Raubzug Ost – Die letzte Wirtschaftsministerin der DDR erinnert sich an die Treuhand

29. November 2022

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Gastbeitrag

Am 5.11. fand im Berlin-Lichtenberger Cafe Wostok eine Veranstaltung des Stadtteilkomitees Lichtenberg mit Christa Luft zum Thema Treuhand statt. Die ehemalige Wirtschaftsministerin der DDR und spätere Bundestagsabgeordnete der PDS erzählte dabei von jenen bewegten Tagen, in denen die westdeutschen Eliten sich das ehemalige Volkseigentum einverleibten und einen ganzen Landesteil deindustrialisierten. Wir veröffentlichen den Vortrag in einer gekürzten Fassung.

Ich bin 1938 geboren, werde also in wenigen Wochen 85. Keine schöne Sache in einer solchen Zeit. Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ich habe auch zwei Urenkel und denke manchmal: In welche Zeit kommen die eigentlich hinein, die jetzt begonnen hat?

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, bin in einem Dorf groß geworden und da habe ich viel Kontakt gehabt mit Tieren. Das hat auch meinen ersten Berufswunsch geprägt. Ich wollte, falls ich das Abitur mache, was ja damals auch noch nicht so ganz alltäglich war, Veterinärmedizin in Rostock studieren. Das war mein Wunsch.

Dann kam es anders, wie des öfteren in meinem Leben. Es war kurz vor Ende der elften Klasse. Der Direktor der Oberschule und die Gewi-Lehrerin kamen und sagten: Wir müssen von unserer Oberschule fünf Leute nach Halle schicken, an die Arbeiter- und Bauernfakultät, die ABFII, mit verstärktem Russisch-Unterricht. Dort werde man vorbereitet auf ein Auslandsstudium.

Ich gebe zu, ich hatte mir das nicht gewünscht. Ich war aber auch nicht so couragiert zu sagen „ich habe andere Zukunftspläne, ich mache das nicht“. Courage zu entwickeln, habe ich erst später im Leben gelernt. Jedenfalls, ich ging nach Halle. Ich kam von einem sprachlichen Zug an der Oberschule, hatte Französisch, Russisch, Englisch. Und in Halle wurde ich mit diesem Hintergrund in den naturwissenschaftlichen Zug gesteckt. Da schrieb ich dann erst mal meine ersten Vieren bzw. Fünfen in Mathe und Physik. Die meisten anderen in der Gruppe waren in den Fächern alle viel weiter als ich. Was mir fehlte, musste ich dann neben dem ohnehin prallen Programm noch nachholen. Habe ich auch geschafft. Aber mit Medizin ist es nichts geworden. Mir fehlte das zweite Jahr Latein, das an der Oberschule erst in der 12. Klasse dran war, aber ich war ja nach der 11. Klasse gegangen. Das Kleine Latinum aber war damals Voraussetzung für das Medizinstudium. Das ist heute anders.

So, da stand ich also vor dem Problem: Was machst du denn nun? Und da spielte wieder der Zufall eine Rolle. Es kam eine Truppe, die warb Interessenten für ein Studium des Außenhandels und der Internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der neu gegründeten Hochschule für Außenhandel in Berlin-Staaken. Staaken gehört zu Spandau, war aber war damals wie ganz Berlin geteilt. Oststaaken gehörte zum Westen und Weststaaken gehörte zum Osten. Das war eine tolle Situation für das Hochschul-Kabarett. Das hatte über die 3 Meter breite Straße, die die beiden Teile trennte, tolle geistreiche Programme gemacht.

Na, jedenfalls habe ich dann 1956 an dieser Hochschule für Außenhandel angefangen. 1958 wurden wir mit der Hochschule für Plan-Ökonomie in Berlin-Karlshorst vereinigt. Ein Jahr vorher waren schon die Finanzer aus Potsdam-Babelsberg gekommen. Insofern war im Grunde damals eine ökonomische Universität in Karlshorst entstanden.

