Durstexpress: Puddingfabrikanten die Stirn bieten

1. Februar 2021

Leipzig: Oetker-Gruppe will Standort von Durstexpress dichtmachen. Beschäftigte und Gewerkschafter*innen organisieren Protestkundgebung. Betriebsratswahl bei Getränkelieferant angekündigt. Ein Vor-Ort-Report, auch über schwierige kollegiale Solidarität

Die ersten sind bereits eingetroffen. Einige tragen obenrum ihr Arbeitsdress, dünne Überziehjacken mit Kapuze, auffallend himmelblau. Auf dem Rücken steht »Durstexpress«. Getränke werden sie an diesem Donnerstagvormittag, es ist kurz nach 9:30 Uhr, nicht ausliefern. Sie protestieren. Für den Erhalt ihrer Jobs, für den Standort in Leipzig. Der soll dichtgemacht werden – Stichtag: 28. Februar.

Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) rief deshalb zur Kundgebung in den Norden Leipzigs, vor das Werkstor des Getränkelieferdienstes Flaschenpost, unweit des Messegeländes. Aus gutem Grund. Etwa 450 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Nicht bei Flaschenpost, sondern bei Durstexpress. Die Oetker-Gruppe, zu der Durstexpress gehört, hatte Ende 2020 den Aufkauf des früheren Startups Flaschenpost bekanntgegeben – und dabei tief in die Haushaltskasse gegriffen. Brancheninformationen zufolge soll der Familienrat der Puddingfabrikanten rund eine Milliarde Euro für den Ex-Konkurrenten hingeblättert haben. Die Folge: Der Krisengewinner Oetker fusioniert beide Lieferdienste unter der Marke »Flaschenpost«. Auf der Strecke bleiben soll der Durstexpress-Standort in der Messestadt. Doppel- beziehungsweise Mehrfachpräsenzen wird es künftig nicht mehr geben, heißt es aus der Firmenzentrale – trotz coronabedingter Rekordumsätze für Sofortlieferservices.

Oft widrig: Freiluftprotest

Ungemütlich ist es vor Ort, knapp über null Grad, ab und an rieselt Schneegraupel auf die Versammlungsteilnehmer*innen. Dennoch haben sich rund 200 Beschäftigte und Unterstützer*innen eingefunden, widerstehen Wind und Wetter. Noch geht es nicht los. Einer steht sichtlich unter Starkstrom. Jörg Most ist Anmelder und Hauptorganisator der Kundgebung. Der regionale NGG-Geschäftsführer – Mittfünziger, leicht untersetzt, graumeliertes Haar – ist heute dauergefragt. »Entschuldige, lass´ uns nach der Veranstaltung sprechen, gerne ausführlich«, sagt er dem Autor und checkt dabei die Redner:innenliste. Die ist lang, auch weil sich die lokale Politprominenz angekündigt hat, parteiübergreifend von Linke- bis CDU-Abgeordneten.

Ein paar Minuten bis zum Auftakt um zehn Uhr verbleiben noch, vor allem für die letzten Handgriffe. Eine Art Infopoint der NGG steht bereits. Ein Minipavillon, drei mal drei Meter. Dünne Metallstangen stecken senkrecht im morastigen Untergrund, bilden ein Quadrat, an den oberen Stangenenden verbindet ein verwinkeltes Kunststoffgeflecht die textile Plane zu einem Spitzdach. Das aufgedruckte NGG-Logo mit der Ortsmarke »Region Leipzig-Halle-Dessau« samt Email-Kontakt ist gut lesbar. Weißer Schriftzug auf tiefroten Leinen. Zwei Klapptische in L-Form stehen darunter, obendrauf liegt, etwas unsortiert, Merchandise-Nippes: ein halbes Dutzend Rasseln aus Plaste, eine Tüte mit Kulis, rote und blaue – und ganz wichtig: bunte Aufnahmeanträge frisch aus dem Drucker. »Klar, Aufwand ist das hier schon, aber wir sind dank unsere Aktionen der vergangenen Monate geübt«, erzählt Thomas Lißner, der das Stativ mit dem iPhone für die Direktübertragung über den NGG-Facebookaccount positioniert. Auch das gehört mittlerweile zum Proteststandard, sagt der Gewerkschaftssekretär, der aktuell für eine Nachfolgelösung für das Haribo-Werk in Wilkau-Haßlau bei Zwickau kämpft.

