Wenn Finanzmarktkritiker zu Spekulanten werden – oder das Elend der verkürzten Kapitalismuskritik am Beispiel der aktuellen Schwarmspekulation mit Gamestop-Aktien.
Gamestop ist ein Fossil, ein Anachronismus, dessen Siechtum selbst Deals mit Microsoft nicht mehr nennenswert verlängern können. Die Ladenkette spezialisierte sich darauf, Datenträger von Computerspielen zu verkaufen und aufzukaufen. Angesichts beständig zunehmender Internetbandbreite und des korrespondierenden Aufstiegs digitaler Spieleplattformen wie Steam, die den ganzen Zwischenvertrieb und die Produktion der Datenträger als Kostenfaktoren ausschalten, scheint das Ende dieses rund 7500 Filialen umfassenden Unternehmens besiegelt – ihr dürfte es ähnlich ergehen, wie den großen Videotheken-Ketten, die längst den Streamingdiensten weichen mussten. Ähnliches gilt für den weltgrößten Kinokonzern, für AMC. Kinos? Im Zeitalter von Netflix, Covid und Klimakrise? Really?
Es ist eher verwunderlich, dass sich diese Unternehmen so lange halten konnten, angesichts der rasanten Entwicklung der Produktivkräfte in allen Sparten der Informationstechnik. Die Implementierung neuester wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse in den Verwertungsprozess des Kapitals, die neue Märkte und Geschäftsideen schafft, zerstört unausweichlich veraltete Geschäftsfelder – samt den sozialen Existenzen der betroffenen Lohnabhängigen, die dort in Form von Lohnarbeit reproduziert wurden. Dieser „prozessierende Widerspruch“, wie ihn Marx bezeichnete, bildet eine Konstante der historischen Expansionsbewegung des Kapitals. Die bürgerliche Volkswirtschaftslehre spricht gerne vom „Strukturwandel“ der Arbeitsgesellschaft. Wozu noch zehntausende von Angestellten in Filialen beschäftigen, wenn die Gamer ihre Spiele über Steam, Amazon, den Epic-Store, die Angebote von Nintendo, Sony, EA oder Ubi-Soft bequem von Zuhause aus erwerben können?
Und wenn dann ein anachronistisches Geschäftsmodell nicht mehr rentabel ist, wenn die auf diesem obsoleten Märkten aktiven Konzerne zu spät umsatteln und der Konkurs droht, dann sind die Hyänen und Geier sofort zur Stelle. „Investoren“ kaufen gerne solche angeschlagenen Konzerne billig auf, um sie auszuschlachten, zu zerlegen, die profitablen Restbestände mit Gewinn zu verkaufen und den Großteil der Belegschaften zu entlassen – wenn die Lohnabhängigen Glück haben, dann können noch Sozialpläne ausgehandelt werden, bei denen der Steuerzahler die sozialen Kosten dieser Abwicklung tragen darf. An den Börsen hingegen können Hedge Fonds durch sogenannte Leerverkäufe von den fallenden Kursen solcher Pleitekandidaten profitieren. Dabei leiht sich der Finanzmarktspekulant das entsprechende Wertpapier, verkauft es an der Börse, um es später, nach dem Ablauf der Leihfrist, durch einen Deckungskauf wieder aufzukaufen und dem Eigentümer zurückzugeben. Bei einem gesunkenen Börsenpreis des Wertpapiers resultiert der Spekulationsprofit aus der die Differenz zwischen dem höheren Preis beim „Ausleihen“ samt Weiterverkauf der Aktie und dem späteren Deckungskauf.
Aus der Sicht von Finanzmarktakteuren ist es somit schlich egal, ob Kurse steigen oder sinken. Selbst wenn Konzerne in finanzielle Schieflage geraten oder ganze Märkte einbrechen – es gibt Möglichkeiten, bei korrekter Prognose auch hiervon zu profitieren. Probleme ergeben sich bei solch einer Spekulation auf fallende Aktienwerte (im Finanzmarktjargon als „short selling“ bezeichnet) immer dann, wenn die Börsenkurse der Pleitekandidaten entgegen der Prognose nicht fallen. Derzeit hat beispielsweise der Hedge Fonds Melvin Capital alle Hände voll zu tun, sich über Wasser zu halten, obwohl er eine evident korrekte Spekulation auf das Ende von Gamestop eingegangen ist. Das Finanzdienstleistungsunternehmen, dem die Fonds Citadel und Point 72 Finanzspritzen im Umfang von 2,75 Milliarden Dollar gewähren mussten, hatte schlicht den Internetschwarm nicht auf der Rechnung.