Da habe ich dann von 1956 an studiert, bis 1960. Wir lagen an der Protokollstrecke, das werde ich nie vergessen. Wenn Täve Schur mit seinen Teamkollegen vorbeifuhr, standen wir natürlich alle auf der Straße und haben applaudiert. Wenn Angela Davis in Berlin war und bei uns in der Nähe, waren wir immer auf der Straße. Also es war wunderbar.

1960 wurde ich fertig mit dem Studium und hatte bereits einen Arbeitsvertrag mit einem Außenhandelsunternehmen in Berlin. Und dann passierte, was mir schon mal passiert war: Ein Plan wurde umgeworfen. Von der Hochschulleitung erfuhren ein paar andere Absolventen und ich, dass bis Jahresende 10 kurzfristig zugeteite Assistenten-Stellen zu besetzen seien. Und da wir uns vor Studienbeginn verpflichtet haben, nach dem Abschluss für mindestens drei Jahre dort zu arbeiten, wo wir dringend gebraucht würden, mussten wir die Verpflichtung jetzt einlösen. Und so wurde ich Assistentin an der Hochschule für Ökonomie im Fach Außenhandel.

Ich habe dann dort 1964 promoviert, meine Habilitationsschrift geschrieben und 1968 verteidigt, als wissenschaftliche Assistentin, als Oberassistentin und Dozentin gearbeitet und wurde 1971 zur Ordentlichen Professorin für Außenwirtschaft berufen. Später war ich – dann schon mit der ganzen Familie – ein paar Jahre in Moskau an einem internationalen Forschungsinstitut.

Einige Jahre nach meiner Rückkehr aus Moskau wurde ich zur Rektorin der Hochschule für Ökonomie berufen. Und da habe ich bei meiner Investitur (Einsetzung in ein Amt, Anm. d. Red.) in einem Vortrag auch über meine Zukunftsvorstellungen gesprochen. Unter anderem habe ich gesagt: Ich möchte, dass dieses große, leistungsfähige und leistungswillige Kollektiv nicht immer im Nachhinein die Beschlüsse der Parteiführung als weise begrüßen und popularisieren soll, sondern dass wir Gelegenheit bekommen, im Vorfeld daran mitzuarbeiten. Nicht, weil wir uns als Besserwisser verstehen, sondern weil Wissenschaft eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft hat, von der sie finanziert wird. Wir aber konnten uns oft nicht des Eindrucks erwehren, dass die Parteioberen wissenschaftlichen Rat eher als versuchte Einmischung und nicht als Unterstützungsbereitschaft empfanden. Das Auditorium Maximum war bis zum letzten Platz übervoll. In den ersten zwei Reihen saß die Politprominenz, die aus den Ministerien, aus Parteieinrichtungen usw.
Und ich habe gedacht, du sagst jetzt mal das, was dir schon so lange auf der Seele liegt.

Der Saal tobte vor Beifall. In den beiden ersten Reihen des Auditoriums maximum, wo die besagten Vertreter von Partei und Staat saßen, guckten diese eher pikiert nach unten.
Ja, es gab so ein paar Situationen in meinem Leben, wo ich nicht alles mitgemacht habe, was gewollt war. Das hätte damals schiefgehen können. Aber es ist gut gegangen.

Ich war dann dort ein ein gutes Jahr Rektorin. Und nach der Grenzöffnung 1989 und dem Rücktritt der Regierung Stoph erhielt Hans Modrow den Auftrag, eine neue Regierung zu bilden. Ich bekam einen Anruf aus der Kaderabteilung des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen. Gefragt wurde, ob ich am nächsten Tag Zeit hätte. Hans Modrow wolle mich gern sprechen. Ich hatte ihm vor Tagen die Studien geschickt, die wir nach meiner Investitur erarbeitet hatten und in dem Begleitbrief geschrieben, dass, falls er anders als seine Vorgänger Rat entgegen nehmen würde, die HfÖ dazu bereit wäre.

