Der Krieg in der Ukraine trifft in Deutschland auf eine ideologisch entwaffnete Linke. Die wenigsten leisten sich noch den Luxus einer Weltanschauung, meistens entscheidet man von Fall zu Fall, was man empörend und was man gut findet. Dementsprechend lassen sich alle möglichen Positionen finden: die als moralische Verpflichtung verbrämte Einkehr in den Schoß des eigenen Staates, der klassenneutrale Pazifismus, die Verklärung Russlands zur antifaschistischen Interventionsmacht.
Was ist an den verschiedenen Positionen dran? Wo liegen ihre Stärken, wo ihre Schwächen? Und wie sieht im Gegensatz zu allen genannten eine an die Klassiker des Marxismus anknüpfende Sicht der Dinge aus?
Erstens: Javelins für die Demokratie
Der Star des Linken-Parteitags, Sofia Fellinger, verstand die Welt nicht mehr. Die Ukraine wurde von Putin angegriffen und ihre Partei weigert sich, Waffen zu liefern. „Sollen die Ukrainer die russischen Panzer umarmen?“, fragt die Linke im Spiegel. Und sie antwortet: „Wenn Leute für eine linke, befreite Gesellschaft kämpfen wie in Kurdistan oder Rojava – natürlich gebe ich denen Waffen!“
In dieselbe Kerbe schlägt Bodo Ramelow. Der Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ sei zwar grundsätzlich richtig, aber eher was für Friedenszeiten. In Kriegszeiten müsse man schauen, wer angegriffen werde und dann nach Völkerrecht entscheiden, wem das Recht auf Selbstverteidigung zukomme. Und denen, in diesem Fall der Ukraine, müsse dann natürlich die Möglichkeit verschafft werden, auch schwere Waffen im Ausland einzukaufen. Diese Position unterscheidet sich geringfügig von der der Grünen. Man will auch Sanktionen, nur zielgerichtetere, man will auch Waffen liefern, nur mit mehr Gewissenskonflikten. Und zumindest unausgesprochen, oft auch ganz offen, hält man die „westlichen Demokratien“ für irgendwie humaner als Russland.
Emotional nachvollziehbar ist dieser Aufruf zur „Solidarität“ allemal. Der russische Krieg ist Krieg und als solcher brutal und menschenverachtend. Die Neigung, „etwas dagegen tun zu wollen“, ist sicher nachvollziehbarer, als gar keine Antipathie gegen das Morden mehr zu verspüren.
Die Schwachstelle dieser Position ist allerdings, dass sie auf zahllosen Missverständnissen über den Charakter der NATO, den von Staaten im allgemeinen und den von Kriegen im Kapitalismus beruht und sich eigentlich ausschließlich auf den moralischen Druck verlassen kann, den sie ihren Gegnern gegenüber ausübt. Durchgedacht führt sie zu Konsequenzen, die ihre linken Vertreter wohl kaum wollen können. Und: Sie „hilft“ auch nicht, nicht einmal in dem Sinne, den sich ihre Vertreter erhoffen.
Was ist das Problem mit den Waffenlieferungen an die angegriffene Nation? Es fällt zunächst auf, dass in der Linken kaum jemand den deutschen Staat um Waffen für beispielsweise die Huthis im Jemen, diverse palästinensische Gruppen oder Gaddafis Armee angefleht hat. Warum eigentlich nicht? Wenn das Angegriffenwerden das einzige Kriterium ist, erfüllen es alle Genannten. Was ist anders in der Ukraine? Der einfache Grund ist: Mit immensem medialen Druck wird die Idee in die Gesellschaft gepresst, dass die in der Ukraine herrschende politische und wirtschaftliche Elite zum einen die Zustimmung ihrer gesamten Nation genießt und zum anderen etwas Gutes und Schönes mit ihrem Volk im Sinn hat. Vor allem bei „linken“ Grünen, aber auch bis hinein ins linkere Spektrum versucht man, sich den Charakter des Kiever Regimes schönzureden, ganz als ob man über jemanden, der angegriffen wurde, nichts Schlechtes mehr sagen dürfe. Dass allerdings Selensky und Co. irgendetwas sonderlich Progressives im Sinn haben, ist nun wirklich schwer zu argumentieren. Das Verbot von so ziemlich jeder Oppositionspartei, die Foltergefängnisse des Geheimdienstes SBU, die Macht von Oligarchen, der im liberalen Establishment tief verankerte Einfluss eines auf den Bandera-Kult gegründeten pro-westlichen Nationalismus, die von der ukrainischen Regierung und den USA hofierten Nazi-Milizen – nichts davon spricht für die Illusion, die Führung der Ukraine habe eine „linke, befreite Gesellschaft wie in Rojava oder Kurdistan“ zum Ziel.
