Wehrpflicht: Kommt, wir fressen unsere Kinder

14. März 2022

Autor*in

Özge

Mit der Auffassung, dass Töten und Sterben freiwillige Angelegenheiten sein sollten, steht man derzeit so alleine da wie seit Jahrzehnten nicht. Unter dem Eindruck von Putins Angriffskrieg, der zuletzt fast 10.000 Menschen getötet und zwei Millionen Menschen aus dem Land vertrieben hat, entdeckt die deutsche Öffentlichkeit ausgerechnet ihre Liebe zu den eigenen Streitkräften wieder. Die Rüstungsindustrie, mal in Gestalt der CDU, mal ganz unverhohlen als sie selbst, frohlockt naturgemäß über diese Entwicklung.

Bis zu 3000 neue Arbeitsplätze und zwei Milliarden Euro zusätzlichen Jahresumsatz verspricht sich beispielsweise Rheinmetall-Chef Armin Pappberger angesichts des neu beschlossenen Wehretats – und kann vor lauter Tatendrang kaum noch stillsitzen: „Wir könnten sofort anfangen, zu produzieren“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur dpa. Der parlamentarische Arm der Waffenhersteller stellt sogleich weitere spannende Ideen in den Raum. Warum nicht in ein Raketenabwehrsystem für Berlin investieren, fragt der verteidigungspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Florian Hahn, der nebenbei auf der Gehaltsliste der Interessengemeinschaft Deutsche Luftwaffe steht. Die Ende Februar durch die Decke geschossenen Aktienkurse deutscher Rüstungsunternehmen pendeln sich gerade auf einem Niveau ein, von dem sie davor nur träumen konnten. Alles in allem also goldene Zeiten für das Geschäft mit Menschenleben.

Rufe nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht sind die logische Konsequenz in solchen Zeiten. Längst sind es nicht mehr nur die Bundeswehr und ihr Rattenschwanz aus Rüstungslobby, konservativen Medien und Kriegsenthusiasten diverser Parteien, die die Deutschen wieder in Reih und Glied sehen wollen. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Business Insider von Anfang März ergab eine Befürwortungsquote von 75 Prozent für „ein soziales Pflichtjahr, zum Beispiel Wehr- oder Zivildienst“.

Die Umfrage zeigt exemplarisch das Problem, an dem die ganze Debatte krankt. Denn ihr Gegenstand wird nicht klar benannt. Ist es ein Wehrdienst mit Verweigerungsoption wie jener, der 2011 abgeschafft wurde, oder eine allgemeine Dienstpflicht, quasi ein Zivildienst mit Waffenoption? Wer denkt, das sei juristische Erbsenzählerei, hat zwar nicht ganz Unrecht, möge sich aber dennoch vor Augen führen, dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestags höchstselbst letzteres völlig zurecht als Zwangsarbeit und damit als Menschenrechtsverletzung einordnet. Der Dienst an der Waffe mit wahlweisem sozialen Ersatzdienst ist im Gegensatz dazu menschenrechtskonform, was wiederum die Absurdität dieses Regelwerks aufzeigt, uns aber nicht weiter beschäftigen soll.

Die Bundesrepublik debattiert also fleißig, ohne zu wissen, worüber. Einen Lichtblick mögen die Zyniker unter uns darin sehen, dass all das spätestens mit dem Eintritt des Spannungsfalls hinfällig wird, der automatisch alle deutschen Männer zwischen 18 und 60 Jahren zum Ausbaden desselben verpflichtet. Dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die die Ampelfraktionen zusammen mit der Union stellen könnten. Und weil bei offenen Grenzen ein militärischer Einberufungsbescheid nur so viel wert ist, wie das Papier, auf dem er steht, ist in einem solchen Fall mit einem Ausreiseverbot für Wehrpflichtige zu rechnen.

Die Ukraine setzt diese Regelung derzeit rigoros durch. Wehrfähige Ukrainer dürfen das Land nicht verlassen und werden an den Grenzen abgewiesen. Nur vereinzelt und zaghaft regt sich Kritik an Selenskyjs Praxis, ein Drittel der eigenen Bevölkerung zum Verbleib in einem Kriegsgebiet zu zwingen. Ein Verbleib, der angesichts der russischen Angriffe auf zivile Ziele in jedem Fall lebensgefährlich ist.

