Erdbeben in der Türkei und Syrien: Keine Heilung ohne Rechenschaft

19. Februar 2023

Autor*in

Osman Oğuz

In der Türkei und Syrien gab es am 6. Februar zwei heftige Erdbeben. Die offizielle Zahl der Toten beträgt zur Zeit mehr als 42.000, davon 36.200 in der Türkei und 5.900 in Syrien. Dieser Text besteht aus Notizen zu dieser Katastrophe am zehnten Tag danach.

Rettungsleine Solidarität

Das Wichtigste zuerst: Die Solidarität. In allen Städten der Türkei ist seit den Erdbeben eine überwältigende gegenseitige Hilfe zu beobachten. Millionen Menschen sammeln Sach- und Geldspenden und öffnen ihre Häuser für Überlebende, die ihr Zuhause verloren haben. Zehntausende sind bereits in die betroffene Region gefahren, um sich an Hilfs- und Rettungsarbeiten zu beteiligen. Tagtäglich kommen hunderte selbstorganisierte LKWs voller Hilfsgüter in die Region. Die demokratischen, linken Kräfte des Landes führen vielerorts diese Solidarität an. In sozialen Netzwerken, die zur Zeit praktisch die Öffentlichkeit der Türkei darstellen, wird seit dem Tag über nichts anderes mehr gesprochen. Es scheint, als würde sich das gesamte Land darauf konzentrieren, was passiert ist und was nun gemacht werden sollte. “Wir brauchen eine Heilung durch Solidarität”, postet Kemal Vural Tarlan, ein Fotograf aus Antep. Jetzt sollen die Wunden gemeinsam und so gut, wie es geht, geheilt werden. Unter den Umständen der totalen Katastrophe, des Schockes und der Ungewissheit über die nahe Zukunft gewinnt diese Solidarität an Bedeutung und erlangt den Charakter einer Rettungsleine. Viele von uns haben keine Hoffnung mehr, außer der Solidarität.

Eine Katastrophe vor unser aller Augen

Das ist wahrscheinlich die erste Katastrophe dieser Art, die in dieser Intensität “live” übertragen wurde und weiterhin wird. Die sozialen Netzwerke sind seit dem ersten Erdbeben voll mit Videos, Fotos und Erzählungen aus den betroffenen Ortschaften. Die überlebenden Menschen unter oder an den Trümmern twitterten tagelang ihre Adresse und riefen auf diesem Wege Hilfe. “Ich habe meine Mutter, meinen Vater und alle meine Geschwister, also alles, was man verlieren kann, verloren”, schreibt eine und ein anderer fasst in einem Thread zusammen, wie er den Moment des Erdbebens und das Überleben unter den Trümmern erlebt hat. Menschen sind vor den Augen aller ums Leben gekommen – einige davon haben sich über Twitter oder Instagram verabschiedet.

Viele sind unter den Trümmern erfroren, weil sie nicht rechtzeitig herausgeholt wurden. Die Angehörigen von Menschen unter den Trümmern, die selbst Überlebende der Katastrophe waren, mussten noch ihre Lieben aus dem Schutt herausgraben – ob lebendig oder tot. Viele von ihnen warten immer noch an den Trümmern auf die Leichen ihrer liebsten Menschen. “Die Stadt riecht nach den Toten”, berichteten viele Augenzeugen. Die ersten Bilder von Massengräbern waren auch schon zu sehen: Menschen liegen in einer frisch gegrabenen Grube nebeneinander und ein Bagger bedeckt sie mit der Erde. “In Hatay sind gerade zwei LKWs voller Leichentücher eingetroffen”, hieß es in einem Tweet. Ein paar Tweets weiter unten schreibt ein Mensch: “Unter den Umständen mag es merkwürdig klingen, aber bitte denkt auch an Zigaretten, wenn ihr Hilfspakete vorbereitet.”

Die Geflüchteten

In den zehn betroffenen Städten der Türkei lebten vor den Erdbeben ungefähr zwei Millionen Geflüchtete – mehrheitlich aus Syrien. Deren Entmenschlichung war schon seit langer Zeit allgegenwärtig. Eine:n Geflüchtete:n mit irgendwelchen Vorwürfen abzustempeln und einem Lynchmob auszusetzen, war auch ohne die Erdbeben unheimlich leicht geworden. Die Türkei war, noch vor den Erdbeben, für Geflüchtete kein sicheres Land mehr. Zudem verschärfte die AKP/MHP-Regierung durch ihre kriegerische Stimmungsmache die nationalistisch, faschistische Grundeinstellung vieler Menschen und die Rechnung der Wirtschaftskrise samt ihren gesellschaftlichen Folgen mussten nach Ansicht weiter Teile der Gesellschaft die Geflüchteten tragen. Längst gibt es noch eine Partei, die sich allein auf der Grundlage dieser Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten aufbaut und unter Umständen dieser Katastrophe immer stärker (gemacht) wird.

