Unsere Autorin Eleonora Roldán Mendívil ist in Südamerika unterwegs, beobachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und spricht mit Menschen im Alltag über die ökonomischen und sozialen Probleme der Region, sowie über ihre verschiedenen Formen, Widerstand zu leisten. In den kommenden Wochen berichtet sie regelmäßig im Lower Class Magazine über ihre Eindrücke. Von der peruanischen Küstenstadt Trujillo und den Anden von La Libertad, hat sie bereits berichtet. Weiter geht es in der Regenwaldregion.
Am späten Abend erreichen wir Tocache. Da wir aus den Anden kommen haben wir Winterklamotten an. Draußen ist es schwül. Kaum angekommen steigen wir in ein weiteres Auto. Zwanzig Minuten fahren wir im Dunkeln bis wir ankommen. Vielleicht ein Dutzend Läden säumen links und rechts die Straße. Das ist Nuevo Bambamarca. Der Ort am Rande der Hauptstraße von Tocache auf dem Weg zur nächstgrößeren Stadt Tarapoto in der nördlichen Provinz San Martín ist als Arbeiterniederlassung in den 1950er Jahren entstanden. Durch die Einführung der Ölpalme in der Region entstanden hier Arbeiterquartiere. Als die meist aus den Anden kommenden Arbeiter ihre Familien nachholten wuchs der Ort. Als die staatliche Palmölfirma pleite machte erhielten die Arbeiter*innen der Plantagen und Fabriken als Kompensation Teile der Plantagengrundstücke; teilweise waren bereits Häuser drauf gebaut. Heute leben in den Häusern Mitglieder einer Palmöl-Kooperative, welche in kleinerem Maßstab versucht, möglichst umweltfreundlich Palmöl zu gewinnen um diesen dann als Bratöl, aber auch in vor Ort gefertigten Kosmetikprodukten zu veräußern. Im Amazonasgebiet ist es das peruanische Großunternehmen Grupo Romero, welches das meiste Land mit der „Palma Africana“ bewirtschaftet. Allein zwischen 2005 und 2011 hat das Unternehmen Tausende Hektar Tieflandregenwald in drei riesige Palmölplantagen im Nordosten Perus umgewandelt. In den Gärten der Häuser der Kooperative-Mitglieder wachsen verschiedenste Sorten von Mandarinen, Orangen und Zitronen. Überall wächst auch Kokos. Aguita de Coco ist in der ganzen Regenwaldregion ein beliebtes Erfrischungsgetränk, welches direkt aus der Kokosnuss getrunken wird. Im Westen wird Kokoswasser mittlerweile als teures Vergnügen in allen Hipster-Cafés verkauft. Hier trinken es die Kinder auf der Straße, denn die Kokosbäume wachsen an allen Straßenrändern wild in die Höhe.
Wir duschen mehrmals am Tag. Wasser gibt es hier in Unmengen. Warmes Wasser gibt es jedoch nicht. Das Wasser aus der Leitung kommt durch die Erhitzung den Tag über trotzdem warm aus der Leitung. Auch unser Insektenspray müssen wir mehrmals täglich anwenden. Im Berliner Tropeninstitut wird die Region ab Tocache bereits als Malaria- und Gelbfieberregion gekennzeichnet. Vor Ort erfahren wir jedoch, dass es seit Jahren keine Epidemien gab und Neuerkrankungen sehr selten sind. Aber so oder so haben wir keine Lust auf Mückenstiche von den fiesen Moskitos hier.
Wir fahren weiter nach Tarapoto. Die Fahrt dauert sechs Stunden und auch wenn es nicht wesentlich in der Höhe ansteigt, kämpfe ich mit Übelkeit. Die Kurven haben es in sich. Dabei ist der Großteil der Straße asphaltiert und daher hüpfen wir immerhin selten auf und ab.
