Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Agrarministers der Ampel-Regierung, Cem Özdemir, bestand in einem Interview. Der Berufsradler mit 5-stelligem Gehalt (monatlich) und 5-stelligem Vortragsnebenverdienst (jährlich) wandte sich im Gespräch mit der Bild am Sonntag gegen „Ramschpreise für Lebensmittel“. Diese „treiben Bauernhöfe in den Ruin, verhindern mehr Tierwohl, befördern das Artensterben und belasten das Klima“, so der schwäbische Grünen-Politiker. Woran das liege, dafür hat Özdemir auch eine Erklärung parat. Es ist die Wertschätzung, die fehlt: „Manchmal habe ich das Gefühl, ein gutes Motoröl ist uns wichtiger als ein gutes Salatöl“, so Özdemir.
Der Vorstoß zeitigte die vorhersehbaren Reaktionen. Diejenigen, die sich noch ein Körnchen Sympathie für die Habenichtse dieses Landes bewahrt haben, wünschten Özdemir zum Teufel. Dagegen warf sich eine Phalanx von im Yoga-Seminar zu Asketismus erzogenen Wirtschaftsredakteurinnen, umweltbewegten Anwaltssöhnen und Prenzlberger Lifecoach-Gestalten in die Bresche. Die Grünen-Wähler – wahre Helden unserer Zeit, die jetzt schon dem Salatöl den Vorzug vor dem Motoröl geben – sahen sich um den moralischen Mehrwert ihrer täglichen mühsamen Reisen mit dem Lastenrad zur Biocompany geprellt und fuhren die ganz schweren Geschütze auf: Die Kritiker Özdemirs seien gegen Tierwohl, wollen den Kampf um das Menschenrecht auf Billigschnitzel, würgen den Bauern zu Tode und verursachen den Klimawandel per Tiefkühlpizza.
Haben die Konrads und Ann-Kathrins recht? Letztlich hat Özdemir doch nichts falsches gesagt? Ein Auskommen für Bauern, gesundes, nachhaltiges und gutes Essen, dessen Wertschätzung sich im Preis spiegelt – wer könnte dagegen sein?
Um den heißen Brei herum
Die Pointe von dem, was Özdemir sagt, liegt in dem, was er nicht sagt. Und in dem, was er und seine Partei seit eh und je tun. Dabei geht es zum einen um die Monopolisierung und die immensen Profitraten im Lebensmittelsektor. Sowohl die Agrar- wie auch die Handelskonzerne fahren riesige Summen ein, unschwer daran abzusehen, dass die Aldi-Eigentümerfamilie Albrecht und der Lidl-Milliardär Dieter Schwarz seit Jahren ganz oben auf den Ranglisten der reichsten Deutschen zu finden sind.
Wie macht man das, wenn man als Handelskapitalist gar nicht (oder zumindest nicht überwiegend) über eine „eigene“ Produktion verfügt und damit nicht direkt den Mehrwert der „eigenen“ Arbeiter ausbeuten kann? Man muss von den Profiten derjenigen abschöpfen, die produzieren – also den Herstellern der Lebensmittel. Das sind übrigens in den überwiegenden Fällen nicht die „deutschen Kleinbauern“, die man im Prenzlberger Grünen-Milieu grade gerne in die Wagschale wirft, sondern es sind multinationale Unternehmen mit völlig intransparenten Lieferketten, deren Erzeugnisse von überausgebeuteten Lohnsklaven im Ausland oder migrantischen Niedriglohnarbeitern im Inland erzeugt werden.
