Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region, sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Von der peruanischen Küstenstadt Trujillo, den Anden von La Libertad und der Regenwaldregion Perus hat sie bereits berichtet. Weiter geht es in der Hauptstadt Lima.
Lima ist keine besonders schöne Stadt. Über 10,5 Millionen Menschen leben und arbeiten in der gesamten Metropolenregion, welche die direkt angrenzende Hafenstadt Callao – wo sich auch der Flughafen befindet – mit einschließt. 1535 von spanischen Kolonisatoren gegründet, war die Region um den Rímac Fluss bereits vor der Kolonisierung ein dicht besiedeltes Gebiet. Lima wurde Hauptstadt des 1542 gründeten Vizekönigreichs Peru, welches zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung 1650 fast das ganze von den Spaniern beherrschte Südamerika umfasste. Im seit 1821 offiziell von Spanien unabhängigen Land ist die Hauptstadt bis heute der zentrale Dreh- und Angelpunkt von Politik und Wirtschaft.
In Lima sind die Unterschiede zwischen arm und reich brutal sichtbar: neben Luxus-Einkaufzentren mit europäischen und u.s.-amerikanischen Marken erstrecken sich an den Berghängen über Kilometer asentamientos humanos, Slums aus Holz, Blech und Pappe. An Abwasserkanälen oder fließendem Trinkwasser fehlt es genauso wie an grundlegender Infrastruktur, etwa Schulen und Krankenhäusern.
In den letzten Jahren hat sich die Lebensqualität nochmals drastisch für alle Bewohner*innen der Stadt verschlechtert: der Verkehr hat Ausmaße erreicht, dass Strecken, die vor 8 Jahren in noch 20 Minuten mit dem Auto zu bewältigen waren, nun bis zu zweieinhalb Stunden dauern können. Micros, Combis, unzählige Taxiunternehmen, private Taxifahrer und Moto-Taxen säumen neben den vielen privaten Autos die Straßen. Dazu kommen die von der Stadt eingesetzten corredores und der metropolitano, Linienbusse mit teilweise eigens eingerichteten Fahrstreifen. Die Metro in Lima ist überirdisch und besteht aktuell nur aus einer Linie. Städtische Busse und die Metro sind jedoch regelmäßig überfüllt, so dass man bis zu einer Stunde warten muss, um überhaupt einsteigen zu können.
Neben dem Verkehr ist das zentrale Thema in der Hauptstadt die Korruption. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein neuer Fall bekannt wird. Die letzten vier peruanischen Präsidenten sind wegen Menschenrechtsverletzungen und/oder Korruption in Haft (Alberto Fujimori, Ollanta Humala), auf der Flucht (Alejandro Tolendo) oder stehen unter Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (Pedro Pablo Kucynski). Mitte April nahm sich ein weiterer Expräsident, Alan García, welcher zuletzt 2006 bis 2011 das Land verscherbelte, das Leben, als Polizisten mit einem Haftbefehl sein Haus betraten. Ein vorheriger Asylantrag in Kolumbien, um der peruanischen Justiz zu entfliehen, war abgelehnt worden.
Viele Menschen glauben jedoch nicht, dass García tot ist. „Der Alte ist nicht tot. Der hat sich abgesetzt. Oder weswegen wurde seine Leiche nicht der Öffentlichkeit gezeigt? Der ist doch nicht dumm!“ kommentiert ein Taxifahrer das Ganze an einem Nachmittag in Lima. Immerhin wird hier auch hohen Politiker*innen – wie der ehemaligen sozialdemokratischen Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán – überhaupt ein Prozess gemacht. Die relative Unabhängigkeit der peruanischen Gerichte von der politischen Klasse spiegelt sich jedoch kaum in sozialen oder wirtschaftlichen Veränderungen wieder: trotz Einbuchtungsgefahr blüht die Korruption auf allen Ebenen der Verwaltung des Staates; von den Verkehrspolizist*innen auf der Straße bis zu den höchsten Politiker*innen des Landes sind einfach alle bestechbar.
