Michael Sappir ist israelischer Publizist, lebt in Leipzig und studiert Philosophie. Er organisiert sich bei Die Linke.SDS sowie Jüdisch-israelischer Dissens (JID Leipzig).
Eine der größten Schwierigkeiten, in Deutschland über Palästina/Israel zu sprechen, liegt in den Begrifflichkeiten begraben. In Deutschland sozialisierte Menschen erschrecken sich häufig darüber, dass wir, die wir aus dem Land kommen, gelegentlich salopp von „den Juden“ und „den Arabern“ sprechen – anstatt von „Israelis und Palästinenser:innen“. Doch so ist die Alltagssprache vor Ort, und zwar sowohl die hebräische als auch die arabische. Diese begriffliche Einordnung beruht auf einer realen Unterteilung: Die Menschen werden vor allem nach diesen zwei Kategorien einsortiert und unterschiedlich behandelt.
Im Gegensatz zu anderen modernen Nationalstaaten begreift sich der Staat Israel nicht als Staat aller seiner Bürger:innen – diese Phrase gilt in Israel als linksextreme Provokation – und noch nicht einmal als Staat seiner jüdischen Bürger:innen, sondern als Staat des jüdischen Volkes überhaupt. Entsprechend genießen als jüdisch eingeordnete Nichtbürger:innen ganz offiziell Rechte, die selbst jene Staatsbürger nicht genießen, die als nichtjüdisch eingestuft werden.
Die größte nichtjüdische Minderheit unter den israelischen Staatsbürger:innen ist mit 20 Prozent jene, die vom Staat als „israelische Araber“ klassifiziert wird. Die große Mehrheit davon versteht sich als Palästinenser:innen. Hierzu kommen die ca. 4.5 Millionen Palästinenser:innen, die unter der Besatzung leben, die ebenfalls unter einem separaten (Un)Rechtsregime leben. Im israelischen Alltag ist diese Unterscheidung auch eine räumliche Teilung: Es gibt „arabische Städte“, „jüdische Städte“, und „gemischte Städte“ in denen es wiederum getrennte Stadteile gibt. Nur selten ziehen Menschen ins Gebiet des anderen Volks um; die Trennung wird vom Staat konsequent gefördert. Vor dem Hintergrund solcher systematischen, institutionalisierten Trennung zwischen „Juden“ und „Arabern“ entfaltet sich eine weitere Begriffsdebatte: Darf man dazu „Apartheid“ sagen? Der neue Bericht von Amnesty International kommt zu einer eindeutigen Antwort: Ja, man kann. Die reflexartigen Abwehrreaktionen israelischer Regierungsvertreter:innen wurden laut, noch bevor der Bericht erschienen war. In Deutschland wollen viele diese Debatte ersticken, noch bevor sie begonnen hat: Von Anfang an wird die Anwendung des Begriffs im israelischen Zusammenhang als antisemitisch abgetan. So vermeidet man, sich mit der Begründung der schwerwiegenden Vorwürfe auseinanderzusetzen.
Bekannte Fakten, brisante Konsequenzen
Dabei geht es um einen Bericht, der mit 280 Seiten das Ergebnis von über vier Jahren kollektiver Forschungsarbeit vorstellt. Er geht gezielt der Frage nach, ob Israels Politik gegenüber den Palästinenser:innen die Schwelle des Verbrechens der Apartheid erreicht oder nicht. Der Bericht macht deutlich, dass es hier nicht um einen direkten Vergleich mit Südafrika geht, sondern um die völkerrechtliche Bedeutung von „Apartheid“ als Rechtsbegriff: Laut Artikel II der Anti-Apartheidkonvention von 1973 zählen zu diesem Tatbestand etwa „unmenschliche Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“. Die aggressiven Reaktionen auf den Bericht kommen nicht nur daher, dass Amnesty dies bejaht. Obwohl die Beweisgrundlage, die der Bericht vorstellt, weitgehend aus vorheriger Forschung stammt, z.B. aus den Berichten von Human Rights Watch und B’Tselem, markiert der Bericht eine Fortentwicklung in mehrfacher Hinsicht.
Erstens ist der Umfang der Analyse breiter als bei den meisten internationalen Berichten: Ähnlich, wie es im palästinensischen Narrativ schon lange der Fall ist, wird das gesamte Hoheitsgebiet des Staats Israel als eine systematische Einheit untersucht, hierzu zählt das „Kerngebiet“ (inklusive annektierter Golanhöhen und Ost-Jerusalem) sowie die besetzen palästinensischen Gebiete.
Beachtenswert ist dabei, dass auch die Wurzeln des Systems, die in der Zeit der Staatsgründung 1948 liegen, erörtert werden; ebenso die Thematisierung des Umgangs mit den palästinensischen Geflüchteten und ihren Nachkommen. Dieses Thema ist ein zentrales Thema für die palästinensische Befreiungsbewegung und umgekehrt wichtig zum Verständnis israelischer Handlungsweisen.
