Amazon: Angriff auf Gewerkschaften mit geheimdienstlichen Mitteln

17. Januar 2021

Serie: Das Salz in der Suppe? Radikale Elemente im Betrieb (Teil 3)

Welches GAFAM-Unternehmen ist das gefährlichste? Mit dieser Frage lässt sich mühelos eine eingeschlafene Party wiederbeleben oder ein Seminar kritischer Wirtschaftswissenschaften bestreiten.

Hinter der Abkürzung GAFAM verbergen sich die fünf weltbeherrschenden Online-Monopolisten: Google (Alphabet), Amazon, Facebook, Apple und Microsoft. Sie stammen allesamt von der US-amerikanischen Westküste. Microsoft und Amazon sitzen in Seattle, der Rest in Kalifornien. Börsianer ersetzten das digitale Urgestein Microsoft mitunter durch Netflix und kommen zu der Abkürzung FAANG (Facebook, Apple, Amazon, Netflix, Google).

Ich halte Amazon und Google für die gefährlichsten Unternehmen. Zunächst einmal aus politisch-ökonomischer Sicht, weil sie am schwersten zu boykottieren sind. Die Cloud-Dienste von Amazon Web Services (AWS) sind inzwischen so verbreitet, dass sie zur globalen IT-Infrastruktur gehören und niemand mehr weiß, wer sie hinter den Kulissen alles nutzt: vom US-Geheimdienst CIA bis zu Netflix, vielleicht der Internet-Provider Deiner Webseite. Wenn Du ein Buch herausgibst, ist es extrem schwer bis unmöglich zu verhindern, dass es bei Amazon angeboten wird. Amazon ist nicht bloß ein Online-Vertrieb, der den deutschen Markt beherrscht. Amazon ist der Markt – eine Art Meta-Vertrieb für andere, die dort gebrauchte Produkte oder ihr Sortiment feil bieten, und den bequemen Bezahl-, Versicherungs- und Inkasso-Service nutzen.

Amazon als historischer Nachfolger von Ford

Wenn wir die GAFAM-Unternehmen aus einer welthistorischen Sicht betrachten und an Henry Ford und der Ford Motor Company messen, die mit der Fließbandproduktion des Automobils ab 1912 die Leit-Industrie des 20. Jahrhunderts erschuf und von Detroit aus eine Revolutionierung der Arbeitswelt in Gang setzte, dann dürfte Amazon derzeit wohl der würdige Nachfolger sein.

Fords System fußte – in den USA zumindest bis sich die United Automobile Workers 1941 nach langen, erbitterten Kämpfen und einer Boykott-Kampagne durchsetzten – auf systematischer Bespitzelung, brutaler Unterdrückung und perfider Belohnung der Beschäftigten (etwa durch Werkswohnungen und andere Privilegien) sowie militanter, antikommunistisch und antisemitisch begründeter, genereller Ablehnung von Gewerkschaften. Zwecks Union Busting, also zur Abwehr gewerkschaftlicher Organisierung, schuf Ford das hauseigene “Service Department”, das unter dem ehemaligen Boxer und Navy-Matrosen Harry Bennet ab den 1930er Jahren zur größten Privatpolizei der Welt heranwuchs.

Ahnlich wie Ford mit der Erfindung des Fließbands etabliert Amazon durch die Nutzung von künstlicher Intelligenz, Überwachung und Datenanalyse neue Arbeitsformen. Mit Amazon Mechanical Turk hat das Unternehmen den führenden Marktplatz für die Auftragsvergabe an ein digitales Crowdsourcing-Proletariat aus (Schein-)Selbständigen geschaffen. Diesen nutzt Amazon – ähnlich wie seinen Cloud-Dienst und den Online-Versand – einerseits selbst, stellt ihn aber auch anderen anderen Unternehmen zur Verfügung.

Geheimdienstler für Union Busting

Eine besondere Gefährlichkeit von Amazon besteht in der Verquickung von militanter Gewerkschaftsfeindlichkeit, nachrichtendienstlichen Methoden und militärischem Personal. Das wird durch erschreckende Meldungen aus dem Winter 2020 deutlich. Ein kausaler Zusammenhang mit dem unerwarteten Tod des hessischen Gewerkschaftsaktivisten Christian Krähling (siehe unten) ist hoffentlich nicht gegeben.

