Man stelle sich folgendes vor. Boris Palmer, Rechtsausleger und Enfant terrible der Partei Bündnis 90/Die Grünen, wird an einem Wochenende im Frühjahr 2021 vom Landesverband Baden-Württemberg seiner Partei auf Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl gesetzt. Am selben Wochenende sitzt der Bundesvorstand der Grünen zusammen und verabschiedet den Programmentwurf für die bevorstehende Wahl, den die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck am Montag darauf der Öffentlichkeit präsentieren. Genau an diesem Tag erscheint in der Zeit ein Namensbeitrag von Palmer, in dem er die Thesen seines neuen, zwei Tage später erscheinenden Buches „Die Öko-Spinner“ wiederkäut. Hauptthese des Buches: Die Grünen hätten sich in weiten Teilen von ihrer Klientel entfernt und kämpften nur noch pro forma für Klima- und Umweltschutz.
Es dürfte klar sein, auf welchen Vorgang diese Sätze anspielen. Was in diesem Beispiel durchexerziert wurde, widerfuhr fast genauso der Partei Die Linke. Am zweiten Aprilwochenende setzte die Aufstellungsversammlung des größten Linke-Landesverbandes, Nordrhein-Westfalen, Sahra Wagenknecht auf den ersten Listenplatz für die Bundestageswahl – wenn auch nur mit der dürftigen Mehrheit von 61 Prozent. Am selben Tag feilte der Bundesvorstand der Partei am Programm für die Bundestagswahl, das die neuen Parteichefinnen, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, am Montag darauf bei einer Online-Pressekonferenz vorstellten. Eben an diesem Tag erschien ein Beitrag von Wagenknecht in der FAZ, in dem sie Thesen ihres zwei Tage später erscheinenden Buches „Die Selbstgerechten“ wiederkäute. Kernthese des Buches: Die Linke und damit auch die Partei habe sich in weiten Teilen von den „kleinen Leuten“, den Arbeitern und sozial Benachteiligten abgewandt und beschäftige sich lieber mit Identitätspolitik.
Eigentlich sollte man als radikaler Linker Wagenknechts Machwerk rechts liegen lassen und nicht noch durch einen Textbeitrag aufwerten. Aber das Buch und vor allem die Debatte darüber entfalten fraglos politische Wirkung. Daher lässt es sich nicht ganz vermeiden, sich zu dem Vorgang ein paar Gedanken zu machen und diese zu verschriftlichten. Zumal sich hier mal wieder einiges über Dynamiken in einer spätkapitalistischen Gesellschaft lernen lässt. Vor allem über die Grenzen, auf die linke Parteien oder solche, die sich als links verstehen, in parlamentarischen Systemen zwangsläufig stoßen. Und auch darüber, zu welchen Illusionen und Fehleinschätzungen es führt, wenn man sich dieser Grenzen nicht bewusst ist.
Zu den Inhalten des Buches soll hier nicht mehr gesagt werden als nötig, zumal sich jeder und jede mittlerweile anhand der bekannt gewordenen Textproben selbst ein Bild machen kann. Daher sei hier lediglich die Einordnung von Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, zitiert, die in einem ebenso klugen wie sachlich-nüchternen Kommentar in junge Welt das Wesentliche zu dem Geschreibsel gesagt hat. Wagenknechts „Furor“, schreibt Jelpke, richte sich gegen eine „Lifestyle-Linke“ innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Partei, die die soziale Frage zugunsten von „Identitätspolitik“ aus dem Blick verloren habe. Diese trage mit „linksliberalen Kulturkämpfen zur Spaltung und Polarisierung unserer Gesellschaft mindestens in gleichem Maße bei wie die Hetzreden der Rechten“.
Zurecht weist Jelpke darauf hin, dass es natürlich auch eine jeder sozialen Programmatik entkleidete Identitätspolitik gebe, „die der Vernebelung neoliberaler Herrschaft dient“, so bei den deutschen Grünen oder der US-Administration unter Joseph Biden. Doch Wagenknecht behaupte pauschal, Identitätspolitik laufe darauf hinaus, „das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identitäten jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein“. Damit negiere sie einerseits reale Erfahrungen und Strukturen von gesellschaftlicher Unterdrückung wie Rassismus oder Sexismus. Und sie unterstelle andererseits den Betroffenen und damit indirekt auch Bewegungen wie „Black Lives Matter“ oder „Me Too“, aus einer „Marotte“ persönlichen Profit schlagen zu wollen, so Jelpke.
Die Linke-Politikerin stellt völlig zutreffend fest, dass Wagenknecht weit entfernt ist von einer antikapitalistischen Politik. Ihre Unterscheidung der Motivation „echter Unternehmer“, die Firmen aufbauen, von derjenigen von „Kapitalisten“, die nur Rendite sehen wollen, sei nichts anderes als die alte Mär vom schaffenden und raffenden Kapital. Wer in einer tief gespaltenen Klassengesellschaft, so Jelpke, „gemeinsame Werte und Bindungen“ oder gar „Leitkultur“ als Voraussetzung für „Gemeinsinn und Zusammenhalt“ einfordert wie Wagenknecht, anstatt die Eigentumsverhältnisse grundlegend verändern zu wollen, vernebele damit die tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse.