Darüber hinaus sind auch die Empfehlungen des Berichts brisant: Der Bericht fordert den Staat Israel auf, das Apartheidsystem abzubauen, und er fordert alle Staaten sowie die UNO auf, alle politischen und diplomatischen Werkzeuge einzusetzen, um sicherzustellen, dass israelische Behörden dieser Forderung tatsächlich nachkommen. Amnesty ruft beispielsweise zur internationalen strafrechtlichen Untersuchung des Staates Israels und vieler seiner Politiker:innen auf. Auch weist der Bericht darauf hin, dass Staaten, die die Anti-Apartheidkonvention unterzeichnet haben, dazu verpflichtet sind, mutmaßliche Apartheidverbrecher:innen in ihrem Staatsgebiet prompt zu untersuchen und gegebenenfalls der völkerrechtlichen Justiz zu übergeben. Diese Pflicht betrifft nicht zuletzt die BRD. Nicht zu übersehen ist daneben, dass die Empfehlungen (u.a. ein Waffenembargo, Sanktionen, die Überprüfung von Investitionen durch Firmen, und ein durch Regierungen durchgesetzter Boykott von Siedlungsprodukten) begrenzte Formen von Boykott, Desinvestition, und Sanktionen umfassen.
Nicht Sicherheit, sondern Demographie
In Deutschland verurteilen auch „Linke“ ungeachtet der Faktenlage den Apartheidsvorwurf an sich. In der israelischen Linken beobachtet man dagegen eine andere Diskussion: Im Westjordanland praktiziert Israel Apartheid, das gilt inzwischen als offensichtlich – die Frage sei lediglich, ob auch das System innerhalb des offiziellen Staatsgebiets zurecht so bezeichnet werden könnte.
So wird dem Bericht von dieser Seite vorgeworfen, er ignoriere die „Grüne Linie“ – die ehemalige Grenze zwischen Israel und den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten. Ganz im Gegenteil ist jedoch einer der größten Verdienste des Berichtes, die legalistische Trennung der Rechtslagen entlang der Grünen Linie in ein umfassendes System israelischer Kontrolle einzuordnen. Ähnlich wie der Schriftsteller Nathan Thrall argumentiert, stellt diese Trennlinie nicht die Grenze zwischen zwei verschiedenen Regimes dar, sondern lediglich die zwischen verschiedenen Spielarten eines einzigen Trennungsregimes. Der Vorwand der getrennten Regimes erlaubt, so Thrall, liberalen Zionist:innen und fremden Regierungen Israel tatkräftig zu unterstützen, und gleichzeitig die Besatzung wirkungslos zu verurteilen.So schreiten Apartheid und Landnahme ungestört voran.
Der Amnesty-Bericht greift explizit die gängige Legitimierung der Trennung und Landnahme an. Dem Bericht zufolge können „Sicherheitsbedürfnisse“ zwar einen Teil dieser Maßnahmen rechtfertigen, lange aber nicht alle. Dazu zählen beispielsweise die erwähnte Segregation der Wohngebiete sowie Einschnitte ins Familienleben, wie etwa, dass Palästinenser:innen, die israelische Staatsbürger:innen heiraten, nicht zu diesen über die Grüne Linie ziehen dürfen. Hinter dem Schleier der „Sicherheitsbedürfnisse“ hebt der Bericht wesentliche organisatorische Prinzipien des israelischen Regimes hervor: Demographie und territoriale Kontrolle. Auch das beliebte Totschlagargument zionistischer Propagandist:innen – Es gibt doch Araber:innen im Parlament! – wird in die Schranken gewiesen und kontextualisiert: Die politische Partizipation der Palästinenser:innen wird in jedem israelischen Hoheitsgebiet eingeschränkt, wenn auch nicht überall auf gleiche Weise.
Selbst „arabisch-israelische“, d.h. palästinensische Abgeordnete dürfen nicht die Definition des Staates als „jüdischen Staat“ infrage stellen, und entsprechend auch nicht jene 65 Gesetze kritisieren, die ihre Marginalisierung und Ungleichbehandlung legitimieren. Ein Versammlungsrecht genießen Palästinenser:innen im Westjordanland so gut wie gar nicht, während es im offiziellen Staatsgebiet durch aggressive Polizei und Staatsanwaltschaft für palästinensische Staatsbürger:innen systematisch eingegrenzt wird.
Tiefenstruktur des Siedlerkolonialismus
In der Solidaritätsbewegung für die palästinensische Befreiung wird der Bericht dafür gelobt, die Apartheid als solche anzuerkennen, jedoch dafür kritisiert, diese nicht bei ihrer Ursache zu benennen: dem Siedlerkolonialismus, zu Recht. Diese Schwäche sollte nicht nur Palästinenser:innen und uns Sozialist:innen an ihrer Seite ärgern, sondern auch all jene, die sich um den antisemitischen Missbrauch solcher Vorwürfe ehrliche Sorgen machen; denn ohne die Ursachen zu benennen, bleibt rätselhaft, warum ausgerechnet Israel eine solche grausame Politik umsetzt.