Auf der sozialen Plattform reddit, in dem knapp sieben Millionen Mitglieder zählenden Unterforum wallstreetbets, sammelten sich im Laufe der Zeit all jene Kräfte, die aus unterschiedlicher Motivation dem Treiben der etablierten Größen der Wall Street ablehnend bis feindlich gesinnt sind. Da mischen sich junge aggressive Nachwuchstrader, die einfach mit möglichst rabiaten Methoden ein großes Stück vom Kuchen abhaben wollen mit linken Aktivisten, denen es um die Umverteilung von Reichtum geht, sowie marktradikalen Verwesungsprodukten der Rechten in den USA, bei denen die Ideologie von den „freien Märkten“ allzu ernst genommen wird. Die verschwommene Mission einer Demokratisierung der Finanzmärkte, der Bestrafung der „Absahner“ und „Betrüger“ auf der Wall Street, der Umverteilung des Geldes zugunsten der Mittelschicht bildet die lose gemeinsame Klammer dieses Schwarms.
Die Bandbreite des – ohnehin krisenbedingt in Auflösung befindlichen – politischen Spektrums hinter dieser Aktion reicht von der linken Sozialdemokratin Alexandria Ocasio-Cortez bis zum texanischen Republikaner Ted Cruz, von der linken verkürzten Kapitalismuskritik, die in den Finanzmärkten eine auf Betrug basierende Ursache der kapitalistischen Systemkrise sieht, bis zum rechten Anarchokapitalismus, wie er sich etwa in der Bewegung der Libertatrians in den USA manifestiert – und die den Neoliberalismus als einen Verrat an der reinen Lehre der absolut freien Märkte ansieht. Es dürfte nicht sonderlich schwer sein, in diesem Gemenge punktuell auch unterschwellige antisemitische Ressentiments auszumachen.
Dieser diffus politisch aufgeladene Aktienhändler-Aktivismus, der mal wieder klarmacht, wie wenig kapitalistische Marktsubjekte den Kapitalismus verstehen müssen, um erfolgreich zu sein, hat sich aus mehreren Gründen auf die Leerverkäufe durch Hedge Fonds eingeschossen. Auf ideologischer Ebene, sobald das Narrativ vom „guten schaffenden“ und dem „bösen raffenden“ Finanzkapital sich etabliert, hat es den Anschein, als ob das Finanzkapital gute, gesunde Unternehmen durch Leerverkäufe ruinieren würde. Die obig erläuterte Selbstverständlichkeit, dass es sich bei diesen Spekulationen nur um korrekte Prognosen handelt, wird dabei ignoriert. Es ist eine Kapitalismuskritik auf Sahra-Wagenknecht-Niveau, die überall parasitäre Finanzmarktheuschrecken wittert, deren Machenschaften den guten, fleißigen Unternehmern das Blut aussaugen würden. Es entsteht somit der Anschein, als ob das Finanzkapital ganze Unternehmen ruinieren würde.
Zu den Helden des Schwarms, in dem sich auch viele Turbokapitalisten tummeln, zählen folglich Milliardäre wie Elon Musk, der „reichste“ Mann der Welt, der sich in ein paar Tweets mit der Bewegung solidarisierte und ihr aufgrund seines persönlichen Schwarms im Netz die notwendige Dynamik verlieh. Inzwischen ist Musk in der Lage, mit einem Tweet selber Marktbewegungen hervorzurufen, etwa den Kurs angeschlagener Spielehersteller wieder aufzupäppeln.
Gewerkschaftsfeindliche Kapitalisten wie Musk, die den Lithium-Putsch in Bolivien begrüßten, werden von dem Schwarm ebenso bejubelt wie asiatische Milliardäre, die Gamestop-Aktien erwerben. Jeder Kapitalist kann nun zur Anti-Establishment-Figur aufsteigen, sofern er ein paar entsprechende Tweets absondert.
Die Leerverkäufe bildeten aber auch aus schlichten praktischen Gründen den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich der Schwarm – nach etlichen fehlgeschlagenen Versuchen – einigen konnte, um die kritische Masse an Investitionen zu überschreiten, mit der die Gamestop-Bonanza zu einem Selbstläufer werden konnte, der nun auch andere Aktien wie die des angeschlagenen Kinokonzerns AMC erfasst. Der Schwarm sucht einfach nach Aktien, gegen die möglichst viele „Shorts“ laufen, um dort den „Short-Squeeze“ anzusetzen (eine gegen Leerverkäufe gerichtete Spekulation, die darauf abzielt, der Kurs hochzutreiben). Denn es braucht keine großen, milliardenschweren Investments, um dies zu erreichen, da Leerverkäufe tatsächlich die Achillesverse der Hedgefonds-Machenschaften darstellen. Der „Short-Squeeze“ des Internetschwarms ist eine gangbare Taktik, um auch milliardenschwere Fonds in Bedrängnis zu bringen. Jaime Rogozinski, der Gründer von wallstreetbets, sieht sein Forum gar als eine Fortsetzung der Occupy-Wallstreet-Bewegung, der es nun gelungen sei, die Wallstreet dort zu treffen, wo es weh tut – beim lieben Geld.
