Mobilität als Klassenfrage: Die Arbeiterbewegung fuhr Rad

11. November 2022

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Gastbeitrag

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Sportteil der „Proletin“, der Organisationszeitung des Bundes der Kommunist:innen (BDK). Die Printversion der Zeitung kann in den Stadtteilläden von Stadtteilkomitee Lichtenberg, Kiezkommune Wedding und Stadtteilkomitee Neukölln bezogen werden.

Das 9-Euro-Ticket hat gezeigt: Mobilität ist eine Kostenfrage. Arbeiter:innen und ärmere Menschen sind oft von ihr ausgeschlossen. Das war schon immer so und führte bereits im Kaiserreich zur Gründung von Arbeiter:innen-Organisationen, die sich die Förderung der Mobilität der arbeitenden Bevölkerung auf die Fahne geschrieben hatten.

Im Mittelalter war der Großteil der Bevölkerung per Gesetz an ihren Geburtsort gekettet und auch zur Zeit der frühen kapitalistischen Industrialisierung stand es unter Strafe, seinen Arbeitsort ohne besonderen Grund zu verlassen. Erst durch die Kämpfe der Arbeiterbewegung wurden diese Regelungen nach und nach aufgeweicht. Eine entscheidende Rolle spielte dabei das wohl proletarischste aller Forstbewegungsmittel: Das Fahrrad.

Diese These vertritt zumindest der Historiker Ralf Bedhuhn, Autor des Buches „Rote Radler“, in dem er sich mit der Bedeutung des Fahrrads für die Arbeiterbewegung auseinandersetzt. Demnach sei es erst durch die massenhafte Produktion und Verbreitung des Fahrrads möglich geworden, dass Arbeiter:innen sich überregional fortbewegen und vernetzen konnten. Gerade zur Zeit der Sozialistengesetze im deutschen Kaiserreich ermöglichte das Fahrrad somit eine klandestine Organisation der Arbeiterbewegung.

Die Bedeutung des Rads wird auch deutlich, betrachtet man die Arbeitersportbewegung. So nahm das Radfahren eine zentrale Rolle für die Arbeitersportler:innen ein. Bereits 1896 wurde beispielsweise der „Arbeiter Radfahrerbund – Solidarität“ in Offenbach gegründet. Als die „roten Husaren des Klassenkampfes“ machten die Arbeiter-Radler:innen politische Geschichte. Der Arbeiter Radfahrerbund Solidarität war eine heute kaum vorstellbare Macht, „stärker als die bürgerlichen Radsportverbände zusammen“, so Ralf Beduhn. Die Arbeiter-Radler wollten – wie ihre bürgerlichen Counterparts – im Verein radeln. Die bürgerlichen Vereine aber, überwiegend konservativ, nationalistisch und/oder militaristisch, kamen für Arbeiter:innen nicht in Frage oder nahmen keine Arbeiter:innen auf. Darüber hinaus hatte die Arbeiterbewegung ein anderes, nicht unumstrittenes, Sportverständnis: Körperkultur, Körperbeherrschung und gemeinschaftliches Erleben standen im Vordergrund und nicht Rekorde oder bezahlter Leistungssport. Statt Radrennen gab es Wettbewerbe im Langsamfahren; der Bund pflegte Radtouristik, Kunstradfahren und andere Saalradsportarten.

An der Organisation der Frankfurter Arbeiterolympiade vom 24. bis 28. Juli 1925 hatte der Rad- und Kraftfahrerbund Solidarität, der mit über 300.000 Mitgliedern der größte Arbeitersportverein der Weimarer Republik war, wesentlichen Anteil. Die größte Verbreitung erreichte der Bund mit 329.000 Mitgliedern 1930, davon waren 45.000 Frauen.

Mit der Machtergreifung wurde der zum Rad- und Kraftfahrerbund Solidarität umbenannte Arbeitersportverein verboten. Viele der Sportler:innen gerieten in Gefangenschaft oder gingen ins Exil. Nach der Wiedergründung des Vereins 1954 konnte er nie zur alten Größe und politischen Strahlkraft zurückfinden.

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