Die Bilder von im Pool des sri lankischen Präsidenten Gotabaya Rajapaksa badenden Demonstrant:innen gingen am 9. Juli um die Welt, sein Rücktritt folgte auf dem Fuß. Mittlerweile wurde er durch Ranil Wickremesinghe ersetzt. Wie konnte die singhalesische Bevölkerung Sri Lankas in so kurzer Zeit eine so enorme Kraft aufbauen, um den Präsidenten, einen ehemaligen Militär im Bürgerkrieg gegen die tamilische Bevölkerung, aus dem Amt zu jagen? Und warum hat sich die tamilische Bewegung nicht an den Protesten beteiligt, obwohl sie doch das größte Interesse haben müsste, Rajapaksa und seine Getreuen abzusetzen?
Ranil Wickremesinghe von der United National Party (UNP) war am 21. Juli nur ein paar Stunden als Präsidenten Sri Lankas im Amt, als er und seine Regierung massive Gewalt und Repression einsetzten, um die seit Monaten andauernden Proteste gegen die Regierung niederzuschlagen. Kaum vom Parlament als Nachfolger des 2019 an die Macht gekommenen Gotabaya Rajapaksa von der Sri-Lanka-Volksfront (SLPP) ernannt, ließ der neue Präsident das seit Anfang April zentrale Protestcamp räumen. Seitdem werden Demonstrationen verboten und verhindert, dutzende Aktivist*innen wurden wegen angeblicher militanter Protestaktionen oder dem Aufruf dazu verhaftet. Die Angst des neuen Präsidenten ist gerechtfertigt: Rajapaksa Rücktritt war vorläufiges Ergebnis der immer wütender werdenen Proteste, die vor allem durch die seit Jahrzehnten stärkste Wirtschaftskrise auf der südostasiatischen Insel ausgelöst wurden.
Gründe für die Krise
Sri Lanka mit seinen 22 Millionen Einwohner*innen lebt vor allem von Landwirtschaft, Tee-Export und Tourismus. Letzterer hat durch die Corona-Pandemie starke Einbußen erfahren, was für viele Beschäftigte in diesem Sektor spürbare Folgen hatte. Dazu kam die Fehlentscheidung der Regierung, im Mai 2021 den Import chemischer Düngemittel und Pestizide zu untersagen. Das erklärte Ziel war eine die Umstellung der sri-lankischen Wirtschaft auf ökologischen Anbau. Sie war ein Wahlversprechen von 2019, das in Windeseile umgesetzt werden sollte, die Landwirtschaft aber komplett überforderte. Zudem fehlte es an einheimisch produziertem organischem Dünger. Der Ernteertrag existenziell wichtiger Produkte wie Reis und Tee, der allein zehn Prozent der sri-lankischen Exporte ausmacht, brach um bis zu 40 Prozent ein. Große landwirtschaftliche Flächen blieben unbestellt. Das Gesetz musste schließlich Mitte Oktober 2021 zurückgenommen werden. Doch die Angst vor Hungersnöten war bereits da. Zu der ab Beginn 2022 enorm steigende Inflation und damit immer prekärern Situation kommt die massive Korruption und Misswirtschaft der herrschenden Regierungselite, die die Intensität der Proteste weiter befeuerte.
Erste Proteste gegen Knappheit und Inflation ab Ende März
Die Wirtschaftskrise blieb nicht ohne Folgen. Es kam zu Benzinknappheit und immer längeren Stromausfällen. Als am 31. März der Strom ganze 13 Stunden abgestellt wurde, fanden erste Demonstrationen vor dem Haus des Präsidenten statt. Am Tag darauf rief Gotabaya Rajapaksa den Notstand aus, immerhin trat zwei Tage später das Kabinett zurück, doch das konnte die unzufriedenen Massen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr befrieden. Am 9. April demonstrierten Tausende beim Galle Face, einem etwa 500 Meter langen Grünstreifen mit Strandpromenade inmitten des Finanz- und Geschäftszentrums von Colombo.
An diesem Tag wurde mit dem Errichten des dauerhaften Protestcamps begonnen. Ab hier wurd von vielen der Ruf nach dem Rücktritt sowohl des Präsidenten Gotabaya, als auch seines Bruders Mahinda laut, der das Amt des Premierministers bekleidete. Das Aktionscamp wurde zu einem Zeltdorf, wo sich viele der Protestierenden niederließen, um sich zu vernetzen und neue Proteste zu planen. Das Dorf gibt sich selbst den Namen „Gota Go Gama“, sinngemäß übersetzt bedeutet es schlicht „Gota hau ab“. Laut Berichten glich der Platz einem hiesigen großen Aktionscamp. Es gab ein Medienzentrum, ein Gotagogama-College, ein Rechtshilfe-Zelt, einen Gleichberechtigungsschutzraum, das Tränengaskino, die Gotagogama-Kunstgalerie und eine Bibliothek. Kurz darauf musste sich der Staat für zahlungsunfähig erklären.