Tarapoto zählt über 100.000 Einwohner*innen und bildet das wirtschaftliche Zentrum der Provinz San Martín. Das Stadtbild ist, wie im ganzen Regenwaldgebiet, von lauten und stinkenden Motorrädern und Moto-Taxen geprägt, eine Art motorisierte Rikscha. Sich mal entspannt am Straßenrand zu unterhalten ist somit in der gesamten Stadt kaum möglich. Tarapoto lebt vom Export der lokalen Produkte – Kaffee, Kakao, Palmöl, Kokosnüsse, Bananen und andere Früchte – sowie vom Tourismus. Jeder kleinste Wasserfall und jeder Thermalwasserstrahl werden seit Jahren zu Tourist*innenattraktionen ausgebaut. Dabei leben selbst noch in der Stadt die meisten Menschen ohne Zugang zu ganztägig fließendem Wasser. Trinken kann man das Wasser, wie überall aus den Leitungen in Peru, jedoch nur abgekocht. Es schmeckt jedoch auch nach dem Abkochen nach Chlor.
Wir bleiben eine knappe Woche in Tarapoto. Ein Onkel von mir lebt hier mit seiner Familie. Wie viele Andenbewohner*innen ist er in den 1980er Jahren zum Arbeiten her gekommen. „Leicht war es nicht“ erzählt mir mein Onkel. Er hat auf Plantagen, aber auch auf dem Bau gearbeitet. Die Regenwaldregion um Tocache war ab den 1970er Jahren eine fast gesetzloser Raum, geprägt durch die Drogenhändler*innen, die im großen Maßstab Geschäfte machten. Dies machte das Leben nicht leichter. Die in der Region und in den nahe gelegenen Anden angebauten Kokablätter wurden noch vor Ort prozessiert und zu fester Kokainmasse verarbeitet. Auf eigens gerodeten Flächen landeten konstant Kleinflugzeuge und schufen das weiße Gold auf die Märkte der kapitalistischen Zentren. „Heute wird das Kokain anders aus dem Land geschaffen. So offen wie damals geht es nicht mehr zu“ erklärt er mir. Die Kokablätter sind seit über tausend Jahren ein wichtiger Begleiter der andinen Kultur. In Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und im Norden von Argentinien und Chile ist das Kokablatt ein wichtiger Teil im kulturellen und sozialen Leben und ist keine abhängig machende Droge. Durch das Kauen werden wichtige Vitamine und Mineralstoffe freigesetzt. 100 Gramm gekaute Kokablätter decken den Tagesbedarf an Kalzium, Eisen, Phosphor und den Vitaminen A, B6, B 12, C und E ab. Die Kokablätter vermindern das Kälte- und Hungergefühl und sie helfen auch die Höhe besser zu vertragen. Deswegen wird Gästen in den Anden häufig matesito de coca, Koka-Tee angeboten. Die meiste Kokablatt-Produktion bleibt jedoch nicht auf dem heimischen Markt als harmloser Tee oder in den Mündern der Lokalbevölkerung. Tatsächlich zahlen Abnehmer für die Kokainproduktion weit mehr.
Eines nachts werden wir von lauten Geräuschen wach. Es ist, als ob die Eisentür konstant auf und zu knallt. Als ich wirklich wach werde schüttelt die Erde unser Zimmer von links nach rechts. Ein Erdbeben. Ich packe schnell die beiden Genossen, mit denen ich reise, und wir machen uns auf den direkten Weg nach draußen. Es fällt schwer, zu gehen, da einfach alles wackelt. Es fühlt sich an wie in einem Schiff auf hoher See. Wir sind eine der ersten auf der Straße. In kurzer Zeit kommen alle Nachbar*innen nach. Wir entfernen uns von den Gebäuden, da diese einstürzen können. Kurz darauf finden wir über unsere Handys heraus, dass es sich um ein Erdbeben der Stärke 8,0 auf der Richterskala gehandelt hat. Das Epizentrum soll im Nationalpark Pacaya Samiria einige Stunden nördlich von Tarapoto gewesen sein. Sofort ruft die ganze Familie aus ganz Peru an. Selbst in Lima hat die Erde gebebt und hat die Menschen aus dem Schlaf gerissen. Knapp drei Minuten. Wir kommen jedoch mit dem Schrecken davon. Keine Person im Umfeld ist verletzt. Auch keine Nachbar*innen. Materielle Schäden – außer ein paar Risse an den Wänden – gibt es nicht. Wir haben Strom.
