Repression in Berlin: Eine Woche nach der 1. Mai-Demo werden noch Antworten gesucht

10. Mai 2021

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Gastbeitrag

Am vergangenen Samstag, demonstrierten allein in Berlin 8.000 bis 10.000 Menschen gegen Rassismus und Nazis in Sicherheitsbehörden; nur eine Demo von vielen bundesweit. Der große Andrang in der Hauptstadt lag liegt nicht zuletzt an der Erfahrung der revolutionären 1. Mai-Demo, die eine Woche zuvor in Berlin gewaltsam aufgelöst worden war. Die Organisator:innen machen die Polizei für die Eskalation, die zu Gewalt auf beiden Seiten führte, verantwortlich.

Mehr als 20.000 Menschen, von rassifizierten Jugendlichen und migrantischen Arbeiter:innen bis hin zu eher hedonistischen und techno-orientierten Demonstrant:innen nahmen dieses Jahr an der 1. Mai Demo teil. Sie sollte vom Hermannplatz durch Neukölln bis zum Oranienplatz in Kreuzberg laufen. Ausdrücklich hatten die die Demo organisierenden Gruppen zu einem friedlichen Protest und zur Zurückhaltung der Polizei aufgerufen: Da zahlreiche PoC und Flinta* zu den ersten Blöcken gehörten, befürchteten sie eine übertriebene Polizeigewalt. “Als PoC haben wir kein Interesse an einer Eskalation, da Polizeigewalt überproportional rassifizierte Personen betrifft”, erklärte Aicha Jamal.

„Yallah Klassenkampf“: Dieses Jahr wurde die revolutionären 1. Mai Demo in Berlin zum ersten Mal von einem Bündnis aus Migrantifa, türkischen, kurdischen, sri-lankischen, peruanischen, kolumbianischen, palästinensischen und jüdischen Gruppen organisiert. Dieses Bündnis verbündete sich mit den etablierteren antifaschistischen, antikapitalistischen und anarchistischen Gruppen. “Kein Klassenkampf ohne Migrant:innen” war ihre Hauptparole. Die Demo diente dazu, zu verdeutlichen, wie alle Unterdrückungen miteinander verknüpft sind: „Rassismus, Patriarchat, Antisemitismus, Kapitalismus, Kolonialismus, Rentenungleichheit sind alle Teil eines größeren Herrschaftssystems”, so Sprecherin Aicha Jamal im Interview.

Ein friedlicher Verlauf

Die Organisator:innenen veranstalteten ab 17h Reden und Musik. Der Hermannplatz war überfüllt, doch die Polizei verhinderte, dass die Demo wie geplant um 18h starten konnte. Gegen 18.30 Uhr setzte sich die Demo in Bewegung, wurde aber alle paar hundert Meter von der Polizei gestoppt, die mit 5.600 Beamt*innen ganz Neukölln besetzt hielt – der Verkehr war jedoch entlang der Demoroute nicht ordnungsgemäß gesperrt worden, wie die Kritischen Juristen der Freien Universität Berlin in einer Einschätzung berichten: “Insofern handelte die Einsatzführung zu diesem Zeitpunkt bereits unverantwortlich”, schrieben sie.

Fast alle Demonstrant*innen trugen Masken, jedoch war es schwer die wegen Infektionsschutz vorgeschriebenen Mindestabstände einzuhalten “erstens wegen der großen Menge an Menschen und zweitens, weil die Polizei die Demo blockierte und am Weiterkommen hinderte”, so die kritischen Jurist*innen. Um 20 Uhr, zwei Stunden nach anvisiertem Beginn, war die Demo erst einen Kilometer entlang der Karl-Marx-Straße vorangekommen. Die Demoteilnehmer*innen ließen sich davon nicht beeindrucken: nach einem Jahr Lockdown und Pandemie war die Stimmung fast ekstatisch. Die Redebeiträge wurden mit Applaus beantwortet, viele tanzten zur lauten Live-Musik, und schienen sehr glücklich, sich endlich wieder zu treffen. Queere Palästinenser:innen liefen Hand in Hand mit jüdischer Antifa, kurdischen Feministinnen, tamilischen Überlebenden und peruanischen Orchestern mit Slogans wie “Intersektionaler Klassenkampf”, “Deutsche Wohnen & Co Enteignen Jetzt” und “Hanau war kein Einzelfall!”.

