Täter-Milieu bekannt, Ermittlungen ergebnislos – Der rechte Terror in Neukölln

16. Juli 2020

Seit Februar 2018 hat sich das Leben des Neuköllners Ferat Kocak grundlegend verändert. Neonazis hatten seinen PKW vor der Wohnung seiner Eltern in Brand gesetzt. Leicht hätten die Flammen auf das Wohnhaus übergreifen können, in dem Menschen schliefen. Kocak zog in der Folge des Attentats weg aus Berlin. „Wenn ich bei meinen Eltern bin, dann sehe ich immer noch die Flammen vor mir, da konnte ich nicht bleiben“, sagt der Linken-Politiker mit kurdischen Wurzeln gegenüber lower class magazine. Und er verlor zwei Jobs, den Arbeitgebern war seine Präsenz in der Öffentlichkeit zu viel.

Der Anschlag auf Ferat Kocak ist kein Einzelfall. Seit 2016 lassen sich dutzende Brandanschläge, Steinwürfe, politische Drohungen an Privatwohnungen in Neukölln einer Serie von rechten Gewalttaten zuordnen. Die nach zahlreichen „Ermittlungspannen“ eingerichtete BAO Fokus der Berliner Polizei bilanziert in ihrem Zwischenbericht vom Februar 2020, insgesamt seien 72 Straftaten, davon 23 Brandstiftungen Gegenstand ihrer Ermittlungen.

Die Ziele: Linke, Sozialdemokrat*innen, Migrant*innen und Lokale, die im Zuge der Hetze gegen sogenannte „kriminelle Clans“ öffentlich diffamiert wurden. Die Strategie der Taten ist nicht schwer zu verstehen: Nadelstiche, die politische Gegner*innen einschüchtern und im besten Fall zur Aufgabe zwingen sollen – in einem Bezirk, der sowohl von der NPD, wie auch von der AfD als ein Schwerpunktbereich ihrer Tätigkeit gesehen wird.

Zumindest für einen Teil der Anschläge weiß man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, aus welchen Kreisen sie kommen. Und dennoch wurden die betreffenden Personen nicht belangt. Bereits mindestens seit Januar 2017 beobachtete der Verfassungsschutz (VS) zwei Neonazis, Sebastian T. und Tilo P. Diese spähten das spätere Opfer Ferat K. vor dem Anschlag aus, der VS übermittelte seine Informationen an das Landeskriminalamt (LKA) noch vor dem Brandanschlag. Es passierte nichts. Warum nicht?

Die Personalien T. und P. verweisen auf ein bestimmtes Milieu. T. ist ein seit Jahrzehnten bekannter rechter Gewalttäter, den antifaschistische Gruppen zusammen mit Julian B. schon für eine frühere Anschlagsserie in Neukölln im Jahr 2011 verdächtigten. Sebatsian T. galt als eines der wichtigsten Verbindungsglieder der rechtsterroristischen Gruppierung „Nationaler Widerstand Berlin“ (NW Berlin) und der NPD.

Und Tilo P. erfüllt dieselbe Scharnierfunktion für die Neuköllner AfD. Die Neuköllner AfD-Gruppe gilt seit langem als besonders rechter Teil in einer ohnehin weitgehend offen faschistischen Partei. Über die Jahre entstand ein Netzwerk von in „Freien Kameradschaften“ organisierten Neonazis, AfD-Funktionären und rechten Hooligans. Das „Bindeglied“ zwischen diesen Milieus, laut Recherche-Antifaschist*innen: Tilo P.

Weitere Personalien der Neuköllner AfD verweisen darauf, dass hier durchaus eine Bereitschaft zur Teilnahme an Angriffen auf politische Gegner*innen vorhanden ist: Christian B. und Danny D. waren Teil des Umfelds der Nazihool-Gruppe „Wannsee Front 83“, die u.a. für den rechten Mord an Peter Konrad 1993 verantwortlich ist. Christian B. stand zudem mit einer Reihe von Neonazis in Kontakt, die dem Netzwerk „NW Berlin“ zugerechnet werden können – von denen immer wieder Angriffe auch in Neukölln ausgingen.

Woher kommen die Daten der Rechtsterroristen?

