Schmerz und Hoffnung: Ein Jahr Aufstand in Chile

18. Oktober 2020

Heute ist es ein Jahr her, dass sich die Menschen in Chile massenhaft und spontan erhoben, um ein menschenwürdiges Leben einzufordern. Was als Protest gegen den Anstieg des U-Bahn-Tickets begann, eskalierte zu einer nationalen Bewegung gegen 30 Jahre Demokratie unter dem von der Diktatur auferlegten neoliberalen Joch.

Es war ein schwieriges Jahr. Die Pandemie war ein Verbündeter des Staates, der die Situation ausgenutzt hat und seit März eine Ausgangssperre verhängt und Militär in die Straßen gebracht hat. Die Maßnahmen, die gegen die Verbreitung der Pandemie getroffen wurden, haben nur der Wirtschaft, den Unternehmen genutzt, was die Gültigkeit der Forderungen des Volkes nur bekräftigt hat. Und während die Gesundheitssituation es geschafft hat, die Proteste seit März einzudämmen, sind die Menschen seit September, mit der Aufhebung der Quarantäne, wieder auf die Straße zurückgekehrt. Die Monate der Pandemie, in denen die Leute eingesperrt waren und die Arbeiterklasse völlig im Stich gelassen wurde, waren Monate, in denen die Wut nur weiter kochten. Obwohl die Quarantäne die Bewegung auf der Straße, die Massendemonstrationen zum Erliegen brachte, hatte sie nicht den gleichen Effekt in Bezug auf Organisation und Solidarität. Die noch größere Prekarität, die durch den Covid erzeugt wurde, erforderte, dass diese andere Formen annehmen mussten, vor allem durch kollektive Organisierung von Dingen, die sonst ein Sozialstaat übernehmen würde. Überall im Land haben sich Nachbarschaften organisiert, wurden Suppenküchen aufgemacht, die denjenigen, die wegen der Ausgangssperre nicht einmal mehr arbeiten gehen durften, nicht verhungern zu lassen. Denn der Staat lies die Leute im Stich.

Und während für die Gesundheit und das Überleben der Arbeiterklasse kein Geld zur Verfüfung stand, investierte die Regierung eifrig in Repressionsmittel. Im Laufe des Jahres wurden Wasserwerfer aus der Türkei und Waffen aus aller Herren Länder gekauft, um die Polizei auszurüsten. Und die neuen Spielzeuge werden eingesetzt. Seit die Menschen auf die Straße zurückgekehrt sind, hat die Repression zugenommen. Erst vor drei Wochen machte ein Video in sozialen Medien die Runde, die einen Polizeibeamten zeigten, der einen 16-jährigen Demonstranten von einer Brücke stieß. Er blieb bewusstlos mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen. Er wurde von Demonstranten und selbstorganisierten Gesundheitsbrigaden gerettet. Kein Polizeibeamter hat geholfen. Im Gegenteil, sie behinderten die Rettungsversuche. Der Demonstrant überlebte und wurde im Krankenhaus inhaftiert. Der Polizist, ungestraft. Jeden Tag gibt es explizite Bilder von Polizeimissbrauch, die ungestraft bleiben.

Die Brutalität der Büttel des Staates ist aber nur eine Seite der Repression. Politische Gefangenschaft wird als Mittel zur Einschüchterung des Protests eingesetzt. Nur sehr wenige der tausenden Gefangenen der Revolte haben ihre Freiheit wiedererlangt, einige sind bereits verurteilt worden; für andere werden Strafen von bis zu 20 Jahren gefordert. Und während in den Städten die Polizei marodiert, hat der Staat die Militarisierung in den Mapuche-Gemeinden im Süden des Landes massiv verstärkt und seine Agenten führen ständig Überfälle auf ihre Gemeinden durch. Ein Mapuche-Führer, Alejandro Treuquil, wurde im Juni dieses Jahres von Unbekannten kaltblütig in seinem Haus ermordet, nachdem er sich über Drohungen der Polizei beschwert hatte. Die mehr als 400 Opfer von Augentrauma und staatlicher Gewalt während der Revolte werden völlig im Stich gelassen, ohne Reaktion auf ihre Beschwerden.

Und weil jeder Knüppelschlag eine moralische Rechtfertigung braucht versucht der Staat schamlos, zu destabilisieren und Gewalt zu erzeugen, um den Protest weiter zu kriminalisieren. Vor einigen Tagen wurde ein Polizist entdeckt, der soziale Organisationen der gegenseitigen Hilfe infiltriert hatte und der ständig Mitglieder zum Angriff auf Polizei und Polizeistationen aufstachelte. Für diese Aufgabe wurden dem Polizist eine komplett falsche Identität gegeben. Wir fragen uns, wie viele dieser Fälle es noch gibt. Nachdem wir das ganze Jahr über von rechtsextremen Gruppen und dem Staat gehört haben, wie sie die Bewegung beschuldigen, von ausländischen Agenten inszeniert worden zu sein, ohne jemals über Beweise zu verfügen, erleben wir nun, dass diejenigen, die wirklich versuchen, zu manipulieren und Chaos zu schaffen, sie selbst sind.

