Corona und die Mittelschicht: Heulsusen unter sich

26. Dezember 2020

Drei Tage vor Weihnachten platzte die Nachricht in die adventliche Stille. „Verzweifelte Eltern sollen mit ihren Kindern auf Feldbetten schlafen“, berichtete Bild vom Flughafen Hannover. Nach dem Auftreten einer Mutation des Coronavirus waren Einreisende aus Großbritannien im Terminal festgehalten wurden. Wie viel Leid wird diese Pandemie noch über uns bringen?, dachte ich bei mir, als ich das las. Es ist erst wenige Tage her, da wurde bekannt, dass der TV-Quiz-Moderator Jörg Pilawa wegen Corona nicht mit seiner Familie auf seine Privatinsel in Kanada reisen kann. Wohin soll das alles noch führen?

Aber jetzt mal im Ernst. Es lässt sich einiges lernen, wenn man sich näher anschaut, was die Medien, und nicht nur die Bild-Zeitung, in diesen Krisentagen für berichtenswert halten, was in Fernsehen und Radio geplaudert wird, worüber man sich auf der Straße so unterhält. Vor allem lässt sich erkennen, dass die bürgerliche Gesellschaft in dieser Pandemie ihr hässliches Gesicht zeigt. Paradox genug, dass eine Zeit, in der alle gezwungen sind, Masken zu tragen, sich als entlarvend erweist.

In neuer Deutlichkeit treten die Befindlichkeiten und Defizite vor allem der saturierten Mittel- und Oberschicht in der Krise zu Tage. Ihre ständige Nabelschau und intellektuelle Beschränktheit, die von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeschottete Ignoranz gegenüber den Nöten anderer, die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Privilegien als quasi naturgegeben aufnehmen. Man muss nur ein wenig durch die Fernsehprogramme zappen, um Beispiele zu erleben.

Neulich, kurz vor Weihnachten beschwerten sich abgesicherte Mittelschichtler auf irgendeinem dritten Programm vor laufender Kamera, dass sie hunderte Euro für Tickets für Musicaltickets nicht gleich erstattet bekämen. Wegen der Coronakrise sind die Vorstellungen ausgefallen, nach einer Gesetzesänderung dürfen Veranstalter ihre Kunden vorläufig mit Gutscheinen vertrösten. Da saßen diese Leute also in ihren bestens möblierten Eigenheimen und klagten lauthals, als wäre es ein schwerer Schicksalsschlag, über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ein Kanal weiter wurde erörtert, voran man einen ordentlichen Wildlachs erkennt. „Die Konsistenz ist sehr schön im Biss“, führte der Experte aus. „Gerade um Alaska ist das Fischmanagement sehr verantwortungsvoll“, ergänzte die Fischereifachfrau. Auch sehr interessant!

Zum Fest schien es ansonsten kaum ein anderes Thema zu geben, als die Frage, mit wie vielen Leuten und mit wem konkret man feiern durfte. Groß lamentiert wurde nur noch darüber, dass man diesmal nicht im Restaurant schlemmen könne. Der angeblich so knallharte Lockdown, der noch zwei Tage Shopping in den übervollen Innenstädten erlaubte und so gleich noch ein Superspreader-Ereignis produzierte, erscheint vielen offenbar als gewaltige Zumutung. Das Gejaule und Gejammer ist zeitweise nicht mehr zu ertragen.

Zum Glück gibt es ja noch unsere Bundestagsabgeordnete, die zum Fest auch an das Leid jenseits der deutschen Grenzen gedacht haben. In einem herzzerreißenden „Weihnachtsappell“ haben 250 Abgeordnete aller Fraktionen außer der AfD auf die „menschenunwürdigen Bedingungen“ aufmerksam gemacht, unter denen Flüchtlinge auf den griechischen Inseln und dem Festland untergebracht sind. Sie fordern die Bundesregierung auf, mehr Flüchtlinge von dort in der BRD aufzunehmen.

Und jetzt kommt der Clou: Diesen Appell haben auch Abgeordnete der CDU und der SPD unterschrieben. Hab ich da was verpasst? Stellen diese Parteien nicht die Bundesregierung, die die katastrophale Lage in den griechischen Flüchtlingslagern mit zu verantworten hat? Mitglied der CDU ist zum Beispiel auch eine gewisse Ursula von der Leyen, ihres Zeichens EU-Kommissionspräsidentin, die sich im März bei den griechischen Grenztruppen bedankte, nachdem diese Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei mit Tränengas beschossen hatten. Griechenland, so von der Leyen damals, sei „Europas Schild“. Schiebt Euch den „Weihnachtsappell“ sonst wo rein!

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