Die geistig mitvollzogene Idealisierung der ukrainischen Nation geht dann so weit, dass man bei den Waffenlieferungen eine weitere Kleinigkeit vergisst: Man selber hat keine. Weder Fellinger, noch Ramelow, noch sonst irgendwelchen linken Befürworter von Waffenlieferungen können „denen natürlich Waffen geben“. Wer kann, ist die jeweils herrschende Klasse der NATO-Staaten. Das klingt trivial, macht aber auch einen Unterschied. Man könnte ja als Linker so argumentieren: ‚Mir ist klar, dass insgesamt diese Regierung dort kein Segen für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist, aber es gibt linke Gruppen, die sich militärisch an der Verteidigung gegen den russischen Angriff beteiligen und die will ich unterstützen, damit sie auch in der ukrainischen Gesellschaft hegemonial werden und diese verändern“.
Kurz: Hätte man eigene Waffen (rein theoretisch), würde man die ja wohl nicht an Neonazi-Regimenter liefern, sondern an diejenigen, von denen man denkt, dass sie den eigenen Zielen nahe stehen. Sieht man dagegen schon irgendeinen moralischen Vorteil darin, die Waffenlieferungen der deutschen Regierung zu beklatschen, tut man eigentlich nichts anderes, als sich die Durchsetzung von deren Interessen zu eigen machen.
Was letztlich hier diskutiert wird, ist nur: Finden wir es gut und freuen uns, wenn die deutsche oder amerikanische Regierung Waffen liefert? Das wissen natürlich die Beteiligten auch, deshalb müssen sie die staatsoffizielle Begründung auch gleich mit schlucken: Staaten liefern Waffen und verhängen Sanktionen aus „Hilfe“ für die Angegriffenen, aus „Solidarität“. Mit dieser angenommenen Selbst- und Interessenlosigkeit kommt ein Rattenschwanz an Idealismus: Man muss jetzt die eigentlich aus jeglicher materialistischen Perspektive recht offensichtliche Einschätzung, dass es dem Westen nicht um das Wohl der ukrainischen Arbeiterklasse geht, die er ohne Augenzucken bis zum letzten Mann für den Sieg über den Gegner Russland verheizen würde, als eine Art unsagbare Beleidigung diffamieren.
Dieser Position geht vollständig verloren, mit wem sie sich eigentlich solidarisieren will. Mit „der Ukraine“ wird die Antwort sein, ganz so, als ob es dort keine Klassen, unterschiedliche Interessenlagen und auch Stellungen zum Krieg gebe. Letztlich kommt man so in die Logik der Nationalstaaten, denn die russische Seite macht auch nichts anderes, als sich mit „den Ukrainern“ solidarisieren, nur halt mit denen, die sie sich zur Durchsetzung ihrer Interessen ausgesucht hat und die sich diejenigen, die noch russische Sender schauen, beim Begrüßen der Truppen in Lyssytschansk, beim Baden am Strand im „befreiten“ Mariupol oder in den Rängen der Truppen der Volksrepubliken ansehen kann. „Das ist ja was ganz anderes“, werden die Gläubigen der prowestlichen Position dem entgegenhalten. Aber an diesem Punkt ist es dann eben nur noch ein Glauben.
Hat man einmal allen Fakten zum Trotz attestiert, dass hier eine homogene Nation um die Erreichung eins demokratischen oder sonstwie als „gut“ markierten Ziels ringt und der Westen bei diesem Ringen solidarisch hilft, geht es in den Abgrund. Man kann nur noch um den Preis der Inkonsequenz die demoralisierten Soldaten beim Befehlsverweigern, die Deserteure beim Desertieren oder die (wenigen) sich der Eingliederung in die Nation verweigerten Linken unterstützen. Eigentlich muss man sie in dieser Weltsicht als Verräter sehen.
