Schmetterlinge im Algorithmus – daten im Zeitalter rationaler Romantik

14. Februar 2022

Autor*in

Luca

Der Valentinstag gehört abgeschafft. Stichwort AUSVERKAUF DER LIEBE. Stichwort KOMMERZ PUR. Stichwort KEINEN CENT DER FLORISTIKINDUSTRIE. Diese seit Jahrzehnten eingeübten Powersätze und Kritiken an einer Kommerzialisierung der romantischen Liebe lassen einen im Jahr 2022 natürlich allenfalls müde lächeln, bevor man den Blick wieder auf den Screen senkt und sich weiter durch ein paar Profile swipet. Die Eventisierung eines einzelnen Tages im Februar – einem Monat, in dem nebenbei bemerkt ja sonst eh nicht viel los ist – scheint geradezu niedlich und unbedeutend, angesichts der weitreichenden Ökonomisierung der Intimwelt in den vergangenen Jahren. Auf Tinder, Bumble und co. können sich die Nutzer:innen schließlich jeden Tag einen neuen Valentine erwischen. Über algorithmisch generierte Auswahl- und Auswertungsverfahren zur unvergleichlichen, einzigartigen, sinnlichen Romanze, Beziehung oder Affäre zu gelangen, scheint hier schon lange kein Widerspruch mehr zu sein. Im Gegenteil: Immer mehr formt sich eine Praxis heraus, die algorithmische Bewertungsgrundlagen zur Voraussetzung des sich Kennenlernens macht. 

21 Prozent der deutschen Ehepartner:innen lernten sich 2021 über das Internet kennen. Das digitale Anbandeln lag damit insgesamt auf Platz 2 (hinter dem Kennenlernen „über Freunde“ mit 28 Prozent). In den USA waren es laut einer Studie im Jahr 2019, 40 Prozent aller Paare, die online zusammenfanden. Es ist anzunehmen, dass die Corona-Pandemie diese Zahl nicht gerade senken wird. Das Online-Dating weitet sich somit immer mehr zu einer globalen Kennenlern-Infrastruktur aus. Wer sich ihr entzieht, verzichtet auf einen beinahe grenzenlosen Pool möglicher Intimpartner:innen für jedes Geschlecht, jede Sexualität, jede Beziehungsform, jeden kink, zu jeder Zeit, around the world. Was allen unterschiedlichen Apps dabei gemein ist: Wer sie erfolgreich nutzen möchte, muss sich einem rationalen, auf quantifizierbaren Kriterien basierenden Verständnis von Attraktivität und Begehrenswürdigkeit unterwerfen. 

Dating-Apps haben den Liebesmarkt zu einem universalen Wettbewerb gemacht, auf dem Nutzer:innen hinsichtlich ihres Partnerschafts- oder Liebhaber:innenpotenzials konkurrieren. Ein Aktienmarkt attraktiver Ichs, die sich mit Selbstvermarktungsstrategien (vorteilhafte Fotos, travel, fitness, doggo love etc.) dem Urteil anderer Nutzer:innen unterziehen und gleichzeitig selbst bewerten. Die Bewertungen sind dynamisch, in Echtzeit, ein neues Foto kann alles verändern, ein origineller Profilspruch die Attraktivität umgehend steigern oder umgekehrt: Wer jetzt noch Spiegelselfies postet oder „zu vino sag ich nie no“ ins Profil textet, riskiert schnell als konventionell, langweilig und nicht mehr state of the dating art beurteilt zu werden. All das kann sich auf den Kurswert auswirken, die Performance beeinflussen, zu Wertsteigerungen oder Verlusten führen und bestimmt, wer in Form eines Rechtsswipes in unsere Liebesaktie investieren möchte. 

Natürlich gelten Bewertungen hinsichtlich Optik, Originalität und gemeinsamen Interessen beim Dating ebenso für die Offline-Welt, doch die digitale Kennenlern-Infrastruktur hat diesen Prozess erstens immens beschleunigt (die Anzahl der Nutzer:innen ist vielfach höher und durch das Smartphone immer nur eine Bildschirm-Entsperrung entfernt) und zweitens fokussiert sie die Bewertungsmerkmale auf bestimmte Kriterien und schließt andere wiederum aus oder macht sie unwahrscheinlicher. Denn auch wenn Dating-Apps gerne so tun als würde der Erfolg allein in unseren Daumen liegen, stellen sie keinesfalls einen neutralen Boden dar, auf dem wir uns bewegen. Sie bauen vielmehr die Straßen und entscheiden für wen diese Straßen besonders gut befahrbar sind und für wen nicht. Sie beeinflussen unsere Fahrweise gewissermaßen. 

