Renaissance der Guerilla in Kolumbiens Bergen: Zu Gast bei der FARC (Segunda Marquetalia)

25. März 2021

Autor*in

Gastbeitrag

In den kolumbianischen Bergen sprach der britische Journalist Oliver Dodd mit Villa Vazquez, einem Oberbefehlshaber der kürzlich wiederhergestellten FARC (Segunda Marquetalia). Es ist das erste Interview mit einem Vertreter der Guerilla seit Scheitern des sogenannten Friedensprozesses. Sein Text liegt Lower Class Magazine exklusiv auf Deutsch vor.

Trotz der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016, mit dem der 53-jährige Krieg mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) beendet wurde, haben sich die herrschenden Klassen Kolumbiens, einschließlich der rechten Regierung, geweigert, die Bedingungen des Abkommens umzusetzen.

Stattdessen sahen der Staat und die Kapitalisten den Frieden als wirtschaftliche Chance: Mit dem Ende der größten Bedrohung für die Kapitalakkumulation, der Guerilla, sind ehemalige von der FARC kontrollierte Gebiete zu den Adern geworden, durch die multinationale Unternehmen jetzt versuchen, zu expandieren. Das nun ungeschützte Land und diejenigen die auf ihm und von ihm leben, leiden unter den damit einhergehenden Umweltschäden und der Unterdrückung.

Bergbau, Rodung, Ölbohrungen, Palmölgewinnung, Privatisierung von Trinkwasserquellen, Wilderei und Drogenhandel haben ehemalige Hochburgen der FARC verwüstet und Millionen von Bauern aus ihren Häusern in die Slums Kolumbiens vertrieben, wo sie soziale Unsicherheit und ein Mangel an Arbeitsplätzen erwartet.

Gleichzeitig wurden seit 2016 mehr als 1200 Führer der sozialen-fortschrittlichen Bewegung, insbesondere Gewerkschafter und ehemalige FARC- Kombattanten, von Paramilitärs ermordet.

Kolumbianische Gerichte haben es sich zur Aufgabe gemacht, ehemalige linke Aufständische zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen, die im Rahmen des Friedensabkommens ihre Waffen niederlegten, Hingegen wurden staatliche Akteure und ihre Kriegsverbrechen ignoriert. Zum Beispiel bezeichnen sie die Inhaftierung durch linke Rebellen als Kriegsverbrechen, betrachten die politische Inhaftierung durch den kolumbianischen Staat jedoch als vollkommen legal und gerecht.

Die großen Hoffnungen der FARC, die ihre Reformation als legale politische Partei unter demselben Akronym – der Kolumbianischen Alternativen Revolutionären Kräfte – ankündigten, bevor sie sich in “Comunes” (Die Einheitlichen) umbenannten, wurden zunichte gemacht, da sie keine ernsthaften Land- oder politischen Reformen vorsahen. Jetzt unbewaffnet sind sie dem bereits bestehenden Ausmaß parastaatlicher Gewalt ausgesetzt.

Es überrascht daher nicht, dass am 29. August 2019 zahlreiche historisch wichtige FARC-Führer, von denen einige plötzlich und dramatisch aus dem öffentlichen Leben verschwanden, sich neu formierten und die Wiederherstellung einer kommunistischen Partei ankündigten, die einen legalen politischen Kampf in sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zusammen mit einem bewaffneten Kampf in ländlichen und städtischen Gebieten verbinden würde.

In ihrem politischen Manifest erklärte diese Fraktion, die als FARC (Segunda Marquetalia) bekannt ist, um sich von ihrem Vorgänger zu unterscheiden, dass es ein strategischer Fehler gewesen sei, ihre Waffen vor der Umsetzung des Friedensabkommens aufgegeben zu haben. Sie kamen zu dem Schluss, dass dies der einzige Weg ist, welche den Peace-Deal garantieren würde, denn sie leben in einem Land welches seit langem am konsequentesten auf dem lateinamerikanischen Kontinent unterdrückerisch handelt.

