„Wir sind Kinder des Volkes“ – Interview mit der kolumbianischen Stadtguerilla FGUN

26. August 2020

Autor*in

K. Nazari

Es war ein langer Prozess, die in den Städten Kolumbiens kämpfende Guerilla der ELN, die Frente de Guerra Urbano Nacional (FGUN) zu kontaktieren. Das Auftreten der Stadtguerilla in Kolumbien ist um einiges verdeckter als das der im Dschungel und auf den Bergen operierenden Guerilla.

Die Ejército de Liberación Nacional (ELN) ist die größte kämpfende kommunistische Organisation im Land, in den von ihnen kontrollierten Gebieten können sie es sich erlauben, sich öffentlich zu präsentieren. In den Städten sieht die Realität für die Bewegung jedoch anders aus. Der kolumbianische Staat konnte in den Barrios und Städten Kolumbiens ein Netzwerk von Informant:innen gegen die Guerilla aufbauen.

Trotz alledem zwingt die Perspektivlosigkeit des kolumbianischen Kapitalismus immer mehr Menschen in die bewaffnete Opposition gegen den Staat zu gehen. In Kolumbien gibt es eine Redewendung: Es sei sicherer, in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen oder in dieser aktiv zu sein. Die ständige Bedrohung durch die Willkür der Polizei und des Militärs, die ständige Gefahr durch die grausamen paramilitärischen Todesschwadronen und der bewaffneten Narcos sind der Grund für eine Allianz von Bäuer:innen, Arbeiter:innen und Student:innen – vor allem Jugendliche und ca. die Hälfte weiblich -, welche in die Stadtguerilla der ELN eintreten.

Die FGUN ist dazu gezwungen, im Untergrund zu arbeiten. Die Frente Urbano ist mit Zellen in den meisten größeren Städten Kolumbiens organisiert, vor allem aber in der Hauptstadt Bogota. Durch einen langen Prozess der Kontaktaufnahme online konnte erstmals ein Interview mit der Stadtguerilla FGUN geführt werden, welches einen kleinen Einblick in die politisch-militärischen Strukturen der ELN in den städtischen Teilen des Landes ermöglicht und versucht, ein Verständnis für den berechtigen Widerstand des kolumbianischen Volkes zu schaffen.

Wie unterscheidet sich die Stadtguerilla von der Guerilla auf den Bergen und im Dschungel? Was sind ihre Aufgaben?

Die Geschichte des Kampfes der ELN beinhaltet die Erfahrung des städtischen und ländlichen Kampfes seit ihrem Ursprung, als Student:innen und junge Revolutionär:innen in den 1960er-Jahren die Aufgabe der Organisation von ersten Guerilla-Gruppen in städtischen Zentren übernahmen.

Deshalb wird auf den Feldern und in den Städten der bewaffnete Kampf geführt – zwei Gebiete mit unterschiedlichen Möglichkeiten, aber integriert in eine Strategie des poder popular (der „Volksmacht“) und der Konstruktion des Sozialismus. Der Hauptunterschied zwischen der Stadtguerilla und der ländlichen Guerilla ist gekennzeichnet durch das Gebiet und die materiellen Bedingungen. Die Stadtguerilla entwickelt ihre militärische und politische Aktivität in den Städten Kolumbiens unter den Bedingungen, welche vom Feind und den Werkzeugen des Imperialismus geschaffen sind. Der Kampf der städtischen Guerilla ist im Untergrund, unterteilt, und mit Sicherheitsmethoden, die es ermöglichen, dass Aktionen unsichtbar sind. Die Stadtguerilla führt viele unterschiedliche logistische militärische und politische Aufgaben im Rücken des Feindes aus.

Die ländliche Guerilla ihrerseits bewegt sich und handelt in verschiedenen vorstädtischen und ländlichen Gebieten, in denen die feindlichen Aktionen und Kontrollmittel anders als die der Guerilla sind. Die ländliche Kraft bringt eine Strategie zusammen, die zum Aufbau von Volksmacht, Legitimität und politischer Kraft sorgt, während sie gleichzeitig militärische Konfrontation mit den feindlichen Streitkräften führt. Sowohl der städtische als auch der ländliche Kampf ist Teil des Widerstandskampfes.