Hausarbeit: Ausbeutung und sexualisierte Gewalt
„In Peru ist es nicht leicht, gewerkschaftlich aktiv zu werden“, weiß Leddy Mozombite, Vorsitzende der Federación Nacional de Trabajadoras y Trabajadores del Hogar Perú (FENTTRAHOP), des Nationalen Verbandes der Hausangestellten Perus. Ich treffe sie im Zwei-Raum-Büro der Gewerkschaft im Zentrum der Stadt. „Unsere Organisation besteht aus 11 regionalen Gewerkschaften. Zwei weitere regionale Gewerkschaften sind dabei, sich uns anzugliedern. Unsere Arbeit ist besonders prekär, da nur sehr wenige Hausangestellte sich selber als richtige Arbeiterinnen mit Rechten und Freiheiten zur gewerkschaftlichen Organisierung verstehen. In unserem Sektor herrscht viel Informalität und Kinderarbeit. Dem versuchen wir durch die Organisierung von Hausangestellten, sowie durch Lobbyarbeit in der Politik entgegenzutreten“.
Ich erfahre, dass der peruanische Staat das 2013 durch die Internationale Arbeitsorganisation ILO formulierte Abkommen Nr. 189 zum minimalen Schutz der Arbeitsrechte von Hausangestellten erst letztes Jahr ratifiziert hat. Laut der Schweizer Informationsplattform Human Rights arbeiten weltweit über 50 Millionen Menschen als Hausangestellte in privaten Haushalten, wovon 83 Prozent Frauen sind. In Peru ist die Zahl schwer zu schätzen. Jeder untere Mittelschichtshaushalt leistet sich mindestens ein bis zwei Mal die Woche eine Haushaltshilfe. Wohnungen und Häuser in kleinbürgerlichen und bürgerlichen Stadtteilen haben immer auch ein „Dienstmädchenzimmer“, meist an der Küche angedockt. „Sehr viele junge Mädchen werden sechs- oder siebenjährig in Haushalten aufgenommen. Dies geschieht oft, um der Armut der Eltern zu entfliehen. Einige Eltern hoffen, dass ihre Töchter so zumindest ordentlich essen und vielleicht die Familie ökonomisch unterstützen können“, so Leddy. Die Aufgaben von Arbeiter*innen in Haushalten ist vielfältig: von Putzarbeiten über Aufräumen, Wäsche waschen, Kochen oder die Beaufsichtigung und Erziehung von Kindern und der Pflege von Großeltern und Familienmitgliedern mit Behinderungen wird ein breites Reproduktionsfeld bedient.
Dabei sind private Haushalte für Übergriffe und Missbrauch prädestiniert, so Leddy: „Diese jungen Mädchen werden oft aus Provinzen nach Lima geholt zum Beispiel und kennen hier außer der Familie, wo sie arbeiten, niemanden. Oft sind sie wie gefangen in den Häusern und kennen weder ihre Rechte, noch wissen sie, an wen sie sich im Fall eines Rechtsbruchs wenden könnten. Alle meine Schwestern und Genossinnen haben eine Reihe schrecklicher Geschichten zu erzählen. Als ich selber 12 Jahre alt war, habe ich bei der Familie eines Militärs in der Regenwaldregion gearbeitet. Dort hatte ich eine Freundin, die genauso alt war und mit mir dort arbeitete. Die Ehefrau des Militärs war schwanger und wir wurden zur Unterstützung der Ehefrau eingestellt. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon jahrelang gearbeitet. Hochschwanger rief uns eines Tages die Ehefrau zu sich und erklärte uns, dass ihr Mann mit einer von uns schlafen wollte, und dass er sich eine aussuchen würde. Wir waren wie versteinert und trauten unseren Ohren nicht. Der Militär kam rein und schnappte sich meine Freundin. Sie schrie und trat. Vor Angst sprang ich aus dem Fenster und schnitt mir dabei die Füße auf. Mit offenen Wunden lief ich bis nach hause. Von diesem Mädchen habe ich nie wieder etwas erfahren“, erzählt mir Leddy.