Das ist längst nicht alles, was herangekarrt werden muss. Halb rechts, 15 Meter Luftlinie vom Infopavillon entfernt, steht der angemietete Pritschenwagen. Die Ladeklappen an der Beifahrerseite und am Heck sind unten, die grünlichen, schweren Planen liegen aufgerollt auf dem Dach. Die Ladefläche wird zur Bühne. Hinter dem Mikro für die Redner*innen prangt auf einem Transparent in großen Lettern: »Stoppt die Schließung!« Davor in Hüfthöhe auf einem zweiten: »Wir sind die Gewerkschaft, NGG«. Most wirkt immer angespannter, ständig zupft jemand an seinem Ärmel, Beschäftigte, Gewerkschafter*innen, Presseleute. Er weiß: Die NGG legt sich mit einem Branchenprimus an. Die Oetker-Gruppe ist ein Konglomerat von rund 400 Firmen – vom Lebensmittelgeschäft über Spirituosen bis hin zu Luxushotels und der Privatbank Lampe. Radeberger gehört gleichfalls dazu, die größte Brauereigruppe hierzulande vertreibt die Marken Jever, Schöfferhofer oder Clausthaler. Und die Familienspitze verfügt über genug »Spielgeld«, konnte die Übernahme von Flaschenpost locker stemmen. Ein Grund: Oetker hatte 2017 die Reederei Hamburg Süd für 3,7 Milliarden Euro an den dänischen Maersk-Konzern verkauft.

Kennen viele: miese Jobs

Einen Etappensieg konnte Most aber schon erzielen. Erst vor wenigen Tagen hatten die Leipziger Durstexpress-Kolleg*innen mit NGG-Unterstützung den Wahlvorstand für eine Betriebsratsinitiative bestimmt. Unter der Aufsicht einer seitens von Oetker engagierten Security namens »Militärisch ausgebildeter Sicherheitsservice« (MASS) – übrigens mit einem Fadenkreuz im Logo. Plumpe Einschüchterungsversuche, die wirkungslos blieben.

Alle sind startklar: Es ist zwei Minuten nach zehn Uhr. »Test, Test, Test«, das Mikro funktioniert ohne Störgeräusche, der Livestream läuft. »Unsere Kundgebung ist keine gegen die Kollegen von Flaschenpost«, betont Most gleich zu Beginn der Versammlung. »Wir arbeiten ja schließlich bald zusammen.« Deshalb die Ortswahl des NGG-Protestes – zumal: »Die Gesamtlogistik wird künftig auf den Business- und Operationsprozessen von Flaschenpost basieren«, wie das Unternehmen jüngst in einem Statement mitgeteilt hatte. Für Beschäftigte bedeutet das nichts Gutes: »Wenn wir übernommen werden sollten, hätten wir schlechtere Jobbedingungen«, sagt Friedemann Fröhlich von der Betriebsgruppe der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen Union (FAU). Das heißt konkret: »Mehr Arbeitsverdichtung, mehr Überwachung, weniger auf dem Lohnzettel«, schildert Fröhlich. Aber selbst ein Job zu mieseren Konditionen ist ungewiss. Denn Leipziger Ex-Durstexpress-Kolleg*innen müssten sich zunächst neu bei Flaschenpost bewerben. Nach ihrer Kündigung durch Oetker, versteht sich.

Solcherlei Pläne machen zahlreiche Beschäftigte wütend, Celina Heimbuch etwa. »Ich habe 2018 die ersten Regale bei Durstexpress in dieser Stadt mit aufgebaut«, erzählt sie. Am Dienstag habe sie die Kündigung erhalten, per Einschreiben, ohne Danksagung. »Statt dessen mit dem Hinweis, mich bei der Arbeitsagentur zu melden.« Ein Affront, finden sie und ihre Kolleg*innen. »Vom Auf- bis zum Abschließen werde ich also dabei gewesen sein«, sarkastisch klingt das nicht, eher voller Wehmut. Nein, für Gewerkschaftsarbeit habe sie sich sonst nie interessiert. »Das hat sich jetzt geändert«, sagt Heimbuch entschlossen.

Nicht einfach: Solidarität zeigen

Apropos kollegiales Zusammenarbeiten. Etwas fällt auf: In dem Flaschenpost-Zentrallager gegenüber geht der Normalbetrieb scheinbar reibungslos weiter. In kurzen Zeitspannen fahren Lieferfahrzeuge vom Betriebshof oder steuern diesen an. Von Beschäftigten, die einen Blick auf die Kundgebung wagen, ist nichts zu sehen. Nur einmal gibt es eine Szene hörbarer Zustimmung. Ein Flaschenpost-Fahrer passiert die improvisierte Bühne auf dem Pritschenwagen, hupt zweimal. Die Menge reagiert sofort, johlt, winkt.