Ich hatte Zeit und ging zum gewünschten Treffen. Modrow hatte von Willi Stoph noch keine Erlaubnis, das Gebäude des Ministerrates zu betreten und dort einen Arbeitsplatz einzunehmen. Willi Stoph wollte, dass er erst gewählt wird von der Volkskammer – und dann könne er dort hin. Also musste er seinen Arbeitsplatz im Johanneshof, einem Hotel, aufschlagen und das Treffen mit mir war im Gästehaus des Ministerrates gegenüber dem Märkischen Museum anberaumt. Es war alles ein bisschen seltsam. Und ich komme also dorthin. Ich musste ein bisschen unten warten und sehe, dass nacheinander aus dem ersten Stock die Vorsitzenden der Parteien des demokratischen Blocks, wie das hieß, nacheinander runterkommen. Und da dachte ich mir, hier scheint irgendwie sowas wie eine Koalitionsverhandlung zu laufen. Und so war es auch.

Hans Modrow holt mich von unten ab, führt mich in einen großen Raum mit einem Tisch, auf dem ich schon meine Papiere liegen sehe. Mein Blick fällt darauf und er sagt: Ja, darum geht es auch. Vor allem aber geht es mir darum, dass ich dich als Person brauche. Ich hatte im Leben viele Kadergespräche, wo immer allerhand Leute dabei waren. Dieses Mal waren wir zwei allein und ich kam innerhalb weniger Minuten in die höchste Funktion meines Lebens. Ich habe es damals nicht fertiggebracht zu sagen „Nein Hans, ich mache das nicht“. Ich wusste, was da auf mich zukäme, in seiner Regierung mitzumachen – und zwar als seine Erste Stellvertreterin. Ich wusste auch, was ich meiner Familie aber niemals zumuten werde, und deshalb konnte ich nicht Ja sagen. Ich habe aber auch nicht laut und vernehmlich Nein gesagt, er war in solcher Bedrängnis, musste am nächsten Tag seine Regierungsmannschaft auf dem Papier haben und absegnen lassen von der Volkskammer. So bin ich also in dieses Amt gekommen.

Und da begann eine neue Periode mit allen Stolpersteinen und mit allen Widrigkeiten, die man so im Leben erleben kann.

Vernichtung von Volkseigentum

Nun, wir wollen heute Abend über die Treuhand reden? Ja, also wenn das Stichwort „Treuhand“ fällt, beobachte ich, dass bei den meisten Ostdeutschen auch so viele Jahre, nachdem die Anstalt ihre Tore geschlossen hat, die Emotionen hochschlagen – und das kommt ja nicht von ungefähr…

Diese Treuhand steht für die Abwicklung, für die Außerdienststellung oder für die Verscherbelung von 9000 DDR-Unternehmen, die unter ihrer Regie standen. Zumeist nämlich zu 85 Prozent an westdeutsche Interessenten, zu 10 Prozent an Ausländer und zu mageren 5 Prozent an DDR-Bürger. Es gab keine Evaluation des DDR-Wirtschaftsbestandes, es gab nur Konkurrenz und Interessen. Und die hat die Treuhand brav bedient. In einem Satz gesagt: Die Treuhand steht für mich für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten. Eine solche Vernichtungsaktion von Dingen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter riesigen inneren Schwierigkeiten, mit viel Schweiß von vielen, vielen Menschen und mit von außen errichteten Hürden aufgebaut worden waren, ist bemerkenswert. Und das in nur vier Jahren. An den Folgen krankt Ostdeutschland bis heute. Und viele, viele Menschen litten und leiden daran bis jetzt. Nicht wenige Suizide gehen auf diese Politik zurück.

Also die Treuhand steht – ich wiederhole das – für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten und das unter den Augen der Bundesregierung, mit deren Duldung, auf deren Geheiß und mit deren Weichenstellung. Dieser Aspekt kommt mir bis heute viel zu wenig zur Sprache.

Ich bin als Sachverständige eingeladen zu einem Treuhand-Untersuchungsausschuss im Land Thüringen. Der läuft schon und im Dezember bin ich da dran. Ich werde die Rolle der Bundesregierung dort ganz dick unterstreichen, denn diese hat dafür gesorgt, dass wir einen Währungsumtauschkurs zwischen der D-Mark und der Mark der DDR bekamen, der – das wussten alle ökonomisch Bewanderten in Ost und West, dazu führen mußte, dass die meisten DDR-Betriebe zugrunde gehen.