Gezielte Provokation gegen die Protestbewegung
Am 9. Mai, genau einen Monat nach Beginn der Proteste, beorderte Premierminister Mahinda Rajapaksa Dutzende SLPP-Parteimitglieder in seine Residenz unweit des Protestdorfes. Mit Stöcken bewaffnet versuchten sie, das Zeltdorf zu zerstören und für Unruhen zu sorgen. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen, brennenden Bussen; etwa 70 Häuser von Parlamentariern der Regierungspartei wurden niedergebrannt, ein Parlamentarier wurde gelyncht. Am Abend trat Premierminister Rajapaksa zurück, denn es war nicht zu leugnen, dass es sich um eine gezielte Provokation gehandelt hatte. Als Nachfolger setzte Präsident Gotabaya Rajapaksa wenige Tage später Ranil Wickremesinghe ein.
Großdemonstration und Rücktritt Rajapaksas
Der nächste Schritt der Protestbewegung war die Großdemonstration am 9. Juli in Colombo, an der Hunderttausende teilnahmen. Entgegen der Erwartung kam es zu keinen schweren Ausschreitungen. Die Residenz des Präsidenten wurde eingenommen, die Bilder von im Pool schwimmenden Demonstrant:innen gingen um die Welt. Gotabaya Rajapksa hielt sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Schiff der Marine auf, am Abend des gleichen Tages gab er bekannt, dass er vier Tage darauf zurücktreten werde.
Unklar ist bisher, wer am Abend nach der Grossdemonstration am 9. Juli die private Residenz des damaligen Premierministers und nun amtierenden Präsidenten Ranil Wickremesinghe angezündet hatte. Sowohl eine Aktion von Teilnehmern der Proteste, als auch eine Provokation von Regierungsseite kommt für viele Protestierende in Frage.
Soziale Forderungen der Protestbewegung
Über die Forderungen der Bewegung nach Rücktritt von Rajapaksa und Wickremesinghe hinaus wurde bisher wenig bekannt. Im Zeltdorf wurde nach dem 9. Juli ein 6-Punkte-Plan erarbeitet, der die Grundlage für einen politischen Wandel einleiten sollte.
Gefordert werden darin als wirtschaftliche Sofortmaßnahmen unter anderem Beendigung der Korruption, ein Programm zur Bereitstellung und Verteilung von lebensnotwendigen Gütern wie Lebensmitteln, Treibstoff und Gas sowie zur Sicherung der Arbeit, der Einrichtungen für Bildung, Gesundheit, öffentlichen Verkehr und Energie. Mikrofinanzierungen und Schulden der Landwirte sollen gestrichen werden. Gefordert werden auch mehr Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung wie die Beteiligung an der Ausarbeitung und Änderung von Gesetzen und das Ende der Exekutivpräsidentschaft. Der Plan enthält auch zahlreiche gesellschaftspolitische Forderungen wie die Bestätigung des Rechts der Bevölkerung auf Bildung und Gesundheit. Beseitigt werden sollen auch die in der derzeitigen Verfassung enthaltenen Einschränkungen der Menschenrechte und der Rechte von Frauen und Kindern und Stärkung dieser Rechte, heißt es in dem Forderungskatalog.
Ein weiterer Punkt ist die Beendigung von Rassismus und die Herstellung von Gleichheit von Religion, Sprache, Sexualität und anderer kultureller Identitäten sowie die Sicherung von Demokratie und politischer Freiheit. Politische Gefangene sollen freigelassen werden. Inkludiert ist auch ein Programm, das allen Familien der Opfer von außergerichtlichen Tötungen und des Verschwindenlassens Gerechtigkeit verschaffen soll.