Eine materialistische Analyse, die (siedler-)kolonialistische Dynamiken mit einzubeziehen weiß, entmystifiziert die Entstehung eines solchen Systems und macht deutlich: Apartheid ist eine Spielart des Siedlerkolonialismus, der mit Patrick Wolfe „kein Ereignis, sondern eine Struktur“ ist, die überall in verschiedenen Formen einer „Logik der Elimination der Einheimischen“ verfolgt. Sobald Menschen nämlich in ein Land fliehen, um dort eine neue Gesellschaft zu gründen, greift die Dynamik des Siedlerkolonialismus. Israels obsessive Sorge um Kontrolle und Demographie, sein Drang zur Expansion, sind im siedlerkolonialen Kontext keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Indigenen, die sich nicht den Zielen der Siedler:innen beugen, müssen aus dem Weg geräumt werden. In Nordamerika gelang das den Europäer:innen vor allem durch Genozid; in Israel konnte die ethnische Säuberung ab 1948 nicht so weit gehen, stattdessen mussten die verbleibenden Indigenen räumlich eingegrenzt und kontrolliert werden. Um sie und ihren unvermeidlichen Widerstand dauerhaft unter Kontrolle zu halten, braucht es ein System der Trennung und der Unterdrückung – mit einem Wort: Apartheid.
Dekolonisierung jetzt!
Forschung und Berichte haben die Unterdrückung der Palästinenser:innen nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu beenden. Zu diesem Zweck kann der Amnesty-Bericht beitragen. Er gibt eine sehr klare Sicht darauf, wie das Problem strukturiert ist, wozu er Unmengen an Beweisen in einem rechtlich abgesteckten und geprüften Rahmen zusammenbündelt. Als Mittel für Kämpfe um das richtige Bewusstsein, für Rechtsstreitereien und für die Diplomatie ist das hilfreich. Doch die Forderung an den Staat Israel, sein Apartheidsystem abzubauen, grenzt an Sinnlosigkeit. Die im Bericht dargelegte Diagnose macht deutlich, dass die israelische Apartheid nicht vom israelischen Staatswesen zu trennen ist. Nehmen wir diese Befunde ernst, müssen wir feststellen: Hier geht es um Dekolonisierung. Und das ist auch die Forderung der palästinensischen Befreiungsbewegung. Die bürgerlichen von Amnesty empfohlenen Druckmittel sind zu einer solchen revolutionären Veränderung ein Beitrag – doch nicht ausreichend.
Die entscheidenden Akteur:innen in einem dekolonialen Kampf sind zuallererst die kolonisierten Menschen. Für die erfolgreiche Dekolonisierung fehlt es den Palästinenser:innen aber aktuell an einer vereinten, entschlossenen Führung, die breite, organisierte Unterstützung aller Teile der durch israelische Herrschaft zersplitterten palästinensischen Bevölkerung genießt. Umgekehrt bedeutet die Überwindung des Siedlerkolonialismus, anders als die Befreiung vom klassischen Ausbeutungskolonialismus, eine Neukonstituierung der politischen Gemeinschaft inklusive jener Siedler:innen, die bereit sind, in Gleichberechtigung mit den Indigenen zusammen zu leben. Dies impliziert eine wichtige Rolle für Israelis. Leider ist nur eine verschwindende Minderheit unter den israelischen Linken bereit, sie anzunehmen. Die liberalen Kräfte, die im israelischen Kontext als „(zionistische) Linke“ verstanden werden, streben weiterhin nur ein weniger brutales Teilungs- und Unterdrückungsregime an, das nachhaltig die zionistische Kontrolle in Palästina sichert.
Für eine erfolgreiche Dekolonisierung braucht es aber nur eine kleine Minderheit der Siedlergesellschaft. Sie wird sicherlich wachsen, wenn eine vereinte palästinensische Führung den Weg in die Zukunft beschreitet. Beide verlangen zudem aktive Solidarität von internationalistischen Sozialist:innen auf der ganzen Welt. Unsere Aufgabe ist es, in unseren eigenen imperialistischen Staaten, Druck zu machen, die Unterstützung des Siedlerkolonialismus in Palästina nicht mehr mitzutragen!
Bildquelle: https://www.flickr.com/photos/eriktorner/12552492244
Über die Unzulänglichkeiten der Palästinasolidarität in Deutschland (Teil 1) - Lower Class Magazine 28. Februar 2022 - 18:00
[…] palästinensischen und palästinasolidarischen Bewegungen in Deutschland. So benennt zum Beispiel Michael Sappir in seinem Beitrag für das Lower Class Magazine am 12. Februar zwar die Notwendigkeit, den Amnesty Bericht weiterzudenken – Folgen für die konkrete Praxis […]