervor, dass z.B.Frauenhäuser konstant überlastet sind. Und die Pandemie hat das natürlich nicht besser gemacht. Wir können nur hoffen, dass dadurch wenigstens ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass in diese Arbeit mehr Gelder investiert werden müssen.

Ursula: Und es geht uns auch um die Sensibilisierung der ganzen Berufsstände, welche mit Betroffenen patriarchaler Gewalt zu tun haben. Seien es Ärzte, Jugendeinrichtungen, Frauenhäuser, der Justizapparat…

Lila: Ich denke, die Forderung der Sichtbarmachung ist auch sehr wichtig. An dem Punkt würde ich mir manchmal wünschen, dass andere Vernetzungen das Thema mehr aufgreifen.

Danke für den Austausch. Gibt es einen Punkt, den ihr noch ansprechen wollt?

Lila: Noch eine Sache zum Widerstandsplatz. Wir nutzen ihn nicht nur als Ort der Reaktion, sondern auch proaktiv. Über den Winter ist das natürlich ein bisschen schwieriger, aber letzten Sommer haben wir dort jeden Monat Aktionstage mit Inputs unterschiedlicher Gruppen gemacht, Selbstverteidigungsworkshops z.B. Es geht uns auch darum FLINTA* zu stärken. Es war sehr schön zu sehen, dass der Platz auch ein Ort der Kraft und des Empowerments sein kann. Wir haben dort auch mehrmals ein Open Mic veranstaltet. Das waren teilweise Räume für Erfahrungen und Meinung, für Wut – wo Menschen selbstgewählt sprechen konnten. Das ist etwas, was oft fehlt. Die Arbeit zu Feminiziden ist nicht leicht und wird hauptsächlich von Menschen geleistet, die selbst potenziell vom Patriarchat betroffen sind. Da ist es wichtig, immer wieder zusammenzukommen und sich gegenseitig zu stärken. Das sind Dinge, dich ich immer wieder auf dem Widerstandsplatz gefühlt habe.

Ursula: Gleichzeitig war das auch immer ein Ort, wo aktuelle Informationen zwischen den verschiedenen Bewegungen ausgetauscht werden konnten. Was ich mir wünschen würde von den anderen Kämpfen, ist ein bisschen mehr Aufmerksam darauf zu richten. Gewalt gegen FLINTA*, Gewalt gegen Menschen, die versuchen sich vom Patriarchat zu emanzipieren, ist ein zentrales Thema. Und ein bisschen mehr Teilnahme und Beteiligung an diesem Austausch, damit wir auch deren Perspektive kennenlernen. Aber natürlich freuen wir uns auch immer über Menschen, die bei uns mitarbeiten wollen.

#Foto: Einweihung des Widerstandsplatz, Netzwerk gegen Feminizide Berlin

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Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region, sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Von der peruanischen Küstenstadt Trujillo, den Anden von La Libertad und der Regenwaldregion Perus hat sie bereits berichtet. Weiter geht es in der Hauptstadt Lima.

Lima ist keine besonders schöne Stadt. Über 10,5 Millionen Menschen leben und arbeiten in der gesamten Metropolenregion, welche die direkt angrenzende Hafenstadt Callao – wo sich auch der Flughafen befindet – mit einschließt. 1535 von spanischen Kolonisatoren gegründet, war die Region um den Rímac Fluss bereits vor der Kolonisierung ein dicht besiedeltes Gebiet. Lima wurde Hauptstadt des 1542 gründeten Vizekönigreichs Peru, welches zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung 1650 fast das ganze von den Spaniern beherrschte Südamerika umfasste. Im seit 1821 offiziell von Spanien unabhängigen Land ist die Hauptstadt bis heute der zentrale Dreh- und Angelpunkt von Politik und Wirtschaft.