Wir wachen am nächsten Morgen trotzdem etwas erschrocken auf. Auf dem Weg zu einem Wasserfall sehen wir die Schäden an den asphaltierten Straßen. Teilweise sind ganze Straßenteile einfach aufgebrochen und formen eine Art Stufe, die es Lastwagen fast verunmöglicht diese zu befahren. Zwischendurch steigen wir aus und helfen anderen Autofahrern (es sind tatsächlich nur Männer), größere Äste von der Straße zu räumen. „Wenn wir warten bis die Stadtverwaltung etwas macht, werden wir hier verfaulen“ kommentiert dies ein älterer Mann mit Machete in der Hand.
Von Tarapoto geht es weiter ca. drei Autostunden hoch zur Hafenstadt Yurimaguas. Hier suchen wir ein rapidito, ein Schnellboot nach Lagunas. Yurimaguas liegt am Fluss Huallaga. Bis nach Lagunas sind es ca. fünf Stunden. Um 2 Uhr morgens kommen wir verschlafen in dem 9.000 Seelen-Ort an. Es gibt keinen Steg, sondern nur Erde und Schlamm. Wir sehen keine Lichter. Nach einer kurzen Nacht werden wir von einem unserer Reiseführer zum Pacaya Samiria Nationalpark abgeholt. Unsere großen Reiserucksäcke bleiben in Lagunas. In den Nationalpark kommt man nur in Kanus rein, daher reisen wir nur mit dem nötigsten Gepäck. Auf einem umgebauten Motorrad-Mini-Lastwagen werden wir 45 Minuten zum Eingang des Pacaya Samiria am Tibilio Fluss gefahren. Auf dem Weg sehe ich den ersten kleinen Affen in freier Wildbahn.
Das Pacaya Samiria befindet sich in der Provinz Loreto und erstreckt sich über 2 080 000 Hektar. Durch seine Ausdehnung ist es das größte Naturschutzgebiet im Land, das zweitgrößte in der gesamten Amazonasregion, das viertgrößte in Südamerika. Der Umstieg von Land- auf Wasserwegen ist ungewohnt, das Wasser schwappt Zentimeter unter der Kanukante. Wir rudern alle mit. In den nächsten drei Tagen betreten wir dort wo es niedrig ist nur den Grund des Flusses und die Böden der Holzhäuser auf Stelzen in denen wir schlafen. Es ist Regenzeit und dieser Teil des Nationalparks ist komplett überschwemmt. Wir sehen eine Reihe von Äffchen und Vögel wie Papageie, Tukane und Regenwald-Spechte, sowie Kleinkrokodile und sogar ein Faultier. Unsere Reiseführer begleiten uns rund um die Uhr. Sie rudern und kümmern sich um das Essen sowie um den Abwasch. Wir helfen mit und laden sie ein, gemeinsam zu essen. Dies ist hier ungewohnt. Die Mehrheit der Touristen sind Weiße aus dem Ausland. Unsere Reisegruppe – bestehend aus einem Genossen und zwei Genossinnen aus Lima, einem weißen Genossen aus Deutschland und mir – fällt da aus der Reihe. „Die meisten Peruaner interessieren sich nicht so für die Natur. Die, die es sich leisten können, kommen trotzdem nicht her sondern fliegen lieber in die USA oder nach Europa“ erklärt uns einer der Reiseführer. Drei Männer, ein jüngerer Anfang dreißig und zwei Ältere über fünfzig erzählen uns von ihrem Alltag und ihren Erfahrungen im Pacaya Samiria. „Auf dem Bau machen wir viel mehr Geld“ erklärt uns einer der älteren, „dort hat die Gewerkschaft viele Mindeststandards erreicht. Da verdient man jetzt richtig gut. Aber wir haben auch hart dafür gekämpft – bei den Straßenschlachten hat es sogar einen Toten gegeben“. „In der Tourismusbranche verdienen die Mittelmänner der Reiseagenturen am meisten am Geschäft. Sie akquirieren die Touristen und bringen sie hier her nach Lagunas. Wir Reiseführer machen die ganze Arbeit, verdienen aber nichts“ so der andere Reiseführer. Der Mindestlohn beträgt 930 Nuevos Soles Peruanos, umgerechnet knapp 250 Euro im Land. „Wir verdienen pro Touristen am Tag 50 Soles. Bei zwei Touristen sind es 60“. Umgerechnet 13 bis 16 Euro. Selbst für die prekären peruanischen Verhältnisse ist dies ein Hungerlohn, denn die Reiseführer arbeiten nur, wenn es Tourist*innen gibt. Zudem müssen sie alles an Material selbst stellen und im Falle von Verlusten oder Schäden kommen die Agenturen für nichts auf. „Wie sollen wir da die Schulmaterialien für die Kinder bezahlen? Das ist unmöglich“. Aber ohne die Arbeitskraft der Reiseführer*innen liefe hier gar nichts. Wir diskutieren am zweiten Abend hierzu intensiv. Eine Möglichkeit ist es, eine Art Kooperative von unabhängigen Reiseführern zu gründen. Kampferfahrungen wie die aus der Baugewerkschaft sind den Reiseführern dabei eine wichtige Hilfe. Auch unsere Anregungen aus eigenen Kampferfahrungen und unsere Empörung über die Verhältnisse scheinen den Arbeitern einen Impuls gegeben zu haben. „Natürlich brauchen wir die Unterstützung aus anderen Sektoren. Denn keiner kann hier vom Tourismus leben. Wir machen das auch nur wenn es gerade auf dem Bau keine Aufträge gibt“.
