„Ich habe einen Menschen getötet, aber ich bin kein Mörder“ – Soghomon Tehlirians Rache an dem Völkermörder Talaat Pascha

14. März 2021

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Gastbeitrag

Für den 15. März 2021 ruft ein Bündnis in Berlin zu einer Demonstration unter dem Motto „Gerechtigkeit für die Opfer des Völkermordes“ auf. Der Tag erinnert an die Tötung des Völkermörders Talaat Pascha durch den armenischen Revolutionär Soghomon Tehlirian 1921 in Berlin. Die Gruppe United Against Turkish Fascism („Gemeinsam gegen den türkischen Faschismus“) erinnert in ihrem Beitrag an die historischen Hintergründe der Tat.

Genau vor 100 Jahren, am 15. März 1921 starb Talaat Pascha durch eine Kugel von Soghomon Tehlirian in der Berliner Hardenbergstraße. Doch wer war Talaat Pascha? Und wer war Tehlirian? Talaat Pascha war einer der drei Hauptverantwortlichen des Genozids von 1915, in dessen Verlauf etwa 1,5 – 2 Millionen Armenier*innen, Assyrer*innen und Griech*innen im damaligen Osmanischen Reich ermordet wurden. Das armenische Volk wurde in der eigenen Heimat systematisch ausgelöscht, während die Mörder auf freiem Fuß blieben. Lebten noch vor dem Ersten Weltkrieg rund 2,1 Millionen Armenier*innen im Osmanischen Reich, waren es zur Gründung der Türkischen Republik 1923 nur noch 200.000.

Der Genozid von 1915 wird zwar noch heute von derselben Türkei geleugnet, allerdings wissen viele nicht, dass bereits 1919, unter Aufsicht der Entente, ein Prozess gegen die jungtürkische Führung stattgefunden hatte. Nach Kriegsende verurteilte ein Gericht in Konstantinopel/Istanbul, Talaat Pascha aufgrund seiner Verbrechen zum Tode. Jedoch konnte er vor der Vollstreckung des Urteils mit deutscher Hilfe nach Berlin flüchten. Obwohl Talaat Pascha direkt für die grausamen Deportationen und Massaker verantwortlich war, war es ihm möglich, bis 1921 in einer großen Wohnung in Berlin-Charlottenburg zu leben und offen auf die Straße zu gehen, ohne Konsequenzen für das eigene Handeln tragen zu müssen. Er reiste sogar quer durch Europa und traf sich mit hochrangigen Diplomaten, auch um ihnen vorzutäuschen, dass es die Verbrechen des Genozids nie gegeben hätte.

Soghomon Tehlirians Weg

Soghomon Tehlirian stammte aus der Provinz Erzurum des Osmanischen Reiches und verlor dutzende seiner Familienangehörigen im Völkermord. Zusammen mit weiteren armenischen Revolutionär*innen bildeten sie die Operation Nemesis, um die Opfer des Genozids zu rächen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Operation Nemesis wurde dabei von der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF) organisiert, welche die wichtigste Partei der Armenier*innen im Osmanischen Reich war und einen sozialistischen Ursprung hatte. Obwohl das Osmanische Reich bereits am Zerfallen war, trat die ARF nicht für ein unabhängiges Armenien ein, sondern zielte auf demokratische Rechte und Autonomie ab. Während der bürgerlichen Revolution 1908, welche die Verfassung gegen den Sultan Abdul Hamid II. wieder in Kraft setzte, arbeitete die ARF sogar mit der Partei Talaat Paschas, dem Komitee für Einheit und Fortschritt, zusammen.

Da die ARF in der II. Internationalen organisiert war, rief auch sie die Armenier*innen bei Kriegseintritt des Osmanischen Reiches zu Loyalität auf und unterstütze die Kriegsziele der Regierung, die an der Seite des Deutschen Reiches kämpfte. Das Widersinnige an dieser Position war auch, dass die ARF auch im verfeindeten Zarenreich die Armenier*innen organsisierte und dort ebenfalls eine loyalistische Position einnahm; So kam es, dass Armenier*innen auf beiden Seiten des Krieges für fremde Mächte gegeneinander kämpften.

Im Gegensatz zur armenischen Geschichtserzählung war einer dieser Soldaten,‘Soghomon Tehlirian, der sich mit 18 Jahren als Freiwilliger meldete. Er war nicht, wie lange Zeit angenommen, während des Genozids 1915 in Erzurum und sah selbst, wie seine Familie umgebracht wurde. Nichtsdestotrotz sollte mit Beginn des Genozids am 24. April – heute weltweit Gedenktag an den Völkermord – nicht nur Soghomon nahezu seine gesamten Familienangehörigen verlieren — auch die ARF wurde tragischerweise zum Opfern der jungtürkischen Regierung um das Triumvirat Talaat, Enver und Djemal Pascha.

Als sich die osmanischen Truppen aufgrund mehrerer verlorener Schlachten zurückzogen, sah auch der Soldat Tehlirian die Zerstörungen und Spuren der Massaker, von denen der deutsche Krankenpfleger Armin T. Wegner so berichtete: „Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in den Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie.“

Es war diese Hölle auf Erden, die Soghomon sah und die ihn für immer prägen sollte. Der Erste Weltkrieg endete für Europa zwar im November 1918, in Anatolien und im Kaukasus allerdings dauerten die Kriegshandlungen, auf türkischer Seite nun unter der Führung eines gewissen Mustafa Kemal Pascha, noch einige Jahre an. Soghomon ging nach Yerevan, das sich damals in einer Armutskrise befand und das zu über 50 Prozent aus Geflüchteten, Vertriebenen und Waisenkindern bestand.