In Lima sind die Unterschiede zwischen arm und reich brutal sichtbar: neben Luxus-Einkaufzentren mit europäischen und u.s.-amerikanischen Marken erstrecken sich an den Berghängen über Kilometer asentamientos humanos, Slums aus Holz, Blech und Pappe. An Abwasserkanälen oder fließendem Trinkwasser fehlt es genauso wie an grundlegender Infrastruktur, etwa Schulen und Krankenhäusern.

In den letzten Jahren hat sich die Lebensqualität nochmals drastisch für alle Bewohner*innen der Stadt verschlechtert: der Verkehr hat Ausmaße erreicht, dass Strecken, die vor 8 Jahren in noch 20 Minuten mit dem Auto zu bewältigen waren, nun bis zu zweieinhalb Stunden dauern können. Micros, Combis, unzählige Taxiunternehmen, private Taxifahrer und Moto-Taxen säumen neben den vielen privaten Autos die Straßen. Dazu kommen die von der Stadt eingesetzten corredores und der metropolitano, Linienbusse mit teilweise eigens eingerichteten Fahrstreifen. Die Metro in Lima ist überirdisch und besteht aktuell nur aus einer Linie. Städtische Busse und die Metro sind jedoch regelmäßig überfüllt, so dass man bis zu einer Stunde warten muss, um überhaupt einsteigen zu können.

Neben dem Verkehr ist das zentrale Thema in der Hauptstadt die Korruption. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein neuer Fall bekannt wird. Die letzten vier peruanischen Präsidenten sind wegen Menschenrechtsverletzungen und/oder Korruption in Haft (Alberto Fujimori, Ollanta Humala), auf der Flucht (Alejandro Tolendo) oder stehen unter Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (Pedro Pablo Kucynski). Mitte April nahm sich ein weiterer Expräsident, Alan García, welcher zuletzt 2006 bis 2011 das Land verscherbelte, das Leben, als Polizisten mit einem Haftbefehl sein Haus betraten. Ein vorheriger Asylantrag in Kolumbien, um der peruanischen Justiz zu entfliehen, war abgelehnt worden.

Viele Menschen glauben jedoch nicht, dass García tot ist. „Der Alte ist nicht tot. Der hat sich abgesetzt. Oder weswegen wurde seine Leiche nicht der Öffentlichkeit gezeigt? Der ist doch nicht dumm!“ kommentiert ein Taxifahrer das Ganze an einem Nachmittag in Lima. Immerhin wird hier auch hohen Politiker*innen – wie der ehemaligen sozialdemokratischen Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán – überhaupt ein Prozess gemacht. Die relative Unabhängigkeit der peruanischen Gerichte von der politischen Klasse spiegelt sich jedoch kaum in sozialen oder wirtschaftlichen Veränderungen wieder: trotz Einbuchtungsgefahr blüht die Korruption auf allen Ebenen der Verwaltung des Staates; von den Verkehrspolizist*innen auf der Straße bis zu den höchsten Politiker*innen des Landes sind einfach alle bestechbar.

Hausarbeit: Ausbeutung und sexualisierte Gewalt

„In Peru ist es nicht leicht, gewerkschaftlich aktiv zu werden“, weiß Leddy Mozombite, Vorsitzende der Federación Nacional de Trabajadoras y Trabajadores del Hogar Perú (FENTTRAHOP), des Nationalen Verbandes der Hausangestellten Perus. Ich treffe sie im Zwei-Raum-Büro der Gewerkschaft im Zentrum der Stadt. „Unsere Organisation besteht aus 11 regionalen Gewerkschaften. Zwei weitere regionale Gewerkschaften sind dabei, sich uns anzugliedern. Unsere Arbeit ist besonders prekär, da nur sehr wenige Hausangestellte sich selber als richtige Arbeiterinnen mit Rechten und Freiheiten zur gewerkschaftlichen Organisierung verstehen. In unserem Sektor herrscht viel Informalität und Kinderarbeit. Dem versuchen wir durch die Organisierung von Hausangestellten, sowie durch Lobbyarbeit in der Politik entgegenzutreten“.