Position der tamilischen Freiheitsbewegung
Erstaunlich wenig Präsenz in den Forderungen der Proteste haben die Folgen des Bürgerkrieges im Norden des Landes. Der riesige Militäretat Sri Lankas, der seit den 80er Jahren im Bürgerkrieg gegen die sozialistische LTTE (Liberation Tiger of Tamil Eelam) verbraucht wurde, frisst noch immer ernome Löcher in den Staatshaushalt. Die LTTE wollte im Norden und Osten der Insel in den von der tamilischen Bevölkerung bewohnten Gebieten einen eigenen Staat errichten und hatte dies vor dem Genozid 2009 de-Facto auch umgesetzt. Heute werden die Regionen durch den riesigen Militärapparat besetzt gehalten. Auf eine Zivilperson kommen im Schnitt vier Soldaten.
Genausowenig präsent sind die Rechte der tamilischen Bevölkerung im bereits genannten 6-Punkte-Plan.Die tamilische Bevölkerung hat einen Bevölkerungsanteil von 12 Prozent, die der tamilischsprachigen Muslime mit 10 Prozent. Die Unsichtbarkeit tamilischer Belange kritisiert Gajendrakumar Ponnambalam stellvertretend für die linke tamilische Freiheitsbewegung in einem Telefoninternview. Der 42-jährige ist der Abgeordneter des sri-lankischen Parlaments und Präsident der Tamil National Peoples Front (TNPF), einer Koalition aus politischer Partei und zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Intellektuellen.
Grundsätzlich teilt er die Kritik der Protestbewegung: „Sri Lanka ist aktuell Failed State.Das derzeitige Parlament ist in meinen Augen eine vollkommen diskreditierte Institution. Es repräsentiert in keiner Weise den Willen den Bevölkerung. Die Bevölkerung wurde hinters Licht geführt und fühlt sich zu Recht betrogen. Der neue Präsident ist der am wenigsten von den Wählerinnen und Wählern gewollte, aber er wird einfach so ernannt. Seine Regierung kann nicht einen Tag ohne die Rajapaksas existieren. Die Verfassung Sri Lankas erlaubt es nicht, einen Präsidenten abzuwählen, der einzige Weg ihn vor Ende der Amtszeit abzusetzen, ist der Protest auf der Straße. Und genau das ist jetzt passiert. Nur hat das Parlament sich entschieden, dies zu ignorieren. In meinen Augen ist es die am meisten destabilisierende Institution des Landes. Die Tamilen wissen das bereits seit langer Zeit. Es ist aus tamilischer Sicht ein sehr undemokratisches System.“ Aus seiner Sicht handelt es sich nicht um einen revolutionären Umbruch. „Nein, ich wünschte es wäre so. Ich wünschte es wäre ein inklusiver Protest, der ein gespaltetes Land vereint. Unglücklicherweise ist das nicht passiert. Die Protestierenden kommen aus dem Süden und treten für ihre Belange ein. Ich wünschte, sie hätten realisiert, das der Grund für Sri Lankas Schuldenberg ist, dass auf die militärische statt eine politische Lösung der tamilischen Frage gesetzt wurde und wird. Man ist nicht willens zu verstehen, dass es eine Lösung für die ethnischen Probleme geben muss. Auch jetzt gibt es keine Bereitschaft, die Rechte der tamilischen Bevölkerung anzuerkennen. Wenn das jemand eine Revolution nennt, habe ich ein völlig anderes Verständnis davon.“
Die Regierung müsse endlich anerkennen, dass Sri Lanka ein multinationales Land ist, die singhalesische und tamilische Nation. Diese Union könne nur mit einer föderalen Verfassung funktionieren, nicht mit einem zentralistischen Staat. Die tamilische Identität und das Selbstbestimmungsrecht müssten endlich anerkannt und die gesamten staatlichen Strukturen dahingehend geändert werden, dass die tamilische Nation existieren könne. „Wir wollen eine Verpflichtung zu diesem Wandel, aber die hat es unglücklicherweise bisher nicht gegeben. Wir wollen, dass die Welt weiß, dass wir Rajapaksa vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermordes angeklagt sehen wollen.“
Die Situation der tamilischen Bevölkerung schildert Gajendrakumar Ponnambalam als dramatisch.
