Dieser Text ist ein Versuch, verschiedene linke Positionen und Kritiken zum Thema Identitätspolitik zu diskutieren. Es ist weniger ein Text für oder gegen Identitätspolitik, als vielmehr ein Schritt, Missverständnisse und falsche Annäherungen an das Thema aus dem Weg zu schaffen, damit die Debatte sich nicht mehr ständig im Kreis dreht. Durch eine antikapitalistische, antirassistische und feministische Linse sollen einige Grundlagen bestimmt werden, auf der Basis dessen zukünftig vielleicht sinnvoller darüber diskutiert werden kann, inwiefern Identitätspolitik für linke Kämpfe brauchbar oder unbrauchbar ist.
Während sich viele in letzter Zeit auch um differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema bemühen, scheint es in linken Kontexten bezüglich dieser Frage grob betrachtet zwei dominante Pole zu geben, und um es vorweg zu nehmen: Beide enthalten einige problematische und verkürzte Sichtweisen, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit wir in unserer Praxis weiterkommen. Die eine Seite besteht wohlgemerkt zu gefühlt 90 Prozent aus Männern mittleren Alters. Manchmal sind sie links, in dem Fall lautet ihr Argument in etwa so: Leute wollen nur ein bisschen rumopfern, spalten die Linke und lenken mit ihrem Identitätsgelaber vom Klassenkampf ab. Dem anderen Pol liegt der Irrglaube zugrunde, dass bestimmten Identitäten schon an und für sich irgendwas „Radikales“ innewohnen würde. Das kann im Fall von Deutschland gelegentlich mal dazu führen, dass in Kontexten antirassistischer Arbeit türkische Faschos gepusht werden, weil „die sind ja PoC“ und alles andere (wie zum Beispiel linke politische Grundhaltung oder Rückgrat zu besitzen) ist dann nicht mehr von Belang.
Bei genauerer Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Positionen und Kritiken lassen sich jedoch trotzdem einige gemeinsame Grundlagen bestimmen, auf deren Basis wir linke Praxis weiterdenken und weiterbringen könnten.
Zunächst zu denjenigen, die sich über Identitätspolitik aufregen, weil sie um die „Einheit“ der Linken bangen: Linke sind und waren nie eine starre Einheit, die nun erst durch „sektiererische“ Identitätspolitik zu zerbrechen droht. Im Gegenteil bestanden Spaltungen innerhalb der Linken eigentlich schon immer und zwar mitunteranderem auch darin, dass z.B. Frauen, Migrant*innen, Schwarze Menschen, PoC, queere Menschen, Geflüchtete usw. in vielen linken Strukturen jahrzehntelang ausgeschlossen, rausgemobbt, ignoriert, mundtot gemacht, belächelt oder nicht ernst genommen wurden. Hier stellt sich die Frage: Was genau wird hier „gespalten“, was genau wird hier gestört? Ist es wirklich „die Linke“ oder vielleicht doch einfach ein gemütlicher Status Quo, in welchem niemand über Macht, Mackertum und übers Kartoffelsein nachdenken musste? So betrachtet stand hinter Identitätspolitik ursprünglich ein sehr simpler Grundgedanke. Wenn es z. B. um internationalistische antifaschistische Kämpfe geht, ist es nicht in Ordnung, dass nur weiße Männer zu Wort kommen und dass über die Köpfe von Betroffenen hinweg gearbeitet wird – bis hierhin sind wir uns doch bestimmt alle erstmal einig. Diese Grundidee ist vielleicht auch gar nicht das Problem – das Problem ist vielleicht viel eher, was heute aus Identitätspolitik gemacht wird, aber dazu später.