Wenn diese früher vor der Währungsunion in westliche Länder oder sagen wir konkret in die Bundesrepublik exportiert haben, bekamen sie für einen Erlös von einer DM im Innern 4,40 Mark der DDR gutgeschrieben. Damit bezahlten sie Löhne, Material, Mieten und alles andere. Nach der Währungsunion war der Kurs 1:1, d.h. sie bekamen für eine D-Mark, unabhängig davon, wie hoch der Inlandsaufwand war, nur eine D-Mark gutgeschrieben. Das musste zum Untergang führen und ist trotzdem wissentlich, auch gegen laute Warnungen prominenter westdeutscher Ökonomen, so gemacht worden.

Dann gab es eine Altschulden-Regelung, die die Bundesregierung vorgegeben hat. Kredite, die die DDR-Kombinate und Betriebe aufgenommen hatten, wurden ihnen vor der Privatisierung als Schulden in die Bücher geschrieben, obwohl sie mit Schulden wie im bürgerlichen Gesetzbuch definiert, nichts zu tun hatten. Es waren selbst erwirtschaftete Gewinne, die die Betriebe mit Ausnahme von Überplan-Gewinnen abführen mussten an die übergeordneten Ministerien. Wenn sie Investitionen planten, mussten sie bei denen vorstellig werden und um entsprechende Mittel bitten. Wenn sie Glück hatten, haben sie was gekriegt. Und wenn sie keins hatten, gingen sie leer aus. Das heißt, selbst erarbeitete Gewinne wurden ihnen dann später als Schulden angerechnet, weil sie Kredite brauchten.

Diese belasteten die Privatisierungsobjekte mit einem Schuldenrucksack, der dazu führen musste, dass Kaufinteressenten das genüsslich in Verhandlungen als Mangel ansahen und den Preis drücken konnten.

Das haben auch Rechtswissenschaftler in der Wendezeit thematisiert und gewarnt, dass das nicht geht. Die Art der Investitionsfinanzierung in der DDR interessierte die Westseite aber nicht.

Zu den falschen Weichenstellungen gehörte auch, dass die Treuhand nicht dem Wirtschaftsministerium unterstellt wurde, das für Strukturpolitik verantwortlich ist, sondern dem Finanzministerium. Man hatte also nur im Kopf Geld herauszuschlagen, nicht aber, dass die zu privatisierenden Betriebe im Beschäftigunginteresse schnell auf dem Markt wieder Fuß fassen können.

Empörend ist, dass die Treuhandmanager für rasche Privatisierung von der Bundesregierung Boni zugesagt bekamen. Kein Wunder, dass denen das Verkaufstempo wichtiger war, als die Qualität und Seriosität der erzielten Lösung. So kamen auch Westinteressenten ohne Referenzen zum Zuge, d.h. sie mussten nicht einmal den Nachweis erbringen, dass sie schon jemals einen Betrieb geführt und zum Erfolg gebracht hatten.

Und schließlich, das ist der Höhepunkt, erteilte die Regierung dem Treuhandmanagement Haftungsfreistellung selbst für grobe Fehler. Unglaublich, aber wahr!

Zwei Arten Treuhand

Die Bundesregierung hatte also einen wesentlichen Anteil daran, was in Ostdeutschland passiert ist. Was mich deshalb besonders ärgert, ist, dass unbedarfte oder böswillige Westjournalisten, Schriftsteller und selbst Wissenschaftler meinen, die Treuhand sei doch ein Produkt der letzten DDR-Regierung unter Hans Modrow gewesen. Und insofern habe diese auch Schuld an dem, was daraus geworden ist. Das ist ein bösartiger Fake.

Tatsächlich gab es zwei Sorten von Treuhand, wenn ich das so sagen darf. Es gab eine Treuhand, die unter der Regierung Modrow gegründet worden ist und am 1. März 1990 die Arbeit aufnahm. Man kann es nachlesen im Gesetzbuch. Die hatte die Aufgabe, das Volkseigentum im Interesse der Allgemeinheit zu erhalten und nicht etwa zu privatisieren oder zu verscherbeln.