Nach dem Anschlag, so erinnert sich Ferat K., sei irgendwann ein Polizist aus der für rechte Straftaten zuständigen Abteilung des LKA zu ihm gekommen, habe ihm von den abgehörten Telefonaten Sebastian T.´s und Tilo P.´s erzählt und gesagt: „Jetzt haben wir sie.“ Aber wieder nichts. „Offenbar hat das für die Staatsanwaltschaft nicht gereicht“, ist K. erstaunt.

Die Anschläge gehen weiter, auch nachdem im Frühjahr 2018 eine Hausdurchsuchung bei T. zur Beschlagnahmung von Datenträgern führt. Die Auswertung gestalte sich schwierig, weil die Festplatten verschlüsselt seien, hieß es aus Polizeikreisen zunächst. Ein Haftbefehl gegen T. wird vom Amtsgericht Tiergarten abgelehnt – obwohl augenscheinlich Wiederholungsgefahr besteht. Die Festplatten, so stellt sich Jahre später heraus, waren überhaupt nicht verschlüsselt. Wieder eine Panne?

Ferat K. glaubt daran nicht mehr so richtig. „Ich habe schon manchmal den Eindruck, dass hier so etwas wie ein „tiefer Staat“ im Spiel ist. Dass Behörden diese Nazis decken“, vermutet er. Und der Verdacht ist nicht unbegründet.

Szenenwechsel: Als die Daten des Computers von T. nun doch endlich „entschlüsselt“ wurden, stießen die Behörden auf umfassende Listen politischer Gegner*innen. Diese umfassten nicht nur Opfer bereits vollzogener Anschläge und Drohungen, sondern auch – Medienberichten zufolge – hunderte weitere Personen.

Spät, aber doch machte sich die von der Polizei eingerichtete BAO (Besondere Aufbau-Organisation) Fokus daran, die Betroffenen zu informieren. Eine der Gelisteten, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, wird seit Jahren von Neonazis verfolgt und bedroht. An Emails und Nachstellungen hatte sie sich bereits gewöhnt, als 2018 eine Mail bei ihr eintraf, die ein geheim angefertigtes Foto von ihr und ihrer Familie enthielt. „Besonders gruselig fand ich, dass ich nicht mitbekommen habe, dass uns da jemand fotografiert hat. Ich habe die Person absolut nicht wahrgenommen“, sagt sie. Handelt es sich um technisch besonders versierte Neonazis, die die Observation ihrer Opfer perfektioniert haben? Oder könnte das Foto aus einer Polizeiobservation stammen?

2020 wird die Betroffene darüber informiert, dass der Neuköllner Neonazi T. auch ihre Daten hortete. Sie gibt gegenüber lower class magazine zu Protokoll: „Ich wurde angerufen und mir wurde mitgeteilt, dass sich unter der Datensammlung eines Rechtsextremisten Bilder und Videomaterial sowie mein Name und meine Personalausweisnummer befanden“, so die Berlinerin. Woher hat Sebastian T. die Personalausweisnummer einer fremden Person?

Abwegig sind auch diese Fragen nicht. Wie antifaschistische Kreise aus Neukölln berichten, richtete sich eine der Droh-Graffitis in Neukölln gegen die Wohnung einer Person, die dort zwar gemeldet war – aber dort nicht wohnte. Würden alle Daten der Täter aus eigenen Observationen stammen, hätten sie das bemerken müssen. Aber nicht, wenn die Meldeadresse der Ziele etwa in einem Polizeicomputer abgefragt wird.

Das erste Mal wäre das nicht. Ende 2017 verschickte der Berliner Polizist Sebastian K. Drohbriefe an Linke. Als nichts mehr zu leugnen war, gestand er die Tat und die Behörden erklärten den Fall rasch für abgeschlossen. Nach möglichen Mittätern wurde nicht mehr gesucht, obwohl die Lebensgefährtin von K. für das Landeskriminalamt tätig war. Und das obwohl sich sogar ein Zusammenhang mit der absurden Verlagerung von Observationsteams weg vom späteren Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri hin zu ach so gefährlichen „Linksextremisten“ vermuten ließe.