Wie schwierig praktische Solidarität ist, zeigt auch folgende Episode: Einige Protestler*innen werden zunehmend unruhig. Eine dreiviertel Stunde haben sie Redner*innen zugehört, selbst Vertreter*innen diverser Parteien. Sie haben geklatscht, wenn es etwas zu klatschen gab. Ans Mikro auf der Ladefläche durften sie indes nicht. Obwohl sie ihr Redeskript dabeihaben. Bis tief in die Nacht haben sie Absätze hin und her geschoben, an Halbsätzen gefeilt. Es sind Fröhlichs Kolleg*innen von der FAU-Betriebsgruppe. Zwei, drei Kundgebungsteilnehmer*innen sprechen NGG-Mann Most daraufhin an, der kommt in Erklärungsnot. »Das ist eine NGG-Veranstaltung«, betont er recht barsch. Nur: Alle anderen, die etwas mitzuteilen hatten, wurden der Reihe nach namentlich auf die Bühne gebeten, teils vorher extra eingeladen.

Auch Most weiß: Die FAU, so irrelevant sie bei sonstigen Arbeitskämpfen sein mag, war lange vor der NGG bei Durstexpress in Leipzig aktiv. Nicht umsonst sind etwa 20 Anhänger*innen der »kämpferischen Basisgewerkschaft« zur Kundgebung erschienen. Beobachter*innen merken, Most ringt mit sich, ist gewissermaßen in der Zwickmühle. Er befürchtet offenbar Hasstiraden gegen die Oetker-Dynastie, einen anarcho-syndikalistischen Kurzlehrgang über direkte Aktionen, vielleicht sogar einen Aufruf zum sozialen Generalstreik – über sein Mikro, durch seine Lautsprecherboxen. Es kommt anders, »Verbalattacken« bleiben aus.

Der Basisgewerkschafter beklagt hingegen die Kommunikationspolitik des Unternehmens vor und nach den Kündigungen: »Eine bodenlose Frechheit ist es, wie mit uns Mitarbeiter*innen umgegangen wird.« Er verweist auf migrantische Kolleg*innen, die nach ihrem Jobverlust von Abschiebung bedroht sein würden. Und er appelliert an Oetker, soziale Verantwortung zu übernehmen. Um die eigene Kraft als Arbeiter*innen zu stärken, seien indes zuvorderst solidarische Bündnisse gegen die Konzernpolitik nötig. Man ahnt es: Unter der FFP2-Maske wird Most tief durchgeatmet haben. Kein Eklat, kein Rabatz. Aber auch das dürfte ihm nicht entgangen sein: Der Applaus nach der FAU-Rede war am größten, hielt am längsten an. Ein Indiz, die Stimmung ist durchaus kämpferisch.

Das sieht Most ähnlich. Die Vernetzung unter den einzelnen Durstexpress-Standorten sei bereits in vollem Gange, sagt er. »Deshalb sind auch kleine Delegationen aus Berlin und Dresden heute in Leipzig.« Wie der Durstexpresser Jan aus der sächsischen Landeshauptstadt. »Die Kundgebung hat Mut gemacht«, spürt er. Nicht nur das: »Auch wir stoßen bei uns gerade eine Betriebsratswahl an, organisieren uns.«

Hilft immer: langer Atem

Für Most sind das alles positive Signale: »Es tut sich was.« Und auch die Gegenseite scheint aufgrund des öffentlichen Drucks, auf Beschäftigte und NGG zugehen zu müssen. »Ein erstes Gespräch mit Oetker fand vor unserer Kundgebung statt«, so Most. Konstruktiv sei die Unterredung verlaufen; ja, eine Begegnung auf Augenhöhe, meint er. Ob er sich da nicht täusche? Nein, das sei sein Eindruck gewesen. Über Inhalte wolle er sich noch nicht äußern. Zeitnah, so der Verhandlungsführer, werde die Runde fortgesetzt. »Wir werden uns aber bestimmt nicht einlullen lassen«, betont Most. Die Kernforderungen blieben, so oder so: »Keine Standortschließung, ein regulärer Betriebsübergang für alle.« Und natürlich gehe es um die schnellstmögliche Betriebsratsgründung bei Durstexpress in Leipzig. »Dann haben wir mehr Verhandlungsmacht«, so Most.

Endlich, der Stress fällt von ihm ab, die Gesichtszüge entspannen sich. Kurzum: Es ist vollbracht. Der Anmelder der Kundgebung schiebt den linken Unterärmel seiner NGG-Allwetterjacke sechs, sieben Zentimeter hoch, blickt flüchtig auf die Uhr, 20 Minuten nach elf. Die letzten Teilnehmer*innen der Versammlung verlassen das Areal, der Abbau des Infopoints und der Lautsprecheranlage auf und neben dem Pritschenwagen geht rasch. Schicht, fürs Erste – denn: Der Protestzug zieht weiter, macht am Donnerstag vor dem Berliner Durstexpress-Lager Station. »Wir haben einen langen Atem«, versichert Most.

# Titelbild: Marco Bras dos Santos

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