Um die politische Situation besser zu verstehen, reiste ich in die ländliche Region Catatumbo in Kolumbien, um die FARC bei der Wiederbelebung ihres politisch-militärischen Kampfes zu beobachten und eine ihrer führenden Persönlichkeiten, Comandante Villa Vazquez, zu interviewen, der für das Danilo-Garcia-Kommando verantwortlich ist und Mitglied ist von FARCs Äquivalent zu einem Zentralkomitee, bekannt als “Nationale Direktion”.

Als Teenager trat Vazquez der Young Communist League bei, einem Flügel der legalen Kommunistischen Partei. Als Mitte bis Ende der 1980er Jahre mehr als 5000 unbewaffnete linke Aktivisten, hauptsächlich aus der Partei der Patriotischen Union, die aus den Friedensverhandlungen von La Uribe hervorgegangen war, von Todesschwadronen massakriert wurden, nahm er die Waffen auf und war seitdem Mitglied der FARC Guerilla.

Viele der Getöteten wurden mit den grausamsten Methoden abgeschlachtet, die man sich vorstellen kann. Oft ist es eine beliebte paramilitärische Taktik, die Gliedmaßen der Sozialist:innen mit Kettensägen und Macheten abzutrennen, bevor die Leichen in den Fluss geworfen oder in den Dörfern und Städten zum verrotteten gelassen werden – als Warnung an die Bevölkerung.

Das Gemetzel geht weiter: Im Dezember 2020 wurde Rosa Mendoza, eine ehemalige FARC-Guerillera, zusammen mit fünf Familienmitgliedern ermordet, darunter eine nur wenige Monate alte Tochter. Am 13. Februar wurde der 23-jährige Leonel Restrepo der 258. ehemalige FARC-Guerillero, der im „Friedensprozess” ermordet wurde. Die Zahl ist seitdem auf 259 gestiegen, nachdem Jose Paiva Virguez am 19. Februar getötet wurde.

Der FARC Kommandant Vazquez bestand darauf, dass die FARC Unterzeichner:innen an dem Friedensabkommen festhielten und ihre Seite des Abkommens erfüllten und trotzdem missachtet der kolumbianische Staat das Abkommen und tötet weiterhin Ex-FARC-Militante, andere Aktivist:innen und begeht konsequent Verrat “auf Kosten des kolumbianischen Volkes, der internationalen Community und ex-FARC Guerilla”.

Der Kommandant argumentierte, dass die FARC und das kolumbianische Volk das Recht auf Rebellion und den bewaffneten Kampf haben, denn die „Segunda Marquetalia ist das Ergebnis des Bruchs des Friedensabkommens von 2016 durch die kolumbianische Regierung und Oligarchie“.

Vazquez wies auf die Zunahme der paramilitärischen Tötungen sozialistischer Aktivist:innen hin und kam zu dem Schluss: „Alle unsere Hoffnungen waren auf das Abkommen gerichtet, aber das Abkommen wurde von der Regierung und anderen dominierenden Klassen verraten. Deshalb mussten wir zu den Waffen zurückkehren. Aber es ist nicht die FARC, die zu den Waffen zurückgekehrt ist – es sind die Menschen selbst. Heute können wir sagen, dass 60 Prozent der Guerilla der FARC neu sind und keine Ex-Mitglieder. „

Als Reaktion darauf, dass Kolumbien die Segunda Marquetalia als unpolitische kriminelle Einheit abgetan hatte, beschrieb Villa Vazquez mir FARCs Strategie ausführlich.

Die Segunda Marquetalia kombiniert drei wichtige Organisationsstrukturen als Teil ihrer Gesamtstrategie: bewaffnete Guerilla-Streitkräfte, bewaffnete und unbewaffnete Milizeinheiten und eine völlig unbewaffnete Partido Comunista Clandestino de Colombia (klandestine Kommunistische Partei).