Ich erfahre, dass der peruanische Staat das 2013 durch die Internationale Arbeitsorganisation ILO formulierte Abkommen Nr. 189 zum minimalen Schutz der Arbeitsrechte von Hausangestellten erst letztes Jahr ratifiziert hat. Laut der Schweizer Informationsplattform Human Rights arbeiten weltweit über 50 Millionen Menschen als Hausangestellte in privaten Haushalten, wovon 83 Prozent Frauen sind. In Peru ist die Zahl schwer zu schätzen. Jeder untere Mittelschichtshaushalt leistet sich mindestens ein bis zwei Mal die Woche eine Haushaltshilfe. Wohnungen und Häuser in kleinbürgerlichen und bürgerlichen Stadtteilen haben immer auch ein „Dienstmädchenzimmer“, meist an der Küche angedockt. „Sehr viele junge Mädchen werden sechs- oder siebenjährig in Haushalten aufgenommen. Dies geschieht oft, um der Armut der Eltern zu entfliehen. Einige Eltern hoffen, dass ihre Töchter so zumindest ordentlich essen und vielleicht die Familie ökonomisch unterstützen können“, so Leddy. Die Aufgaben von Arbeiter*innen in Haushalten ist vielfältig: von Putzarbeiten über Aufräumen, Wäsche waschen, Kochen oder die Beaufsichtigung und Erziehung von Kindern und der Pflege von Großeltern und Familienmitgliedern mit Behinderungen wird ein breites Reproduktionsfeld bedient.

Dabei sind private Haushalte für Übergriffe und Missbrauch prädestiniert, so Leddy: „Diese jungen Mädchen werden oft aus Provinzen nach Lima geholt zum Beispiel und kennen hier außer der Familie, wo sie arbeiten, niemanden. Oft sind sie wie gefangen in den Häusern und kennen weder ihre Rechte, noch wissen sie, an wen sie sich im Fall eines Rechtsbruchs wenden könnten. Alle meine Schwestern und Genossinnen haben eine Reihe schrecklicher Geschichten zu erzählen. Als ich selber 12 Jahre alt war, habe ich bei der Familie eines Militärs in der Regenwaldregion gearbeitet. Dort hatte ich eine Freundin, die genauso alt war und mit mir dort arbeitete. Die Ehefrau des Militärs war schwanger und wir wurden zur Unterstützung der Ehefrau eingestellt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon jahrelang gearbeitet. Hochschwanger rief uns eines Tages die Ehefrau zu sich und erklärte uns, dass ihr Mann mit einer von uns schlafen wollte, und dass er sich eine aussuchen würde. Wir waren wie versteinert und trauten unseren Ohren nicht. Der Militär kam rein und schnappte sich meine Freundin. Sie schrie und trat. Vor Angst sprang ich aus dem Fenster und schnitt mir dabei die Füße auf. Mit offenen Wunden lief ich bis nach hause. Von diesem Mädchen habe ich nie wieder etwas erfahren“, erzählt mir Leddy.

Und diese Geschichten sind keine Einzelfälle. Von jahrelangem sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen bis zu Sklavenarbeit, 16-Stunden Schichten und Zurückhaltung von mehrmonatigen Lohnzahlungen passiert im Sektor der bezahlten Reproduktionsarbeit in privaten Haushalten alles. „Deswegen haben wir uns angefangen vor vielen Jahren zu organisieren und fordern weiterhin für alle Arbeiterinnen und Arbeiter in privaten Haushalten volle Urlaubsrechte, Rentenversicherungen, ein 8-Stunden-Arbeitstag, Vereinigungsfreiheit, Schutz von Minderjährigen, Zugang zur Justiz, Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz sowie schriftliche Verträge“. Bis dato haben jedoch nur eine kleine Minderheit von Hausangestellten in Peru Zugang zu diesen Rechten.