Vom ersten Moment an war es klar, was auf die Geflüchteten zukommen wird. Obwohl sie von den Erdbeben gleichermaßen (wenn nicht härter) betroffen sind, können sie die Hilfsangebote am schwersten erreichen. Viele hatten ohnehin kein sicheres Zuhause und kein vertrauenswürdiges Netzwerk in diesem fremden Land – nun müssen sie sich noch um eine neue Bleibe kümmern, wo es knapp an Wohnungen wird. Bei allem, was sie bewältigen müssen, müssen sie auch die rassistischen, faschistischen Provokationen erleiden. Sie werden vor aller Öffentlichkeit als “potentielle Plünderer” abgestempelt. Einige Geflüchtete berichten über soziale Netzwerke, dass sie aus Angst vor Nachbar:innen die Stadt möglichst schnell verlassen haben, nachdem sie das Erdbeben überlebten. Die Stimmungsmache gegen sie hat gleich nach den Erdbeben begonnen – noch in einer Zeit, in der zehntausende Leichen, darunter auch Geflüchtete, unter den Trümmern liegen. Es werden Videos verbreitet, wie einige Geflüchtete, die vermeintlich beim Plündern erwischt wurden, heftig gefoltert werden.

Die hohe und merkwürdige Präsenz dieser Feindlichkeit lässt vermuten, dass sie organisiert wird. Womöglich werden die Geflüchtete noch einmal als Ablenkungsmanöver eingesetzt: Es wäre durchaus denkbar, dass die Wut, die nach und nach den Schock ersetzt, von der Regierung abgelenkt und darum auf die Geflüchtete kanalisiert werden soll. Es gibt auch solidarische oder zumindest hilfswillige Menschen, die gegen die rassistischen Provokationen einstehen, jedoch ist es schwer einzuschätzen, ob und inwieweit sie die zunehmende Gefahr verhindern können. Im möglichen Chaos der nächsten Wochen können noch durchaus schlimmere Szenarien zustande kommen. Einer solchen Katastrophe in einem zutiefst rassistischen Land ausgesetzt zu sein, ist fürchterlich.

Kein Versagen, ein Verbrechen

Warum mussten so viele Menschen sterben? Das ist die wichtigste Frage, die vom Anfang an gestellt wurde und immer lauter wird. In der ganzen Türkei wird seit 20 Jahren massiv gebaut. Der Neo-Faschismus der Erdogan-Regierung päppelte die eigene Bourgeoisie unter anderem durch staatliche Bauaufträge auf, die sie unter ihren Anhängern verteilte. Die bürokratischen Hürden überwanden sie, wenn nötig, durch spätere Bau-Amnestien – sie verziehen sich also ihre eigenen Sünden und bauten flächendeckend tickende Zeitbomben. Viele von den neugebauten Häusern sind durch die Erdbeben eingestürzt. Mehrheitlich waren sie Wohnhäuser mit mehreren Stockwerken – unter jedem Haus sind dutzende Menschen gestorben.

Genau davor warnen seit Jahren die wissenschaftlichen Institutionen bzw. entsprechenden Berufskammer, aber auch die linken, revolutionären Kräfte des Landes. Über die verschwundene Erdbebensteuer wurde schon viel gesagt. Dazu kommt noch die (Nicht-)Existenz der staatlichen Rettungsarbeiten. Nachdem ich vom Vizepräsident von Erdoğan gehört habe, dass der Staat zehn Krane gemietet hat, konnte ich eine Weile nichts mehr aufnehmen: Ein Staat auf einem Erdbebenland und ein Staat mit einer der stärksten Armeen dieser Welt muss im Fall eines Erdbebens 10 Krane mieten – das muss doch ein Witz sein.

Man kann nicht genug aufzählen: Die Armee wurde erst 36 Stunden nach der Katastrophe und immer noch sehr eingeschränkt eingesetzt; auch Krankenhäuser und die Gebäude einiger staatlichen Institutionen mitunter das des Katastrophenschutzes sind eingestürzt, da sie schlecht gebaut waren; an vielen Orten erschien der Staat erst nach Tagen und Menschen wurden – ob unter- oder oberhalb der Trümmer – komplett ihrem Schicksal überlassen. Viele Menschen aus diesen Orten berichten, dass sie durch den Schnee überlebten: Sie kochten den Schnee und tranken das Wasser.