Die städtische Guerilla entwickelt einen Plan auf umfassender Weise, politisch, militärisch, logistisch usw. in der Stadt. Im Rahmen des Widerstandskampfes hat der Stadtkampf die erste Aufgabe zum Aufstand des Volkes beizutragen, wobei er versteht, dass der bewaffnete Kampf der ELN Teil der Kämpfe der Menschen des Landes ist. Die Waffen der ELN zielen darauf ab, den Kampf der Menschen zu stärken und den politischen Kampf voranzutreiben.

Wie hat sich die Stadtguerilla im Laufe der Jahre entwickelt?

[Auf die Frage antworteten unsere Dialogpartner:innen der Frente Urbano nicht direkt, sondern mit einem Dokument der Führung der FGUN-ELN (Dirección Frente de Guerra Urbano Nacional – ELN, deutsch: Führung der nationalen Stadtkrieg-Front – ELN). Das Dokument werden wir im Folgenden in seiner Gesamtheit übersetzen:]

„Seit ihrer Gründung hat die ELN die entschlossene Beteiligung der in den Städten lebenden Genoss:innen. Bei der Bildung der José-Antonio-Galán-Brigade und in den ersten Guerillakernen gibt es die Eingliederung von Militanten, die mit ihrem Engagement und Einsatz viel beigetragen haben, insbesondere unser Oberbefehlshaber Camilo Torres Restrepo ist das deutlichste Beispiel dafür. Daher trägt die FGUN seinen Namen als Anerkennung für einen der größten Revolutionäre unseres Mutterlandes und Lateinamerikas.

Es war kein einfacher Prozess, eine nationale Stadtkrieg-front zu bilden. Die Geschichte der städtischen Kämpfe und der in den Städten geborenen Militanz ist voll unsterblicher Erinnerungen an Genoss:innen, viele von ihnen anonyme Revolutionäre, die ihren Beitrag geleistet haben. Sie gaben ihr Bestes für eine menschliche und inklusive Gesellschaft. Im Prozess der Reifung und des Lernens, wie er für jede Organisation typisch ist, hat die ELN zunehmend die entscheidende Bedeutung der Beteiligung der in Städten lebenden Volksmassen für den revolutionären Kampf verstanden.

In den ersten Lebensjahren der ELN war die Arbeit in den Städten von grundlegender Bedeutung für die logistische Unterstützung, die Aufnahme von mutigen Militanten für die Entwicklung des Guerillakerns sowie für militärische Aktionen und die Beschaffung wirtschaftlicher Ressourcen. Der unschätzbare Beitrag unseres Oberbefehlshabers Camilo Torres und die wertvolle Erfahrung der „Vereinigten Front“ (eine Theorie formuliert von Camilo Torres), lehrte die ELN, dass es notwendig war, im gesamten Ausmaß zu analysieren, wie sich die städtische Arbeit im Land repräsentiert.

Auf diesem Weg wurde in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre der Schritt unternommen, regionale Strukturen zu bilden, die eher städtischer Natur waren, was der ELN-Organisation auf einer gesamten nationalen Dimension geholfen hat. Für das Jahr 1989 erarbeitete die ELN auf dem II. Kongress „Volksmacht und neue Regierung“ eine tiefere Vorstellung der städtischen Arbeit in den sogenannten revolutionären Massenbasen und skizzierte, was heute eine territoriale Strategie sein könnte. Wie jede revolutionäre Aktivität blieb die städtische Arbeit nicht von Schwierigkeiten verschiedenster Art verschont, doch gleichzeitig hat sie Momente der Entwicklung und der Planung und Orientierung erlebt. Die neunziger Jahre sind ein Beispiel für beide Dimensionen. Sie waren eng verbunden mit der Komplexität des Kampfes, den repressiven Auswirkungen der verschiedenen Regierungen und dem Staatsterrorismus, welcher sich in diesem Jahrzehnt in der Barbarei der paramilitärischen Armeen ausdrückte.

