Von Perspektive Selbstverwaltung
Im Dezember 2018 nahm sich die sudanesische Bevölkerung die Straßen, um gegen die 30-jährige Herrschaft des Diktators Omar al-Bashir zu protestieren. Daraufhin floh dieser im April 2019, während die sudanesische Armee die Kontrolle übernahm, die Regierung auf allen Ebenen auflöste und eine Militärregierung aufstellte, die sich über die Forderungen der Protestbewegung hinwegsetzte. Später im selben Jahr wurde eine Vereinbarung getroffen, die eine Machtteilung zwischen zivilen und militärischen Vertreter*innen während einer 39-monatigen Übergangszeit zur zivilen Demokratie vorsah. Ein Schritt, den die revolutionäre Bewegung von Anfang an ablehnte und stattdessen eine vollständig zivile Verwaltung forderte. Die Widerstandskomitees sind Nachbarschaftsversammlungen, die sich seit 2013 gebildet haben. Als am 25. Oktober 2021 ein zweiter Militärputsch den Übergang zu einer zivilen Regierung sabotierte, waren sie erneut eine zentrale Kraft bei der Organisation von Protesten. Zwar wurde die Übergangsregierung einen Monat später wieder eingesetzt, doch führte diese Erfahrung zu einem Vertrauensverlust in Behörden und politische Parteien und veränderte so die Widerstandsbewegung. Sie ist nun dezentral organisiert, mit den Widerstandskomitees im Mittelpunkt, die einen grundlegenden Wandel der Verteilung von Macht und Ressourcen fordern. Das Verhältnis zum Militär ist klar: „Keine Verhandlungen. Keine Machtteilung. Keine Kompromisse.“
Am 4. Juli sprachen wir mit Muzna Alhaj, einer sudanesischen Revolutionärin, nachdem sie an einer Podiumsdiskussion über den aktuellen Stand der Revolution in Berlin teilgenommen hatte. Alhaj ist Mitglied und Organisatorin in einem lokalen Widerstandskomitee in der Hauptstadt Khartoum. Das folgende Interview ist Teil einer Reihe, die hier veröffentlicht wird.
Welches Potential siehst du in den Widerstandskommitees und welche Rolle können sie in einer postrevolutionären Gesellschaft spielen?
Die Widerstandskomitees sind Basisgruppen, die aus lokalen Gemeinschaften hervorgegangen sind und von Bewohner*innen der Nachbarschaften in ganz Sudan gebildet werden. Ich sehe nirgendwo größeres Potential, dass die Menschen selbst zu Wort kommen und ihre Anliegen verteidigen. Die Widerstandskomitees sind der Keim für ein zukünftiges lokales Regierungssystem, in dem die Menschen selbst die Kontrolle über die lokalen Behörden und Ressourcen haben, um diese für ihre Entwicklungsbedürfnisse zu nutzen. In der Phase des Militärputsches vom 25. Oktober 2021 sind die Widerstandskomitees die wichtigste Kraft des Widerstandes gewesen. Sie organisierten wöchentliche Proteste, ertrugen dabei all die Morde und die Gewalt, erarbeiten ihre politischen Visionen in Form von politischen Chartas, verfassten Erklärungen und organisierten Foren zu aktuellen politischen Themen.
In einer postrevolutionären Gesellschaft können sie zwischen mehreren Szenarien entscheiden: ob sie als Widerstandskomitees bestehen bleiben oder zu Gruppen werden, die Druck ausüben, indem sie die Behörden überwachen und die gesellschaftlichen Forderungen durchsetzen, so wie sie es Ende 2019 – 2021 getan haben. Ich könnte mir vorstellen, dass einige ihrer Mitglieder sich entscheiden werden, dem Übergangslegislativrat beizutreten oder sich auf eine andere Ebene der politischen Praxis zu begeben, was neuen Generationen von Rebell*innen die Möglichkeit gibt, sich den Widerstandskomitees anzuschließen.
Du hast uns von den Chartas der verschiedenen Widerstandskommitees berichtet und von dem aktuellen Prozess, diese in einer gemeinsamen Charta zu vereinen. Kannst du schon sagen was die Hauptpunkte sein werden?