Kunst und Kampf

An einem anderen Tag treffen wir Karla in einem feministischem Kunstatelier im Bezirk Lince. Sie ist 16 Jahre alt und hat die Gruppe Secundaria Combativa vor einem Jahr mitgegründet: „Ich bin an einer reinen Mädchenschule. Viele meiner Mitschülerinnen sind Töchter von Straßenveräuferinnen; einige arbeiten selber nach der Schule und helfen ihren Eltern. Wir haben uns als Antwort auf die Entlassungsandrohungen der öffentlichen Reinigungsarbeiterinnen der Gewerkschaft SITOBUR gegründet. Damals ist ein Bild, das ich gezeichnet und auf Facebook hochgeladen habe, sehr populär geworden. Dort war eine Schülerin in Uniform Hand in Hand mit einer Reinigungsarbeiterin abgebildet“.

Der Kampf der Öffentlichen Reinigungsarbeiter*innen von Lima wurde über viele Wochen Mitte bis Ende letzten Jahres hart geführt. Die Entlassung von hunderten, meist weiblichen, Arbeiter*innen konnte jedoch nicht verhindert werden. Was blieb war die Kampferfahrung der Frauen und Mädchen. „Viele von uns machten ihre ersten Erfahrungen auf den Demos gegen die Begnadigung von Fujimori und später auch bei der Verteidigung der Arbeitsplätze der Reinigungsarbeiterinnen“, erzählt mir Karla. Als dann vor wenigen Monaten neue Maßnahmen zur sogenannten Regulierung des Straßenverkaufs von der Stadtverwaltung ergriffen wurden, organisierten sich die Schülerinnen gezielter. „In den letzten Monaten haben wir selbstorganisierte Workshops am Nachmittag an unserer Schule angeboten. Vor allem Zeichnen und Malen waren da auf dem Programm. Über diese Kunstworkshops konnten wir mehr Zugang zu auch jüngeren Mädchen erhalten und haben angefangen, über ihre Lebenssituation und ihre Probleme zu sprechen. Die Kunst war da ein wichtiger und niedrigschwelliger Einstieg, um erst mal in einem Raum ohne Lehrkräfte zusammen zu kommen“.

Karla ist sehr klar in ihrer politischen Perspektive. Sie selber hat sich vor zwei Jahren während der Proteste der Auszubildenden gegen das von den Protestierenden als „Sklavengesetz für die Jugend“ gebrandmarkte Gesetz politisiert, welches jahrelange Umsonstarbeit in Betrieben für Auszubildende vorsah, um Peru auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu machen. Sie ist zuerst alleine zu den Demos gegangen und später dann auch mit anderen Mitschülerinnen. Oft in Schuluniform. „Das war eine gute Politisierungserfahrung. Und darüber haben wir auch andere Themen kennengelernt“ so Karla. Nun kämpft die Secundaria Combativa gegen die Repression gegen die Straßenverkäufer*innen in der Hauptstadt, bei welcher das Ordnungsamt und die Polizei brutal vorgeht. Die politisch Verantwortliche für die Durchführung dieser Maßnahmen ist Susel Paredes. Die offen lesbische Rechtsanwältin und Politikerin des sozialdemokratisch-liberalen Partido Descentralista Fuerza Social, der Dezentralen Partei Soziale Stärke war 2010 Teil der Villarán, Ex-Bürgermeisterin von Lima, unterstzützenden politischen Kräfte. Bis 2014 war sie Leiterin des Prüf- und Kontrollamtes in der Metropolregion Lima und seit 2019 ist sie für die serenazgos, das Ordnungsamt für den Bezirk La Victoria im Zentrum der Stadt zuständig. Karla erzählt von den enormen Problemen, denen nun viele Eltern ihrer Mitschülerinnen, sowie ihre Mitschülerinnen selber ausgesetzt sind: „Ihnen werden nicht nur ihre Waren weggenommen, oft werden sie auch noch eingebuchtet und bekommen Strafgebühren. Bei diesen Razzien gibt es regelmäßig Verletzte. Viele davon sind noch Kinder“.