Am 1. März 1990 war aber schon klar, dass es am 18. März bei den Volkskammerwahlen eine andere Parteien-Konstellation geben wird und dass die SED/PDS dann nicht mehr in der Regierung sein wird. Es kam dann ja so, dass die „Allianz für Deutschland“ – also CDU, DSU (ein Partner der CSU) und der „Demokratische Aufbruch“ – gewannen. Gesteuert und in jeder Hinsicht gefördert wurde das von der Bundesregierung. Und Herr de Maizière machte sich dann sofort als neuer Ministerpräsident daran, die alte Modrow-Treuhand auf Geheiß der Bundesregierung aus dem Feld zu räumen und eine neue Treuhand zu gründen. In deren Auftrag stand dann, sie solle das Volkseigentum so rasch wie möglich privatisieren. Aus einer Anstalt zur Bewahrung des Volkseigentums im Interesse der Allgemeinheit war eine Privatisierungsanstalt geworden. Auch im Osten liefen damals schon, das darf man nicht verschweigen, Bestrebungen einiger früherer Generaldirektoren, die schon lange Geschäftskontakte mit Westmanagern hatten. Man wollte schon mal aushandeln, wer bei der Privatisierung was bekommt. Also die Modrow-Treuhand hat es im Grunde nur sechs Wochen gegeben.

Diese Treuhand von de Maizière hatte als ersten Leiter einen Chef, der kam von der Deutschen Bahn. Das war Herr Gohlke. Der warf nach sechs Wochen das Handtuch, weil er merkte, was für eine Aufgabe er dort übernehmen sollte. Er merkte, dass das nicht geht mit dem genannten Währungskurs. Er verstand, dass das alles überhaupt nicht funktionieren konnte.

Dann kam Herr Rohwedder (SPD). Der war ein ausgewiesener Sanierer vom Konzern Hoesch und war auch einmal im Bundeswirtschaftsministerium beschäftigt gewesen. Er war im Grunde ein Schüler von Karl Schiller, einem sehr bekannten Wirtschaftsminister der alten Bundesrepublik. Der hatte bei einem Besuch bei Hans Modrow und mir im Januar 1990, als er sich – begleitet von Henning Voscheau, dem Ersten Bürgermeister von Hamburg – informieren wollte über die Wirtschaftsreform der Modrow-Regierung, gesagt: Wenn es zum Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten kommt, muss die DDR-Wirtschaft nicht von heute auf morgen die Strukturen annehmen, die die BRD hat. Es kann durchaus Jahre dauern und in Schritten vor sich gehen, allerdings muß das Ziel sein, dass die Unternehmen längerfristig marktfähig werden. Dem Motto schloss sich Rohwedder an. Er wollte erst sanieren und dann privatisieren, nicht wie seine Nachfolgerin Breuel, die es umgekehrt wollte. Er meinte immer, einige große Unternehmen könnten durchaus noch bis zu zehn Jahre, ohne privatisiert zu werden, im Eigentum z.B. von Bund oder Ländern bleiben. So geschah das zum Beispiel mit der Jenoptik, hervorgegangen aus Carl Zeiss Jena. Dieses Unternehmen blieb lange Jahre zu 100 Prozent im thüringischen Landeseigentum, entwickelte sich gut, auch weil die Landesregierung sich in der Pflicht sah, Märkte zu erhalten, bzw. neu zu schaffen. Solche Positionen waren vielen ein Dorn im Auge und Rohwedder wurde leider nicht alt in dieser Funktion.

Dann kam Birgit Breuel. Und jetzt hieß es: Erst privatisieren und dann sanieren. Sie sagte immer: Der neue Eigentümer weiß am besten, was er mit den Unternehmen macht. Das müsse man denen nicht vorschreiben. Das war ihre Position.

Breuel war übrigens eine frühere CDU-Finanzministerin in Niedersachsen gewesen. Man schickte sie dann in diesen horrend gut bezahlten Job als Treuhandchefin und sie zog das dann auch durch bis zum Ende. 1994 schraubte sie das Schild vom Haus der Ministerien ab, wo sie gesessen hatte.