Verallgemeinert man die Position, steht man knietief in Joe Bidens und Annalena Baerbocks „regelbasierter“ internationaler Ordnung, die mit Stinger und Javelins ins letzte Eck der Welt exportiert werden muss. Wieso sollte man nicht präventiv mehr und mehr Truppen in den Osten schicken, nach Litauen, Estland, Polen, wo auch immer hin, wo der Aggressor vor der Tür steht? Müsste man nicht Kriegsschiffe nach Taiwan entsenden, wo die kommende Aggression eines anderen Feindes der freien Welt droht?
Zweitens: Antifaschismus im T-14-Panzer
Da ja nicht nur der Westen seine Kriegspropaganda hat, sondern auch Russland, finden sich natürlich in der Linken auch Gläubige der auf der anderen Seite der Schützengräben verbreiteten Marschmusik. Hier wird die Vorgeschichte des Einmarsches – die Machtübernahme westlicher Regierungen im Gefolge des Maidan, die Niederschlagung pro-russischer Demonstrationen in Donezk und Luhansk, die Osterweiterung der NATO – im Unterschied zur oben skizzierten pro-westlichen Theorie nicht ausgeblendet. Soweit, so richtig. Man muss dieser Position zugestehen, zumindest nicht den Fehler der prowestlichen zu machen, dem eigenen Imperialismus auf den Leim zu gehen. Anders als der pro-westlichen ermangelt es ihr allerdings an jeder Empathie für das überfallene Land und dessen Bevölkerung. Und der Fehler der Bewertung von Staatspolitik wiederholt sich spiegelverkehrt.
Russland wird vom seinerseits imperialistischen Konkurrenten des Westens umgeschrieben zu einem von idealistischen Motiven geleiteten Heilsbringer. Putin ist hier gleichsam die Weltseele zu Pferde, deren historische Mission die Niederschlagung des Nazismus und die Befreiung der Welt vom US-Joch ist. Die vollständige Zerstörung gerade der russischsprachigen Teile der Ukraine in einem Artilleriekrieg ist da ein kleiner Preis, den man aus der Ferne gerne gewillt ist, bezahlen zu lassen.
Im englischsprachigen Raum verbreiteter, findet sich diese Auffassung in Deutschland nur bei absoluten underdogs. Diether Dehm geht in diese Richtung, die im Internet populäre, ansonsten aber inexistente „Antiimperialistische Aktion“ vertritt sie offen. In der DKP ist man sich unsicher, es gibt Richtungsstreit. Aber jedenfalls einige Regionalgliederungen vertreten die Auffassung, Russland sei „nicht imperialistisch“. Das wirkt meist etwas schrill. In der Fassung der DKP Darmstadt in einem vor dem Einmarsch in der Ukraine verfassten Text: „Mancher hat sich Lenins Imperialismustheorie als Schablone genommen und festgestellt: Irgendwie passen diese Kriterien alle auf Russland. Russlands Außenpolitik ist nicht auf die Eroberung fremder Länder und Regionen gerichtet, sondern auf die Verteidigung der eigenen Souveränität, was eine militärische Komponente wie in Syrien beinhaltet.“ Wäre man besser bei Lenins Schablone geblieben.
Die Probleme dieses Ansatzes sind offenkundig. Er muss mit Lenins Imperialismusanalyse brechen (auch etwas ausgefeiltere Varianten wie die von Andreas Wehr sind wenig überzeugend und man merkt ihnen an, dass vorab klar war, was bewiesen werden sollte) und fürderhin das Staatshandeln dieser gar nicht mehr so genau zu bestimmenden Nation aus idealistischen Motiven ableiten. Wagner-Söldner werden zur Vorhut in einem antifaschistischen Befreiungskrieg, ein von Oligarchen beherrschtes Land zum Sachwalter der antikolonialen Befreiung und eigentlich recht gut marxistisch analysierbare Motivlagen, wie die Konkurrenz auf den globalen Energiemärkten, gleich ganz ausgeblendet. Die Debatte spiegelt eine international geführte Diskussion: Die zwischen der Kommunistischen Partei der russischen Föderation (KPRF) und der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE).