Die short sales der Hedge Fonds sind gerade deswegen hochriskant, weil schon vergleichsweise kleine Investitionen dazu führen können, dass der Kurs immer weiter steigt, da die daran beteiligten Hedge Fonds selber plötzlich die Aktien kaufen müssen, um ihre Verluste noch irgendwie zu begrenzen, was eine sich selbst verstärkende Aufwärtsdynamik auslöst. Der Kurs des Pleitekandidaten Gamestop ist folglich von knapp 20 US-Dollar zu Jahresbeginn auf zwischenzeitlich mehr als 350 US-Dollar angestiegen – gerade weil die an den Leerverkäufen beteiligten Spekulanten nun ebenfalls die Aktien kauften, um nicht total unterzugehen. Etliche Fonds haben folglich erhebliche Verluste zu verzeichnen gehabt. Melvin Capital musste seine Spekulation abbrechen, während Citron Capital, ein auf Leerverkäufe spezialisierter Fonds, von einem Verlust von 100 Prozent des Spekulationskapitals berichtete.
Viele Fonds sollen aber ihre Short-Positionen weiterhin halten, weshalb der Short-Squeeze letztendlich einem Durchhaltekampf zwischen Schwarm und Fonds ähnelt – kann die Masse der Kleinanleger-Aktivisten den Preis lang genug hochhalten, um die Fonds, die auf Shorts gesetzt haben, zur Kapitulation zu zwingen? Die schiefe Idee dahinter ist es, Reichtumsumverteilung von Oben nach Unten mittels Finanzmarkt-Aktivismus zu erreichen: die Milliardenverluste der Fonds materialisieren sich beim Short-Squeeze im Reichtum all der Kleinanleger, die plötzlich hoch bewertete Aktien besitzen. Das Problem besteht nur darin, dass sich hier im Kleinen das Problem des auf den Finanzmärkten generierten fiktiven Kapitals manifestiert, (das nicht durch Verwertung von Lohnarbeit, sondern die Schaffung von Finanzmarktpapieren entsteht), dass auch den sagenhaften Reichtum eines Elon Musk größtenteils zur Zählgröße macht. Musk kann die Fantastzillionen, die er besitzt, nicht einfach ausgeben – sie würden entwertet. Ähnlich verhält es sich beim Gamestop-Schwarm. Sobald die Aktivist:innen in ausreichender Zahl dazu übergehen sollten, ihre Gewinne einzustreichen, also den Vermögenstransfer von Oben nach Unten zu realisieren, wird sich ihr Reichtum in Luft auflösen, der Kurs der Aktie einbrechen.
Als Gewinner der Gamestop-Bonanza werden all diejenigen enden, die früh mitgemacht haben und rechtzeitig aussteigen, solange das „dumb money“, das „dumme Geld“, wie die Götter der Wallstreet die anlagefreudige Mittelklasse bezeichnen, ihr Erspartes in den Short-Squeeze hineinpumpt. Für risikofreudig Hedgefonds scheint nun der Augenblick gekommen, über neue Leerverkäufe der Gamstop-Aktie nachzudenken, da diese mit 350 US-Dollar absurd überbewertet ist. Es ist auch mehr als wahrscheinlich, dass viele risikobereite Spekulant:innen, die frühzeitig in Gamestop-Aktien angelegt haben, den Short-Sqeeze befeuerten. Einer der größten Gewinner steht schon jetzt fest: Der berüchtigte Finanzdienstleister Blackrock hält Millionen von Gamestop-Aktien, deren Marktwert laut Reuters um 2,4 Milliarden US-Dollar angestiegen ist. Faktisch handelt es sich somit um eine Blackrock-Bonanza. Ob diese Spekulanten Skrupel haben werden, ihre Positionen zu liquidieren? Ein weiterer Gewinner ist der Internetkapitalist Ryan Cohen, der im August bei Gamestop mit Aktienkäufen im Wert von 75,9 Millionen Dollar eingestiegen ist, um den Konzern neu auszurichten – und dessen Aktien nun 1,3 Milliarden Dollar Wert sind.