Die Widerstandskomitees von Khartum haben die „Charta zur Errichtung der Volksautorität“ entworfen, während 16 sudanesische Bundesstaaten die „Revolutionscharta für die Volksautorität“ ausgearbeitet haben. Beide Chartas enthalten eine Vision für die Übergangsphase, in der es um die Frage geht, wie der Sudan regiert werden soll. Sie behandeln die Themen dezentrale lokale Verwaltung, soziale Gerechtigkeit, Wirtschaft, Außenpolitik, staatliche Gewalt, Reform des Sicherheitssektors und das Verhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft. In der Revolutionscharta wird z.B. versucht, die postkolonialen Institutionen im Sudan, wie die Streitkräfte und das System der sogenannten „einheimischen Stammesverwaltung“ (A. d. Ü.: Ein System, das von den britischen kolonialen Besatzern eingeführt wurde, um die Verwaltung der Kolonie teilweise von der Kolonie selbst ausführen zu lassen), abzubauen.
Im Anschluss ist der Plan, die Gewerkschaften wieder in den revolutionären Prozess einzubinden, indem ihnen diese gemeinsame Charta präsentiert wird. Denkst du sie können bzw. wollen ein Programm akzeptieren, das von den Widerstandskommitees entwickelt wurde? Sind ihre politischen Positionen in der Charta integriert?
Ich glaube, die Gewerkschaften und die verschiedenen Berufsverbände können gemeinsame Grundlagen für eine Allianz mit den Widerstandskommitees finden. Die Art und Weise, in der die Widerstandskommitees in Khartum ihre Vision für die Gewerkschaften formulierten, wurde kritisiert. Das war aber für die Reife ihrer Ideen notwendig, schließlich ist die Ausarbeitung dieser Chartas ein kontinuierlicher Lernprozess.
Zweifellos gibt es gemeinsame politische Positionen zwischen den Widerstandskommitees und den Gewerkschaften. Die Revolutionscharta schlägt etwa die Gründung lokaler Legislativräte vor, denen neben Vertreter*innen der Anwohner*innen auch Vertreter*innen der Gewerkschaften angehören.
Während deines Vortrags erwähntest du die Rolle von Frauen in der Revolution und wie diese sich im Vergleich zum Beginn der Bewegung 2018 verändert hat. Du berichtetest, dass ihre Teilnahme deutlich zugenommen hat, aber weiterhin nicht alles perfekt ist. Was denkst du ist nötig, damit sich mehr Frauen willkommen und sicher innerhalb der Bewegung fühlen und ihren Teil der Gesellschaft repräsentieren?
Frauen brauchen sichere Räume. Sie müssen das Gefühl bekommen, aber auch selbst daran arbeiten, dass die verschiedenen Organisationen und Kräfte der Bewegung ihnen entgegenkommen. Tatsache ist, dass die Opfer, die Frauen innerhalb der Bewegung bringen, größer sind als das, durch ihren Anteil an politischer Beteiligung sichtbar wird. Nichtsdestotrotz sind Frauen gesellschaftlich gesehen sehr aktiv und in allen Organisationen der Zivilgesellschaft präsent, wo sie in einer Vielzahl von Bereichen arbeiten, sei es in feministischen Gruppen oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es ist wichtig, dass Frauen anfangen, sich die Räume zu nehmen, die sie brauchen, und aufhören, von Männern zu verlangen, dass sie Plattformen und Organisationen mit ihnen teilen; sie müssen ihre eigenen Räume finden und vermeiden, die Zustimmung der Männer zu suchen. Die Zahl der Frauen, die in der Bewegung eine Führungsrolle übernehmen, steigt heute schneller denn je, aber das reicht bei weitem nicht aus.
Denkst du, dass die Teilhabe von Frauen an der Revolution einen nachhaltigen emanzipatorischen Effekt auf ihre Rolle in der Gesellschaft haben wird?
Ich habe keine Antwort auf diese Frage, da die Rolle der Frauen in der Gesellschaft neben ihrer Rolle in der Bewegung auch von vielen anderen Faktoren abhängt. Auch wenn wir dachten, die Revolution hätte sich 2019 durchgesetzt, hat die führende Koalition der „Kräfte der Freiheit und des Wandels“ die Frauen trotz ihrer außerordentlichen Rolle in der Revolution völlig ausgegrenzt. Seit dem Putsch verschlimmert sich die Situation für Frauen täglich, Geschichten über systematische staatliche Gewalt gegen Frauen häufen sich in den neuen Medien und wir erleben massive Rückschritte, die die Frauenrechte in die Al-Bashir-Ära zurückwerfen werden. Einen Wandel durchzusetzen ist also keine Garantie dafür, dass Frauen in Zukunft eine „Rolle“ zugestanden wird, insbesondere was politische Teilhabe angeht.
Welchen Einfluss hat die momentane globale ökonomische Krise, sowie steigende Preise, Öl- und Getreideknappheit, auf das Leben und die Revolution im Sudan?