Da den in die russische Staatsräson eingemeindeten „Kommunisten“ der KPRF notwendigerweise nicht nur die Klassenfragen, sondern auch jede Analyse des Charakters ihres Staates verloren geht, wird der Konflikt auf internationaler Ebene vom zwischenimperialistischen zum Kulturkampf. In der Formulierung der KKE: „Durch ihre Haltung steht die KPRF auf der Seite russischer und chinesischer Monopole in deren Konkurrenz mit denen des Westerns. Beide zusammen haben die Ukraine in einen ‚punching bag‘ verwandelt.“ Die KPRF schreibe die zwischenimperialistischen Kämpfe zu einem „Clash der Zivilisationen“ um, in der es eine klassenneutrale „russische Welt“ zu verteidigen gelte.
Auch hier, wie in der pro-westlichen Position, gibt es entweder gar keinen Klassenwiderspruch mehr oder er wird einer verklärten geopolitischen Perspektive untergeordnet. Abgesehen davon, dass die Vertreter dieser Position Verrenkungen wie „Russlands Sicherheit wird am Euphrat verteidigt“ aushalten müssen, sind auch hier diejenigen, die sich der Nation, nun der anderen, widersetzen, Verräter. Wer jetzt als Kommunist gegen Putin ist, sich als Soldat der russischen Truppen beschwert oder gar desertiert, schadet dem antifaschistischen, antikolonialen Kampf. Drittens: Verhandeln bis zum Weltfrieden Jenseits der beiden ersten existiert die klassische Position der Friedensbewegung. Sie dürfte immer noch die am meisten und durch alle Lager hindurch verbreitete sein. Sie hat den Vorteil, dass sie sich auf keine Seite schlägt und die Kritik am „eigenen“ Imperialismus nicht aus den Augen verliert sowie gleichzeitig nicht mit dem Fahnenschwenken für einen offenkundigen Angriffskrieg verknüpft ist. Im pazifistischen Lager im weitesten Sinne finden sich die unterschiedlichsten Weltanschauungen, von religiösen über sozialistische, liberale, bürgerlich-humanistische, anarchistische bis hin zu esoterischen, konservativen oder rechten. Der Kern der pazifistischen Überzeugung ist: Krieg ist schlecht, wenn er schon da ist, muss man ihn beilegen und dazu muss man verhandeln, dann Verträge und Abkommen schließen. In Friedenszeiten ist abzurüsten, zivile Konfliktbeilegung zu entwickeln, auf dass Krieg nicht mehr geschieht. Aus irgendeinem Grund ist diese Position den vermeintlichen Freunden der Ukraine – mein Eindruck wäre: insbesondere den linken und grünen – so verhasst, dass heute jeder Aufruf zu Verhandlungen als Beweis der absoluten Verdorbenheit des Aufrufenden gilt. Dabei ist zum einen klar, dass der wahrscheinlichste Ausgang dieses Krieges in Verhandlungen liegen wird. Die Frage ist nur zu welchem Zeitpunkt und welche Seite dann militärisch, ökonomisch und politisch in welcher Lage sein wird.
Das Problem des Pazifismus ist, dass zwischen Frieden und Krieg im Kapitalismus kein abstrakter Bruch liegt. Der Krieg setzt den auch im Frieden bestehenden Konkurrenzkampf der imperialistischen Nationen nur fort und der Friedensschluss, das betonte Lenin im 1. Weltkrieg, ist nichts anderes als „die Teilung der imperialistischen Beute“. Jeder Frieden bleibt, solange der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium fortbesteht, nicht mehr als ein Waffenstillstand. Die geschlossenen Verträge haben solange Gültigkeit, bis sie eben keine mehr haben. Das sehen auch die meisten Beratungsunternehmen bürgerlicher Staaten nicht anders. Man spielt Szenarien durch (z.B. hier, hier oder hier) und Überraschung: in keinem, egal ob Russland verliert, gewinnt, sich ein Patt ergibt, steht am Ende ein andauernder, konfliktfreier Friede, sondern einfach die nächste Runde der Auseinandersetzung.