Und diese Geschichten sind keine Einzelfälle. Von jahrelangem sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen bis zu Sklavenarbeit, 16-Stunden Schichten und Zurückhaltung von mehrmonatigen Lohnzahlungen passiert im Sektor der bezahlten Reproduktionsarbeit in privaten Haushalten alles. „Deswegen haben wir uns angefangen vor vielen Jahren zu organisieren und fordern weiterhin für alle Arbeiterinnen und Arbeiter in privaten Haushalten volle Urlaubsrechte, Rentenversicherungen, ein 8-Stunden-Arbeitstag, Vereinigungsfreiheit, Schutz von Minderjährigen, Zugang zur Justiz, Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz sowie schriftliche Verträge“. Bis dato haben jedoch nur eine kleine Minderheit von Hausangestellten in Peru Zugang zu diesen Rechten.
Kunst und Kampf
An einem anderen Tag treffen wir Karla in einem feministischem Kunstatelier im Bezirk Lince. Sie ist 16 Jahre alt und hat die Gruppe Secundaria Combativa vor einem Jahr mitgegründet: „Ich bin an einer reinen Mädchenschule. Viele meiner Mitschülerinnen sind Töchter von Straßenveräuferinnen; einige arbeiten selber nach der Schule und helfen ihren Eltern. Wir haben uns als Antwort auf die Entlassungsandrohungen der öffentlichen Reinigungsarbeiterinnen der Gewerkschaft SITOBUR gegründet. Damals ist ein Bild, das ich gezeichnet und auf Facebook hochgeladen habe, sehr populär geworden. Dort war eine Schülerin in Uniform Hand in Hand mit einer Reinigungsarbeiterin abgebildet“.
Der Kampf der Öffentlichen Reinigungsarbeiter*innen von Lima wurde über viele Wochen Mitte bis Ende letzten Jahres hart geführt. Die Entlassung von hunderten, meist weiblichen, Arbeiter*innen konnte jedoch nicht verhindert werden. Was blieb war die Kampferfahrung der Frauen und Mädchen. „Viele von uns machten ihre ersten Erfahrungen auf den Demos gegen die Begnadigung von Fujimori und später auch bei der Verteidigung der Arbeitsplätze der Reinigungsarbeiterinnen“, erzählt mir Karla. Als dann vor wenigen Monaten neue Maßnahmen zur sogenannten Regulierung des Straßenverkaufs von der Stadtverwaltung ergriffen wurden, organisierten sich die Schülerinnen gezielter. „In den letzten Monaten haben wir selbstorganisierte Workshops am Nachmittag an unserer Schule angeboten. Vor allem Zeichnen und Malen waren da auf dem Programm. Über diese Kunstworkshops konnten wir mehr Zugang zu auch jüngeren Mädchen erhalten und haben angefangen, über ihre Lebenssituation und ihre Probleme zu sprechen. Die Kunst war da ein wichtiger und niedrigschwelliger Einstieg, um erst mal in einem Raum ohne Lehrkräfte zusammen zu kommen“.
Karla ist sehr klar in ihrer politischen Perspektive. Sie selber hat sich vor zwei Jahren während der Proteste der Auszubildenden gegen das von den Protestierenden als „Sklavengesetz für die Jugend“ gebrandmarkte Gesetz politisiert, welches jahrelange Umsonstarbeit in Betrieben für Auszubildende vorsah, um Peru auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger zu machen. Sie ist zuerst alleine zu den Demos gegangen und später dann auch mit anderen Mitschülerinnen. Oft in Schuluniform. „Das war eine gute Politisierungserfahrung. Und darüber haben wir auch andere Themen kennengelernt“ so Karla. Nun kämpft die Secundaria Combativa gegen die Repression gegen die Straßenverkäufer*innen in der Hauptstadt, bei welcher das Ordnungsamt und die Polizei brutal vorgeht. Die politisch Verantwortliche für die Durchführung dieser Maßnahmen ist Susel Paredes. Die offen lesbische Rechtsanwältin und Politikerin des sozialdemokratisch-liberalen Partido Descentralista Fuerza Social, der Dezentralen Partei Soziale Stärke war 2010 Teil der Villarán, Ex-Bürgermeisterin von Lima, unterstzützenden politischen Kräfte. Bis 2014 war sie Leiterin des Prüf- und Kontrollamtes in der Metropolregion Lima und seit 2019 ist sie für die serenazgos, das Ordnungsamt für den Bezirk La Victoria im Zentrum der Stadt zuständig. Karla erzählt von den enormen Problemen, denen nun viele Eltern ihrer Mitschülerinnen, sowie ihre Mitschülerinnen selber ausgesetzt sind: „Ihnen werden nicht nur ihre Waren weggenommen, oft werden sie auch noch eingebuchtet und bekommen Strafgebühren. Bei diesen Razzien gibt es regelmäßig Verletzte. Viele davon sind noch Kinder“.