Die Unzulänglichkeit der staatlichen Hilfs- und Rettungsarbeiten darf jedoch nicht als Versagen benannt werden. Bei einem Versagen spricht man von gescheiterten Absichten. Dieser Staat, unter Kontrolle einer faschistischen Diktatur, hat nicht die Absicht, Menschen zu retten. Das ist kein Versagen, sondern ein Verbrechen. Die Zeit der Kritik ist längst vorbei. Sobald die Trümmer aufgeräumt sind, kommt die Zeit der Rechenschaft. Sie müssen dafür büßen – und sie werden dafür büßen.

Solidarische Zeugenschaft

Die sozialen Netzwerke (insbesondere Twitter) sind den Menschen unter Umständen einer mafiösen Diktatur samt ihrer massiven Zensur unheimlich behilflich. Die Hilfs- und Rettungsarbeiten bekommen hierdurch nötige Hinweise und Menschen können sich über die Wahrheit der Katastrophe informieren. Die Kritik an Verantwortlichen wird auch schon seit Langem am meisten durch die sozialen Netzwerke sichtbar.

Einer der ersten Schritte der AKP/MHP-Regierung nach den Erdbeben war, die Bandbreite von Twitter zu beschränken. Den Grund kann man schnell feststellen, wenn man sich die Nachrichtenquellen anschaut, die aus der Sicht der Regierung verfolgt werden sollten. Die sozialen Netzwerke stellen längst einen sehr wichtigen alternativen Kommunikationsweg dar, durch deren Möglichkeiten auch die Propaganda der regierenden Clique beschädigt werden kann. Neben allen Möglichkeiten, die sie anbieten, darf aber nicht vergessen werden, dass die sozialen Netzwerke einen öffentlichen Raum für sämtliche nicht editierte oder gar operationelle Inhalte darstellen.

Den Überlebenden schulden wir alle, die die Katastrophe nicht miterleb(t)en, eine Zeugenschaft, damit Solidarität stattfindet und die Fehler hinter der Katastrophe gemeinsam bekämpft werden. Sie muss jedoch (besonders unter gegebenen Umständen) politisch sein, um sowohl den faschistischen Provokationen entgegentreten zu können, als auch Menschen vor Gefahr der Retraumatisierung oder der Betäubung der notwendigen Gefühle zu schützen.

Normalisierung der Gewalt

In der Timeline stürzen nach und nach Häuser ein. Leichen liegen überall auf dem Boden, Menschen weinen und erzählen von ihren Verlusten oder bitten um Hilfe für ihre lebendigen Angehörigen unter den Trümmern. In den Augen aller sind noch die Spuren des Schreckens und die ihres Überlebensinstinkts. Die Bilder zeigen nahezu vollständig zerstörte Städte. Die Videos mit unterschiedlichen Gewaltszenen werden immer mehr und heftiger. Das Erstaunen erfordert immer mehr, krassere, leidvollere, massivere Bilder. Auf der einen Seite könnte es für viele Überlebende retraumatisierend wirken, auf der anderen Seite sind viele Menschen durch ständiges Beäugen der Gewalt oder des Schmerzes längst abgestumpft. In sozialen Netzwerken ist die Ethik häufig den Nutzern selbst überlassen und einige meinen, die gruseligen Bilder noch mit einem leidvollen Lied schmücken zu müssen, um vielleicht selbst die Abgestumpften erreichen zu können. Die Solidarität von unten wird von einem Spektakel begleitet, das sich am deutlichsten bei einigen Hilfskampagnen sichtbar macht.