Möglich sind im Rahmen einer fortbestehenden Konkurrenzsituation imperialistischer Blöcke in einer permanenten, globalen, multiplen Krisensituation des Kapitalismus nur die Umgruppierung der Kräfte (China rückt in den Fokus), das temporäre Zurückschlagen des Gegners (Russland wird auf seinen „Platz“ verwiesen), die Eskalation zum Weltkrieg oder ein Einfrieren des Konflikts zu einem Jahrzehnte andauernden Abnutzungskrieg im Rahmen etwa eines Guerillakriegs in einer unter Besatzung stehenden Ukraine.
Die pazifistische Bewegung ist sicher ein wichtiger Bündnispartner für Kommunisten. Aber für sich genommen verbleibt sie im Hamsterrad, jedes Mal, wenn die friedliche in die kriegerische Konkurrenz umschlägt, erneut um den zeitweiligen Waffenstillstand ringen zu müssen.
Das Ende des Krieges: Sozialistischer Antimilitarismus
Was aber sonst? Die revolutionäre Arbeiterbewegung, als sie noch Kraft hatte, verfolgte die Strategie, die Werktätigen dazu aufzurufen, im Krieg die Waffen, die ohnehin ausgegeben waren, gegen die eigene Herrschaft zu drehen. In Deutschland haben während des Ersten Weltkriegs vor allem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht diese Position vertreten, in einer Zeit als ihre damalige Partei, die SPD, mit Hurra zu den Waffen rief und die Proletarier in die Mordgräben vor Verdun schickte. Erste schrieb 1916: „Was wir brauchen, das ist ein Friede des Proletariats, nicht des Imperialismus, ein Friede, der durch das Eingreifen der Arbeiterklasse herbeigeführt wird, nicht durch die Diplomatie noch durch die Kanonen, nicht durch die Hindenburg, Krupp und Bethmann Hollweg, sondern gegen sie; das ist ein Friede, dessen Gestaltung bestimmt und dessen Erhaltung gesichert ist durch die Macht und den Willen der aktionsfähigen und aktionsbereiten Massen. Und nur ein solcher Friede unter der Garantie des klassenbewußten Proletariats trägt auch die Gewähr der Dauer in sich.“ Ein durch „Schiedsverträge“ der herrschenden Klassen geschlossener Friede sei nicht genug, ja der pazifistische Appell an die kriegführenden Eliten sei sogar „gefährlich und schädlich, weil er Illusionen über den möglichen Sinn und die mögliche Wirksamkeit diplomatischer Abmachungen kapitalistischer Regierungen und Irrtümer über Wesen und Macht des Imperialismus erweckt; gefährlich und schädlich, weil er die politische Orientierung der Massen, ihre Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge und Triebkräfte der Entwicklung verbaut und verwirrt, weil er die Aufmerksamkeit des Proletariats von dem ablenkt, worauf es für die Arbeiter allein ankommt, von den einzigen spezifisch proletarischen Mitteln, die ihnen für ihren Friedenskampf zu Gebote stehen.“
Und aktuell wie eh und je fährt sie fort: „In diesem Kampf hängt alles, aber auch alles davon ab, das die Arbeiterklasse jede Hoffnung auf fremde Hilfe fahrenläßt, sich auf sich selbst als ihre einzige Rettung besinnt, ihre Ziele aufstellt und zu deren Verfolgung ihre eigene gesellschaftliche Macht ausbildet und einsetzt.“
Karl Liebknechts berühmte Rede über den Hauptfeind schlägt in dieselbe Kerbe: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“
Es war Lenin, der diese Ansätze zur Strategie ausarbeitete, den Krieg zwischen den Völkern in einen Bürgerkrieg gegen die jeweils eigenen Herrschenden zu wenden. Er fällt auf keine der Rechtfertigungen des „heiligen Verteidigungskrieges“ herein, nicht die im eignen Land, nicht die im gegnerischen: „Der reaktionäre Charakter dieses Krieges, die unverschämte Lüge der Bourgeoisie aller Länder, die ihre Raubziele unter dem Mäntelchen „nationaler” Ideologie versteckt“, schreibt er schon 1914/1915. Die Verelendung unter den Massen durch den Krieg rufe unweigerlich revolutionäre Stimmungen hervor (man muss bedenken: er schreibt das mit Voraussicht zu einem Zeitpunkt, als der Hurrapatriotismus in allen Ländern noch weit verbreitet war, aber er weiß, dass das nicht bleiben wird). Aufgabe der Sozialisten sei es, „diese Stimmungen bewußt zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben“. Die Losung sei: „Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von ‚Massenaktionen‘ muss unvermeidlich dazu führen.“
Die Position ist sehr simpel und wahr: Kapitalistische Nationen sind zu keinem dauerhaften Frieden fähig. Also muss in der Barbarei des Krieges die Politik der Revolutionäre auf die Beseitigung des Kapitalismus abzielen. Das geschieht, indem das Proletariat, das sowohl der größte Leidtragende des Krieges wie auch die Kraft ist, die ihn beenden kann, sich gegen die eigene Bourgeoisie und ihre politischen Sachwalter wendet.