„Die Liberalen stehen nicht auf unserer Seite“
Paredes gilt als Musterbeispiel der LGBTQI-Gemeinschaft in Lima. Als queer-feministische Aktivistin bekannt geworden, werden die Gräben zwischen einem liberal-feministsichem und einem klassenkämpferisch-feministischen Lager immer deutlicher. „Wenn Feministinnen uns mit ‚Schwesternschaft‘ ankommen und meinen, wir sollten Paredes unterstützen, weil sie eine Frau ist, fragen wir: Für welche Frauen macht sie Politik? Interessieren sie arme Frauen? Interessieren sie unsere Mütter? Interessieren sie meine lesbischen Mitschülerinnen, die nach der Schule Kaugummis verkaufen? Dies ist keine Frage des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung! Hier geht es um Klasse. Und Paredes und die ganzen anderen Liberalen stehen nicht auf unserer Seite“.
Das politische Panorama in Lima ist sehr breit. Von bürokratischen Gewerkschaftsführungen und liberal-feministischen Nichtregierungsorganisationen erstreckt es sich über kleinere maoistische Gruppierungen und Parteien, die meisten von ihnen, wie Patria Roja, seit Jahrzehnten in reformistische und kapitalaffiermierenden Politiken involviert, bis hin zu radikalen Feministinnen, die sich oft als Abolitionistinnen, also Sexarbeit-Gegenerinnen profilieren.
Eine große feministische Bewegung wie die marea verde, die grüne Welle, wie sie etwa in Chile und Argentinien tausende Frauen verschiedenster Generationen für ein Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung 2017 und 2018 auf die Straße mobilisierte, existiert so in Peru nicht. Einige klassenkämpferische Feministinnen haben sich vor wenigen Monaten zur Coordinadora Popular 8M zusammengeschlossen. Das als Plattform gedachte Plenum versucht aktuell verschiedene anarchistische und kommunistische Perspektiven eines klassenkämpferischen Feminismus koordiniert zusammen zu bringen, um gemeinsame Kampagnen gegen liberale Feministinnen zu planen und im Spektrum eines anti-patriarchalen Kampfes geschlossener aufzutreten. „Wir sind noch ganz am Anfang unserer Organsierung“, erklärt mir eine Genossin aus der coordinadora, welche Frauen verschiedener Gruppierungen umfasst. „Aktuell stellen wir eine Leseliste zusammen. Wir wollen uns mit den Grundlagen patriarchaler Strukturen im Kapitalismus auseinandersetzen. Hierzu werden wir Engels und Kollontai lesen“. Ich treffe die Genossinnen im Flur eines Gewerkschaftshauses im Stadtzentrum, wo sie sich in einem kleinem Stuhlkreis zusammen gefunden haben. Verschiedene Referentinnen sollen Texte vorbereiten und vorstellen. Gleichzeitig wird über aktuelle Fragen und gewerkschaftliche Mobilisierungen in Lima, und möglichen Interventionen, diskutiert. „Die liberalen Feministinnen beschimpfen uns als Verräterinnen. Sie sagen wir werden von Männern vorgeschickt und arbeiten gegen den Frauenzusammenhalt. Klar tun wir das! Denn eine Kapitalistin und eine Frau, die das Kapital schützt und verteidigt, hat nichts mit uns und unseren Kampf für die Befreiung der Menschheit zu tun“.
Wir wollen ins Museum, um uns, neben den aktuellen Kämpfen, auch mit der Geschichtspolitik des Landes auseinanderzusetzen.
# Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: Banner der Escuelas Libres, einer klassenkämpferischen Jugendgruppierung, am 1. Mai 2019 in Lima, Eleonora Roldán Mendívil