Neben den Bildern des Schmerzes werden immer mehr und brutalere Aufnahmen vom Foltern der vermeintlichen Plünderer veröffentlicht. Durch die Videos, die bei der hohen Aufmerksamkeit in dieser Zeit Millionen Menschen erreichen, will man anscheinend die Zuschauer:innen befriedigen: Nackte Menschen werden auf dem Schnee durch Peitschenhiebe zum Kriechen gezwungen, ein Polizist voller Wut schlägt in einem Raum mehrere Menschen mit einem Schlagstock, ein anderer zeigt mehrere gefesselte Menschen und wie sie nacheinander gnadenlos geprügelt werden. Obwohl ein Großteil der vermeintlichen Plünderer türkische Staatsbürger sind, werden durch mehrere Kanäle auf Geflüchtete gezeigt. In sozialen Netzwerken scheint es eine systematische Hetze gegenüber Geflüchteten zu geben und die Tweets spiegeln sich dann in Taten wider. Die verbreiteten Gewaltszenen verstärken die ohnehin bestehende Normalisierung dieser Art von unrechtmäßiger Gewalt. (Ähnliche Szenen werden uns seit den Städtewiderständen in Kurdistan und dem Putschversuch, also seit 2015, ständig [fast regelmäßig!] gezeigt.)

Zudem werden von vielen schlicht inkompetenten und nur in sozialen Netzwerken präsenten Nachrichtenquellen die Wahrheiten manipuliert oder so verkürzt, dass beispielsweise die enorme Solidarität hinter einigen schlechten Beispielen unsichtbar wird. Welche Dimensionen noch die Situation unter Umständen der kollektiven Trauer und des kollektiven Traumas gewinnen wird, ist unklar, weswegen die Notwendigkeit von Vorsicht und einer organisierten Haltung mehr als je klar ist.

Sowohl für Überlebende als auch andere Zeug:innen dieser Katastrophe ist ein besserer Umgang mit/bei der kollektiven Erzählung nötig. Die Zeugenschaft, die wir den Überlebenden schulden, muss sich an die Gefühlen der Überlebenden orientieren: Erst die Wunden abbinden, dann die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, damit es nicht wieder passiert. Menschen mit schweren traumatischen Folgen benötigen selbstverständlich eine psychologische Unterstützung – sie wird aber nie so flächendeckend sein können wie das Erdbeben. Die Therapie der Massen geht nur politisch. Die Trümmer werden geräumt, die Toten werden begraben und die Verbrecher werden zur Rechenschaft gezogen. Es gibt weder Trauer noch Heilung ohne Rechenschaft.

Aufwachen in einem Albtraum

Am Tag der Erdbeben bin ich durch die beharrlichen Anrufe einer Freundin aus Istanbul geweckt worden. Es ist ungefähr 9 Uhr, also in der Türkei 11 – mehrere Stunden nach dem ersten großen Erdbeben. Die Freundin schreibt: “Wach endlich auf, es gab ein großes Erdbeben, Antep und Hatay sind auch betroffen, ruf deine Familie an!” Schnell rufe ich meine Schwester an, die zusammen mit meiner Mutter in der Stadt Hatay wohnt, die durch die Erdbeben nahezu vollständig zerstört ist. Sie haben mich nicht angerufen, um mich nicht zu wecken und mir keine Angst einzujagen. Sie seien zusammengekommen und alles sei gut, ich solle mir keine Sorgen machen, sagen sie. Es sei katastrophal, aber Hauptsache sei, sie haben es überlebt. Das Netz ist nicht mehr stabil und wir müssen auflegen. Gleich checke ich noch die Gesundheit meines Vaters ab, der in meiner Heimatstadt (Gazi-)Antep wohnt.

Nach dem ersten Schock, der Angst und den vielen Bildern von zerstörten Städten fange ich an, nacheinander die Freund:innen und Familienmitglieder zu überprüfen, zu denen ich teilweise seit mehr als fünf Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Alle, die mir eingefallen sind und zu denen ich noch einen Kommunikationsweg habe, sind am Leben. “Hallo, wie geht’s dir?” lautet meine Nachricht jedesmal und einer der besten Freund:innen von Damals schreibt zurück: “Wie soll es mir gehen? Wir sind in einen Albtraum aufgewacht, der nicht endet.” Kurze Zeit später habe ich den ersten Video-Kontakt mit meiner Mutter und meiner Schwester. Sie lächeln und sagen wiederholt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Auf ihren Gesichtern sehe ich einen Ausdruck, den ich noch nie gesehen habe: Das Erschrecken vor dem Erdbeben und die Angst um das Leben, interpretiere ich.