Beziehen wir sie auf heute: Der Adressat dieser Strategie sind nun tatsächlich die Arbeiterinnen und Arbeiter, die verheizten Soldaten, die Zivilbevölkerung, nicht mehr die deutsche, US-amerikanische, russische oder ukrainische Regierung. Gegen diese Strategie zieht nun auch der von den NATO-Freunden erhobenen Einwand gegen den Pazifismus nicht mehr, man wolle die Anerkennung von russischen Gebietsgewinnen oder die Kapitulation der Ukraine. Denn was der sozialistische Antimilitarismus fordert, ist nicht die Kapitulation, sondern die Aufnahme des Kampfes. Er will auch nicht einfach einen Wisch, der einen temporären Waffenstillstand festschreibt und zur normalen Unterdrückung der kapitalistischen Friedenszeit übergeht, sondern er will den Sturz der Bourgeoisie. Der sozialistische Pazifismus ist nicht generell gegen Waffen, er fragt, in welchen Händen und zu welchem Zweck sie gebraucht werden. In der Formulierung der Arbeiterfront der Ukraine: „Du kannst weiter ein ukrainischer Nationalist oder ein russischer Chauvinist bleiben; du kannst apolitisch bleiben und sagen: ‚Das geht alles mich nichts an‘. Aber dann solltest du nicht überrascht und bestürzt sein, wenn die Fenster deines Wohnung von einer Granatenexplosion zerbersten oder du von deiner Bourgeoisie geschickt wirst, um in ein fremdes Land einzufallen. Es liegt zum Teil an deiner Unterstützung oder deiner Indifferenz, dass die Dinge diesen Lauf nehmen, also trägst auch du Verantwortung für sie. Du kannst aber auch versuchen, das alles zu verhindern. Du kannst dem Krieg selbst den Krieg erklären. Dann aber musst du strikt auf dem Standpunkt deiner eigenen Interessen, den Interessen der arbeitenden Klasse stehen und den Kampf aufnehmen, sie mit Leben zu erfüllen.“
Was folgt aus dieser Perspektive konkret? In Deutschland ist die Hauptaufgabe von Sozialistinnen und Sozialisten gegen die eigene herrschende Klasse zu agitieren, den ohnehin wegen der Kriegskosten aufkommenden Unmut aufzugreifen und zuzuspitzen. Zugleich sind diejenigen, die zu unterstützen sind, die, die sich gegen die Fortführung des Krieges wehren – in der Ukraine wie in Russland. Die Deserteure, die progressive Opposition, die Stimmen für den Frieden. Das ist die einzige Position mit einer auf die Klasse gerichteten Handlungsperspektive. Das Bejubeln russischer Vormärsche oder die Debatte um das Bejubeln westlicher Sanktionen und Waffenlieferungen dagegen sind Kapitulation.