In einer Woche, am 25. Oktober, findet schließlich das erwartete Plebiszit statt, das ursprünglich im April stattfinden sollte, aber wegen der Corona-Pandemie um sechs Monate verschoben wurde. Dieser Prozess wurde von der Rechten bereits völlig behindert und gefesselt, als im November 2019 im Kongress das so genannte „Abkommen für den Frieden“ unterzeichnet wurde. Dieses Abkommen, das zwischen der Regierung und einer parlamentarischen Opposition geschlossen wurde, die nicht in der Lage war, die Millionen von Menschen auf der Straßeauch nur ansatzweise zu vertreten, eröffnete die Möglichkeit, eine Volksabstimmung durchzuführen, um zu entscheiden, ob eine neue Verfassung gewünscht wurde oder nicht, schloss aber die Möglichkeit aus, diesen Prozess über eine verfassungsgebende Versammlung abzuwickeln. Für den Entwurfsmechanismus stehen zwei Optionen zur Verfügung: Die erste ist ein Verfassungskonvent, dessen Mitglieder zwar zu 100 Prozent vom Volk gewählt werden. Doch das geltende Wahlgesetz erschwert unabhängige Kandidaturen und gibt Mitgliedern politischer Parteien den Vorzug. Der zweite ist ein gemischter Konvent, der sich zu 50 Prozent aus Parlamentariern (von ihnen selbst gewählt) und zu 50 Prozent aus Volksabstimmungen zusammensetzt. Und während diese Abstimmung, ein hart erkämpftes Minimalzugeständnis nach eine Jahr Protest, tausenden Gefangenen und Verletzten, dutzenden von Agenten des Staates ermordeten, jetzt ansteht, haben sich die Herrschenden noch ein Hintertürchen offen gehalten: Wenn es aus Sicht von Regierung oder Kongress „pandemiebedingt“ notwendig sein sollte, können sie das Referendum bis einen Tag vor der Durchführung absetzen.

Es schmerzt, dass die Hoffnungen auf eine ander Gesellchaft, die mit so viel Blut auf den Straßen erkämpft wurden, nun in den Händen eines Verfassungskonvents liegen. Die größte Forderung des Volkes war von Anfang an klar, eine verfassungsgebende Versammlung, um die Möglichkeit zu haben, Geschichte aus der Realität des Volkes heraus zu schreiben. Das Misstrauen gegenüber dem Prozess ist offensichtlich und gerechtfertigt. Das chilenische Volk hatte noch nie die Gelegenheit, eine verfassungsgebende Versammlung abzuhalten. Die Verfassungen von 1925 und 1980 wurden von einer kleinen Gruppe geschrieben und von einem Diktator durchgesetzt. Das erste nach einem brutalen Massaker in der Salpeterpampa, bei dem etwa 2000 Arbeiter und keine Soldaten starben, und das zweite mitten in Pinochets Diktatur.

Es schmerzt, für den Moment darauf zu vertrauen zu müssen, dass ein von der Elite kooptierter Verfassungsprozess zu einem wirklichen Wandel führen kann, der die Ungleichheit beendet, die indigene Bevölkerung und Vielfalt anerkennt, das Rentensystem verändert, eine gerechte Gesundheits- und Bildungspolitik umsetzt und die Plünderung der Ressourcen des Landes durch ausländische Unternehmen kontrolliert, die mit denselben Unternehmen verbündet sind, die das „Friedensabkommen“ ausgehandelt haben.

Es schmerzt, an die Möglichkeit zu denken, dass wir einen ähnlichen Prozess erleben werden wie beim Übergang zur Demokratie 1990, wo durch politische Ränkespiele die Privilegien und der Machtmissbrauch einer kleinen Gruppe verewigt wurden, was uns 30 Jahre später mit der Idee auf die Straße brachte, dass „wir nichts zu verlieren haben, denn sie haben uns bereits alles genommen.“

# Titelbild: Frente Fotográfico, Organsierte Nachbar*innen demonstrieren in Santa Rosa, Santiago am 14.10.2020

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3 Kommentare

    […] Bei­trag Schmerz und Hoff­nung: Ein Jahr Auf­stand in Chi­le erschien zuerst auf Lower Class […]

    […] lowerclassmag.com… vom 20. Oktober […]