Guerilla-Streitkräfte sind in erster Linie, aber nicht ausschließlich, für offensive bewaffnete Operationen gegen den Staat und die herrschende Klasse verantwortlich. Die Miliz hat hauptsächlich die Aufgabe, die Ziele der FARC in einem bestimmten Gebiet wie einer Stadt oder einem Dorf zu fördern – insbesondere in den Zonen, die von den Guerillas eingenommen wurden, während die klandestine kommunistische Partei unbewaffnet ist: Wie konventionelle kommunistische Parteien arbeiten diese Militanten innerhalb von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Universitäten und lokalen Gemeinschaften, müssen aber aufgrund ihrer Beziehung zu der FARC verdeckt bleiben.

Villa Vazquez bestand darauf, dass die Farc hauptsächlich eine politische Partei im Gegensatz zu einer bewaffneten Gruppe sei, und sagte, dass „Waffen Teil der Kombination der Kampfmethoden sind und die eigenen Ideen beschützen“ und „es nicht so ist, dass wir die Macht durch eine bewaffnete Bewegung erreichen werden – bewaffneter Kampf findet statt, weil es keine Garantie gibt, Ideen zu manifestieren. “

Der Kommandant regte sich fluchend über die Charakterisierung der FARC als Bauernaufstand auf. Die drei organisatorischen Komponenten – Guerilla, Miliz und kommunistische Partei – spiegeln die historisch besonderen Bedingungen des Klassenkampfes in Kolumbien wider.

„Wo entwickelt sich der revolutionäre Kampf?“, fragte er mich. „Er wird dort entwickelt, wo sich die Menschen befinden, nicht in der Isolation des Dschungels, sondern dort, wo sich die Massen von Menschen befinden – und die meisten Menschen leben heute in den Städten, und dort wird sich der revolutionäre Kampf und Guerillakrieg entwickeln.“

Durch die Ausführung von Schlüsselfunktionen eines Staates – Steuern, Sicherheit und Instandhaltung der Infrastruktur – in den Basisgebieten und Hochburgen der FARC proklamiert diese die Führung als legitime Regierung, die durch ein umfassendes politisches Programm und einen Gesellschaftsvertrag gestützt wird.

Obwohl die Gruppe erst am 29. August 2019 wieder gegründet wurde, verfügt die FARC in den von mir besuchten Gemeinden bereits über eine bedeutende Basis an ziviler Unterstützung. Ich beobachtete, wie ihre Truppen ungehindert durch Dörfer zogen und ihre Mitglieder offen arbeiteten, mit den Menschen auf den Straßen interagierten und sogar öffentliche Versammlungen abhielten, ohne Angst zu haben, dass ihre politische Präsenz an das kolumbianischen Militär verraten werden könnte.

Eine einheimische Frau, die auf einer Farm in einem FARC Gebiet lebte und sich nicht als Sozialistin oder politische Aktivistin sah, sagte mir: „Die Gemeinde hier zieht die FARC der Polizei und dem Militär vor.“ Denn: „Sie sind immer da, um sofort zu helfen, wenn sie gefragt werden. Sie sind Teil von uns und unterstützen uns bei Grundbedürfnissen in einer schwierigen Situation. Sie helfen uns auch, die Community hier zu organisieren. “

Die jüngsten Behauptungen der größten kolumbianischen Zeitschrift Semana, dass die FARC 5000 Kombattant:innen hat und mit Zustimmung von Caracas systematisch venezolanisches Territorium ausbeutet, sind jedoch eindeutig ungenau. Obwohl es für pro-staatliche Medien kontraproduktiv erscheinen mag, den Erfolg ihrer Feinde zu übertreiben, dient es dazu, die Verstärkung der bereits umfangreichen militärischen Hilfe, die Kolumbien erhält, zu rechtfertigen – und den USA einen Vorwand für Interventionen gegen Venezuela zu geben.

In Wahrheit befindet sich die FARC in einem Erneuerungsprozess und obwohl sie es schafft, in Gemeinden die Unterstützung des Volkes zu gewinnen, ist die Anzahl der Kombattanten erheblich geringer als die der FARC, die den Peace-Deal unterschrieben haben.