Ja, es geht um das Fortbestehen der Ukraine als autonomer Staat und ja, jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Selbstbestimmung und darauf, unter Einsatz des eigenen Lebens dafür zu kämpfen. Aber das Leben eines anderen ist unantastbar, egal mit welchem Ziel und aus welcher Position heraus. Das muss auch und gerade für den Staat gelten, auch und gerade für einen Staat im Überlebenskampf. Wo das Recht auf Leben ultimativ Gegenstand hoheitlicher Entscheidungsgewalt ist, verblassen alle Rechte, die die „freie Welt“ ihren Bürger:innen zugesteht. Wer jemanden verpflichtet, gegen seinen Willen seine eigene Autonomie mit dem Leben zu verteidigen, macht sich des unverzeihlichen Verbrechens an diesem Leben schuldig.

Die Rechnungsadresse dieses Verbrechens liegt, global betrachtet, natürlich in Moskau. Dort wird indes nicht nur mit Zwang, sondern auch mit einer perfiden Ausnutzung des militärischen Gehorsams gearbeitet. Wo das Propagandamärchen, die Ukraine zu entnazifizieren, nicht ausreicht, stellt man das menschliche Kriegsmaterial vor vollendete Tatsachen. Eigentlich dürften bei Militäroperationen laut russischen Gesetzen nur Berufssoldaten zum Einsatz kommen. Trotzdem landen Rekruten im Krieg. Die Bekundungen der russischen Regierung, diese Gesetzesverstöße zu ahnden, sind Makulatur: Berichten zufolge werden junge, in der verpflichtenden Grundausbildung befindliche Rekruten kurzerhand zur Vertragsunterzeichnung in eine Reihe gestellt und wenig später unwissend an die Front gekarrt. Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt werden abgeschnitten, die Familien völlig im Dunkeln über den Verbleib ihrer Söhne gelassen.

Man darf also in diesem Krieg nicht den Fehler machen, scharf zwischen zivilen und militärischen Todesopfern zu trennen. Zu Putins Verbrechen am ukrainischen Volk tritt zusätzlich das Verbrechen am eigenen. Die Bundesrepublik beweist mit kopflosen Wehrpflichtdebatten und Militärausgaben in schwindelerregenden Höhen, dass die Kriegslogik nicht nur in ihrer Verfassung, sondern auch in den Köpfen fest verankert ist. Es braucht nur einen Befehl, eine einzige Unterschrift eines mächtigen Mannes, und ein ganzer Kontinent frisst seine Kinder.

# Titelbild: Nationalfriedhof in Arlington, Virginia, USA

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2 Kommentare

    Yorgui Hartmann 15. März 2022 - 13:52

    Der Ruf nach der Wehrpflicht ist als eine „Illusion der Alternativen“ (Watzlawick), neben der Existenz von Berufs(killer)armeen (K.T. Guttenberg Plan), die immer schon eine einzige Anhäufung brutalisierter Rechtsextremer zur Folge hatte, Teil der „woke imperialism“ Strategie. Wenn man die Wahl hat zwischen zwei Übeln, ist das gerignere Übel vorzuziehen. Das Problem ist jedoch, daß selbst das seinerzeit diskutierte Modell Wehrpflicht, mit einer repräsentativen Mischung aus demokratisch gesinnten Soldaten (so damals die Idee eiens SZ Kommentars) eine Illusion eienr Alternative ist, sobald beim Repräsentativen die „Mischung“ wegfällt und alle gleichgeschaltet wie anno dunnemals vor 1914 hysterisch in den Krieg wollen.
    Und wie bei Watzlawick beschrieben, ist die einzige tatsächliche ALTERNATIVE, die das SPIEL einfach zu VERLASSEN, in diesem Fall heisst das bedingungsloser Antimilitarismus, der zunächst die völlige Auflösung aller Waffenproduktionsstätten, das Verbot konventioneller Waffen UND DANN ERST das Verbot nuklearer Bewaffnung fordert. Der „woke imperialism“ der USA, flankiert von einer Art white power leftism (auch in Deutschland), wird mit allen Mitteln versuchen das zu verhindern.

    anonym 20. März 2022 - 9:55

    Vor rund zehn Jahren habe ich einen Podcast von autonomen und Kadernazis gehört in dem explitzit dazu aufgerufen wurde Behörden öffentlicher Sicherheit (Cops, Bund, Reserve, THW,…) zu unterwandern. Vor fünf Jahren fliegt Uniter auf und vor dreien die Hannibal-Gruppe. Soldaten aus Deutschland organisieren sich in Teilen in Söldnerarmeen wie der Firma Asgaard die vor zehn Jahren geoutet wurde. Der „kleine Adolf“ Temme vom Verfaschungsschutz ist fast ein Jahrzehnt nachdem seine Beteiligung an dem Mord des NSU in Kassel aufgeflogen ist immer noch im Staatsdienst. 2017 wirbt das Asow-Battalion deutsche Faschos um die Ukraine militärtisch zu unterstützen.

