Felix Anton sprach für das LCM mit Yurii, 29 Jahre alt, Anarchist und Internationalist aus Russland über den Krieg in der Ukraine, Widersprüche und Herausforderungen.
Seit dem 24. Februar 2022 greift die russische Armee die Ukraine in einer groß angelegten Invasion aus mehreren Richtungen an. In Deutschland hat das viele schockiert und überrascht. Dich auch?
Nein, wirklich überrascht war ich nicht. Die ersten Nachrichten waren für mich auch nicht schockierend. Stattdessen sah ich, wie recht ich und so viele andere um mich herum mit der Prognose dieser schrecklichen Ereignissen hatten. Viele Jahre lang haben wir versucht, der Welt laut zuzurufen, mit wem sie es zu tun hat. Aber der überwältigende Geldfluss hielt alle taub und stellte das russische Regime als legitim und handzahm dar. Keine Menschenrechtsverletzungen, keine Korruption, kein illegales schmutziges Geld oder irgendetwas anderes hat die Aufmerksamkeit auf uns und die Standpunkte der russischen Opposition gelenkt. Wir waren müde, enttäuscht und verloren unsere Moral. Im aktuellen Krieg ändert sich dies, leider zu einem sehr hohen Preis für alle.
Putin wird in den deutschen Medien pathologisiert. Ein kranker Mann, der nicht mehr vernünftig handelt. Was ist Putins Kalkül hinter dem Krieg und ist er wirklich allein dafür verantwortlich oder gibt es weitere Kräfte, die ein Interesse an diesem Krieg haben?
Ein riesiger Kreis von Oligarchen, Politikern und Religionsführern ist daran beteiligt, zusammen mit Putin als Hauptverantwortlichem, der das ganze Land und die Welt mit der Androhung des Nutzens von Atomwaffen als Geisel hält. In den Augen dieser Kreise soll der russische Einfluss in allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion aufrechterhalten werden. Vor den Ereignissen von 2014 war die Ukraine ein guter Nachbar von Russland und dem Westen. Aber nach der Revolution hat die Ukraine einen Kurs eingeschlagen, um sich durch „Reformen“ der westlichen Welt anzunähern und sich von der Einflusslinie Russlands zu trennen. Das rief den Zorn der Eliten hervor, weil diese nicht nur ihr Einflussgebiet verloren, so wie es bspw. in Georgien geschah, sondern mit der Ukraine auch einen sehr wichtigen Wirtschaftskanal Russlands. Der größte Teil der Gas- und Öllieferungen an die EU läuft durch die Ukraine. Es steckt keine Ideologie oder etwas anderes hinter diesem Krieg. Es geht nur um Geld und Einfluss. Jede Person dieses Kreises um Putin und ihre Familien sind sehr daran interessiert, ihr eigenes Stück vom Kuchen zu bekommen und ihre Einflussgebiete und Reichtümer zu sichern. Alle anderen angeblichen Kriegsgründe sind Fälschungen und Lügen.
Wie schätzt du die Gefahr einer Eskalation zwischen Russland und der NATO ein?
Heute warnt Russland Finnland, Schweden und Bosnien-Herzegowina vor den Folgen eines Beitritts zur NATO. Ich denke, Russland hat keine Chance, weiter zu gehen. Es ist nicht mehr die UdSSR. Es gibt keine Moral, keine Macht, keine Ressourcen, die mehr oder weniger mit dem heutigen NATO-Niveau vergleichbar wären. Alles ging in der Ära von Boris Jelzin Anfang der 1990er Jahren verloren. Das, was übriggeblieben ist, ist der Versuch, mutig auszusehen, das ist alles. Jeder kleine Schlag wird Artikel 5 der NATO auslösen, der zu einem Blutbad im Westen Russlands führen wird. Wir sollten nicht vergessen, wie groß Russland ist. Nur wenige Kilometer trennen uns von Japan, dessen Beziehungen zu Russland nicht gerade die besten sind. Wenn etwas passiert, werden sie wahrscheinlich versuchen, diese Chance zu nutzen, um eine zweite Front aufzubauen, da bin ich mir mehr als sicher.
Die aktuellen Sanktionen gegen Russland sind die schärfsten Sanktionen aller Zeiten. Spürst du das im Alltag selbst? Wie wirken sie sich auf das Leben der Menschen aus, auf die Lohnabhängigen und Studierenden?
Die Sanktionen haben einen Schneeballeffekt. Im Moment spürt der oberste Kreis um Putin die Sanktionen stärker denn je. Für die Bevölkerung, Arbeiter_innen und Studenten_innen ist es noch zu früh, um das ganze Ausmaß der Sanktionen zu erkennen. Bereits jetzt sind die Preise für Lebensmittel um 20-40% gestiegen. Für Renter_innen ist es jedoch bereits jetzt schwer von 130-150$ pro Monat zu leben, wovon fast die Hälfte für die Miete und Nebenkosten wie Strom, Wasser und Gas aufgewendet werden muss. Den Arbeiter_innen geht es genauso, denn das Gehalt liegt in den meisten Städten bei 200-300$. Fabriken und Unternehmen sehen sich mit Kettenreaktionen konfrontiert, einem Währungssprung um das 1,5-2-fache pro Dollar und keiner Möglichkeit, Komponenten, Technologien und vor allem die fehlenden menschlichen Ressourcen durch Einheimische zu ersetzen. China könnte ein Partner für die russische Regierung sein, um diese Lücken zu ersetzen.