Sie war eine Verfechterin der schnellen Privatisierung. Ihr war egal, was mit den Menschen, die da ihre Arbeit verloren, passieren wird. Ihr war egal, welche Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland bleiben wird. Es kam zu einer kleinteiligen Struktur ohne Unternehmenszentralen und mit einer minimierten Zahl von Großbetrieben.

Im Goldrausch der Privatisierung

Ich habe 1992 einen Treuhand Report veöffentlicht, den ersten, den es überhaupt gegeben hat. Dazu hatte mich der Chef des Aufbau Verlages animiert. Und in dem Zusammenhang musste ich oft die Treuhand besuchen. Die saß im Haus der Elektroindustrie am Alexanderplatz. Wenn man dort hochkam, standen links und rechts Bänke in den Gängen. Da saßen dunkel gekleidete junge Männer, meistens mit Goldkettchen, mit dicken goldenen Armbanduhren, mit Aktenkoffern. Das waren alles Interessenten für Angebote der Treuhand. Die strahlten alle, wenn sie wieder rauskamen aus dem Besprechungszimmer. Die hatten in der Regel bekommen, was sie wollten und brauchten nicht einmal Referenzen. Ob sie schon irgendwo mal ein Unternehmen geleitet hatten, das spielte keine Rolle. Die Hauptsache war: Sie hatten eine Postleitzahl aus dem Westen.

Ein Beispiel: Der Anlagenbau in der Berliner Allee der Kosmonauten war ein Werk, das internationale Kontakte hatte, gute Absatzmärkte, 1000 Mitarbeiter, keine Schulden, volle Auftragsbücher. Das wurde zur Privatisierung angeboten. Bekommen hat es eine Schweizer Firma, die hatte wenig mehr als 50 Mitarbeiter. Geleitet wurde sie von einem Deutschen, einem Herrn Rottmann. Was hat der nun gemacht? Ostdeutsche Kombinate und Betriebe hatten alle große Lagerplätze, um Material vorzuhalten. Die haben die neuen Manager erstmal verscherbelt und sich den Erlös eingesteckt. Es war ein Goldrausch.

Rottmann hat dann angefangen, peu a peu die Maschinen aus dem Betrieb zu verkaufen. Die qualifizierten Mitarbeiter hat er in den Westen vermittelt, das Geschäftskonto geplündert. Und als er alles rausgeholt hatte, was da rauszuholen ging, ist er abgehauen. Der wurde drei Jahre lang gesucht. Man hat ihn dann irgendwo auf Mallorca gefunden. Aber dann hat er gesagt: alles Geld sei weg. Das war zwar ein extremer, aber kein Einzelfall.

Nicht mehr zu retten?

Ich will noch einmal von vorne anfangen. Natürlich war die Wirtschaft der DDR 1990 reformbedürftig. Das ist überhaupt keine Frage. Das wussten wir DDR-Ökonomen schon lange. Die Kombinate und Betriebe wurden völlig bestimmt durch Planvorgaben – bis ins Kleinste. Plan, Richtungsvorgaben, Koeffizienten, Bilanzanteile, so hieß das alles. Außerdem haben sie meistens Naturalkennziffern vorgegeben bekommen. Der Gewinn spielte eine untergeordnete Rolle. Es ging um Hektoliter, um Quadratmeter, um Tonnen. So entstand ja dann auch der Begriff der Tonnen-Ideologie. Das haben wir Ökonomen lange schon moniert. Aber die SED-Führung war resistent gegenüber Ratschlägen aus der Wissenschaft. Das ist offenbar ein Problem, das es in allen Gesellschaftsordnungen gibt. Das beobachte ich jetzt auch.

Also wir wussten, die Wirtschaft muss reformiert werden, aber das war nicht deckungsgleich mit dem Mythos, der bis heute kursiert: Die Wirtschaft der DDR sei „marode“ gewesen und der Staat „pleite“. Das sind die zwei Adjektive, die immer kursierten und die sich zum Teil bis heute halten.