  • Im November veröffentlichte das US-Magazin Vice einen Bericht, der sich auf dutzende geleakte Dokumente aus dem Inneren von Amazon berief. Demnach steht das Global Security Operations Cetner von Amazon, eine hausinterne Stabsstelle nach Vorbild des Service Departments von Ford, in dringendem Verdacht, Gewerkschaften und Betriebsräte europaweit zu überwachen. Es seien Spione der Detektei Pinkerton “zum Beispiel in ein Lager im polnischen Wroclaw (Breslau) ‘eingeschleust’ worden”, schreibt Ralf Streck auf Telepolis, “um Lagerarbeiter und deren gewerkschaftlichen Bemühungen zu überwachen. […] Die Firma spioniert offenbar alle Arten von Arbeitnehmertreffen aus, von denen genaue Daten wie Ort, Zeit und Datum genauso festgehalten werden wie auch inhaltliche Positionen der Teilnehmer, die bei diesen Treffen diskutiert werden.”
  • In Spanien soll Amazon auf eine “politische Brigade” korrupter Polizisten setzen, um Streiks wie am 30. Oktober 2019 am Versandzentrum El Prat de Llobregat in der Region Barcelona oder Proteste am Black Friday 2019 in Madrid auszuspionieren und gezielt zu diskreditieren. Im Zentrum des Skandals steht der inhaftierte ehemalige Polizeikommissar José Manuel Villarejo. Amazon habe für die Bespitzelung von Beschäftigten auf Personal aus dessen Netzwerk, bekannt als “Kloake”, gesetzt. Dazu gehörte die Detektei Castor & Polux, die von Julián Peribañez geleitet wird.
  • Laut durchgesickerter Dokumente soll Amazon Ende März 2020 eine gezielte PR-Kampagne gegen den Lagerarbeiter Chris S. in New York lanciert haben, der als mutmaßlicher Rädelsführer eines Streiks gegen mangelhaften Corona-Schutz im Verteilzentrum Long Island gefeuert worden war. Der oberste Amazon-Anwalt David Zapolsky regte an, Chris S. zum Gesicht der “gesamten gewerkschaftlichen Organisierungsbewegung” zu machen: “Er ist nicht smart oder redegewandt, falls die Presse sich auf ein ‘Er gegen uns’ fokussieren will, wären wir in einer wesentlich stärkeren PR-Position.” Die Strategie soll auf oberster Ebene mit Amazon-CEO Jeff Bezos, Kundendienst-Chef Dave Clark (Customer Service) und der Human Resources-Chefin Beth Galetti abgestimmt worden sein.
  • Im September 2020 suchte Amazon mit zwei Stellenausschreibungen nachrichtendienstliche bzw. geheimdienstliche Analyst*innen (Intelligence Analyst / Sr. Intelligence Analyst) für die Stabsstellen Global Secuity Operations und Gobal Intelligence Program (GIP). Das Jobangebot listete diverse Bedrohungen auf, die erkannt und gebannt werden sollen, darunter “Proteste, geopolitische Krisen, Konflikte, die den Betrieb beeinflussen”, gemeint sind Streiks. Der Begriff “organized labor” (organisierte Arbeiterschaft) taucht dreimal auf.
  • Am 10.12.2020 verstarb – auf den Tag genau an seinem 43. Geburtstag – der Amazon-Arbeiter, Gewerkschafter, Vertrauensmann und Betriebsratsaktivist Christian Krähling in seiner Wohnung im hessischen Borken. Mit ihm verlor die Gewerkschaftsbewegung den wohl wichtigsten Organizer von Arbeiterwiderstand bei Amazon in Deutschland, der auch zu ausländischen Standorten, besonders nach Polen, gute Kontakte aufgebaut hatte. Er lebte allein. Er hinterließ zwei Kinder. Die genaue Todesursache ist nicht bekannt. Ein Selbstmord ist ausgeschlossen. Der medizinische Bericht soll eine “natürliche Todesursache” angegeben haben. Die Staatsanwaltschaft verzichtete ebenso wie die Angehörigen auf eine Obduktion. Christian Krählings Leiche wurde eingeäschert, seine sterblichen Überreste am 29.12.2020 beigesetzt.

Natürliche Todesursache? Ohne Obduktion fehlt eine befriedigende Erklärung

Ein Zusammenhang zwischen den oben zitierten Meldungen und dem Todesfall in Hessen ist zwar unwahrscheinlich, kann aber nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden. Er scheint zumindest vorstellbar. Das ist erschreckend und beunruhigend. Es wäre nach jetzigem Kenntnisstand eine Verschwörungstheorie, dass jemand den Tod des Amazon-Gewerkschafters und Betriebsratsaktivisten Christian Krähling absichtlich herbei geführt oder dabei nachgeholfen hat. Eben dafür aber sind Theorien da: als Werkzeuge der Erkenntnis, um bewiesen oder widerlegt zu werden. Dass die zuständige Staatsanwaltschaft Kassel in diesem Fall keine Obduktion angeordnet hat, ist höchst bedauerlich, wahlweise naiv oder fahrlässig.

Rechtsmediziner schätzen laut NDR-Bericht, dass “etwa 1.200 Tötungsdelikte – Mord und Totschlag zum Beispiel – in Deutschland pro Jahr erst gar nicht entdeckt” werden. “Die Ursache sind fehlerhafte Todesbescheinigungen. […] 98 Prozent aller Todesscheine allein in Mecklenburg-Vorpommern weisen Mängel auf: Mal unterlaufen Ärzten bloß Flüchtigkeitsfehler, doch manchmal stellen sie auch krasse Fehldiagnosen.” Die im internationalen Vergleich hohe Dunkelziffer führen Experten u.a. darauf zurück, dass die Untersuchungen in der Regel von Hausärzten und nicht von Gerichtsmedizinern durchgeführt werden.

Vielleicht lag dem Tod auch eine medizinische Notlage zu Grunde, die nicht erkannt wurde? Herzstillstand, geplatztes Aneurysma… vielleicht handelte es sich um eine Form von Karoshi? Pure Spekulation. Wir wissen es nicht. Es wäre aber wichtig, um daraus eventuell zu lernen. Damit wir – und hier liegt die zweite große Gefahr, über die wir dringend Klarheit benötigen – nicht über unsere Kräfte gehen. Damit wir uns, unsere Gesundheit oder die unserer Genoss*innen nicht überfordern und ausbrennen. So bleiben am Ende Fragezeichen und Ungewissheit.

# Tipp: Elmar Wigand interviewt den Gewerkschaftsaktivisten & Liedermacher Ernesto Schwarz zu Amazon + Christan Krähling | Radiosendung: arbeitsunrecht FM 01-2021 | Anhören + Download: https://arbeitsunrecht.de/arbeitsunrecht-fm-01-amazon-der-tod-eines-gewerkschafters/

# Titelbild: Amazon in Spanien, Álvaro Ibáñez, Collage: LCM

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