Davor noch zurück zur Annahme, Identitätspolitik würde vom Klassenkampf ablenken: Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, unseren Begriff von Klasse zu hinterfragen bzw. weiterzudenken. Denn wenn wir von der unterdrückten Klasse sprechen, sollten alle ausgebeuteten Gruppen gemeint sein. Arbeiter*innen, Menschen im globalen Süden, rassifizierte Menschen, (ehemals) Kolonisierte, Frauen usw. wurden im Laufe der Geschichte systematisch unterworfen und in einen Zustand der Gewalt und Ausbeutung gedrängt. Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten. Wenn diese Praxis „von unten“ wachsen soll, muss denjenigen Platz gemacht werden, die am meisten unter diesen Unterdrückungssystemen leiden und gelitten haben. Das heißt nicht, dass bestimmte Identitäten glorifiziert und mit Allwissenheit assoziiert werden. Wie wir wissen, können Leute diskriminiert und unterdrückt werden, aber trotzdem scheiße sein: So gibt es z.B. weibliche Cops, korrupte Politiker*innen of Color oder queere Menschen, die rassistisch sein können. Es geht hier aber vielmehr darum, dass diejenigen, die am meisten unter dem System leiden und vielleicht genau deshalb potenziell die radikalsten Bekämpfer*innen des Systems sein könnten, sich endlich Raum nehmen müssen, der ihnen vorher versperrt wurde.
Das Combahee River Collective, ein Kollektiv Schwarzer Feministinnen, formulierte es 1977 in seinem Statement folgendermaßen: „Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht“. Die Idee, die eigene Identität für den politischen Kampf hervorzuheben, entstand für das Kollektiv aus der Erkenntnis heraus, dass „keine andere vermeintlich progressive Bewegung unsere spezielle Unterdrückung jemals als Priorität gesehen hat oder sich ernsthaft damit beschäftigt hätte, sie zu beenden“ [aus Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Unrast, 2019. S. 53). Und genau das trifft auf viele marginalisierte und diskriminierte Menschen zu, die aus linken Kontexten immer wieder ausgeschlossen oder nur geduldet wurden, solange sie ihre spezifische Unterdrückung nicht zum Thema machten. Kein Wunder also, dass heute so ein starkes Bedürfnis danach besteht, sich durch kollektive Identitätsbildung selbst zu ermächtigen und so einen würdigen Platz im Kampf gegen das System einzunehmen.
An diesem Punkt scheinen heute jedoch sowohl viele Kritiker*innen als auch Befürworter*innen das Konzept der Identitätspolitik falsch zu verstehen. Vielleicht liegt das eigentliche Problem mit Identitätspolitik aktuell vor allem darin, dass der Ansatz sich von seinen radikalen Inhalten und Ursprüngen entfernt und somit immer weniger mit revolutionärer Praxis zu tun hat. Manche Angehörige unterdrückter Gruppen haben angefangen, mit Neoliberalismus zu liebäugeln, anstatt die kollektive Selbstermächtigung in Aktion und Widerstand umzuwandeln.
Die kurdische Frauenbewegung (auch wenn sie sich an der Stelle nicht auf Identitätspolitik bezieht) kritisiert z.B. an westlichen Feminismen, dass sie, obwohl gerade Feminismus eine der radikalsten Bewegungen gegen das System sein müsste, es nicht geschafft haben, akkurat auf gesellschaftliche Probleme zu reagieren und einen radikalen Widerstand zu organisieren. Damit Feminismus wieder zum radikalen Ursprung zurückkehrt, muss er sich von den Einflüssen der kapitalistischen Moderne loslösen. Vielleicht ist das ein nützlicher Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um Identitätspolitik: Konzepte für politische Kämpfe sollten daran beurteilt werden, inwiefern sie einen Beitrag zur Befreiung der Gesellschaft leisten und reell Veränderung bewirken. Wie wirksam sind z.B. elitäre Diskurse, die sich nicht über die akademische Sphäre hinausbewegen oder Ansätze wie sog. „Girlboss feminism“? Kaum – denn sie bewegen sich oft in geschlossenen Kreisen und erreichen nicht die Straßen. Bestimmte Konzepte, die ursprünglich aus revolutionären Ideen entstanden, werden in solchen Zusammenhängen aus dem Kontext gerissen und zweckentfremdet. Auch der Neoliberalismus bedient sich heute etwa Konzepten wie Diversity und Feminismus. Besonders schlimm wird’s dann, wenn das auch noch abgefeiert wird: Es werden diejenigen von uns gepriesen, die es „nach ganz oben“ geschafft haben und es scheint irgendwie egal zu sein, wenn es sich dabei z.B. um stinkreiche Celebrities handelt. Klasse und Kapitalismus werden nicht mehr problematisiert, sondern vielmehr hingenommen. Identifikation findet hier mit den falschen Leuten statt; sie dient nicht mehr dem kollektiven Bewusstwerdungsprozess, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, sondern es scheint immer mehr darum zu gehen, sich als Angehörige*r einer unterdrückten Gruppe einen Weg nach „oben“ bzw. einen Platz innerhalb des ausbeuterischen Systems zu verschaffen. Dabei kümmert es viele nicht, dass sich Ungleichheit und Gewalt dadurch nicht vermindert, denn egal, wieviel „Diversität“ oben herrscht – es sind und bleiben die Massen, auf deren Schultern die Last kapitalistischer, rassistischer und sexistischer Ausbeutung und Ausgrenzung sitzt.