Wenn man die Wirtschaft der DDR betrachtet, gab es genügend Probleme. Und gemessen an der produktivsten Wirtschaft in Europa, nämlich der der alten Bundesrepublik, lagen wir zurück. Keine Frage. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner lag in der DDR bei etwa bei 55% bis 60% des damaligen Niveaus der alten Bundesrepublik. Aber wir lagen bei 80% des britischen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf und die Spanier lagen weit hinter uns, andere Länder auch. Also das alles auf einen Begriff zu bringen, „marode“, „nicht mehr zu retten“ – das ist absolut falsch und unseriös.

Und zu der Idee, die DDR wäre pleite gewesen: Egon Krenz hatte als neuer Erster Sekretär des ZK der SED nach Honeckers Abgang eine Kommission gebildet, die eine ungeschminkte Analyse des Zustandes der DDR vorlegen sollte. Schalck-Golodkowski hatte die geleitet. Diese Analyse hat 25 Seiten. Und in der ersten Hälfte fände ich wirklich nichts, was man für falsch halten könnte. Da ist aufgeschrieben, was die DDR unter schwierigsten inneren und äußeren Bedingungen seit ihrer Existenz geschaffen hat: Wir mussten eine Schwerindustrie neu aufbauen, wir mussten einen eigenen Hochseehafen bauen, gerade bei den Grundstoffen der Rohstoffindustrie mussten wir von Null anfangen. Und es gab Sabotage und Blockaden aus dem Westen. Und trotzdem ist uns vieles gelungen: Das große Wohnungsbauprogramm der DDR gehört dazu, das Bildungssystem, das Gesundheitssystem und vieles mehr.

Das ist in dieser Studie alles fein säuberlich aufgelistet.

Dann kommt die nächste Hälfte dieses Papiers, da stehen die Probleme drin. Und auch da kann man nicht widersprechen: Umweltprobleme, Probleme mit der Beschaffung von Ersatzteilen, Probleme in der Versorgung mit moderner Technologie, Rückstand vor allem bei der Chipproduktion. So weit, so richtig.

Aber dann kommt der allergrößte Hammer. In dem Papier steht, die DDR hätte 49 Milliarden D-Mark Schulden gegenüber westlichen Ländern. Wenn man die bedienen wolle, müsse man die Inlandskonsumption die nächsten Jahre um ein Drittel reduzieren, um Waren exportieren zu können, mit deren Erlösen man dann die Zinsen bezahlen kann. Die Autoren selber gaben aber auch zu, dass man das der Bevölkerung gar nicht zumuten könne.

Ja, und was dann? Sie empfahlen, man müsse noch enger kooperieren mit den Ländern, die eine ordentliche Position zur DDR haben, also mit Finnland, mit Frankreich und auch mit Japan sowie mit anderen Ländern, mit denen wir schon länger in Kontakt waren.

Aber damit die Bundesrepublik nicht denkt, wir wollen sie irgendwie austricksen, wolle man ihr anbieten, im Jahr 2004 die Olympiade in Ost- und Westberlin gemeinsam zu veranstalten. Das sollte ein Zeichen der Hoffnung sein? Als ich den Satz gelesen habe, bin ich fast vom Stuhl gefallen.

Diese Analyse war eine geheime Analyse. Also so geheim, man musste sie sozusagen vor dem Lesen verbrennen. Jeder, der da ein Mitautor war, hatte diese GVS zurückzugeben. Also auch Schalck-Golodkowski. Der ist aber am 2. Dezember 1989 mit seiner Frau per Auto über Westberlin abgehauen. Wenn der die Analyse nicht körperlich mit hatte, wovon ich ausgehe, dann hatte er das im Kopf. Er wurde dann von Herrn Schäuble drei Wochen in Pullach im Zentrum des Geheimdienstes der Bundesrepublik vernommen. Und er hat dort geplaudert, geplaudert, geplaudert.

Der Westen wusste also viel eher vom Inhalt dieser geheimen Analyse als zum Beispiel ich oder andere Mitglieder der Regierung. Und wir waren als Modrow-Regierung am 13. und 14. Februar nach Bonn eingeladen.