Das einzige, was aus „linker“ Sicht gegen diese Position stets ins Feld geführt werden kann, ist der alte Hut, sie sei „unrealistisch“. Die innenpolitisch antrainierte Auffassung, stets das „kleinere Übel“ im Rahmen des kapitalistischen Spektakels als einzig „realistische“ Alternative lobzupreisen, wurde erfolgreich auf das internationale Parkett verlagert. Jetzt ist den einen das westliche Bündnis aus Mörderstaaten das „kleinere Übel“, den anderen der sich aus „Sicherheitsinteressen“ durch die Ukraine mordende russische Imperialismus. Von „kleinerem Übel“ zu „kleinerem Übel“, das wird kein Mensch mit Augen im Kopf leugnen, geht indessen die Welt zugrunde. Für Linke ist es stets einmal mehr die Ausrede, gerade jetzt nicht mit wirklich sozialistischer Politik beginnen zu müssen, für die man sich zu klein und zu schwach hält, sondern sich irgendeinem Akteur anzudienen, von dem man hofft, das eigene Interesse mit durchzusetzen.
Dem entgegen wäre es an der Zeit, mit dem Opportunismus des gebeugten Haupts zu brechen. Liebknecht, Luxemburg und Lenin gehörten im Ersten Weltkrieg zu einer absoluten Minderheit von Aufrechten, die in Zeiten fast vollständiger nationalistischer Verdummung die rote Fahne hochhielten, hinter der sich wenige Jahre später Millionen Menschen versammelten.
#Bildquelle: Offensive gegen Aufrüstung
Struppi 30. Juli 2022 - 19:26
Eine sehr schöne Analyse (auch wenn ich nicht in allen Punkten zustimmen würde) vor allem der Schluss.
Das Problem das ich aber wahrnehme ist, dass allein schon die Definition der herrschenden Klasse für die meisten Linke zu viel ist. Weil sie oft selbst Teil dieser sind oder zumindest der Bourgeoisie entstammen.
Deshalb werden auch sehr wenige Arbeiter/Lohnabhängige diesen Aufruf lesen. Was schade ist. Die Millionen hinter der roten Fahne wäre ein schönes Ziel.
Das das unrealistisch ist, liegt aber auch an dem genialen Marketing der herrschenden. Wir dürfen uns in so viel aktivismus einbringen, der von allen Organen gefördert wird, das es kaum jemanden ausfällt, dass er zu einem werkzeug dieser Klasse geworden ist. Was am Ende zählt ist der Stakeholder value und da läuft es deutlich besser. Egal ob man nun die NATO oder russland gut findet.
Wusel 23. September 2022 - 8:06
Wenn dieser Krieg irgendwelche positiven Folgen haben soll, muss Russland verlieren.
Der russische Angriff hat den Krieg für die Ukrainer zu einer nationalen Frage werden lassen. Wenn man in den Telegramkanälen der russischen Kriegsbefürwörter ständig Ukrop und Chochol genannt wird, im russischen Staatsfernsehen die ukrainische Kultur und Sprache verleugnet werden, die Bevölkerung in den besetzten Gebieten nur nach Annahme der russischen Staatsbürgerschaft mit Hilfsgütern versorgt wird und der Schulunterricht nur noch auf russisch stattfinder, während die russische Armee ganze Wohngebiete in Kharkiv mit Grad-Salven dem Boden gleichmacht, dann drängt sich die nationale Frage eben vor die Klassenfrage.
Ob die Ukraine an der Stelle siegt oder verliert spielt dabei keine Rolle, der Charakter des Kriegs steht für die ukrainische Bevölkerung fest.
In der russischen Perspektive gibt es aber Spielraum – sofern Russland weitere militärische Rückschläge einstecken muss. Das würde unweigerlich mehr Russen dazu bewegen sich die Frage zu stellen, wozu überhaupt dieser Krieg geführt wird. Je mehr junge Russen in Särgen keimkehren, desto mehr werden einsehen, dass es für diejenigen, die an der Front töten und sterben sollen, nichts zu gewinnen gibt. Ich erinnere daran, dass die Revolutionen von 1905 und 1917 Folgen ähnlicher militärischer Abenteuer der russischen Elite waren.
Von daher kann ich die Waffenlieferungen in die Ukraine nur befürworten.