Die Operation Nemesis

Mit dem Einmarsch der Roten Armee in Armenien und der Konsolidierung der kemalistischen Bewegung in den türkischen Staatsapparat wurde immer deutlicher, dass die Hauptverantwortlichen des Genozids vermutlich verschont bleiben würden, obwohl sie in Konstantinopel in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurden. Mustafa Kemal machte schon früh deutlich, dass man diesen Prozess nicht anerkennen würde, zumal dieser seit Ende 1919 abgebrochen wurde.

Auch Talaat Pascha wurde von deutschen Behörden nicht nur fürstlich hofiert und mit einer 9-Zimmer-Wohnung in Charlottenburg ausgestattet, sondern strebte durchaus auch ein politisches Comeback an. Als die ARF, nunmehr im Exil, die Operation Nemesis plante, wählte sie nicht zufällig Soghomon aus: Als dieser nämlich im März 1919 in Konstantinopel war, sollte er Harutyun Mkrtichyan erschiessen, der am Vorabend des Genozids mit den osmanischen Behörden zusammengearbeitet und die Wohnorte der Armenier*innen verraten hatte.

Genau zwei Jahre später sollte er den Architekten des Genozids in der Berliner Hardenbergstraße erschießen. Zwar war geplant, dass er nach dem Schuss stehenbliebe und sich der Polizei stelle, allerdings war er damals so überwältigt, dass er spontan fliehen wollte, nur um kurz darauf von Passant*innen gestoppt und beinahe gelyncht zu werden.

Mehmet Talaat Pascha, der seine Karriere ursprünglich als Telegraphenbeamter im heutigen Bulgarien angefangen hatte, sollte noch mehrere Stunden auf der Straße liegen, ehe sein Mitstreiter – der ebenfalls am Völkermord beteiligte Bahaeddin Sakir – die Leiche entfernen ließ. Es ist kein Zufall, dass zu seinem Begräbnis in Charlottenburg nicht nur zwei ehemalige Außenminister des Deutschen Reiches erschienen (Richard von Kühlmann und Arthur Zimmermann), sondern auch ein Direktor der Deutschen Bank, der sein großes Vermögen verwaltete.

Tehlirian selbst wurde in einem spektakulären Strafprozess vor dem Kriminalgericht des Berliner Landgerichts im Juni 1921, welcher den Genozid auch der deutschen Öffentlichkeit ins Bewusstsein führte, freigesprochen. Weitere Zeug*innen im Prozess waren ebenfalls Überlebende der unfassbaren Verbrechen der Osmanischen Regierung, die unter anderem von Talaat Pascha durchgeführt worden waren. Er war bis zuletzt auf seine Taten stolz und erachtete sie als richtig, obwohl er versuchte sie zu relativieren.

Nach dem Prozess wurde Tehlirian aus Deutschland abgeschoben und setzte sich in Serbien zur Ruhe. Die Rache hat ihn gewissermaßen beruhigt und befriedet, da er nie wieder politisch aktiv werden sollte und auch an der Operation Nemesis, die nur ein Jahr später erneut in Berlin zuschlagen und die Massenmörder Bahaeddin Shakir und Cemal Azmi erschießen sollte, nicht mehr teilnahm. Obwohl er von den Armenier*innen weltweit geehrt wurde, zog er sich zurück und in diesem Sinne hatte der antikoloniale Theoretiker und Revolutionär Frantz Fanon recht, als er schrieb: „Auf individuellem Niveau entgiftet die Gewalt. Sie befreit den Kolonisierten von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seiner Passivität oder Hoffnungslosigkeit. Sie macht ihn unverzagt, sie lässt ihn in seinen eigenen Augen gesunden.“

Fortsetzung der Leugnung

Bis heute leugnet der türkische Staat nicht nur den Genozid, sondern setzt diesen auch weiterhin fort, indem er Kurd*innen, Êzid*innen, Alevit*innen und nicht zuletzt die christlichen Minderheiten im eigenen Land und auch außerhalb der türkischen Staatsgrenzen verfolgt, unterdrückt und massakriert. Gebiete wie Rojava und Şengal sehen sich permanent der Gefahr einer türkischen Aggression ausgesetzt; in Afrin/Rojava kam es bereits in den letzten völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der Türkei zu ethnischen Säuberungen, die seitdem auch Schritt für Schritt fortgeführt werden. Auch jetzt werden mit deutscher Mitwisserschaft und Hilfe, Gebiete wie Gare/Südkurdistan bombardiert — im eigenen Land führt eine massive Wirtschaftskrise, ausgelöst durch die Politik der AKP/MHP-Regierung dazu, dass die Menschen um Brot anstehen müssen.

Die Erdogan-Regierung droht mit ihrem rechtsextremen Koalitionspartner MHP dabei immer wieder mit Verschärfungen der Repression wie einem Verbot der Oppositionspartei HDP oder einem weiteren Angriffskrieg gegen Armenien, nachdem die Türkei und Aserbaidschan Arzach/Karabach im letzten Herbst angegriffen. Auch dort kam es zu einer ethnischen Säuberung mit über 40.000 armenischen Vertriebenen.

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