„Sie müssen noch viel lernen“

Ich werde nie vergessen, wie dieser Besuch verlaufen ist. Der war so schäbig, dass man sich fast schämt, darüber zu reden. Wir steigen in Schönefeld ins Flugzeug, fliegen mit der Interflug nach Köln/Bonn. Auf unseren Plätzen fand jeder die neue Ausgabe des Spiegel mit einem Artikel von Herrn Teltschik, Kohls Kanzleramtsberater. Der ging in etwa so: Unsere Brüder und Schwestern im Osten, die stehen ein paar Stunden vor der Pleite. In diesem Umfeld fand unser Empfang dort statt.

Schon Empfang ist übertrieben. Kohl hatte seine komplette Regierungsmannschaft aufgereiht, die standen alle vor dem Kanzleramt. Die hatten Mienen, als kämen wir alle zu einer Beerdigung. So kühl war der Empfang. Und so ging es dann im NATO-Saal des Kanzleramtes weiter im Plenum. Wir kriegten von Kohl und von Waigel alle eine Fünf bescheinigt für das, was wir sagten. „Also Sie verstehen die Marktwirtschaft nie“, so in dem Ton. „Sie müssen noch viel lernen“ und so weiter.

Es hieß immer, erzählen Sie doch hier keine Märchen. Ihre Wirtschaftsinsider, also Schalck-Golodkowski, Gerhard Schürer und andere haben in der genannten Analyse doch geschrieben, wie es um die DDR steht. Immer mußten die 49 Mrd. DM Schulden herhalten. Ich habe diese Größenordnung immer angezweifelt. Ironie der Geschichte: Im August 1998 hat die Bundesbank nach achtjähriger Recherchemöglichkeit unter dem Titel: “Verschuldung der DDR in konvertierbaren Devisen zum 30. Juni 1990“, also einen Tag vor der Währungsunion, veröffentlicht, die DDR habe zu dem Zeitpunkt 19,9 Mrd. D-Mark Schulden gegenüber Ländern mit konvertierbarer Währung gehabt. Nicht einmal diese Quelle wollten die West-Leute dann akzeptieren, weil sie ja dann hätten zugeben müssen, dass das Argument mit der Total-Pleite tüchtig übertrieben ist.

Bis heute ist so viel an diesem Treuhand-Thema dran, dass ich froh bin, dass in Thüringen zum Beispiel jetzt ein Untersuchungsausschuss aufgelegt ist. Ich bin dort auch eingeladen als eine, die dort als Sachverständige etwas sagen soll. Ich nehme an, in anderen Bundesländern wird das auch noch geschehen.

Für mich ist eine der entscheidenden Fragen dabei: Frau Breuel hat unerhörtes Unheil angerichtet. Sie leistet auch keiner Einladung folge. Sie stellt sich keinen Fragen. Aber sie hat es getan unter der Aufsicht der Bundesregierung. Und das ist mir bisher viel zu wenig thematisiert worden. Das muss zur Sprache kommen, weil dort liegt der Schlüssel für das Unglück, das im Osten der BRD ja bis heute Folgen hat.

Und das, was jetzt passiert im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und den Sanktionen gegenüber Russland trifft Ostdeutschland abermals besonders, denn unsere Beziehungen dorthin, die Beziehungen unserer Unternehmen dorthin, waren immer stärker als die in Westdeutschland. Schwedt steht doch jetzt schon vor dem Problem. Was wird denn, wenn dieses Erdöl nicht mehr kommt? Was passiert dann? Da verlieren Tausende von Menschen allein in dem betreffenden Unternehmen ihre Jobs.

Aber auch all die Bäcker, die Fleischer, alle im Umfeld, die davon leben, dass dort Menschen einkaufen können, verlieren ihre Arbeit. Es ist ein riesiger Komplex von Themen, die sowohl mit der Treuhand, wie auch mit der gegenwärtigen Politik zusammenhängen – und wo offen ist, wie die gelöst werden sollen. Man kann nur sagen, dass hoffentlich nicht die kriegslüsternen Damen und Herren in der jetzigen Bundesregierung weiterhin ganz alleine agieren können. Denen muss man in den Arm fallen!

#Bildquelle: wikimedia.commons

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