Auf einen weiteren Weg des Datenabflusses hin zu Rechtsterroristen machen Aktivist*innen der Antifa-Plattform neuköllnwatch gegenüber lower class magazine aufmerksam: „Ein weiteres interessantes Beispiel ist das Verfahren wegen eines Angriffs auf den Rechtsrockmusiker Peter B. in Kreuzberg, wo willkürlich ausgewählte Antifas als Beschuldigte geführt wurden, um so ihre persönlichen Daten in die Ermittlungsakten aufzunehmen und über die Akteneinsicht an die Neonazis weiterzugeben. B. wurde von einem rechten Szeneanwalt vertreten, der auch schon Sebastian T. vertreten hat.“ Ähnlich sei die behördliche Datenübertragung gelaufen, als drei rechte Youtuber vor dem linken Haus in der Rigaer Straße 94 vertrieben wurde: „ Das LKA führte sämtliche in der Rigaer94 gemeldeten Leute als Beschuldigte, die Nazis nahmen Akteneinsicht und veröffentlichten anschließend die Daten.“

Direkte Kontakte?

Das ARD-Magazin Kontraste und der rbb berichteten bereits im April 2019, dass sie über Erkenntnisse verfügten, nach denen ein Beamter des Landeskriminalamts in einer einschlägig bekannten Neuköllner Kneipe von einer anderen Behörde – man darf annehmen, dem Verfassungsschutz – beobachtet worden sei, wie er sich mit Neonazis traf. Unter den Kontakten: Sebastian T. Dienstlich ist das Treffen nicht und W., so wird der Beamte abgekürzt, steigt danach zusammen mit dem mutmaßlichen Rechtsterroristen in sein Auto und fährt weg.

Mediennachfragen bei der Berliner Generalstaatsanwaltschaft bleiben ohne inhaltliches Ergebnis, bis mitgeteilt wird, dass das Verfahren gegen W. eingestellt wurde und eine Auskunftserteilung „im Zusammenhang mit einem weiteren Ermittlungsverfahren, bei dem eine Auskunftserteilung einer Ermittlungsgefährdung entgegensteht“ abgelehnt werde – was auch immer das heißen mag. Im zitierten Zwischenbericht der angeblich zur Aufarbeitung von Polizeifehlern eingerichteten BAO Fokus nimmt dieser vermutete Kontakt gerade einmal zwei Absätze ein, deren Resultat: Es gebe „nach Auffassung der BAO Fokus mehr Zweifel daran als Anhalte dafür“, dass besagter Polizist W. Kontakte zu Sebastian T. hatte. Fall erledigt und damit auch das ganze Kapitel zum „Informationsabfluss“ von Polizei zu Neonazis, den die Polizei – welch Wunder – als nicht beweisbar ansieht.

Dabei dürfte er ein durchaus gängiges Problem sein, da die Rechtspartei AfD, die – so auch in Neukölln – generell sehr häufig im Umfeld von Rechtsterroristen zu finden ist, unter Polizisten überdurchschnittlich beliebt ist. Und mit guten Kameraden teilt man eben. So leitete der Berliner Polizist Detlef M., selbst Mitglied in der Neuköllner AfD, an seine Parteikameraden Interna zum Fall Anis Amri weiter. Unter denen, an die die Informationen ergingen: Tilo P., Sebatian T.s mutmaßlicher Komplize zumindest bei Teilen der Brandanschläge. Detlef M. sei, so berichtet neuköllnwatch, „an Absprachen zu einem Buchladen in Rudow beteiligt gewesen, der danach mehrmals heftig angegriffen wurde“.

Neuköllnwatch bilanziert: „Wir haben also: Polizisten in Chatgruppen mit Neonazis, Polizisten, die sich mit Neonazis in rechten Kneipen treffen, Polizisten die Drohbriefe an Linke schreiben, Polizisten die Ermittlungsakten nutzen, um darüber persönliche Daten von Linken an Neonazis weiterzugeben, und Polizisten, die die Prioritäten der Observationsziele manipulieren, um statt Neonazis oder Islamisten die Linken zu gängeln.“ Eine ganze Menge zu tun für einen vermeintlich „linken“ Senat, möchte man meinen. Doch Aufklärung bleibt aus.

Eine „neue“ Serie von Bränden?