Werden die Sanktionen den Widerstand gegen Putin verstärken oder werden sie die Unterstützung der Bevölkerung für seine Linie erhöhen?
Putin lebt sicherlich seine letzten Jahre auf diesem Planeten und er möchte als „Sammler russischer Ländereien“ in die Geschichte eingehen. Indem er dies tut, versucht er auch, seine Popularität innerhalb des Landes zu steigern. Es funktioniert aber nicht so gut, wie er es sich vorgestellt hat. Konflikte tauchen auf allen Ebenen der Gesellschaft auf und die Stimme der Opposition wird lauter werden. Leider ist das nicht genug, um radikale Schritte zu unternehmen, die die Situation verändern könnten. Russland braucht einen Mentalitätswandel.
Wir erhalten viele Bilder von großen Antikriegsdemonstrationen in Russland. Wer organisiert diese Proteste und wie sehen die Aussichten für die russische Opposition aus?
Die meisten Demonstrationen wurden von dezentralisierten Initiativgruppen oder großen Namen wie dem Team von Navalny mit Aufrufen auf den Plätzen „zur gleichen Zeit am gleichen Tag“ organisiert. Im Moment sehe ich keinen Kern, der die russische Opposition in naher Zukunft anführen könnte und es würde mich überraschen, wenn sich daran in naher Zukunft etwas ändern würde.
Du hast Nawalny angesprochen als teil der russischen Opposition. Unumstritten ist er ja nicht…
Leute wie Nawalny sind Verräter. Sie haben Daten über diejenigen gesammelt, die für sie gearbeitet und sie unterstützt haben, und sie an die russischen Sicherheitsdienste weitergegeben. Die größte Hoffnung revolutionärer Kräfte wäre aktuell ein gemeinsamer ukrainisch-belarussisch-russischer Partisanenkampf. Aber Stand jetzt, können wir lediglich belarussische Oppositionsbrigaden in der Ukraine sehen, keine russischen.
Kannst du mehr über solch ein mögliches „Partisanen-Bündnis“ sagen?
Wir brauchen einen Partisanenkampf und wenn er beginnt, wird er uns den Schwung geben, sowohl die Faschisten zu bekämpfen als auch die Regime zu beenden und den Weg für unsere Zukunftsvision zu ebnen.
Ich kenne viele Linke, die in der Ukraine an der gleichen Front gegen Russland kämpfen, wie es die Neonazi-Bataillone tun. Natürlich sind sie nicht in der gleichen Position. Es muss aber darum gehen, wer in der Nachkriegszeit Vorrang haben wird. Dies sollten natürlich die Linken und nicht die Faschisten sein. Dafür ist es wichtig, dass sie sich am Kampf beteiligen.
Zwischen den russischen und den westlichen Großmachtsfantasien zu manövrieren scheint schwierig. Welche Möglichkeiten siehst du hier?
Wir sollten gute nachbarschaftliche Beziehungen zu den postsowjetischen Ländern pflegen, ohne uns gegenseitig zu behindern. Unabhängig und stark gegenüber dem Westen und dem Osten. Angehörigen des Regimes, die in den 90er Jahren alles zerstört haben, was wir hatten, sollten gefasst werden, ihre Ableger enteignet und dem Volk übertragen werden. Alles wird hier gestohlen und verkauft. Der oft propagierte Umsturz des russischen Staates mit dem Ziel einer Angleichung an westliche Staaten ist nicht die beste Lösung für die Gesellschaft. Der westliche Block, der versucht zu lehren und zu diktieren, dass sein Weg und seine Vision der einzig richtige Weg seien, bringt nicht das süße freie Leben. Im Westen wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn man von Menschenrechten und privaten Rechten von Menschen in anderen Staaten spricht und sie gleichzeitig auf dem eigenen Territorium missbraucht und verneint. In der Vergangenheit gab es in Russland ein gewisses Maß an Volksdemokratie, die jedoch vom Regime abgeschafft wurde. Diese sollte in einer neuen, basisdemokratischen Form wiedereingeführt werden.
Julia 9. April 2022 - 15:26
Was ist den Zweck dieses Artikels. Ich sehe hier keine konkreten Perspektiven. Nur leere Worte . Außerdem es würde mich sehr interessieren, wann genau in der Vergangenheit gab es in Russland ein gewisses Maß an Volksdemokratie. Und was genau versteht Herr Yurii unter Volksdemokratie.
Wochenrückblick 14. Kalenderwoche 2022 - 11. April 2022 - 17:28
[…] Internationalist aus Russland über den Krieg in der Ukraine, Widersprüche und Herausforderungen. »LowerClassMagazine« berichtete . . 8. April | Hilfe und Asyl für russische und ukrainische Deserteure! Die Menschen in unserem […]
anarchistische Stimmen und Texte über und gegen den Krieg in der Ukraine | Institut für Anarchismusforschung 12. April 2022 - 22:03
[…] „Wir brauchen einen Partisanenkampf“ – Perspektiven eines russischen Genossen auf den Krieg in der Ukraine. https://lowerclassmag.com/2022/04/07/wir-brauchen-einen-partisanenkampf-perspektiven-eines-russische… […]