    Die Faschos, im Mindesten in der BRD, bereiten sich auf eine militärische Revolution vor. Es gibt immer mehr Faschos mit jahrelanger Kriegserfahrung, mit Wissen um militärische Infrastrukturen und mit immermehr Einfluss in den militärischen und zivil-militärischen Organisationen und Netzwerken in der BRD und darüber hinaus.

    Auf Grundlage dieser Begebenheiten sollten Menschen mit emanzipatorischen Ideen schon seit Jahren Teil dieser Sicherheitsbehörden werden, um diese Unterwanderung durch Faschisten und die ganzen anderen Probleme dieser Behörden in direkter Aktion anzugehen. Wir können natürlich auch an die Regierung appelieren, doch bitte, Pazifismus per Dekret zu erlassen. Aber unsere individuelle Freiheit, Unversehrtheit und unsere Gewaltlosigkeit lässt sich offenbar nicht durch ihre Legitimität allein erhalten.

    Ich würde die Wiedereinführung der Wehrpflicht begrüßen, weil
    a) dann nicht nur Anti-Pazifist*innen dafür bezahlt werden an der Waffe ausgebildet zu werden.
    b) es neue praktische Möglichkeiten für Antimilitrismus gibt.
    c) weil es alle damit konfrontiert letzendlich nur Bauer im Schachspiel der Imperien zu sein.
    d) ermöglicht die Kontrolle die der MAD -aus Versehen und Inkompetenz, natürlich- nicht leistet.

    Sowohl die russische als auch die ukainische Regierung zeigen das Dinge wie die Aussetzung der Wehrpflicht nur Makulatur sind. Männer zwischen 16-60 dürfen das Land im Kriegsfall nicht verlassen. Desateure können mit der Höchststrafe rechnen und Leute die als Hochverräter tituliert werden dürfen gefoltert und hingerichtet werden, auch bei den Guten, siehe Assange und Denis Kireew.

    Momentan soll es Anarchist*innen geben die sich im faschistischen Asow-Battalion beteiligen, um die Sicherheit und Autonomie der Menschen in der Ukraine zu verteidigen, weil es keine emanzipatorische Kriegspartei wie die YPG/YPJ gibt. Hierzulande wäre die emanzipatorische Bewegung momentan schon damit überfordert Menschen in Bunkeranlagen zu bringen. Zur Verteidigung der Bevölkerung bzw. eines antifaschistischen Areals oder einer Landesgrenze fehlt es bei 99% der Emanzipatorischen, mich eingeschlossen, an praktischen und theoretischen Fähigkeiten. Sollten Handy und I-Net ausfallen sind wir nichtmal in der Lage uns zu vernetzen.

    Kämen wir in die Situation der Ukraine wären wir gleichermaßen in der Not mit wem wir uns asso(w)ziieren und faschistoide Milizen könnten dann für viele sympatischer Wirken als heute. Wie Hartmann anmerkt könnte ein Verteidigungsfall schnell in Kriegseuphorie umschlagen, der eher etwas entgegen gestellt werden kann, wenn Emanzipatorische in die und aus der Armee wirken können.

    Ich stimme zu “ Die Bundesrepublik beweist mit kopflosen Wehrpflichtdebatten und Militärausgaben in schwindelerregenden Höhen, dass die Kriegslogik nicht nur in ihrer Verfassung, sondern auch in den Köpfen fest verankert ist.“ 100 Milliarden extra sind kompletter Wahnsinn, gegen den wir unsere Energie richten sollten, wenns nach mir ginge. Die Wehrpflicht -so widerwertig sie ist- ist bis zum Erreichen transformativer Gerechtigkeit (und der damit einhergehenden Abschaffung aller Armeen) ein Schutz gegen die faschistische Konterrevvolution in der EU und konkurrierende kapitalistische Kräfte wie Russland.