Wie bei allen Massengütern, die in den imperialistischen Zentren verfügbar sind, steht dieses System von profitabel auf den Markt gebrachten Billiggütern in einem breiteren Kontext: wer aus Kapital mehr Kapital machen will, muss Arbeiter ausbeuten. Der Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt sich aber seinerseits aus dem, was zu seiner Wiederherstellung nötig ist – also aus dem Äquivalent der Güter, die eine Arbeiterin auf einem bestimmten erkämpften oder kulturell bedingten Niveau ihres Lebensstandards braucht, um arbeiten zu können. Wenn die Güter, die in diesen „Warenkorb“ einfließen, teurer werden, steigt also auch das, was man Arbeitern zahlen muss, damit sie überhaupt arbeiten gehen können. „Ramschlebensmittel“ sind so ein integraler Teil des stetigen Versuchs, die „Wettbewerbsfähigkeit“ des deutschen Kapitals insgesamt sicherzustellen. Lohnstückkosten heißt das im kapitalistischen Jargon, und wenn die zu hoch werden, dann straft der Weltmarkt.
In diesem ganzen Prozess gibt es klare Gewinner und klare Verlierer: Die Kleinbauern und Agrarproletarier und die Armen, Arbeiter und Erwerbslosen, die die Scheisse fressen, stehen auf der Verliererseite. Und die Agrarkonzerne von Tönnies bis Nestle stehen genauso wie die Handelsoligopole wie Aldi und Lidl auf der Gewinnerseite. Wer von denen das gediegenere Salatöl wertschätzt, kann sich ja jeder ausrechnen.
Woker Sozialchauvinismus
Setzt man die Äußerungen von Özdemir in den Kontext der Politik seiner Partei, weiß man, dass das durchaus so gewollt ist. Er und die Seinen wollen nicht darüber reden, dass Millionen Menschen in diesem Land sich gar nicht so recht aussuchen können, was sie essen und was nicht – sie haben ja anständig daran mitgewirkt. Hartz-IV – das ja die präzise Funktion erfüllt, nicht nur Erwerbslose zu knechten, sondern auch die Drohkulisse für die Erwerbstätigen abzugeben, auf dass sie ja nicht höhere Löhne fordern, mit denen sie was besseres essen könnten – ist eine rot-grüne Errungenschaft. Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, die Zunahme von Leiharbeit und dergleichen ebenso. Und auch diese Regierung hat schon zur Genüge dargelegt, dass sie das genauso belassen möchte.
Wer das alles nicht ändern will und von höheren Preisen redet, kann noch fünfzig Mal hinten nachschieben, dass das ja alles schon irgendwie „sozial abgefedert“ werden müsse – es bleibt eine Lüge. Kein Cent von der Preiserhöhung kommt bei den Agrarsklaven in Andalusien oder den Cashew-Pflückern in Afrika an, kein Kind auf einer Kaffeeplantage bekommt eine neue Hose und kein bulgarischer Schlachter bei Tönnies holt sich davon den Tesla-Traumwagen. Die Profite bleiben da, wo sie immer bleiben, in den Taschen der Kapitalisten.
Özdemir weiß das, er steht fest hinter der „freien Marktwirtschaft“. Und die hilfsbereite Bastschuh-Mittelschicht, die jetzt irgendwelche Kochbücher postet, wie man sich mit 5 Euro Hartz-IV-Essensration am Tag trotzdem einen richtig geilen Kartoffelsalat zaubern kann, weiß das auch. Was die konsumbewusste Schickeria sagen will, ist der alte Satz der armenfeindlichen Rechten: „Die Armen strengen sich einfach nicht genug an“, nur ein klein wenig ergänzt, denn man will ja nur deren Bestes: „Die Armen strengen sich einfach nicht genug an, sich mal was ordentliches zu essen zu machen.“ Es ist der alte Sozialchauvinismus, nur grün lackiert.
Worum es hier, wie bei allen grünen Modernisierungsversuchen des Kapitalismus, geht, ist, so zu tun, als kämen die Verwerfungen des Kapitalismus nicht aus seinem rastlosen Drang zur Kapitalakkumulation, sondern aus der Verkommenheit (vor allem) armer Menschen.
Klaus Schubert 27. Dezember 2021 - 15:44
Hervorragender Beitrag! Danke!
