Insgesamt 8 Minuten und 46 Sekunden kniete der US-amerikanische Polizist Derek Chauvin auf Nacken und Hinterkopf des 46-jährigen George Floyd. 8 Minuten und 46 Sekunden, in denen Floyd röchelte, keine Luft mehr bekam, um sein Leben flehte. Erst als der Schwarze Floyd offenkundig halbtot war, sich nicht mehr bewegte, ließen die Cops von ihm ab und spazierten seelenruhig weg. Wenig später wurde der Tod des ohne sichtlichen Grund ermordeten Floyd festgestellt.
Der Polizeimord an George Floyd ist kein Einzelfall. In Schwarzen und armen Communities sind Tote durch staatliche Gewalt keine Seltenheit, eine Studie errechnet, dass statistisch 1 von 1000 Schwarzen Männern in den USA damit rechnen kann, von der Polizei getötet zu werden.
Gelegentlich wird einer dieser Fälle zum Ausgangspunkt politischer Demonstrationen und lokaler Aufstände, so wie derzeit. Nach dem Mord an Trayvon Martin war das der Fall, genauso nach dem an Michael Brown oder Eric Garner. Und wann immer das Thema dann in den Medien ist, werden auch jene liberalen Gutmenschen aufgescheucht, die sofort den Zeigefinger heben und zur Gewaltlosigkeit aufrufen.
Nun ist grundsätzlich ja nichts Schlechtes an Gewaltlosigkeit. Wenn man etwas gewaltlos erreichen kann, sollte man diesen Weg natürlich gehen. Nur steht diese Option für die Masse der Armen und rassistisch Unterdrückten in den USA nicht zur Verfügung. Sie haben keine Wahl, als sich zu wehren, auch mit Gewalt, denn die einzige Alternative wäre Unterwerfung. Wenn eine Armee von militarisierten Polizeieinheiten Jagd auf jede Person macht, die sie als Schwarz identifiziert, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich „friedlich“ für seine Interessen einzusetzen.
Dem liberalen Aufruf, doch bitte nett und zivilisiert empört zu sein, liegt ein grundsätzliches Missverständnis darüber, was diese Polizei ist, zu Grunde. Der Mittelklassenliberalo sieht in den Cops grundsätzlich einen Schutz der „Bürger*innen“ eines Landes. Und diese Länder, weil er gar keinen Begriff von Klassenherrschaft hat, hält er für „demokratisch“. Insofern glaubt er: Wenn man ruhig bleibt, Petitionen schreibt und ein paar Lieder singt, kann man sich „einbringen“ und alles wird gut.
Allerdings ist in der Wirklichkeit, fernab von den wohlsituierten Gutmenschen-Bubbles, das Gegenteil der Fall: Nationen wie die USA sind auf Ausbeutung und Unterdrückung errichtet, ihr Geschäftskonzept ist genau das. Und die letztendliche Funktion der Polizei als Ganzer ist es nicht, Kinder über Zebrastreifen zu lotsen, sondern diese Ordnung aufrechtzuerhalten, die am Ende nur mit Gewalt aufrechterhalten werden kann, weil sie gegen die Lebensinteressen der Mehrheit der Menschen eingerichtet ist. Gerade in der Sklavenhalternation USA, in der bis heute Schwarze aus den Armenvierteln in den Gefängnis-Industriellen-Komplex eingespeist werden, bedeutet das auch: Die Polizei ist nicht dazu da, den Rassismus zu bekämpfen, sie ist dazu da, ihn aufrechtzuerhalten. Und zwar unabhängig von der Hautfarbe, dem Geschlecht oder der Gesinnung des einzelnen Cops.
Deshalb ist Derek Chauvin auch kein außergewöhnlich „schlechter Polizist“, sondern einfach einer, der das Unglück hatte, bei seinem täglichen Broterwerb gefilmt zu werden. Die Derek Chauvins dieser Welt, die den Mord ausführen, leben in „Polizeifamilien“, die den Mord decken und werden gestützt von Regierungen, die das durchgehen lassen, weil sie wissen, dass die Grundlage ihrer Macht am Ende in genau dem Gewaltmonopol besteht, dass auch den Derek Chauvins die Möglichkeit gibt, hie und da mal „über die Stränge zu schlagen“. Die Aufgabe der Derek Chauvins und ihrer Kolleg*innen ist am Ende, die Bevölkerung ruhig zu halten: Dort, wo es reicht, durch eine Drohkulisse und juristische Verfahren, dort wo es nicht mehr reicht, durch offene Gewalt bis hin zum Mord.