Bereits für die Jahre 2000-2001 wurde eine Koordinierungsarbeit für städtische Strukturen entwickelt, die von Mitgliedern der nationalen Direktion unterstützt wurde. 2004 skizziert die nationale Organisation Ziele, um die Wiederzusammensetzung und Aufnahme der Arbeit zu erreichen und Prozesse der Eingliederung der verschiedenen städtischen Arbeiten in den verschiedenen Städten zu entwickeln und diese zu vereinheitlichen. Man beginnt, eine nationale urbane/städtische Koordination zu strukturieren, was mit der Zeit zu einer größeren Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den urbanen/städtischen Gruppen führt.

Der 4. Kongress der ELN bestätigte diese Definitionen als Prioritäten der politischen Arbeit und der organisatorischen Aktion in den Städten, einhergehend mit den Kämpfen der Massen. Außerdem plant die ELN diesen Wiederaufbauprozess im strategischen Sinne, und bewegt die Führung zu der Schaffung einer Kriegsfront, die eine einzigartige Struktur aufbauen soll, indem sie die Beziehungen zu und die Interaktionen mit den ländlichen Strukturen aufrechterhält und verbessert. Der Kongress richtet sich darauf aus, einen urbanen/städtischen nationalen Rat zu bilden, um sich mit verschiedenen Themen der städtischen Realität und der Organisierung der Arbeit in den Städten auseinanderzusetzen.

Von 2006 bis 2014 schritt die Arbeit an der Schaffung einer Kriegsfront voran, wobei das Augenmerk vorrangig darauf liegt, sich in die politische Dynamik des Landes einzufügen und sich einen Platz bei den Arbeiter:innen, Studierenden und Bewohner:innen der Städte zu verschaffen. Eine bedeutende Zahl an Städten wird in die Arbeit integriert, die Arbeit wird städteweise organisiert. Unter Berücksichtigung der Definitionen und Pläne findet 2014 die konstitutive Versammlung der nationalen Stadtkrieg-Front statt, bei der eine Präsentation zur städtischen Arbeit genehmigt, ein Arbeitsplan verabschiedet und eine städtische Führung gewählt wird.

Der Fünfte Kongress bestätigt die Existenz der Front, ihr Fortbestehen und ihren Namen Städtisch-Nationale Kriegsfront Oberbefehlshaber Camilo Torres Restrepo“

Welche Rolle spielt die Guerilla im antikapitalistischen Kampf weltweit?

Che Guevara definierte die Guerilla so: „Die Guerilla ist eine bewaffnete, disziplinierte und politisch bewusste Avantgarde der Arbeiter:innen.“

Wir betrachten uns als Teil des guevaristischen Erbes und die Theorie leitet uns in seinen antiimperialistischen Kampfstrategien. Die Guerillas sind Ausdruck des antikapitalistischen und antiimperialistischen Widerstands des kolumbianischen Volkes. Es liegt in der Verantwortung der Guerilla, den Kampf für eine politische Lösung des bewaffneten Konflikts in Richtung der Progressivität, die das Land braucht, fortzusetzen. Diese Veränderungen sind eine wirtschaftliche, politische und soziale Alternative für die nationalen Mehrheiten, d. h. eine neue Regierung, die die einfache und bedürftige Bevölkerung auf dem Land und in der Stadt in den Mittelpunkt stellt und solidarische Beziehungen zu den Völkern Amerikas und der Welt aufbaut.

Es braucht eine neue Regierung für die Förderung der demokratischen und revolutionären Transformationen, die das seit der Kolonialzeit etablierte oligarchische Stadium des Staates überwindet. Die ELN identifiziert sich mit dem proletarischen Internationalismus und sympathisiert mit den antiimperialistischen Kämpfen der Völker Amerikas und der auf der gesamten Welt. Wir sind daher der Ansicht, dass unsere Rolle darin besteht, zu diesem antikapitalistischen Kampf mit unseren Praktiken der Theorie der Volksmacht beizutragen, mit dem täglichen Kampf um die Errichtung neuer Solidaritätsstrukturen, dem entschlossenen Kampf gegen den Paramilitarismus und die staatlichen Streitkräfte, die den Staatsterrorismus als offizielle Politik durchführen.