Meine Schwester erzählt kurz und trocken, wie es passiert ist. Sie ist durch zwei Zufälle noch am Leben. Vor ein paar Monaten ist sie umgezogen und ihr altes Haus ist eingestürzt. In der Nacht des Erdbebens bekam ihr Mann Magenschmerzen und sie fuhren zur Notaufnahme. Auf dem Weg entschieden sie sich, zu einem privaten Krankenhaus zu fahren, weil sie um diese Uhrzeit auf die Behandlung eines staatlichen Krankenhauses keine Lust hatten. Das staatliche Krankenhaus ist eingestürzt. Bei dem ersten Erdbeben lagen sie auf zwei gegenüberliegenden Betten des privaten Krankenhauses, statt in ihrer Wohnung im neunten Stock eines durchs Erdbeben eingerissenen Hauses. Als sie durch das Erdbeben wach geworden ist, ging meine Schwester schnell zu ihrem Mann, um seine Infusion und seine Hand zu halten. Dann platzte die Wand vor ihnen und sie entschieden sich, schnell hinaus zu rennen. Nach dem Erdbeben kontaktierten sie meine Mutter und andere Angehörige und in kurzer Zeit trafen sie sich an einem sicheren Ort ohne Einsturzgefahr. Da fiel meiner Schwester und ihrem Mann ein Freund ein, der in einem Haus in schlechtem Zustand wohnte. Mit dem Auto eilten sie zu ihm und noch von Weitem sahen sie die Trümmer des Hauses. Schreiend näherten sie sich den Trümmern und sahen zuerst die Leiche von der Mutter ihres Freundes und dann die von ihrem Freund. Im Schock konnten sie erstmal nicht realisieren, dass er tot ist, und trugen ihn schnell ins Auto, um ins Krankenhaus zu eilen. Auf dem Weg mussten sie jedoch feststellen, dass er tot ist. Im Krankenhaus waren auf dem Boden überall Leichen hingelegt, sodass man beim Laufen darauf achten musste, nicht auf sie zu treten. Sie legten die Leiche ihres Freundes neben die anderen. Schnell fuhren sie dann wieder zu den anderen und versuchten zu funktionieren, um auch die Nachbeben zu überleben. “Es gab keine Zeit für irgendwas anderes.”

Einen Tag später wird aus den Trümmern ein kleines Kind lebendig herausgeholt, bei dem sie ständig vorbeischauten, um zu überprüfen, ob jemand darunter noch lebt. “Ich habe mich wie in einem Kriegsfilm gefühlt”, sagt meine Schwester und erzählt, wie sie in die Trümmer hinein geschrien haben: “Hört mich da jemand?” Mein Cousin, der das Erdbeben in Antep überlebte, sagte mir am Telefon: “Man kann sich in die Lage hier nicht hinein versetzen. Der Boden unter dir bewegt sich, worauf kannst du dich denn verlassen?”

Im Wunderland

Ein Großteil des türkischen Mainstreams wird ganz klar von der AKP/MHP-Diktatur dominiert und die Katastrophe macht es noch einmal und in einer unerträglichen Weise sichtbar. Auf den Spuren ihres Chefs, der nach dem Erdbeben zuallererst schnell die Opposition bedrohte, geben sie alles dafür, ihre Regierung zu schützen. Zuerst hatten sie eine angriffslustige Art und sprachen von Manipulationen, die von dunklen Händen verbreitet würden. Dann kam die Zeit “der Katastrophe des Jahrhunderts”: Der Staat war doch nicht gescheitert, die Katastrophe war erfolgreich. Es gab schlicht keine einzige Kritik an irgendwelchen Verantwortlichen außer dem Erdstoß. Eine Weile fuhren dann alle regierungsnahen Zeitungen zusammen und als hätten sie sich abgesprochen die Schiene der unendlichen Wunder.

Sırrı Süreyya Önder kritisierte diese Erzählweise bei der Live-Übertragung eines oppositionellen Fernsehkanals. Der ehemalige HDP-Abgeordnete beteiligt sich in seiner fast vollständig zerstörten Heimatstadt Adıyaman an Hilfsarbeiten. Man könne seine ganze Welt, ganze Begriffe in Frage stellen, so Önder, wenn man sich nur das Gesicht der Menschen angucke, die “zurück zum Leben” gekommen sind: “Einen Menschen aus den Trümmern herauszuholen, ist dennoch kein Wunder, sondern eine kleine Reparatur einer Schande, einer Sünde, eines gesellschaftlichen Verbrechens.”