Eine tiefgreifende Folge der Ökonomisierung des Datings zeigt sich dabei in der Etablierung eines zahlenbasierten Bewertungsverständnisses. Tinder und co. legen uns nahe, Begehrenswürdigkeit in bestimmten gut quantifizierbaren Kriterien zu messen. Schließlich sind es algorithmische Systeme, die entscheiden wer und in welcher Reihenfolge, uns in den digitalen Kartenstapel gemischt wird. Sie sammeln unsere Daten, zählen die „Likes“, die wir bekommen und fassen uns in Kategorien zusammen. Dann werden wir von der Künstlichen Intelligenz mit „vergleichbar attraktiven“ Profilen gematcht. Sie bestimmt, wen wir swipen und wer uns swipet. Wo genau wir im Ranking stehen, erfahren wir dabei nicht. Wahrscheinlich, um uns nicht mit einem unerwartet schlechten Score zu verärgern, vermutet der Soziologe Thorsten Peetz in seiner Analyse digitaler, intimer Bewertungen auf Tinder. Peetz sieht in der Intransparenz des Algorithmus aber auch ein rationales Einknicken vor einem Ideal romantischer Liebe. Eine kalte Zahl im Attraktivitätsranking, das ist mit dem Verständnis romantischer Gefühle wohl (noch) nicht mehrheitsfähig. Dennoch hat die algorithmische Partnervermittlung bereits einen spürbaren Impact auf unsere Liebes- und Attraktivitätsbewertungen. Steffen Mau weist in seinem Buch „Das metrische Wir“ darauf hin, dass die Techniken und Methoden der Quantifizierung nicht bloß neutral die Wirklichkeit abbilden und messen, sondern diese ebenso herstellen. Durch Dating-Plattformen haben wir uns an die rationalisierten Kategorisierungen von Profilen (und den Menschen, hinter diesen Profilen) gewöhnt und angepasst, sie beeinflussen unser Denken. Obwohl die errechnete Platzierung und die genauen Kriterien des Algorithmus im Verborgenen bleiben, wird sich die Nutzerin schnell über den eigenen „Wert“ bewusst. Das liegt daran, dass auch ohne Tabellenplatz Zahlen und quantifizierende Elemente in Dating-Apps allgegenwärtig sind. Da wäre die Zahl der Matches, die uns angezeigt wird. Die Zahl der Matches, die wir noch nicht erswipet haben und mit der wir geködert und konditioniert werden. Die Zahl, zu wieviel Prozent unser Profil vervollständigt ist. All diese Zahlen werden uns als Orientierung nahegelegt, um unseren Wert und den der anderen zu ermitteln. Auch optisch nehmen Zahlen eine übergeordnete Rolle ein. Neben dem Foto sticht vor allem das Alter und die Entfernung eines Profils ins Auge. Da wäre außerdem der binäre Aufbau der App: 0 oder 1, hot or not, swipe links oder rechts – andere Kategorien gibt es nicht. Besonders deutlich werden die vielfachen Quantifizierungen aber bei den zahlungspflichtigen Zusatz-Features. So kann man bei vielen Anbietern die eigene Sichtbarkeit für einen Aufpreis erhöhen. Tinder und Bumble bieten dafür einen sogenannten Boost an. Für 30 Minuten oder länger wird das eigene Profil dann mehr Nutzer:innen angezeigt. Die Folge ist zumeist ein deutlicher Anstieg an Matches in kurzer Zeit. Hier zeigt sich die ganze Konsequenz der zahlenbasierten Logik. Ein romantisches Erlebnis gerät zu einer Frage der Sichtbarkeit und Wahrscheinlichkeitsrechnung, die über Bezahlung erhöht werden kann. Wie ein PickUp-Artist, der vor H&M 100 Frauen anlabert, bis er eine Nummer hat. In der App erledigt das der Algorithmus für uns. Die meisten haben sich an diese funktionale Logik gewöhnt. Dass Nutzer:innen neben der weit verbreiteten Angabe der Körpergröße auch immer häufiger ihren Persönlichkeitstypen oder ihr Sternzeichen ins Profil heften, deutet auf die Verinnerlichung einer rationalen Matching-Logik hin. Nun können auch Charaktereigenschaften, je nach psychologischer oder spiritueller Präferenz, kategorisiert werden.

Vielleicht ist es also entgegen der weit verbreiteten Annahme, Algorithmen würden einfach immer besser darin, unsere Lebenswelt zu erfassen, auch gleichermaßen so, dass Menschen sich immer mehr der Logik der Algorithmen anpassen. Dabei haben die meisten von uns ja dennoch ein romantisches Bild von Liebe, Partnerschaft und körperlicher Anziehungskraft. Dass da etwas ist, das nicht berechenbar ist. Das sich über Ausstrahlung, Geruch oder Zwischenmenschlichkeit ausdrückt, das gegensätzlich zu den eigenen Charaktereigenschaften und Interessen verlaufen kann – etwas, das eben vor allem irrational ist. Kategorien wie Sensibilität, Freundlichkeit oder Großzügigkeit lassen sich von den digitalen Plattformen schwerlich erfassen und gewinnbringend verwerten und spielen somit kaum eine Rolle, obwohl sie ja ebenso elementare Kriterien für das Kennenlernen sein könnten. Wir nehmen es hin. Der Reiz der immerzu verfügbaren, leicht konsumierbaren Profile ist zu groß. Schade. Aber eines ist natürlich auch klar: Valentinstag geht gar nicht, das ist nun wirklich der REINSTE KOMMERZ.

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