Die Menschen leiden bereits unter den Auswirkungen der „Wirtschaftsreformen“, die von der Übergangsregierung 2019-2021 durchgeführt wurden. Diese waren die Folge des Schuldenerlasses im Rahmen der HIPC-Initiative (A. d. Ü.: HIPC – „Heavily Indebted Poor Countries„) des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und bestehen in der Aufhebung der Subventionen auf die wichtigsten Güter wie Kraftstoff, Gas zum Kochen, Strom und Weizen. Die Situation hat sich nicht nur wegen des Krieges in der Ukraine verschlimmert, sondern auch, weil die Führung des Putsches, um ihre Macht über die Aussetzung der internationalen Entwicklungshilfe hinaus zu erhalten, die sudanesische Bevölkerung ausraubt, indem sie die Treibstoffpreise weit über das internationale Niveau hinaus anhebt und zusätzlich die Preise für alle öffentlichen Dienstleistungen und lebenswichtigen Güter erhöht.
Inflation und zunehmende Armut haben einen direkten Einfluss auf die Revolution, sowohl positiv als auch negativ. Positiv ist, dass die Wirtschaftskrise mehr Menschen darin bestärken wird, sich auf die Seite der Opposition zu stellen, ihre Forderungen nach besseren Lebensbedingungen lautstark zu äußern und sich potenziell auch der Protestbewegung anzuschließen. Negativ ist, dass sich diejenigen, die in der Bewegung aktiv sind, gezwungen sehen mehr und länger zu arbeiten oder, angesichts der hohen Arbeitslosenquote von über 60 %, ihre Zeit der Jobsuche zu widmen. Die Menschen sind dann mehr damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse und die ihrer Familien zu decken und können sich weniger auf den Protest und den Sturz des Putschregimes konzentrieren.
In unserer Unterhaltung erwähntest du, dass die ökonomische Situation 2018 ein wichtiger Auslöser für die Proteste war, welche sich dann zu breiteren Protesten gegen das Regime ausweiteten. Welche Rolle spielen ökonomische Forderungen heute in den Widerstandskommitees? Ist die Verteilung von Wohlstand Teil der Debatten über ein postrevolutionäres Sudan?
Die ökonomische Situation ist nach wie vor der Hauptauslöser für die Proteste im Sudan, nur haben einige Protestierende dafür mehr Bewusstsein als andere. Natürlich ist der sozioökonomische Klassenunterschied zwischen ihnen ein entscheidender Faktor in den Forderungen, aber in dieser Phase der Revolution stehen für alle Macht und Reichtum im Vordergrund. Die Hauptslogans der Revolution lauten jetzt: „Macht ist die Macht des Volkes“, „Reichtum ist der Reichtum des Volkes“, „Armee zurück in die Baracken“ und „Auflösung der Rapid Support Forces“ (A. d. Ü.: „schnelle Eingreiftruppen“, Hauptakteure bei der Niederschlagung von Protesten). Es gibt also Einigkeit darüber, dass in einem postrevolutionären Sudan der Reichtum umverteilt werden sollte und die Menschen in ihren lokalen Gemeinschaften die Kontrolle über ihre eigenen lokalen natürlichen Ressourcen haben sollten.
Natürlich haben für die Widerstandskomitees auch Themen wie Gerechtigkeit Priorität, denn ihre Genoss*innen wurden und werden noch immer ermordet und sie wollen Gerechtigkeit für sie. Und als junge Menschen wollen sie natürlich Freiheit, um so leben zu können, wie sie wollen. Das heißt aber nicht, dass ihnen nicht bewusst ist, dass eine wohlhabendere Gesellschaft ihr Leben zum Besseren verändern wird.
Die Veranstaltung in Berlin trug den Untertitel: „Wie sieht internationale Solidarität aus?“ Was können Menschen in Europa oder anderen westlichen Staaten tun, um direkt Basis-Bewegungen wie die Widerstandskommitees im Sudan zu unterstützen?
Vernetzung, Erfahrungsaustausch, Austausch von Wissen und Taktiken, Medienberichterstattung, Recherche über und Beobachtung der Menschenrechtssituation und der Gewalt gegen Protestierende im Sudan sowie Enthüllung dieser Verstöße. Weitere notwendige Unterstützung sind Rechtshilfeinitiativen und freiberufliche Anwälte, die Gefangene verteidigen und die Familien der Märtyrer*innen und Betroffenen von Vergewaltigung vertreten sowie die Unterstützung der Initiativen, die sich um die medizinische Versorgung von Zehntausenden verletzten Protestierenden kümmern.
#Titelbild: Ashraf Shazly
| Sudan: “Die Widerstandskomitees sind der Keim der Revolution”Maulwuerfe 3. September 2022 - 11:03
[…] lowerclassmag.com/… vom 3. September […]