Wir werden angetrieben durch unsere Verpflichtung für die Revolution und unser Klassenbewusstsein. Die Revolutionäre dieser Welt können sich darauf verlassen, dass die ELN dem Widerstand und dem Kampf gegen den Kapitalismus und den Gringo-Imperialismus Kontinuität verleiht.

Wie wird Ihr täglicher Alltag vom revolutionären Leben beeinflusst?

Für die Elenos, die Mitglieder der ELN, ist das revolutionäre Leben das tägliche Leben, da es ein Leben ist, welches ganztägig darauf ausgerichtet ist, die Aufgaben der Revolution zu erfüllen. Im Rahmen des Kampfes führen wir unser Familienleben und unser tägliches Leben. Es gibt keine Unterschiede. Das revolutionäre Leben ist kein Leben, das einen täglichen Zeitplan hat, sondern alles, was wir als Rebellen tun, ist Teil der revolutionären Aufgabe. Eleno zu sein ist ein Projekt des revolutionären Lebens, in dem wir alles auf andere Weise aufbauen müssen, wir müssen die Kollektivität und Volksmacht in den verschiedenen Lebensbereichen aus einer revolutionären und antikapitalistischen Perspektive aufbauen. Unser tägliches Leben ist das gleiche wie das der Mehrheit der Menschen, die in den großen Nachbarschaften die Mängel erleben und den Widerstand leben, um die Probleme zu lösen, während sie gegen den Feind handeln und zur Organisation beitragen. Es ist ein Kampf, der in das Leben der Nachbarschaft, der Gemeinde, der Bevölkerung und ihrer Gebiete integriert ist. Wir sind Kinder des Volkes, wir leben wie das Volk und wir kämpfen mit dem Volk.

Wie wichtig ist die Jugend im revolutionären Kampf?

Die Jugend hat im revolutionären Kampf in Kolumbien und insbesondere im bewaffneten Kampf eine zentrale Rolle gespielt. Die ELN bestand von Anfang an aus jungen Menschen, Student:innen und Bäuer:innen, die am 4. Juli 1964 den ersten Marsch und am 7. Januar 1965 die anschließende politisch-militärische Gründungsaktion in Simacota Santander organisierten. Die revolutionäre Jugend hat verstanden, dass der revolutionäre Kampf ein Volkskampf ist, und hat zu den verschiedenen Szenarien beigetragen, sowohl im militärischen als auch im politisch-sozialen Bereich. Die Massenkämpfe von Student:innen und Arbeiter:innen in den 1960er-Jahren bildeten den Hintergrund für den bewaffneten Aufstand der Guerillas in Kolumbien. Die Jugend hat dann in allen Aspekten einen Beitrag geleistet, und ihr Engagement und ihre Bereitschaft zur Arbeit haben die Geschichte der kolumbianischen Revolution geprägt. Die gleiche Rolle haben junge Menschen in ganz Lateinamerika gespielt, sei es in der Guerilla oder in legalen und parteipolitischen Kampfmodalitäten. Der Beitrag ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Geschichte des kontinentalen Widerstands gegen den Imperialismus, von dem Süden des Rio Grande in Mexiko bis nach Patagonien in Argentinien.“

Was raten Sie den Revolutionär:innen in imperialistischen Ländern?

Als ELN respektieren wir die revolutionären Prozesse anderer Völker und die Wege und Optionen, die in der Hitze des Kampfes in Europa und anderen Gebieten gewählt wurden. Wir schätzen die Beiträge und die Bereitschaft, Wege der Solidarität und des gemeinsamen Kampfes im Kampf gegen die Feinde der Menschheit zu schaffen. In dieser Reihenfolge begrüßen und gratulieren wir den Kämpfen der Brudervölker der Welt und fordern sie auf, die Arbeit für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, die den Bedürfnissen des Planeten entspricht, nicht aufzugeben und fortzusetzen.

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Ein Kommentar über “„Wir sind Kinder des Volkes“ – Interview mit der kolumbianischen Stadtguerilla FGUN”

    Helina 27. August 2020 - 18:46

    vallah endlich mal ELN 😀
    stabillllll