Groß, bunt, vielfältig: Auf der Demo wurden Kämpfe zusammengeführt

Demo nach einem Kilometer eingekesselt

Die ersten Blöcke erreichten den U-Bahnhof Rathaus Neukölln und das benachbarte Einkaufszentrum “Neukölln Arkaden”, bevor sie in die Erkstraße abbogen. Nachdem die ersten Blöcke vorbeigezogen waren, wurde die Demo vor den Arcaden erneut blockiert, doch diesmal rückten Hunderte von Polizist*innen ein und trennten sie. Die offizielle Begründung lautet, dass der “schwarze Block” keine Gesichtsmasken getragen und die Mindestabstände nicht eingehalten habe, “was ziemlich absurd erscheint, da der schwarze Block immer vermummt ist und die soziale Distanzierung nicht für alle Demonstranten möglich war”, so die Organisator:innen in einer Presseerklärung.

Die ersten internationalistischen Blöcke hielten ein paar hundert Meter weiter auf der Sonnenallee, wo sie ebenfalls auf starke Polizeipräsenz trafen. Währenddessen wurde die Demo auf der Karl-Marx-Str. gekesselt und aufgehalten. Die Spannung stieg, als dutzende von Beamten einen Lauti stürmten und begannen, kleine Gruppen von Demonstrant*innen einzukreisen, um sie zu verhaften. Die Polizei machte intensiven Gebrauch von ihren Schlagstöcken und Pfefferspray. Sie hatten alle angrenzenden Straßen blockiert und damit eine Flucht bzw. ein Verlassen erschwert. Und während die Demonstrant*innen verprügelt wurden, lief der Verkehr auf der Sonnenallee noch, wie die Kritischen Beobachter berichteten.

Der Lautsprecherwagen wurde von der Polizei gestürmt

Gewalt gegen Demonstrant:innen und Journalist:innen

Auf der Sonnenalle setzt die Polizei dieses aggressive Auftreten fort und griff die Demonstration immer wieder an. Als Reaktion auf dieses sehr kontaktorientierte Vorgehen kam es zu zahlreichen Zusammenstößen. Demonstrant*innen warfen Flaschen und Steine, versuchten Barrikaden zu errichten und setzten einen E-Roller und einen Mülleimer in Brand. Um 21:30 Uhr wurde die Demo offiziell aufgelöst, aber die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demo dauerten bis etwa 22 Uhr, als die Ausgangssperre in Kraft trat und viele Demonstrant:innen nach Hause gingen. Einige sporadische Zusammenstöße hielten bis Mitternacht an. Dann wurde eine kleine Solidaritätsdemonstration vor der Gefangenensammelstelle, wo die Verhafteten hingbracht worden waren bis in die frühen Morgenstunden abgehalten.

Fast 400 Demonstranten wurden verhaftet, aber nur etwa 40 wurde bisher tatsächlich etwas vorgeworfen, sodass “90 % der Verhaftungen ohne Grund erfolgten”, kritisierten die Organisator:innen. 100 Polizeibeamt:innen wurden am 1. Mai nach Angaben der Polizei verletzt; die Zahl der verwundeten Demonstrant:innen wurde wie immer nicht erfasst, doch die Schätzungen reichen von einem Dutzend bis zu Hunderten. Viele wurden mit Pfefferspray besprüht oder mit Schlagstöcken getroffen. Aber hauptsächlich stieß die Polizei Menschen zu Boden, manchmal absichtlich gegen scharfe Gegenstände und Glasscherben. Einige Demonstrant:innen berichteten, dass sie mit Pfefferspray-Kanistern ins Gesicht geschlagen, in den Genitalbereich getreten oder von hinten gestoßen wurden.