Jetzt sei die Zeit, eine Lösung zu finden – mit Vernunft, Erfahrung und Solidarität. “Durch diese Erfahrung stellen wir noch einmal fest, dass es sehr gute Ergebnisse bringt, wenn sich Menschen zur Solidarität ungehindert organisieren”, erzählt er. “Wir haben hier Menschen aus fast allen Städten der Türkei gesehen”, lobt er die große Solidarität noch und fügt hinzu: “Unsere eigene Stadtverwaltung konnten wir aber noch nicht sehen.” In der Stadt stürzte auch das Rathaus ein. Önder sagt: “Vom Staat erwarten wir nicht mehr vieles, eines muss ich aber sagen: Wenn sie wenigstens die Toiletten von tausenden Moscheen zur Verfügung stellen würden, die unter ihrer Kontrolle stehen, wäre es sehr gut.” Die Gefahr der ansteckenden Krankheiten sei nämlich ernst zu nehmen.

In sozialen Netzwerken, also alternativen Kanälen unter dieser schamlosen Zensur, wird seit dem Erdbeben die Rede vom Rechtsanwalt Selçuk Kozağaçlı geteilt, der aus politischen Gründen seit 2016 im Gefängnis ist: “Es gibt keine Sicherheit, keine Zukunft, kein Recht aber das Leben soll so heilig sein? Es ist nicht das Leben an sich, das heilig ist. Was heilig ist, ist ein gerechtes Leben. Ein würdiges Leben ist heilig. Ein sicheres Leben ist heilig.”

Wie geht‘s dir?

Wir alle erleben die Katastrophe aus unseren Standpunkten heraus – jedoch besitzt sie eine Kraft, die uns einander näher rückt, egal wo wir sind. Viele Menschen im Ausland schreiben von ähnlichen Gefühlen. Einer schreibt, dass er seit 20 Jahren außerhalb des Landes lebe und sich bisher “losgelöst von der Heimat” einstufte, dennoch habe ihm das Erdbeben gezeigt, wie verbunden er noch sei. Jetzt ist für uns alle die Zeit, sich an den Gefühlen der Überlebenden zu orientieren: Funktionieren, um zu überleben. Alles andere hat noch Zeit. Dennoch möchte ich hierdurch noch den Leser:innen und Freund:innen die Frage ersparen, wie es mir geht.

Dass ich von niemandem in meinem nahen Umfeld eine Todesnachricht bekommen habe, erleichtert mich nur in Maßen, denn die Katastrophe ist selbst auf dieser Distanz nur schwer zu realisieren. Was die möglichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Katastrophe alles sein können, ist entweder schwer einzuschätzen oder schwer anzunehmen. Ich bin wütend. Es war keine vorhersehbare Katastrophe, sondern eine, die genau vorhergesehen wurde. Ich bin traurig, dass Menschen dort das alles erleben mussten und noch die verheerenden Folgen erleiden müssen – ich bin aber auch traurig, wie schräg es auch klingen mag, dass ich nicht dort war und bin. Da sind immer noch tausende Leichen unter den Trümmern und ich kann mir das richtige Ausmaß des Erlebten überhaupt nicht vorstellen.

Langfristige Unterstützung

In Dresden beginnen wir demnächst mit einem Patenschaftsprojekt. Wir wollen in Dresden Menschen oder Institutionen/Gruppen/Vereine etc. finden, die an eine betroffene Familie bzw. einen betroffenen Menschen ein Jahr lang monatlich 150 Euro überweisen wollen, um sie beim Wiederaufbau ihres Lebens zu unterstützen. Die Menschen, die ihr Leben ohne fremde Hilfe nicht wieder auf die Beine stellen können, werden vor Ort von einem Team von Helfer:innen aufgesucht. Einen Erstkontakt durch Video-Chat oder Telefonat wollen wir durch unsere Übersetzung ermöglichen. Unsere Hoffnung ist, dass es als eine langfristige Form der Unterstützung wenigstens einigen Menschen die Bewältigung der Katastrophe erleichtert. Falls auch andere Menschen in anderen deutschen Städten auf ein solches Konzept Lust haben, können sie sich bei uns melden und wir schicken gerne unsere Protokolle und Materialien. (Email: erdbeben-patenschaft-dd@hotmail.com)

# Titelbild: Heyva Sor, Hilfsorganisation

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2 Kommentare

    […] erst ein, als es für viele Verschüttete schon zu spät war – falls sie überhaupt eintrafen. Besonders kritisch ist die Situation geflüchteter Menschen. Freiwillige Helfer:innen in der Provinz Hatay berichten, dass die staatliche Katastrophenhilfe […]

    […] erst ein, als es für viele Verschüttete schon zu spät war – falls sie überhaupt eintrafen. Besonders kritisch ist die Situation geflüchteter Menschen. Freiwillige Helfer:innen in der Provinz Hatay berichten, dass die staatliche Katastrophenhilfe […]