Wagenknechts Thesen werden nicht zufällig von rechts bejubelt, von AfD-Politkern und neoliberalen Hetzern wie dem Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt, denn ihr Buch ist eine Steilvorlage für alle Rechten und Rassisten. Frei nach dem Motto: Haben wir ja immer gesagt! Viele Äußerungen in ihrem Buch sind so haarsträubend, dass man als vernunftbegabter Leser nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. So gibt sie allen Ernstes den 68ern, die sie pauschal als „wohlhabende Bürgerkinder“ bezeichnet, die Schuld daran, dass die SPD sich von ihren einstigen Idealen und der Arbeiterschaft entfernt hat.
Der „Angriff der neuen Bewegung“ habe nicht nur „dem rechten und erzkonservativen Milieu“ gegolten, sondern sich auch gerichtet, heißt es im Buch, „gegen den gesamten Wertekanon von „Maß und Mitte” und gegen die damalige Gesellschaft, die immerhin den Arbeitern mehr Rechte, Konsummöglichkeiten und Aufstiegsoptionen eröffnet hatte, als sie jemals zuvor gehabt haben“. Das ist genauso verdreht, wie Wagenknechts Hypothese, Fridays for Future habe Klimaschutzziele „nicht etwa populärer gemacht, sondern sie werden heute von weniger Menschen unterstützt als über all die Jahre zuvor“. Hier scheint die Autorin nach der Devise „Frisch behauptet ist halb bewiesen!“ vorzugehen.
Am verheerendsten von all ihren absurden Behauptungen ist aber die – hier nicht zum ersten Mal geäußerte – These, die Migranten seien an der Ausweitung des Niedriglohnsektors im Lande schuld. Sie schreibt: „Dass die Löhne allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich. Denn nur sie stellte sicher, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze zu den niedrigen Löhnen unverändert besetzen konnten.” Das ist immer noch nichts als Hetze gegen Geflüchtete, weil es am Ende immer darauf hinausläuft, den rechten Glaubenssatz zu bestätigen: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg.“
Darum ist die Debatte darüber, ob Wagenknecht eine Rassistin ist oder nicht, müßig. Sie gibt den Herrschenden und ihren faschistischen und protofaschistischen Knechten mit ihrem Buch und ihren Auftritten in den Medien reichlich Futter – im Ergebnis stärkt sie damit die Rechte und schwächt die Linke. Wagenknecht hat sich längst auf die Seite der Herrschenden geschlagen. Sie sitzt in aller Selbstgefälligkeit in einer Talkshow nach der anderen, um ihr Buch zu bewerben und ihre grotesken Thesen breit zu treten. Sie schreibt für die FAZ, das Mitteilungsblatt des Kapitals, und entblödet sich dabei nicht, das ausgelutschte Klischee von der „Zigeunersauce“ zu bemühen. Sie lässt sich instrumentalisieren als Rammbock gegen ihre eigene Partei und das in einem Moment, in dem ihre Partei mit einem neuen Führungsduo in den Wahlkampf startet. „Die Frau ist so was von angekommen im System“, hieß es bereits im November 2019 an dieser Stelle über Sahra Wagenknecht und daran hat sich nichts geändert.
Für alle, die in der Linkspartei auf eine Regierungsbeteiligung schielen, sollte der Vorgang eine Lehre sein. Die Causa Wagenknecht zeigt in wünschenswerter Deutlichkeit, wer in dieser Gesellschaft die Ansagen macht und wie leicht die öffentliche Meinung zu manipulieren ist. Die Konzernmedien und die nicht weniger gleichgeschalteten öffentlich-rechtlichen jubeln hoch, wen immer sie wollen, und sei es eine in ihrer Eitelkeit gekränkte Diva, die an den Widersachern in ihrer Partei ihr Mütchen kühlt. Der Vorgang zeigt vor allem auch, dass eine linke Partei, die wirklich etwas verändern wollte, schnell an die Kandare genommen wird. Entweder sie tanzt nach der Pfeife der Herrschenden oder sie ist raus.
# Titelbild: Sahra Wagenknecht in Soest, 2009, Attribution-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-ND 2.0)
[LCM:] Sahra Wagenknecht: Längst auf der Seite der Herrschenden - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 21. April 2021 - 18:02
[…] Beitrag Sahra Wagenknecht: Längst auf der Seite der Herrschenden erschien zuerst auf Lower Class […]
Heiko Schroeter 26. April 2021 - 21:07
Ihre Kritik zeugt von fundamentalem Unverständnis linker Politik. Kein weiterer Kommentar notwendig.
Der Fall Wagenknecht - konflikt 4. Mai 2021 - 19:19
[…] Wagenknechts Person, ihr Denken und Handeln. Ein Autor*in namens Kristian Stemmler wirft ihr in Sahra Wagenknecht: Längst auf der Seite der Herrschenden unter Berufung auf Ulla Jelpke (die das Buch in der jungen Welt zerriss) vor, weit entfernt von […]