Der Autor wurde selbst von einem Polizisten und seinem Schlagstock getroffen, als er sich vor einem ankommenden Angriff zurückzog. Er hatte sich, wie auch ein in der Nähe befindliches Fernsehteam, eindeutig als Presse zu erkennen gegeben. Viele Journalist:innen wurden von der Polizei gewaltsam zur Seite gedrängt, was sie oft daran hinderte, Aufnahmen zu machen. Regelmäßig rannten Gruppen von Beamt:innenen auf die Pressemitarbeiter:innen zu, wobei sie weniger als ein paar Zentimeter Abstand zwischen ihnen ließen, und drohten dann damit, sie zu schlagen, wenn die soziale Distanz zu ihnen nicht respektiert würde. Journalist:innen wurden beleidigt, beschuldigt, “scheiße im Job” zu sein, und dutzende Male aufgefordert, nach Hause zu gehen, noch bevor die Ausgangssperre begann. „Diese Angriffe gegen die Presse sind im deutschen Kontext relativ neu“, wunderte sich eine Journalistin, obwohl bei anderen revolutionären Demonstrationen regelmäßig Fotograf:innen von der Polizei verletzt wurden.

Mögen nicht so gerne fotografiert werden: Polizisten bei einer Gewahrsamnahme

Eine gewollte Eskalation?

Die Organisator*innen der Demo und die Kritischen Jurist*innen berichteten, dass nach 20.30 Uhr die Polizei den Kontakt abgebrochen hatte, “als ob sie verschwunden wären”. Demos von Verschwörungstheoretiker*innen und Coronaleugner*innen oder Neonazi-Demos wurden während der Coronapandemie eskortiert und konnten friedlich beendet werden, auch wenn die Demonstrant*innen keine Masken tragen, antisemitische Parolen rufen und Neonazi-Abzeichen mit sich führen. Insofern ist es unklar, warum diese 1. Mai-Demo bereits nach einem Kilometer unterdrückt wurde. Der “schwarze Block” stand nicht im Vordergrund der Demo. “Die offizielle Begründung, die Distanzierung nicht eingehalten zu haben, ist offensichtlich nicht mehr als eine Ausrede”, so der Vorwurf der Organisatoren.

“Wahrscheinlich ist, dass die Polizei aus mehreren Gründen eine Eskalation geplant hatte”, schrieb die Migrantifa. Erstens bot ihnen die Baustelle rund um die “Neukölln Arkaden” einen hervorragenden Angriffspunkt für eine Art Hinterhalt. Zweitens würden die Zäune und Absperrungen den Demonstranten die Möglichkeit geben, Barrikaden zu errichten und damit der Polizei einen besseren Grund zum Einschreiten geben; die Nähe des Einkaufszentrums und der Sonnenallee machte die Perspektive von Plünderungen wahrscheinlicher.

Die Polizei als politischer Akteur

“Indem die Polizei den ‚schwarzen Block‘ isolierte und eine Eskalation mit migrantischen Jugendlichen suchte, wollte sie die Bewegung spalten”, meint die Migrantifa. Eine neu gefundene Einigkeit zwischen antikapitalistischen und migrantischen Demonstranten könnte ein gefährlicher Präzedenzfall für alle anderen Demonstrationen sein. Die Polizei versuchte durch ihr aggressives Agieren die Demo zu spalten, in „gute“ und „böse“ Demonstrant*innen und zukünftige Bündnisse zu verhindern. “Damit trat die Polizei als eigenständige politische Akteurin in Erscheinung. Dies ist qua Gesetz, zu dessen Durchsetzung sie verpflichtet ist, explizit nicht ihre Aufgabe”, so die Kritischen Juristen in ihrer abschließenden Stellungnahme: “Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut, das vor allem die Möglichkeit zur Teilnahme an der politischen Debatte ermöglichen soll. Auch und vor allem auch für diejenigen, die nicht an parlamentarischen Debatten teilnehmen können oder wollen. Wenn diese Möglichkeit, wie am 1. Mai 2021 in Berlin geschehen, durch polizeiliche Maßnahmen unterbunden wird, ist dies eine erschreckende Entwicklung”, schrieben sie.

# Text und Bilder: Phillipe Pernot

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