Die Finanzmarktkritiker:innen unter den Aktivist:innen des Reddit-Schwarms kämpfen somit gemeinsam mit Blackrock, windigen Internetkapitalist:innen und dem putschfreudigen Gewerkschaftsfeind Elon Musk gegen Short-Seller und Hedgefonds, die als böse „Heuschrecken“ imaginiert werden. Die negative Dialektik der verkürzten Kapitalismuskritik, die im Finanzmarkt den Hort allen Übels erblickt, lässt die Finanzmarktkritiker:innen selber zu Finanzspekulant:innen werden. Mission accomplished. Die Personifizierung der Weltkrise des Kapitals in „Heuschrecken“, ihre Verkürzung auf die Finanzsphäre, lässt sich somit letztendlich zu einer politisierten Investitionsstrategie umformen, die an die Frühzeit des Kickstarter-Kapitalismus erinnert, als dutzende windiger Geschäftemacher:innen vor allem im Gamingbereich große Crowdfunding-Kampagnen starteten, um Millionen abzugreifen – um dann Tausende von „Spieler-Investoren“ maßlos zu enttäuschen. Die Vaporware Star Citizen des Wing Commander Machers Chris Roberts bildet ein 300 Millionen Dollar teures Symbolbild dieser Bewegung, die vor allem die kapitalistische Computerspieleproduktion ebenso demokratisieren wollte, wie es jetzt mit der Finanzbranche versucht wird.
Was sich hier abzeichnet, ist eine neue Ära der manipulativen, quasi „politisieren“ Finanzmarktspekulation, bei der Geschäftemacher:innen bemüht sein werden, eine Schwarmbildung aus „Dumb Money“ rund um ihre Spekulationsstrategien hervorzurufen. Die Wut des Schwarms fokussiert sich derweil auf die windigen Plattformen, die den kostenlosen Aktienhandel für Kleinanleger:innen ermöglichen. Die Tradig-App Robinhood, die sich ebenfalls in der Tradition der „Occupy-Bewgung“ sieht, ist tatsächlich kostenlos. Doch zugleich liefert sie den großen Finanzmarkthaien gegen saftige Provisionen die Handelsdaten ihrer Kundschaft, um ihnen einen Spekulationsvorteil beim Hochfrequenztrading zu ermöglichen. Finanzdienstleister wie Citadel, die den Hedge Fonds Melvin Capital stützen mussten, gehören zu den größten Kunden dieser Aktien-Platformen, deren Apps an Mobilspiele erinnern.
Und genau diese Plattformen haben den Handel mit Gamestop-Aktien zeitweise ausgesetzt, was von vielen Schwarmteilnehmer:innen als eine korrupte Schutzmaßnahme zugunsten der großen Hedgefonds gewertet wurde, die beim Börsenspiel bisher immer gewannen. Ähnlich agierten Internetkonzerne Google, Facebook oder Discord, die entsprechende Gruppen von Schwarmnvestor:innen geblockt oder aufgelöst haben. Immerhin dämmert es dem Schwarm, dass das Börsenspiel mit gezinkten Karten gespielt wird – die großen Fische im Haifischbecken haben schlicht einen Informationsvorteil.
Das Problem besteht aber darin, dass die Finanzmärkte im Kapitalismus mehr sind als eine bloße Spielwiese für Hedgefonds und sonstige Spekulanten. Angesichts des historischen Krisenprozesses, der als eine kapitalistische Überproduktionskrise bezeichnet werden kann, bei der beständige Produktivitätssteigerungen der Warenproduktion das Weltsystem zunehmend destabilisieren, spielen die Finanzmärkte eine Schlüsselrolle: Sie generieren einerseits die kreditfinanzierte Nachfrage nach Waren, die sonst keinen Abnehmer fänden, und auf ihnen läuft andrerseits die Verwertung fiktiven Kapitals auf Hochtouren, um dessen zunehmend stockende Verwertung in der realen Warenproduktion zu kompensieren.
Den Preis für diese dekadenlange Finanzmarktalchemie bilden die beständig global wachsenden Schuldenberge, sowie die an Intensität zunehmenden Finanzmarktblasen, die kaum noch stabilisiert werden können. Der letzte Krisenschub konnte beim Ausbruch der Pandemie im vergangenen Jahr nur mit Mühe und Not stabilisiert werden, indem viele Billionen an Dollar und Euro in die absurd aufgeblähten Finanzmärkte von Staaten und Notenbanken gepumpt wurden. Die Spielwiese, auf der sich nun der politisierte Schwarm als neuer „disruptiver“ Akteur formiert, ist selber instabil, sie fußt gewissermaßen auf einem morschen Fundament – und es wäre wohl ein passender Treppenwitz der spätkapitalistischen Geschichte, wenn eine doppelbödige Zockerei mit Gamingaktien einen abermaligen Krisenschub auslöste.
#Titelbild: wikimedia.commons
[LCM:] Ökonomie im Zuckerrausch – Weltfinanzsystem in einer gigantischen Liquiditätsblase - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 13. April 2021 - 7:03
[…] Netzwerken popularisierten “Meme-Aktien”, wie etwa des Wertpapiers der Videospielhandelskette Gamestop, sei gerade durch diese Einmalzahlungen zusätzlich befördert worden. […]