Zurück in Lagunas machen wir uns auf den Weg nach Nauta. Dieses Mal verbringen wir neun Stunden auf dem Boot. Von Nauta geht es direkt nach Iquitos. Jetzt reisen wir wieder auf dem Landweg, auf einer neu gebauten Straße. In weniger als zwei Stunden kommen wir in der Regionalhauptstadt mitten im Amazonas an. Mit über 400.000 Einwohner*innen ist Iquitos die größte Stadt im tropischen Regenwald Perus. Hier fließen der Amazonas, der Ucayali und der Marañon zusammen. Wir dachten wir hätten uns an das schwüle, tropische Klima gewöhnt. In Iquitos wird nochmal eins drauf gesetzt. Innerhalb weniger Sekunden nach einer kalten Dusche ist man wieder voll geschwitzt. Wir fahren mit dem Moto-Taxi eines Onkels durch die Stadt. Bei einem kurzen Halt fällt uns etwas am Straßenrand auf: eine Boa ist mit ihrer erdrosselten Beute (es hat einen kleinen grünen Papagei erwischt) neben den Gehweg gefallen. Langsam bildet sich eine Menschentraube. Dann fällt ein Stein. Wir versuchen die Menschen daran zu hindern, dem Tier zu schaden und fragen ob es irgendeine Stelle gibt, die man rufen kann. Denn so eine Boa ist auch für die Stadtbewohner*innen in Iquitos weder alltäglich noch ungefährlich. „Sie können die Polizei rufen. Die kommen und nehmen sie mit“. Wir zögern. Warum sollten die Bullen bei so etwas zur Stelle sein und zum Beispiel bei keinem einzigen Fall von sexualisierter Gewalt tätig werden? Zwei Männer versuchen daraufhin, die Boa mit Hilfe eines Sackes und eines Astes einzufangen. Das Tier bauscht sich auf, zischt und springt die Umstehenden an. Es hat Angst. Zu Recht. „Sie werden sie einfangen und sie an irgendeinen Gringo verkaufen“ erklärt mir der Mann neben mir. „Die Weißen kaufen immer tropische Tiere. Keine Ahnung was sie damit machen“.
Auf dem Markt von Nanay werden tropische Leckereien angeboten: gegrillte Leguane, Krokodile oder auch gekochte Riesenschildkröteneier. Besonders beliebt bei der lokalen Bevölkerung ist das suri, am Spieß gegrillte Maden, die in der Rinde des Aguaje-Baumes leben. Neben uns kaut eine junge Frau genüßlich an den knackig-gelben Insekten. Wir sehen vor allem Touristen auf diesem Markt. Einige der hier preisgebotenen Tiere sind tatsächlich vom Aussterben bedroht. Wir essen nichts tierisches und spazieren mit der Abenddämmerung am Steg entlang, wo diese drei riesigen Flüsse des Regenwaldes organisch zusammenlaufen. Am nächsten Tag geht es früh morgens mit dem Flugzeug nach Lima.
# Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: Blick auf die Zusammenführung der drei Flüsse Amazonas, Ucayali und Marañon, Eleonora Roldán Mendívil