Die Brandanschläge gehen auch im Jahr 2020 weiter – mal mit Bekennerschreiben, mal ohne, was Beobachter*innen aus Medien und Polizei zur Schlussfolgerung veranlasst hat, es handle sich nun um eine „andere“ Serie und „neue“ Täter*innen. Bei neuköllnwatch sieht man das anders: „Wir gehen davon aus, dass die Angriffe der letzten Wochen mit denen der letzten Jahre zusammenhängen. Was auch sonst? Selbst wenn es individuell andere Neonazis waren, die hier aktiv geworden sind, sind sie definitiv mit den anderen bekannten Neonazis zusammenzurechnen.“ Die Vernetzung des Milieus faschistischer Gewalttäter in Berlin ist hoch. Gerade die Recherchearbeit antifaschistischer Strukturen in den vergangenen Jahrzehnten hat ein Netzwerk älterer rechtsterroristischer Kader und ihres Nachwuchses fast lückenlos dokumentiert. Doch wo der Wille fehlt, fehlen auch Ermittlungen.

Dabei ist die Anschlagsserie bis zum 19.6. weiterhin klar als rechte identifizierbar: Am Tatort des Anschlags auf einen Transporter vor einer Konditorei in der Sonnenallee finden sie Nazi-Sprühereien, ebenso am 5.6. in Wohnhäusern und an Geschäftsräumlichkeiten in der Wildenbruchstraße oder am 10.5. in der Laubestraße, wo vier Autos ausbrennen.

Interessant sei so neuköllnwatch, dass seit dem 19.6. keine Nazisymbole mehr an den Tatorten hinterlassen wurden. “Das heißt dass entweder Trittbrettfahrer unterwegs sind, oder dass die Nazis inzwischen sicher sind, dass ihre Message angekommen ist, und dass sie sich nun nicht mehr explizit bekennen müssen. Die Taten hätten damit eine doppelte Wirkung, einerseits der Angriff, andererseits der „zweite Angriff“, wenn Polizei und Presse das rechte bzw. rassistische Motiv leugnen, weil es kein explizites Tatbekenntnis gibt.“ In der Tat passiert seit dem 19.6. genau das: Die Brände, die immer noch mit Regelmäßigkeit geschehen, werden von vornherein zu unpolitischen Ereignissen erklärt. So wird bei einer schweren Brandstiftung, bei der sich die Bewohner eines Hauses Ecke Jahnstraße/Buschkrugallee in Lebensgefahr befanden, der Fall von der Polizei zunächst als unpolitisch behandelt, anstatt in Erwägung zu ziehen, dass es sich um eine Fortsetzung des rechten Terrors handeln könnte.

Was tun?

Einige der Opfer der Terrorserie haben sich zurückgezogen. Ferat K. will mit den Attacken anders umgehen, sich organisieren, mit anderen gegen den Terror aufstehen. „Für mich ist das sehr wichtig. Ich mache politisch mehr und mehr, das ist mein Weg, mich damit auseinanderzusetzen“, sagt er.

Im Moment seien es dabei zwei Strategien, die er für richtig hält. Am wichtigsten sei es, dass die Menschen in Neukölln sich den Nazis entgegenstellen: „Wir müssen uns hier im Kiez organisieren, da sehe ich Migrantifa als einen guten Anfang“, so K.

Zum anderen gebe es auch noch parlamentarische Möglichkeiten: Das Erzwingen eines Untersuchungsausschusses. Und: „Wir wollen, dass auch auf Landesebene anerkannt wird, dass es sich um rechten Terror handelt. Dann könnte sich die Bundesanwaltschaft einschalten.“ K. weiß aber auch: Dass in dieser Legislatur noch ein U-Ausschuss kommt, ist äußerst unwahrscheinlich. Den Ärger darüber, auch über K.´s eigene Partei „Die Linke“, merkt man dem Aktivisten an: „Es gibt einen einstimmigen Beschluss der Landespartei für einen Untersuchungsausschuss, aber was tun die Regierungsfunktionär*innen der Partei dafür? Gar nichts. Ich überlege manchmal, ob ich nächstes Mal CDU wählen soll, weil wenn wir eine rechte Regierung hätten, hätten die linken Parteien längst einen U-Ausschuss beschlossen, schon um denen eins reinzudrücken.“

#Titelbild: PM Cheung

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