Um nun zurück auf Identitätspolitik zu kommen: Das Konzept in dieser jetzigen, zweckentfremdeten Form wird bestimmt keine Antwort auf die Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt sein. Das heißt jedoch nicht, dass die Relevanz von Identität einfach ausradiert werden darf. Die Rolle von Identität im Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat muss neu gedacht werden und zwar als die direkteste, radikalste Form, sich den Missständen bewusst zu werden und dementsprechend kollektiven Widerstand zu organisieren. Aufwertung der eigenen, unterdrückten Identität kann dabei ein erster wichtiger Schritt, aber nicht Selbstzweck sein. Sie sollte dazu dienen, den Kampf für Befreiung voranzutreiben, anstatt sich von diesem zu entfremden.
#Titelbild: ROAR Magazine/P2P Attribution-ConditionalNonCommercial-ShareAlikeLicense
[LCM:] Identitätspolitik – Kollektiver Widerstand statt Selbstzweck - Die Linke in ihrer ganzen Vielfalt 8. April 2021 - 16:03
[…] Beitrag Identitätspolitik – Kollektiver Widerstand statt Selbstzweck erschien zuerst auf Lower Class […]
Una 9. April 2021 - 12:03
Es sollte meiner Meinung auch ein Unterschied gemacht werden, zwischen der politischen Idee und eigener Erfahrung. Klar formt die Selbsterfahrung die pol. Idee, dennoch kann auch eine nicht betroffene Person über Diskriminierung sprechen. Eben dann, wenn solidarisch ein emanzipatorisches Politikum gefordet wird
Treffen sich zwei auf der Brücke: Identitätspolitik und Klassenkampf – Eine Artikel-Liste – Serdargunes' Blog 9. April 2021 - 13:03
[…] Identitätspolitik – Kollektiver Widerstand statt Selbstzweck (Hêlîn Dirik – 08.04.2021) […]
diskutierer 12. April 2021 - 16:13
„Sie müssen in diesen Klassenbegriff aufgenommen werden, ohne dass ihre Unterdrückung als bloßer Nebenwiderspruch behandelt wird. Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat gingen historisch gesehen Hand in Hand und diese Tatsache müssen wir in unsere Praxis einbetten.“
Es stimmt, dass diese Unterdrückungsformen historisch Hand in Hand gehen und oft stark miteinander verflochten sind, aber das sagt nichts über den Charakter von Neben- und Hauptwiderspruch einzelner Kämpfe aus. Denn, wenn man einfach alles zu Hauptwidersprüchen erklärt, wie es der Text suggeriert, landen wir fast wieder bei der Tripple-Oppression-Theorie, die uns bis heute auch nicht wirklich weitergeholfen hat und die an die Stelle von politischer Einschätzung eine inhaltliche Beliebigkeit zur Folge hatte (z.B. die ganzen autonomen anti-XYZ-Gruppen, die hunderte von Anti-Kämpfen wertgleich nebeneinander stellten und sich meist dann darin verloren oder zumindest die antikapitalistischen Aspekte).
Ich habe v.a. den Eindruck, dass sich einige an dem Wortteil „Neben“ in „Nebenwiderspruch“ gestört fühlen und daher – sehr oft ohne wirkliche Begründung, wie in diesem Text hier – diese Begrifflichkeit einfach abgelehnt wird, weil damit eine vermeintliche Abwertung der Kämpfe einhergehe. Dem ist aber nicht so und ich vermute bzw. hoffe, der Grund dafür ist in den meisten Fällen bloße Unkenntnis des Haupt- und Nebenwiderspruchsmodells bei einer dialektisch-materialistischen Analyse.