Kurz verlinkt | Schwerdtfegr (beta) 27. Dezember 2021 - 16:56
[…] Woker Sozialchauvinismus – Gesünder Kochen mit Cem Özdemir […]
Gerlinde 28. Dezember 2021 - 13:31
Super !!!
Ergänzend vielleicht noch etwas von den „Grünen“. Es gibt ja jetzt dank der „Grünen“ für Alleinerziehende mit Kind(ern) und Familien mit Kindern, die Möglickeit seine Putzfrau bis zu 2.000€ pro Jahr finanzieren zu lassen Nur, wer kann sich eine Putzfrau leisten, dazu noch eine angemeldete?! Hat da im Hintergrund vielleicht die Lobby der Reingungsgroßdienstleister zugeschlagen?! Der Prenzelberg wird jubeln.
Auch RentnerInnen mit niedrigen Renten sind nicht das Klientel der „Grünen“ das sieht man daran dass eine alte Rentenkürzungsmöglichkeit wieder kurzfristig aktiviert wird. Die Löhne steigen um 5,2%, die Renten entgegen der geplanten gleichen Erhöhung jetzt nur noch um 3,8%.
Andreas 29. Dezember 2021 - 9:39
Wir haben in Deutschland niedrigere Lebensmittelpreise als andere Länder. Ebebso haben wir eine überfettete Bevölkerung. Meine Eltern waren arm und mussten jeden Euro zweimal umdrehen. Die Sparsamkeit habe ich beibehalten. Bei uns kommt kaum convenience food auf den Tisch. Dafür Bio Fleisch und viel Obst und Gemüse. Dennoch geben wir wenig für Lebensmittel aus. Brot wird selbst gebacken. Wenn etwas übrig ist, wird es am nächsten Tag gegessen. So landet kaum etwas im Müll. Obst und Gemüse werden saisonal gekauft. Ich bin eher bei Özdemir.
| Woker Sozialchauvinismus – Gesünder Kochen mit Cem ÖzdemirMaulwuerfe 29. Dezember 2021 - 11:15
[…] lowerclassmag.com… vom 29. Dezember […]
max 30. Dezember 2021 - 1:09
Woker Kapitalismus beschäftigt sich gerne mit der individuellen Konsumentscheidung. Klar ist der Aufruf, mehr Gemüse und weniger Zucker zu essen richtig, das hat die Nestlé-Klöckner aber auch schon gesagt. Dass die Bauernfamilie mehr verdienen sollen und die Tiere besser leben – da wird es schon sehr viel schwieriger.
Ernsthaft gegen industrielle Tierzucht angehen und Familienbetriebe gegen Großagrarier zu schützen? Kein Gedanke daran.
Özdmir wäre ein guter Außenminister, Hofreiter ein guter Landwirtschaftsminister und Baerbock ne gute Familienministerin.
So wie die Koalition ausgewürfelt wurde, gehen Inkompetenz, Desinteresse und mangelnder Linksdrall eine böse Mischung ein.
Yorgui Hartmann 3. Januar 2022 - 19:21
Özdemir, so ich dir!
Mit der Nummer aufzufahren, daß die Deutschen eh verfettetes Volk seien, um sich in der Nähe von Özis Groove zu wähnen, ist sowohl wissenschaftlich like a Sarrazin als auch niederträchtig gedacht. Die meisten sind fett, weil sie von den Verhältnissen hineingefoltert werden in die Fettleibigkeit.
Fettleibigkeit als Ausdruck eines persönlichen falschen politischen Leistungswillens…als gäbe es im Kapitalismus einen richtigen, der dann auch noch alternativ progressiv, emanzipiert oder – um Himmels Willen..- LINKS sein soll? Da waren wohl manche zulange vor der Glotze und haben 50er Jahre Filme gekuckt, mit fetten Kapitalisten hinter ledernen Merzedeslenkrädern…
Grandioser Artikel über Özdemir und seine Welkgrünen btw