Die dutzenden Augen, die die französische Polizei in ihrem Kampf gegen die Gelbwesten ausschoss, die selbst von Jurist*innen bemängelte vollkommene Straflosigkeit deutscher Polizist*innen nach Übergriffen, die vielen hundert Polizeimorde jedes Jahr in den USA, die Massenmorde brasilianischer Sondereinheiten in den Favelas und die Hinrichtungen von Oppositionellen durch die Polizei der Junta in Bolivien – sie sind alle Symptom ein und derselben Sache: Eine Truppe, deren Sinn und Zweck die Aufrechterhaltung eines gegen die Bedürfnisse und Interessen der Mehrheit der Menschen gerichteten Systems ist, muss die Bevölkerung als Feind sehen. Und solange der Feind ruhig ist, holt man ihm auch mal die Katze vom Baum oder setzt einen lustigen Tweet ab. Aber wehe, er muckt auf.
Die Entblößung dieser Funktion der Bullen bis zur hässlichsten Nacktheit fand in den vergangenen Tagen nicht nur durch Derek Chauvin statt. Viel ehrlicher waren noch seine tausenden Kolleg*innen, die seit zwei Tagen die rebellierenden Städte der USA heimsuchten: Sie fuhren mit dem Dienstwagen in Menschenmengen, schossen Tränengas unterschiedslos auf friedliche wie militante Demonstrant*innen, entführten mit Taser-Einsatz Zivilist*innen aus ihren Autos, zogen schwer bewaffnet durch völlig ruhige Straßen und schossen auf Passant*innen, die es wagten, sich außerhalb ihres Hauses aufzuhalten.
Jedes einzelne Bild dokumentiert umfassenden Staatsterror, denn „Terror“, dass ist der Versuch, eine Bevölkerungsgruppe durch systematische Gewalt einzuschüchtern und zu unterwerfen. Nichts anderes sehen wir. Und jede*r Polizist*in, auch die, die sich jetzt mit irgendwelchen humanistischen Statements zu Wort melden, ist Teil dieses Terrors. Die einzige Ausnahme: Diejenigen, die ihre Uniform ausziehen, fein säuberlich zusammenlegen, anzünden und dann auf die andere Seite wechseln.
Titelbild: Emory Douglas (https://www.pinterest.de/pin/572520171353210027/)
Die Spinnen 31. Mai 2020 - 23:01
Volle Zustimmung, aber zwei kleine Ergänzungen:
– wie sehr sich Bullen wie dieser Chauvin offenbar im Recht fühlen, zeigt schon die einfache Tatsache dass nicht einmal die Allgegenwart von Smartphonekameras solche Übergriffe bremst. Man(n) fühlt sich sicher. Klar, auch Bullen müssen mittlerweile davon ausgehen, dass sie nicht mehr das Deutungsmonopol über Vorfälle haben – aber das juckt sie offenbar kein Stück.
– die aktuell in den USA stattfindende Revolte fällt in eine Zeit, die günstiger kaum sein könnte. Die Linke und selbst Teile der Liberalen sind nach dem Putsch gegen Bernie Sanders völlig desillusioniert, was die Chancen auf Veränderung durch Wahlen angeht. Donald Trump gibt ein so ausgezeichnetes Feindbild ab, wie es sich jede Bewegung nur wünschen kann. Die Corona-Pandemie hat nicht nur den Rassismus, sondern auch die Klassenverhältnisse brutal offengelegt und gleichzeitig Millionen Menschen an den Punkt gebracht, an dem sie nichts mehr zu verlieren haben – außer ihre Ketten.
Für einen proletarischen, revolutionären Antirassismus - einige Überlegungen zum Aufstand in den USA - Lower Class Magazine 5. Juni 2020 - 10:29
[…] zu verwenden. Allerdings kommt es darauf an, wie man beides versteht. Denn Polizeigewalt ist nicht in erster Linie die Gewalt einzelner Polizisten, die „über die Stränge schlagen“. Und Rassismus erschöpft sich nicht einfach in der […]