Die tamilische Bevölkerung sei doppelt bis dreifach so stark von der Krise betroffen wie der Rest der Insel. „Schon während des Bürgerkrieges wurde unsere Region gezielt zerstört, es gab einen Genozid, wir wurden auch nach dem Krieg bewusst verarmt. Der Staat hat keine Hilfe geleistet. Die tamilischen Gebiete im Norden und Ost waren über 30 Jahre von einem Bürgerkrieg betroffen. Die lokale Wirtschaft wurde dadurch zerstört und es gab keinen Schutz mehr. Der Staat erlaubte es den Singhalesen im Süden nach Kriegsende, die tamilischen Gebiete wirtschaftlich mit deren Kapital zu übernehmen. Wir sind in einer sehr schlechten Situation angesichts der Wirtschaftskrise. Ohne die Unterstützung aus der Diaspora würden die Menschen verhungern.“
Diaspora und Black July
Die tamilische Diaspora erinnerte am 23. Juli an den 39. Jahrestag der Pogrome des „Schwarzen Juli“ gegen die tamilische Bevölkerung auf Sri Lanka. Damals hatte ein singhalesisch-nationalistischer Mob einen Angriff der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) auf das Militär zum Anlass genommen, um von Colombo ausgehend über das gesamte Land verteilt Jagd auf tamilische Einwohnerinnen und Einwohner zu machen. Schätzungen zufolge wurden bis zu 3.000 Menschen im Verlauf der mehrere Tage wütenden Pogrome bestialisch ermordet, 5.000 Geschäfte geplündert und 8.000 Wohnungen zerstört. Hundertausende Menschen wurden so um ihr Hab und Gut gebracht und zu Geflüchteten gemacht. Die Angreifer waren Adressdaten der tamilischen Bevölkerung ausgestattet, die sie von Regierung, Polizei und Armee erhalten hatten. Sicherheitskräfte blieben untätig oder beteiligten sich an den Lynchmorden. In einer Erklärung schreibt der Volksrat der Eelam-Tamilen in Deutschland e.V., das der Zorn über die Ausplünderung des Landes und die damit verbundenen Proteste völlig legitim seien. Das Problem sei, dass sowohl die Protestbewegung als auch die neue Regierung es ablehnen, auf tamilische Forderungen auch nur einzugehen.
„Als tamilische Bevölkerungsgruppe fordern wir die Anerkennung des Genozids, Entschädigungen, das Ende der Straffreiheit für die Kriegsverbrecher, die Freilassung unserer politischen Gefangenen und das Selbstbestimmungsrecht der Eelam-tamilischen Bevölkerung. Nur wenn diese Forderung verhandelt und erfüllt werden, ist die Chance auf eine Aussöhnung nach dem Genozid gegeben. Es muss Schluss sein mit dem alltäglichen Rassismus gegen die tamilische Bevölkerung und die strukturelle Benachteiligung der tamilischen Gebiete im Norden und Osten der Insel.
Die aktuellen Ereignisse sind ein Meilenstein, aber sie sind kein Wendepunkt – und genau der ist nötig für sozialen Ausgleich und einen dauerhaften gerechten Frieden. Die Wiederkehr der alten ethnisch-singhalesischen Eliten im neuen Gewand werden wir genauso bekämpfen wie bisher, es wird uns gar keine andere Wahl bleiben. In Erinnerung an die Opfer des ‚Black July‘ und des Massakers von Mullivaikkal sind wir verpflichtet, für die selbstbestimmte Zukunft unseres tamilischen Volkes einzutreten – vor 39 Jahren – vor 13 Jahren und auch heute.“, heißt es in der Erklärung weiter.
Zusammengefasst ist es der singhalesischen Bevölkerung durch die Massenproteste gelungen, den Präsidenten Gotabaya Rajapaksa abzusetzen. Er wurde durch Ranil Wickremesinghe ersetzt, der ebenso die autoritären und korrupten Machteliten repräsentiert. Für‘s erste versucht er die Proteste zu zerschlagen, was sich im Moment in schwächeren Protesten ausdrückt. Die Protestbewegung fordert wirtschaftliche Sofortmaßnahmen und soziale Reformen, es fehlt jedoch an einem revolutionärem Programm mit sozialistischer Perspektive, welches die grundsätzliche Machtfrage stellt und einen dauerhaften Wandel einleiten kann. Dieser wird nur möglich sein, wenn die Interessen der tamilischen Bevölkerung eine explizite Berücksichtigung in der Bewegung finden.
# Titelbild: Demo in Colombo am 29. April, Nazly Ahmed, CC BY-NC-SA 2.0
Toni 5. August 2022 - 8:31
Find ich interessant. Noch interessanter wär’s Mal herauszufinden, ob’s da nen Zweig an Protestanten gibt, die sich mit der Anerkennung tamilischer Selbstbestimmungsrechts solidarisieren wollen und wo’s dann genau an der Rechtsfront, oder besser gesagt an Menschenfeindlichkeit scheitert. Rassismus und die Gleichstellung von Sex, Religion und Sprache ist ja allgemein im Forderungskatalog aufgeführt.