Die Liberalen stehen nicht auf unserer Seite

Paredes gilt als Musterbeispiel der LGBTQI-Gemeinschaft in Lima. Als queer-feministische Aktivistin bekannt geworden, werden die Gräben zwischen einem liberal-feministsichem und einem klassenkämpferisch-feministischen Lager immer deutlicher. „Wenn Feministinnen uns mit ‚Schwesternschaft‘ ankommen und meinen, wir sollten Paredes unterstützen, weil sie eine Frau ist, fragen wir: Für welche Frauen macht sie Politik? Interessieren sie arme Frauen? Interessieren sie unsere Mütter? Interessieren sie meine lesbischen Mitschülerinnen, die nach der Schule Kaugummis verkaufen? Dies ist keine Frage des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung! Hier geht es um Klasse. Und Paredes und die ganzen anderen Liberalen stehen nicht auf unserer Seite“.

Das politische Panorama in Lima ist sehr breit. Von bürokratischen Gewerkschaftsführungen und liberal-feministischen Nichtregierungsorganisationen erstreckt es sich über kleinere maoistische Gruppierungen und Parteien, die meisten von ihnen, wie Patria Roja, seit Jahrzehnten in reformistische und kapitalaffiermierenden Politiken involviert, bis hin zu radikalen Feministinnen, die sich oft als Abolitionistinnen, also Sexarbeit-Gegenerinnen profilieren.

Eine große feministische Bewegung wie die marea verde, die grüne Welle, wie sie etwa in Chile und Argentinien tausende Frauen verschiedenster Generationen für ein Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung 2017 und 2018 auf die Straße mobilisierte, existiert so in Peru nicht. Einige klassenkämpferische Feministinnen haben sich vor wenigen Monaten zur Coordinadora Popular 8M zusammengeschlossen. Das als Plattform gedachte Plenum versucht aktuell verschiedene anarchistische und kommunistische Perspektiven eines klassenkämpferischen Feminismus koordiniert zusammen zu bringen, um gemeinsame Kampagnen gegen liberale Feministinnen zu planen und im Spektrum eines anti-patriarchalen Kampfes geschlossener aufzutreten. „Wir sind noch ganz am Anfang unserer Organsierung“, erklärt mir eine Genossin aus der coordinadora, welche Frauen verschiedener Gruppierungen umfasst. „Aktuell stellen wir eine Leseliste zusammen. Wir wollen uns mit den Grundlagen patriarchaler Strukturen im Kapitalismus auseinandersetzen. Hierzu werden wir Engels und Kollontai lesen“. Ich treffe die Genossinnen im Flur eines Gewerkschaftshauses im Stadtzentrum, wo sie sich in einem kleinem Stuhlkreis zusammen gefunden haben. Verschiedene Referentinnen sollen Texte vorbereiten und vorstellen. Gleichzeitig wird über aktuelle Fragen und gewerkschaftliche Mobilisierungen in Lima, und möglichen Interventionen, diskutiert. „Die liberalen Feministinnen beschimpfen uns als Verräterinnen. Sie sagen wir werden von Männern vorgeschickt und arbeiten gegen den Frauenzusammenhalt. Klar tun wir das! Denn eine Kapitalistin und eine Frau, die das Kapital schützt und verteidigt, hat nichts mit uns und unseren Kampf für die Befreiung der Menschheit zu tun“.

Wir wollen ins Museum, um uns, neben den aktuellen Kämpfen, auch mit der Geschichtspolitik des Landes auseinanderzusetzen.

# Eleonora Roldán Mendívil

# Titelbild: Banner der Escuelas Libres, einer klassenkämpferischen Jugendgruppierung, am 1. Mai 2019 in Lima, Eleonora Roldán Mendívil

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