Ein erstes analytisches Problem, wenn man alles zu Hauptwidersprüchen erklärt, ist folgendes:
Ein Kapitalismus ohne Sexismus, Patriarchat und Rassismus ist – zumindest theoretisch – denkbar und das wird auch im Text angedeutet. Das Kapital hat prinzipiell kein Problem damit, mehr als zwei Geschlechter anzuerkennen oder Frauen* mehr Gleichstellung einzuräumen, ohne dabei die wirtschaftlichen Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Manipulationsverhältnisse des Kapitalismus anzutasten. Der Kapitalismus könnte durchaus darauf verzichten, die Leute, die er ausbeutet, noch rassistisch aufzuhetzen und zu beleidigen, es ist für ihn aber traditionell einfacher, wenn er diese Spaltungs- und Unterdrückungsideologien beibehält. z.B. eine US-Gesellschaft ohne Rassismus oder Patriarchat ist immer noch eine scheiß Gesellschaft, solange der Kapitalismus existiert, auch wenn es dann etlichen Leuten etwas besser geht und sie eine bessere Ausgangssituation für den weiteren Kampf um Befreiung haben.
Der ökonomische Kampf gegen den Kapitalismus ist nach wie vor der Hauptwiderspruch unserer Zeit und keine Frau*, kein kolonial und/oder rassistisch unterdrückter Mensch ist frei, solange er/sie es nicht auch wirtschaftlich ist. Deshalb ist der Kampf um wirtschaftliche Befreiung (Freiheit von Ausbeutung! Alle Verhältnisse abschaffen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist usw.) der zentrale einende Kampf aller Unterdrückten im Kapitalismus und kein einzelner Politikbereich (etwa Frauen*befreiung, Antirassismus, Antifaschismus, Antikoloniale Kämpfe….) kann wirklich erfolgreich sein, wenn Sozialismus und die Abschaffung des Kapitalismus ausgeklammert werden.
Man kann diese Ablehnung des Nebenwiderspruch-Status mancher Kämpfe aber auch aus einer anderen Brille – etwas vulgärer – kritisieren: Wenn Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus ja geschichtlich Hand in Hand gehen, dann liegt der (vulgäre) Schluss nahe, dass diese Unterdrückungsformen auch gemeinsam mit dem Kapitalismus dann verschwinden werden. Dem ist aber klar zu widersprechen, weil die Geschichte oft genug gezeigt hat, dass Patriarchat und Rassismus auch im Sozialismus und darüber hinaus noch ein Problem sein werden und können und fortwährend bekämpft werden müssen, nicht nur im Kapitalismus. Der Kapitalismus ist politisch und historisch gesehen nicht die Ursache des Patriarchats oder des Rassismus, er kommt nur super mit ihnen aus und will bequemerweise darauf nicht verzichten, er benötigt die Unterdrückungsmechanismus aber nicht so essentiell, wie etwa das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln.
kuirisu 2. Mai 2021 - 17:57
Da sage ich auch etwas dazu:
Paraphrase: –Opferwettlauf: Hier, ich bin der Geschundenste von allen. Ich nehme meinen mir vorher versperrten Raum ein. –
Anmerkung: Definiere Raum? Definiere außerdem die Legitimation, diesen Raum (= Aufmerksamkeit) politisch bespielen zu dürfen!
und grundsätzlicher:
Nicht nur manche, ein Großteil der wahrnehmbaren Anhänger der Identitätspolitik wollen an die Fleischtröge. Von revolutionärer Praxis wird geredet? Diese ist nicht sichtbar, und auch nur theoretisch vorhanden.
Wenn es den Anhängern der Identitätspolitik darum geht, sich von der Gesellschaft zu befreien, dann ist das auch nur ein lahmes „Desintegriert euch“.
Eine freie Gesellschaft in diesem linksutopischen Sinne ist aber eine, die wiederum nur theoretisch im machtfreien Raum stattfände. Da dieser nicht existiert, werden Sie wieder unter die Räder anderer Unterdrücker geraten oder selbst zu Unterdrückern. Tolle Aussicht.
Und letztlich die mich umtreibende Frage: Wie könnte Identität eigentlich als Kampfmittel gegen Kapitalismus und Rassismus (Patriarchat kann man ja eh vergessen) herhalten, wenn man all überall beobachtet, dass diese Identitäten den Kapitalismus umarmen und den Rassismus selbst in sich tragen?