    […] „Schmerz und Hoff­nung: Ein Jahr Auf­stand in Chi­le“ von Regi­na Anti­yu­ta am 18. Okto­… zu den poli­ti­schen Ergeb­nis­sen die­ses Jah­res – was distan­zier­te Ein­stel­lun­gen zum Refe­ren­dum betrifft: „… Es war ein schwie­ri­ges Jahr. Die Pan­de­mie war ein Ver­bün­de­ter des Staa­tes, der die Situa­ti­on aus­ge­nutzt hat und seit März eine Aus­gangs­sper­re ver­hängt und Mili­tär in die Stra­ßen gebracht hat. Die Maß­nah­men, die gegen die Ver­brei­tung der Pan­de­mie getrof­fen wur­den, haben nur der Wirt­schaft, den Unter­neh­men genutzt, was die Gül­tig­keit der For­de­run­gen des Vol­kes nur bekräf­tigt hat. Und wäh­rend die Gesund­heits­si­tua­ti­on es geschafft hat, die Pro­tes­te seit März ein­zu­däm­men, sind die Men­schen seit Sep­tem­ber, mit der Auf­he­bung der Qua­ran­tä­ne, wie­der auf die Stra­ße zurück­ge­kehrt. Die Mona­te der Pan­de­mie, in denen die Leu­te ein­ge­sperrt waren und die Arbei­ter­klas­se völ­lig im Stich gelas­sen wur­de, waren Mona­te, in denen die Wut nur wei­ter koch­ten. Obwohl die Qua­ran­tä­ne die Bewe­gung auf der Stra­ße, die Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen zum Erlie­gen brach­te, hat­te sie nicht den glei­chen Effekt in Bezug auf Orga­ni­sa­ti­on und Soli­da­ri­tät. Die noch grö­ße­re Pre­ka­ri­tät, die durch den Covid erzeugt wur­de, erfor­der­te, dass die­se ande­re For­men anneh­men muss­ten, vor allem durch kol­lek­ti­ve Orga­ni­sie­rung von Din­gen, die sonst ein Sozi­al­staat über­neh­men wür­de. Über­all im Land haben sich Nach­bar­schaf­ten orga­ni­siert, wur­den Sup­pen­kü­chen auf­ge­macht, die den­je­ni­gen, die wegen der Aus­gangs­sper­re nicht ein­mal mehr arbei­ten gehen durf­ten, nicht ver­hun­gern zu las­sen. Denn der Staat lies die Leu­te im Stich. Und wäh­rend für die Gesund­heit und das Über­le­ben der Arbei­ter­klas­se kein Geld zur Ver­fü­gung stand, inves­tier­te die Regie­rung eif­rig in Repres­si­ons­mit­tel. (…) In einer Woche, am 25. Okto­ber, fin­det schließ­lich das erwar­te­te Ple­bis­zit statt, das ursprüng­lich im April statt­fin­den soll­te, aber wegen der Coro­na-Pan­de­mie um sechs Mona­te ver­scho­ben wur­de. Die­ser Pro­zess wur­de von der Rech­ten bereits völ­lig behin­dert und gefes­selt, als im Novem­ber 2019 im Kon­gress das so genann­te “Abkom­men für den Frie­den” unter­zeich­net wur­de. Die­ses Abkom­men, das zwi­schen der Regie­rung und einer par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­on geschlos­sen wur­de, die nicht in der Lage war, die Mil­lio­nen von Men­schen auf der Stra­ßeauch nur ansatz­wei­se zu ver­tre­ten, eröff­ne­te die Mög­lich­keit, eine Volks­ab­stim­mung durch­zu­füh­ren, um zu ent­schei­den, ob eine neue Ver­fas­sung gewünscht wur­de oder nicht, schloss aber die Mög­lich­keit aus, die­sen Pro­zess über eine ver­fas­sungs­ge­ben­de Ver­samm­lung abzu­wi­ckeln. Für den Ent­wurfs­me­cha­nis­mus ste­hen zwei Optio­nen zur Ver­fü­gung: Die ers­te ist ein Ver­fas­sungs­kon­vent, des­sen Mit­glie­der zwar zu 100 Pro­zent vom Volk gewählt wer­den. Doch das gel­ten­de Wahl­ge­setz erschwert unab­hän­gi­ge Kan­di­da­tu­ren und gibt Mit­glie­dern poli­ti­scher Par­tei­en den Vor­zug. Der zwei­te ist ein gemisch­ter Kon­vent, der sich zu 50 Pro­zent aus Par­la­men­ta­ri­ern (von ihnen selbst gewählt) und zu 50 Pro­zent aus Volks­ab­stim­mun­gen zusam­men­setzt. Und wäh­rend die­se Abstim­mung, ein hart erkämpf­tes Mini­mal­zu­ge­ständ­nis nach eine Jahr Pro­test, tau­sen­den Gefan­ge­nen und Ver­letz­ten, dut­zen­den von Agen­ten des Staa­tes ermor­de­ten, jetzt ansteht, haben sich die Herr­schen­den noch ein Hin­ter­tür­chen offen gehal­ten: Wenn es aus Sicht von Regie­rung oder Kon­gress „pan­de­mie­be­dingt“ not­wen­dig sein soll­te, kön­nen sie das Refe­ren­dum bis einen Tag vor der Durch­füh­rung abset­zen. Es schmerzt, dass die Hoff­nun­gen auf eine ander Gesellchaft, die mit so viel Blut auf den Stra­ßen erkämpft wur­den, nun in den Hän­den eines Ver­fas­sungs­kon­vents lie­gen. Die größ­te For­de­rung des Vol­kes war von Anfang an klar, eine ver­fas­sungs­ge­ben­de Ver­samm­lung, um die Mög­lich­keit zu haben, Geschich­te aus der Rea­li­tät des Vol­kes her­aus zu schrei­ben. Das Miss­trau­en gegen­über dem Pro­zess ist offen­sicht­lich und gerecht­fer­tigt…“ […]