Trotzdem wird es nicht lange dauern, bis die USA tatsächlich beginnen, ihre Unterstützung für die bedrängte kolumbianische Oligarchie zu verstärken, da neue Militante in die Reihen der Guerilla eintreten und ihr Leben der Organisation verpflichten, zusammen mit einer sehr erfahrenen politischen Führung, die jahrzehntelangen Kampf hinter sich.

Für die Regierung ist dies eine Situation, die sie selbst geschaffen hat. Indem sie nicht in der Lage oder nicht bereit war, die Sicherheit von demobilisierten Guerilla und der Zivilgesellschaft zu gewährleisten, haben sie den Rebellen keine Wahl gelassen. Die Guerilla-Verhandlungsführer werden in Zukunft zögern, den Vertretern des kolumbianischen Staates bei künftigen Friedensgesprächen zu vertrauen – und die FARC hat viel zu verhandeln.

Die “Revolutionssteuern” an denjenigen, die natürliche Ressourcen ausbeuten, also die multinationalen Unternehmen und Rohstoffindustrien, sowie die Nutzung des Schwarzmarkts, ermöglichen es der FARC ihre Guerillakämpfer mit drei Mahlzeiten am Tag zu versorgen, für Kleidung zu sorgen und Sie mit modernen Waffen & Transportmitteln auszurüsten.

Im Gegensatz zur westlichen Linken verfügt die FARC über das Geld und die Ressourcen, um es allen Mitgliedern zu ermöglichen, sich 365 Tage im Jahr 24 Stunden am Tag der revolutionären Sache zu widmen. Und dort geht das Geld hin; das Leben der FARC jeden Ranges war immer ein bescheidenes – getreu allen linken kolumbianischen Guerilla-Bewegungen, die ich in den letzten 10 Jahren studiert habe, als ich zum ersten Mal in Kolumbien an der Front war.

Ich ging mit Villa Vazquez durch eine kleine Farm, auf der die Guerillas ihr eigenes Essen anbauten und Vieh züchteten. Jeden Tag wechseln sie sich ab, um die Ernte zu verwalten und die Tiere zu füttern, eine Methode der Eigenständigkeit, auf die Vazquez stolz war. „Die Kosten für eine Organisation wie unsere sind signifikant“, erklärte er. „Als Revolutionäre kultivieren wir, wir erfinden Dinge, so wie die Schaffung landwirtschaftlicher Kollektive mit der Bevölkerung. Wir entwickeln wirtschaftliche Aktivitäten, einschließlich der Herstellung unserer eigenen Lebensmittel.“

Der Staat versagte darin, systematische Reformen durchzuführen, die sich gegen die Großgrundbesitzer und andere Kapitalisten richten. Gleichzeitig wird eine wichtige Forderung der FARC im Friedensabkommen von 2016, die Zwangsumsiedlung von Bauern zu bekämpfen, vom Staat ignoriert. Dies garantiert beinahe, dass die FARC die Möglichkeit hat schrittweise zu expandieren.

Als ich mein Interview mit Vazquez beendet und die FARC über einen Zeitraum von einer Woche beobachtet hatte, wurde mir klar, dass der „Friedensprozess” durch den kolumbianischen Staat missbraucht wurde und ihm die Möglichkeit bietet, die FARC als ihre akuteste Bedrohung zu entwaffnen und zu demobilisieren. Dies wird sich wahrscheinlich als Fehler herausstellen. Von jetzt an sind die revolutionären Streitkräfte dazu gezwungen, ihre Banner noch hartnäckiger als zuvor zu hissen.

Wieder einmal geht ein Gespenst in Kolumbien um: Es ist das Gespenst der FARC.

# Oliver Dodd ist Doktorand an der Universität von Nottingham und arbeitet zu dem Bürgerkriegs- und Friedensprozessen in Kolumbien. Er kann auf Twitter @olivercdodd verfolgt werden. Übersetzt wurde der Artikel in Absprache mit dem Autor von K. Nazari.



Schreibe einen Kommentar Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ein Kommentar über “Renaissance der Guerilla in Kolumbiens Bergen: Zu Gast bei der FARC (Segunda Marquetalia)”